Rinderle (48450) / p. 1 /1.3.2011 VERLAG KARL ALBER A Rinderle (48450) / p. 2 /1.3.2011 Ausgehend von einer Analyse zentraler Begriffe wie »Musik«, »Expressivität«, »Emotion«, »ästhetische Erfahrung« und »Ethik« unternimmt die Studie eine Interpretation der Interaktionen zwischen den ästhetischen und den ethischen Dimensionen von Musik. Ihr Herzstück besteht in der Präsentation, Verteidigung und Illustration zweier eng verknüpfter Thesen. Erstens: Die ethische Dimension von Musik kann einen Beitrag zu ihrer ästhetischen Wertschätzung leisten. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei ein weiter Begriff von »Ethik«, der über einen engen Begriff von »Moral« hinausweist; selbst »amoralische« oder »unmoralische« Musik kann somit ethische Vorzüge und aus diesem Grund auch ästhetische Qualitäten aufweisen. Zweitens: Umgekehrt kann die ästhetische Erfahrung von Musik ihrerseits eine ethische Bedeutung annehmen. Sie kann die emotionale Phantasie des Hörers beflügeln und so auch eine Spiegelung des Selbstverständnisses des Menschen ermöglichen. In einem letzten Kapitel wendet sich der Autor dem Verhältnis von Musik und politischer Ethik zu: Sein Interesse gilt insbesondere der Frage, ob und wie Musik zur Artikulation und Kultivierung von Emotionen (Freiheitsliebe, Hoffnung, Toleranz und Mitgefühl) beitragen kann, die für die politische Kultur einer liberalen Demokratie wichtig sind. Zahlreiche Beispiele aus der Musik – und aus anderen Künsten wie Literatur und Malerei – veranschaulichen die Gedankenführung. Der Autor: Peter Rinderle, geboren 1963 in Seeg (Allgäu), promoviert 1995 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, habilitiert 2002 am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; Lehraufträge an der FU und HU Berlin, Vertretungsprofessuren an den Universitäten Kassel und Hamburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Ethik, Politische Philosophie, Musikästhetik. Rinderle (48450) / p. 3 /1.3.2011 Peter Rinderle Musik, Emotionen und Ethik Rinderle (48450) / p. 4 /1.3.2011 musik M philosophie Band 3 Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Gießen) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt) Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München) Rinderle (48450) / p. 5 /1.3.2011 Peter Rinderle Musik, Emotionen und Ethik Verlag Karl Alber Freiburg / München Rinderle (48450) / p. 6 /1.3.2011 Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48450-0 Rinderle (48450) / p. 7 /1.3.2011 Meiner Mutter Rosa Rinderle Rinderle (48450) / p. 8 /1.3.2011 Rinderle (48450) / p. 9 /1.3.2011 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 Von der Expressivität zur Ethik . . . Die Kernthese und das Argument . Musik und ihre Expressivität . . . Emotionen und ihr Ausdruck . . . Ethik in einem weiten Sinne . . . . Inhalte der ästhetischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 Kunst, Moral und gutes Leben . . . . . . . Zur Vermessung des Terrains . . . . . . . Drei Gründe für eine Trennung . . . . . . Das Argument der verdienten Antwort . . Die Integrität des Kunstwerks . . . . . . . Das Verdienst unmoralischer Einladungen Ästhetische Vorzüge unmoralischer Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 . 72 . 78 . 83 . 93 . 103 . 116 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 Exakte emotionale Phantasien . . . Musik als lustvolles Erlebnis . . . Musik als Quelle von Wissen . . . Die ethische Kraft der Musik . . . Probefühlen ohne Handlungsdruck Herz- und hirnlose Gefühlchen . . Risse, Brüche, Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 127 139 148 154 165 178 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 Spiegelungen des Selbst . . . . Reflektierte Emotionen . . . . Musikalischer Humor . . . . . Musikalische Tragik . . . . . . Musik und religiöse Emotionen Das Selbst in der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 190 193 205 220 234 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 15 17 22 34 46 52 9 Rinderle (48450) / p. 10 /1.3.2011 Inhalt . . . . . . . 237 238 246 255 261 266 270 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 10 Musik für eine liberale Demokratie . . . Interaktionen von Musik und Politik . Kernwerte des politischen Liberalismus Die Affirmation von Freiheit . . . . . Die Artikulation von Toleranz . . . . . Die Kultivierung des Mitgefühls . . . Drei Einwände und ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rinderle (48450) / p. 11 /1.3.2011 Vorwort Mit diesem Buch möchte ich eine Lücke in der philosophischen Ästhetik schließen. Auf der einen Seite gibt es in den letzten Jahren nämlich neue Erkenntnisse zum allgemeinen Verhältnis von Ethik und Ästhetik, wobei sich vor allem Autoren wie Martha Nussbaum oder Berys Gaut um die Analyse der Interaktionen zwischen den moralischen und ästhetischen Dimensionen von Kunst verdient gemacht haben. Allerdings bleiben ihre Beispiele weitgehend auf die Literatur und die Malerei beschränkt; die Musik wird in diesem Kontext bislang eher stiefmütterlich behandelt. Auf der anderen Seite gibt es in jüngster Zeit eine intensive Debatte zum Problem der Expressivität von Musik: Denn daß die Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht, würde kaum noch jemand bestreiten. Aus welchen Gründen und auf welche Weise wir die merkwürdigen Geräusche, die wir mit besonders präparierten Gegenständen wie Klavieren und Saxophonen, Kontrabässen und Schlagzeugen produzieren, aber als Ausdruck bestimmter Emotionen wahrnehmen und mit expressiven Eigenschaften ausstatten, bleibt unter Autoren wie Stephen Davies, Jerrold Levinson, Peter Kivy, Jenefer Robinson und Roger Scruton bis heute umstritten. Interessanterweise läßt sich in der jüngeren Musikästhetik nun ein paralleles Defizit ausmachen, denn auch dort spielt die Klärung des Verhältnisses von Musik und Ethik bislang keine besonders große Rolle. Die Ergebnisse dieser nebeneinander her verlaufenden Diskussionen bleiben jedoch für eine Untersuchung des Verhältnisses von Musik, Emotionen und Ethik relevant, und deshalb möchte ich mich meinem Thema aus zwei verschiedenen Richtungen annähern. Zum einen kann man dieses Verhältnis ja als speziellen Anwendungsfall des allgemeinen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik verstehen und die Resultate einer Debatte, die sich vor allem um das Verhältnis von Ethik und Literatur dreht, auch auf die Musik übertragen. Allein auf diese Vorgehensweise zu setzen, verbietet sich indes schon deshalb, weil wir die Eigenarten der abstrakten, manchmal »autonom« genann11 Rinderle (48450) / p. 12 /1.3.2011 Vorwort ten Instrumentalmusik nicht übersehen dürfen. Was für die Literatur und eventuell die Malerei richtig sein mag, muß nicht notwendig auch für die Musik gelten. Deshalb ist es zum anderen erforderlich, die spezifischen Merkmale der Kunstgattung Musik zu berücksichtigen, hier vor allem das Phänomen ihrer Expressivität im Auge zu behalten und auf dieser besonderen Grundlage eine Theorie des Verhältnisses von Musik und Ethik zu entwickeln. Aber auch dabei sollten wir uns vor voreiligen Schlüssen hüten: Schließlich dürfen wir bei einem solchen Unternehmen doch die spezifisch ästhetische Dimension von Musik, den Umstand also, daß eben auch Musik eine Kunst ist und wie Werke der Literatur und Malerei eine ästhetische Erfahrung ermöglichen kann, nicht zu schnell aus dem Blick verlieren. Es bietet sich daher an, es mit einer Kombination dieser beiden Vorgehensweisen zu versuchen. Wir wollen zunächst die Eigenarten der Musik berücksichtigen und für die Klärung von deren besonderem Verhältnis zur Ethik fruchtbar machen; darüber hinaus haben wir auch ein Interesse daran, mögliche Antworten auf diese Fragen in eine allgemeine Bestimmung der Interaktionen von Ethik und Ästhetik einzubetten. Mit dieser Beschreibung des methodischen Vorgehens der vorliegenden Studie ist zugleich ihr Entstehungskontext gut charakterisiert: Zunächst habe ich in den vergangenen Jahren mehrere Lehrveranstaltungen zum Verhältnis von »Ethik und Ästhetik« durchgeführt und zahlreiche Kongreßvorträge zu Einzelfragen aus diesem Themenkreis gehalten; darüber hinaus schließe ich mit diesem Buch aber unmittelbar an meine vor kurzem erschienene Untersuchung der »Expressivität von Musik« an. Besondere Vorkenntnisse setze ich für die Lektüre aber nicht voraus; alle Grundlagen und -begriffe werden noch einmal Schritt für Schritt eingeführt und anhand konkreter Beispiele erläutert. Wissenschaftliche Forschung ist sicherlich in hohem Maße auf Freiheit und Einsamkeit angewiesen, wichtige Impulse für meine Arbeit gingen aber auch von institutionellen Pflichten, Zwängen und Zufällen, sowie vor allem von angenehmer Geselligkeit mit Kollegen, Studenten und Freunden aus. An erster Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber Berys Gaut und Jerrold Levinson zum Ausdruck bringen; in zahlreichen Gesprächen und E-Mails habe ich von ihnen viele hilfreiche Anregungen und Klarstellungen erhalten. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin meinen Studenten an der Universität Tübingen, die ich über mehrere Semester hinweg mit unausgereiften Ideen 12 Rinderle (48450) / p. 13 /1.3.2011 Vorwort traktieren konnte. Vor allem die Teilnehmer des Workshops »Ästhetik und Ethik der Musik« mit Jerrold Levinson im Frühjahr 2009 wie auch die Teilnehmer meines Hauptseminars »Musik, Emotionen und Ethik« im Wintersemester 2009/10 haben mir mit vielen Rückfragen bei der Arbeit geholfen. Ganz besonders aber möchte ich Mario Gotterbarm für viele wertvolle Kommentare und Einwände danken. Für Anregungen, Kritik und Unterstützung bedanke ich mich darüber hinaus bei Maria Jose Alcaraz, Michael Bordt, Rodrigo Duarte, Susan Feagin, Hans-Georg Flickinger, Martin Gessmann, Felix Heidenreich, Hans Maes, Corinna Mieth, Catrin Misselhorn, Jana und Thomas Osterkamp, Francisca Pérez-Careno, Ilse und Klaus Rinderle, Nikolaus Schneider, Aaron Smuts sowie vor allem bei meiner Korrektorin Helga Meyer-Rath und meinem Verleger Lukas Trabert. Einige meiner Ideen konnte ich, wie schon gesagt, in Vorträgen auf verschiedenen Konferenzen ausprobieren: beim Internationalen Kongreß »Estéticas do deslocamento« in Belo Horizonte, auf dem XVII. Internationalen Kongreß für Ästhetik in Ankara, auf dem 6. Europäischen Kongreß für Analytische Philosophie in Krakau, an der Hochschule für Philosophie in München, am IZKT Stuttgart, beim 66. Jahrestreffen der »American Society for Aesthetics« in Northampton (Mass.) sowie zuletzt bei der Konferenz der »European Society for Aesthetics« in Udine. Ohne die Finanzierung meines Projekts zur Erforschung der »Expressivität von Musik« durch die Fritz Thyssen Stiftung hätte ich die vorliegende Arbeit gar nicht erst in Angriff nehmen, geschweige denn beenden können. Sowohl die Fritz Thyssen Stiftung als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben es mir durch die Finanzierung zahlreicher Kongreßreisen außerdem ermöglicht, in einen anregenden und nützlichen Austausch von Ideen mit vielen Fachleuten aus aller Welt zu treten. Ein großer Dank von ganzem Herzen geht an meine Familie: Meine Frau Sabine und meine Töchter Sophie und Paula haben mir während des Projekts große Freiheiten für viele, sowohl physische als auch mentale Absenzen geschenkt, gleichzeitig aber immer meine emotionale Präsenz eingefordert und beharrlich darauf bestanden, über dem Nachdenken über Musik das gemeinsame Singen, Trommeln und Tanzen nicht zu vernachlässigen. Berlin, im Januar 2011 P. R. 13 Rinderle (48450) / p. 14 /1.3.2011 Rinderle (48450) / p. 15 /1.3.2011 1. Von der Expressivitt zur Ethik Kann Musik einen moralischen Einfluß auf Menschen ausüben, kann sie etwa auch für die Erziehung von Kindern verwendet werden? Können wir etwas von der Musik lernen? Kann die Musik uns vielleicht sogar intelligenter machen? Oder kann sie eventuell in sittlicher und intellektueller Hinsicht auch schädliche Wirkungen haben? Kommt ihr – einer Droge vergleichbar – das Vermögen zu, Menschen in einen Rauschzustand zu versetzen und sie dann von ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten anderen Menschen und sich selbst gegenüber abzulenken? Stellt sie deshalb eine große Gefahr dar, weil sie eher die dunklen Seiten unserer Existenz, die irrationalen und unkontrollierbaren Bedürfnisse und Triebe wecken und stärken kann? Oder kann Musik dazu beitragen, Gemeinschaftsgefühle zu wecken und auf diese Weise etwa eine Verbundenheit mit unseren Mitmenschen zu kultivieren? Und was hat ihre mögliche ethische Bedeutung mit unserer ästhetischen Wertschätzung von Musik zu tun? Gibt es eine enge Verbindung zwischen dem Guten und dem Schönen? Oder muß man eher von der Existenz eines tiefen Grabens zwischen diesen beiden Ideen ausgehen? Dieser Cocktail von Fragen beschäftigt die Philosophie zwar seit ihren Anfängen, gleichzeitig war die Musik seit jeher ein Anlaß nicht nur zur Verwunderung, sondern auch zur Beunruhigung: Sie blieb ein Terrain, das ihr häufig fremd und unzugänglich, ja unheimlich oder gar bedrohlich erschien. Da den Philosophen die Entwicklung und Ausübung unserer Fähigkeit zum Denken und Sprechen oft als höchstes Gut erschien, mußte ihnen die Produktion und Rezeption von Musik als höchst suspekt erscheinen – im Unterschied etwa zur Literatur, die sich ja der Sprache als eines Mediums zur Artikulation bestimmter Gedanken und Gefühle bedient. Der Übergang zwischen beiden – man denke an Platon auf der einen Seite oder Robert Musil auf der anderen – ist deshalb häufig fließend. Die Bedeutung von Musik und ihren Gesten entzieht sich dagegen einer begrifflichen Fixierung. Im vorliegenden Kontext ist dabei von besonderem Interesse, daß 15 Rinderle (48450) / p. 16 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik musikalische Gesten diese Eigenschaft mit dem Gesicht des Menschen teilen. So insistiert der Literaturwissenschaftler Peter von Matt (2000, 112) etwa auf dem Prinzip, »daß ein Gesicht, insofern es einmalig ist, individuell eben im strengen Sinn, nicht sprachlich vermittelt werden kann […]«. Wir müssen nun nicht darüber streiten, ob musikalische Gesten nun den expressiven Reichtum eines Gesichtsausdrucks übertreffen können oder immer hinter ihm zurückbleiben werden. Entscheidend bleibt mit Theodor W. Adorno (2005, 237; meine Hervorh.): »Musik ist mimisch insofern, als bestimmte Gesten, ein bestimmtes Spiel der Gesichtsmuskulatur an sich notwendig musikalischen Klang ergibt, Musik ist gewissermaßen die akustische Objektivation des Mienenspiels […].« Unstrittig ist jedenfalls, daß auch Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht, ein differenziertes Instrumentarium zum Ausdruck unserer Gefühle ist, dabei aber doch mit ganz anderen Mitteln und Medien operiert als die Philosophie oder die Literatur. Wenn ich die gerade genannten Fragen zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung machen möchte, so hege ich nicht den Ehrgeiz, das Geheimnis der Musik zu lüften, ihre besondere Bedeutung in ein ihr fremdes Medium zu übersetzen und auf den Begriff zu bringen. Das bedeutet indes nicht, daß die Philosophie sich vor ihrer besonderen Kraft zu fürchten hätte, ihrem Charme und ihrer Anziehungskraft erliegen und darüber ihre eigenen Stärken vergessen müßte. Der Philosoph kann sich für manche Fragen interessieren, die das Phänomen der Musik aufwirft, ohne sich dabei der Musik entweder selbst anzuverwandeln oder aber der Versuchung zu erliegen, die Bedeutung von Musik auf den Begriff zu bringen und der Musik ihre Besonderheit zu rauben. Auch auf dem Gebiet der Musikästhetik, meine ich, kann die Philosophie einen Beitrag zur Klärung einiger grundlegender Fragen und Begriffe leisten. In einem ersten, einleitenden Kapitel möchte ich zunächst die Hauptthese und das zentrale Argument des Buchs in einer Kurzfassung vorstellen (1.1). Nach und nach sollen dann die zentralen Begriffe der vorliegenden Untersuchung eingeführt und erläutert werden: Was verstehen wir überhaupt unter »Musik«, und wie sollen wir uns den engen Zusammenhang vorstellen, der zwischen einem Musikstück und bestimmten Emotionen wahrgenommen wird (1.2)? Was sind eigentlich Emotionen, wie können wir sie gegenüber anderen mentalen Zuständen abgrenzen? In welchem Verhältnis stehen sie zu den vielfäl16 Rinderle (48450) / p. 17 /1.3.2011 Die Kernthese und das Argument tigen Gestalten und Formen, in denen wir sie zum Ausdruck bringen (1.3)? Welche Bedeutung hat der Begriff »Ethik«, und worin besteht der Unterschied zwischen der »Ethik« und der »Moral«? Und in welchem Verhältnis stehen diese Begriffe zu den mentalen Zuständen, die wir »Emotionen« nennen (1.4)? Abschließend möchte ich die Frage aufwerfen und beantworten, was unter der ethischen Bedeutung eines Musikstücks zu verstehen ist. Was hat diese mit der ästhetischen Erfahrung bzw. dem ästhetischen Wert eines Werks zu tun (1.5)? 1.1 Die Kernthese und das Argument Eine vollständige Antwort auf die eingangs genannten Fragen würde umfangreiche Anstrengungen auf den Gebieten der Psychologie, der Soziologie, der Musikwissenschaft und der philosophischen Ethik und Ästhetik erfordern. Und während es in den letzten Jahren intensive Bemühungen um Ansätze zu möglichen Antworten gibt, sind wir noch weit von gesicherten und gut begründeten Ergebnissen entfernt. Aber selbst wenn sich nicht immer leicht Grenzen zu benachbarten Disziplinen ziehen lassen, versteht sich dieses Buch in erster Linie als ein Beitrag zur Erforschung eines Bereichs, den sowohl die allgemeine Ästhetik als auch die Philosophie der Musik in jüngster Zeit stark vernachlässigt haben. Schon unsere Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Ethik im allgemeinen bzw. von Musik und Ethik im besonderen kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Beginnen wir daher mit einer Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten, nach dem allgemeinen Verhältnis von Kunst und Ethik zu fragen. Eine erste Möglichkeit wäre es, von einem kausalen Zusammenhang auszugehen: Es könnten die empirischen Umstände der Produktion oder der Rezeption eines Kunstwerks sein, die seinen ethischen Gehalt festlegen. Die reale Intention des Künstlers oder der empirische Einfluß eines Kunstwerks auf den Rezipienten könnten also die ethische Bedeutung von Kunst bestimmen. So berichtet etwa Friedrich Nietzsche im Fall Wagner (KSA Bd. 6, 14) über seine Begegnung mit Bizets Oper Carmen: »[…] ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer.« Ein Musikstück kann zweifelsohne bestimmte empirische Wirkungen entfalten, und diese Wirkung kann dann auch moralisch bewertet werden. Mit einer ästhetischen Erfah17 Rinderle (48450) / p. 18 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik rung und Wertschätzung von Musik haben diese aber nicht notwendig etwas zu tun. Eine weitere Möglichkeit könnte darin bestehen, nach philosophischen Gemeinsamkeiten und Differenzen bei der Bedeutung und den Geltungsansprüchen moralischer und ästhetischer Urteile zu suchen (dazu: Reicher 2005, III. Ästhetische Eigenschaften, ästhetische Werturteile und ästhetische Gegenstände, v. a. 63 ff.). Ethische und ästhetische Urteile könnten etwa, so die Annahme der Vertreter einer antirealistischen oder anti-kognitivistischen Position in der Metaethik, die Gemeinsamkeit haben, lediglich aus Projektionen des Betrachters oder seinen subjektiven Urteilen hervorzugehen und deshalb auch weder wahr noch falsch zu sein. Eine vom Rezipienten unabhängige Grundlage für solche Urteile gibt es dieser Auffassung zufolge nicht. Ein metaethischer Kognitivist würde umgekehrt behaupten, daß sowohl ethische als auch ästhetische Urteile bestimmte Überzeugungen ausdrücken, die sich auf unabhängig vom Betrachter existierende Tatsachen beziehen und deshalb auch wahr oder falsch sein können (vgl. Miller 2003, 1.2 Cognitivism and Non-Cognitivism). Da ich mich hier für die Interaktion zwischen den ethischen und den ästhetischen Dimensionen der Musik interessiere, muß ich mich mit der Frage nach der Bedeutung von ethischen und ästhetischen Urteilen und eventuellen Parallelen zwischen ihnen nicht beschäftigen. Auch mit einer weiteren Frage sollte man das Problem der ethischen Bedeutung expressiver Musik nicht verwechseln. Man könnte etwa die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Ansprüchen der Kunst und den Ansprüchen der Moral untersuchen: Handelte der Maler Paul Gaugin nicht unmoralisch, als er seine Familie verließ, um sich auf Tahiti, umgeben offenbar von vielen hübschen Mädchen, nur noch seiner Kunst zu widmen? Ist seine Handlungsweise vielleicht sogar zu rechtfertigen, obwohl sie unmoralisch war (vgl. Williams 1981, 2. Moral Luck)? Gibt es einen allgemeinen Vorrang der Moral gegenüber allen anderen Werten, sind also Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen wichtiger als ästhetische Werte und Ideale? Oder ist umgekehrt die Kunst der höchste Wert des menschlichen Lebens, der dann alle anderen Werte – und mit ihnen auch die Moral – in ihre Schranken verweisen könnte? Obwohl diese Fragen wichtige Fragen der Philosophie sind, kommt ihnen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung doch nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Ihr Hauptaugenmerk soll sich vielmehr auf das Problem mög18 Rinderle (48450) / p. 19 /1.3.2011 Die Kernthese und das Argument licher Interaktionen von Musik und Ethik richten. Wenn Musik als eine Manifestation und Artikulation von Emotionen wahrgenommen werden kann, dann liegt auch eine unmittelbarere ethische Relevanz der Produktion und Rezeption von Musik auf der Hand. Mit dem Ausdruck unserer Emotionen fordern wir unsere Mitmenschen in der Regel zur Anteilnahme auf. Wir laden sie zum Mitgefühl ein, wir möchten unsere Freuden und Leiden mit ihnen teilen. Mit unserer Gestik und Mimik geben wir anderen Personen zu verstehen, wie uns zumute ist; und die Kommunikation solcher Zustände ist auch ein wesentliches Anliegen vieler Kunstwerke. Zwar sollte die Expressivität eines Kunstwerks bzw. eines Musikstücks nicht als ein Emotionsausdruck einer realen Person verstanden werden; aber selbst expressive Gesten imaginärer Personen können als eine Aufforderung zu einer entsprechenden Anteilnahme an diesen Emotionen verstanden werden. Berys Gaut hat mich in einer persönlichen Mitteilung darauf hingewiesen, daß es trotz häufiger faktischer Koinzidenzen einen begrifflichen Unterschied zwischen der Expressivität eines Werks und der Aufforderung zur emotionalen Anteilnahme gebe: Eine Horrorgeschichte könne den Leser etwa zu einer Emotion der Furcht auffordern, ohne eine Emotion des »Horrors« oder der »Furcht« auszudrükken; schließlich, so Gaut, könne der Autor doch nicht vor seinen eigenen Kreaturen Angst empfinden. Überzeugt hat mich dieser Hinweis nicht. Die reale Emotion des Autors ist wohl keine notwendige Bedingung für eine entsprechende expressive Qualität eines Kunstwerks, das ja auch die Emotion eines imaginären, fiktiven Autors ausdrücken kann. Da mein Argument aber ohnehin nicht von einer begrifflichen Identifikation abhängt, kann ich mich mit der Annahme häufiger faktischer Konvergenzen von emotionaler Einladung und Expressivität begnügen (zum engen Zusammenhang zwischen Expressivität und Empathie vgl. auch Green 2007, 211; 2008, 117; Currie 2010, 7.6. Empathy). Immerhin scheint es eine kulturübergreifende Relation zwischen der Expressivität eines Gesichtsausdrucks und der Erregung von Empathie zu geben. So schreibt Martin Hoffman (2000, 278 f.): »[…] anyone in any culture who attends to a victim’s facial expression of distress will feel empathic distress […]. Mimicry, conditioning, and direct association must therefore be universal empathy-arousing processes, although cultures vary in how often these processes operate, owing to likely cultural variations in the extent to which different types of distress are experienced.« Auch mit der Präsentation 19 Rinderle (48450) / p. 20 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik eines Gesichts in einem literarischen Werke, so Peter von Matt (2000, 229), wird »in der Mehrzahl aller Fälle […] ein ziemlich unverblümtes Sympathieoder Antipathiemuster geliefert […], über welches der Leser dann Taten und Leiden der Figur verfolgt und beurteilt und begrüßt und betrauert […]«. Und wegen dieses engen Zusammenhangs zwischen der Wahrnehmung der Expressivität einer Geste und der Ausbildung einer Fähigkeit zur Empathie kann gerade auch expressive Musik eine ethische Bedeutung erlangen. Die Frage, die ich hier aufwerfen und beantworten will, zielt speziell auf diese ethische Dimension von Kunst: Können wir von Kunstwerken in ethischer Hinsicht auch etwas lernen? Können uns Kunstwerke ein praktisches Wissen vermitteln? Kann Musik dann auf unsere Lebensführung Einfluß nehmen? Kann sie einen Beitrag zur Stabilisierung oder Subversion politischer Institutionen leisten? Und vor allem stellen sich im Anschluß daran Fragen wie: Spielen ethische Aspekte auch bei der ästhetischen Erfahrung von Kunst eine Rolle, sind ethische Kriterien für die ästhetische Beurteilung von Kunstwerken relevant? Ist also die ethische Bedeutung eines bestimmten Musikstücks ein Gesichtspunkt, der bei der Beurteilung seines ästhetischen Werts berücksichtigt werden muß? Und wenn ja, auf welche Weise? Sicher wird man sich dabei zunächst Klarheit verschaffen müssen, was genau unter der »ethischen Bedeutung« eines Musikstücks zu verstehen ist; doch selbst Vertreter unterschiedlicher Auffassungen darüber, was es für ein Musikstück heißen mag, »ethisch bedeutsam« zu sein, können darin übereinstimmen, daß diese Qualität zu einem ästhetischen Vorzug eines Musikstücks beitragen kann (vgl. Kapitel 2). Diese Frage stellt sich natürlich nicht nur für die Philosophie der Musik, und deshalb muß in diesem Zusammenhang auch das allgemeine Verhältnis von Ethik und Kunst angesprochen werden. Es könnte schließlich sein, daß für die besondere Gattung Musik nicht gilt, was für andere Gattungen der Kunst zutrifft. In diesem Fall sollte es jedoch möglich sein, die Gründe für eine solche Sonderstellung der Musik zu benennen. Gibt es allerdings keine guten Gründe für eine Sonderstellung, dann wird für die Musik wohl gelten, was für die Kunst im allgemeinen gilt. In einem solchen Fall mag zwar die spezifische Art der ethischen Bedeutsamkeit von Musik von der ethischen Bedeutsamkeit von Kunstwerken anderer Gattungen abweichen. Die Literatur könnte sich beispielsweise eher für die Artikulation des Gerechtigkeitsgefühls 20 Rinderle (48450) / p. 21 /1.3.2011 Die Kernthese und das Argument eignen, die Musik dagegen eher für eine Förderung des Einfühlungsvermögens mit anderen Menschen zuständig sein (vgl. Abschnitt 5.4). Auch diese Unterschiede sollten im Rahmen einer allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Musik und Ethik zur Sprache kommen. Dennoch sollten wir uns einiger Argumente bedienen können, die ganz allgemein für diese oder jene Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Ethik sprechen. Was diese spezielleren Fragen angeht, die ich gerade angeschnitten habe, muß ich den Leser ohnehin noch um etwas Geduld bitten. Verraten sei an dieser Stelle bereits die zentrale philosophische These, die ich in diesem Buch präsentieren, näher erläutern, qualifizieren und gegen tatsächliche und mögliche Einwände verteidigen möchte. Denn meine Antwort auf die Ausgangsfrage nach einer möglichen ethischen Bedeutung von Musik lautet zu guter Letzt: Ja, man kann Musik eine ethische Bedeutung zuschreiben; und es gibt folglich auch gute Gründe für die Vermutung, daß Musik einen Einfluß auf die private und politische Orientierung des Menschen nehmen kann. Zur Begründung dieser These möchte ich jetzt einen dritten Grundbegriff ins Spiel bringen, der für die vorliegende Untersuchung gleichsam eine Scharnierfunktion einnimmt: den Begriff der »Emotionen«. Mein zentrales Argument für meine Hauptthese lautet nämlich, daß die ethische Bedeutung von Musik auf ihre expressiven Eigenschaften zurückgeführt werden kann. Die Bedeutung von Musik geht sicher nicht in ihrer Expressivität auf, und auch andere Eigenschaften der Musik können ethisch bedeutsam werden. Ich meine aber, daß ihre Expressivität die naheliegendste und die wichtigste Grundlage für die ethische Bedeutung der Musik ist. Die Frage, ob man auch von einer ethischen Bedeutung von Musikstücken sprechen kann, die keine expressiven Eigenschaften aufweisen, liegt jenseits des Horizonts der vorliegenden Untersuchung.1 Diese Begrenzung ist in meinen Augen aber insofern nicht besonders folgenreich, als ich mit vielen anderen Autoren annehSchon der formalen Dimension von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen wird manchmal eine ethische Bedeutung zugeschrieben (vgl. Savile 1993, 7. Music; Walhout 1995, 14; Bordt 2009). Eine formalistische Kunst- bzw. Musikauffassung, die für eine Trennung zwischen emotionaler Rezeption und ästhetischer Wertschätzung von Musik plädiert, führt daher nicht zwangsläufig auch zu einer Separation von Ethik und Ästhetik! Gerade das Schöne wird ja traditionell in einem engen und teilweise sogar apriorischen Zusammenhang mit dem Guten gesehen (vgl. Nehamas 2007, 127). In ihrer starken, apriorischen Variante übersieht diese traditionelle Sicht jedoch, daß die 1 21 Rinderle (48450) / p. 22 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik me, daß die Expressivität von Musik ein typisches und zentrales Merkmal eines großen Teils dessen ist, was wir als Musik ansehen. 1.2 Musik und ihre Expressivitt Die Frage nach einer möglichen ethischen Bedeutung von Musik setzt zunächst eine klare Vorstellung des Begriffs »Musik« voraus. Was haben so unterschiedliche Werke wie Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier, Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni, Anton Bruckners 9. Symphonie, Igor Strawinskys Le sacre du printemps, Pierre Boulez’ Le marteau sans Maître, Brown Sugar von den Rolling Stones und Archeologia del telefono von Salvatore Sciarrino gemeinsam? Und worin unterscheiden sie sich – um wahllos einige Phänomene zu nennen, die wir nicht als Musik bezeichnen würden – vom Klingelton eines Telefons, von der Umlaufbahn eines Planeten, oder auch von Donatellos David, der im Museo del Bargello in Florenz steht? Diese Fragen teilen mit anderen philosophischen Fragen das Schicksal, auf den ersten Blick höchst künstlich zu erscheinen. Zum einen gibt es jedoch zahlreiche Grenzfälle, bei denen wir uns nicht mehr sicher sein können: Kann man John Cages berühmtes Stück 4’33’’ noch als Musik bezeichnen (dazu: Davies 2003, 1. John Cage’s ›4’33’’‹ : Is It Music?; Gann 2010; Kania 2010)? Und zum anderen mag es selbst bei unstrittigen Fällen unterschiedliche Begründungen für die Bezeichnung eines Gegenstands als »Musik« geben. Was also sind die Inhalte des Begriffs »Musik«? Läßt sich eine klare Grenze ziehen zwischen Phänomenen, die wir diesem Begriff zuordnen würden, und anderen Phänomenen, die wir nicht unter ihn subsumieren würden? Sehen wir uns einige Vorschläge von Musikern und Musikwissenschaftlern an: Viele Komponisten kennen keine philosophischen Skrupel und sind erfrischend unbekümmert. Karlheinz Stockhausen behauptet einfach, Musik sollte »vor allem klanggewordener Strom der überbewußten kosmischen Elektrizität« sein (zitiert nach Eggebrecht 1985, 22); und Wolfgang Rihm schreibt: »Musik ist Freiheit, auf die Zeit gesetzte Klang-Zeichen-Schrift« (zitiert nach Eggebrecht, ebd.). Schönheit auch die Quelle einer besonderen Lust ist, damit verführen und deshalb in einen Konflikt mit dem »Guten« treten kann (ebd., 137). 22 Rinderle (48450) / p. 23 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt Eine »schöne« Definition der Musik gibt auch Marcel Duchamp (1992, 202): »Musik, das ist Kutteln gegen Kutteln – die Eingeweide antworten dem Katzendarm der Geige.« Und Duchamp kommt daher auch zu einer negativen Bewertung der Musik: »Es gibt eine so auf die Sinne bezogene Art von Lamentation, von Trauer und Freude, die genau der retinalen Malerei entspricht, vor der mir graust.« (Ebd.) Manche Musikwissenschaftler muß man im Vergleich dazu als übervorsichtig und denkfaul, wenn nicht gar als feige bezeichnen. Carl Dahlhaus (1985, 10 f.) zum Beispiel bezeichnet »einen universalen, einheitlichen Musikbegriff« als prekär und fragwürdig; er verhindere wichtige Differenzierungen zwischen der Zwölftonmusik und den »Produkten der musikalischen Unterhaltungsindustrie«; wichtiger als Gemeinsamkeiten seien Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten von Musik (ebd., 16). Auch Christian Kaden (2004, 20) wendet sich gegen die »oberbegrifflichen Verallgemeinerungen« eines Musikbegriffs, und Hans Heinrich Eggebrecht (1985, 26) meint, es könne »eine voraussetzungsfreie, eine ungeschichtliche Antwort auf jene Frage nicht geben«. Große Erkenntnisfortschritte lassen sich mit diesen Ansätzen freilich nicht erzielen: Bei den Verlautbarungen vieler Komponisten kommt regelmäßig der Verdacht auf, daß sie zuletzt nur ihre eigene Musik im Sinn haben. Damit aber droht die Gefahr, daß der Begriff »Musik« nur noch einen stark eingeschränkten Phänomenbereich bezeichnet. Vielen Musikwissenschaftlern muß man dagegen vorwerfen, daß ihnen gar nicht mehr an einer klaren Abgrenzung des Gegenstands ihrer Wissenschaft gelegen ist. So schreibt Claus-Steffen Mahnkopf (2006, 243) zum gemeinsamen Buch Was ist Musik? von Eggebrecht und Dahlhaus ganz richtig: »Dessen Frage wird gerade nicht beantwortet. Es ist, als ob vor der Geschichte kapituliert würde.« Gewiß: Wir müssen zwischen verschiedenen Arten von Musik unterscheiden, aber der Begriff »Musik« erlaubt schließlich selbst eine wichtige Differenzierung, auf die wir nicht verzichten können. Unvorstellbar wäre es, der Forderung Dahlhaus’ nachzukommen und den Begriff »Musik« einfach ganz aus unserem Vokabular zu streichen! Wir sollten deshalb versuchen, sowohl die Skylla des Fundamentalismus mancher Komponisten (»Allein meine eigene Musik ist wirklich Musik!«) als auch die Charybdis des Relativismus vieler Musikwissenschaftler (»Die Vorstellungen von Musik sind zu unterschiedlich, als daß man sie auf einen einzigen Nenner bringen könnte!«) zu umschiffen, und uns um eine undogmatische und offene Analyse des Begriffs »Musik« be23 Rinderle (48450) / p. 24 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik mühen, die dennoch den Anspruch einer allgemeinen Reichweite ihres Ergebnisses nicht scheut. Ihr Begriff sollte auf der einen Seite nicht zu exklusiv sein: Auch fremde und unverständliche Musik, ja sogar schlechte Musik kann man als Musik bezeichnen. Er sollte auf der anderen Seite aber auch nicht zu inklusiv sein: Es gibt bestimmte Gegenstände, die wir nicht mehr als Musikstücke ansehen können und wollen. So ist die Bewegung des Planeten Venus auf seiner Umlaufbahn kein akustisch wahrnehmbares Phänomen und deshalb wohl kaum ein Phänomen, das wir als Musik bezeichnen würden. Und wenn es zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen einen Dissens über den Anwendungsbereich des Begriffs »Musik« geben sollte, so kann man nicht kategorisch ausschließen, daß sich die eine oder andere Seite im Irrtum befindet. Auch die Inhalte der Moral sind umstritten, dennoch ist dieser Umstand kein guter Grund, auf einen Versuch zur Klärung des Begriffs der Moral zu verzichten. Vor allem ist er kein überzeugendes Argument für einen moralischen Relativismus, der alle moralischen Wertungen gelten läßt. Da einer Definition des Begriffs »Musik« nicht das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung gilt, nehme ich der Einfachheit halber eine Abkürzung und präsentiere einen Vorschlag von Jerrold Levinson: Er definiert Musik als »sounds temporally organized by a person for the purpose of enriching or intensifying experience through active engagement (e. g., listening, dancing, performing) with the sounds regarded primarily, or in significant measure, as sounds« (Levinson 1990, 273). Dabei sei der Begriff »sounds« in einem sehr weiten, »sounds and silences« umschließenden Sinne zu verstehen (ebd., 270 FN. 3; meine Hervorh.; vgl. auch Kania 2010, 348). Rainer Cadenbach (1978, I. Kapitel: Analyse und Definition der Begriffe »Musik«, »musikalisch«) macht einen ähnlichen Vorschlag, demzufolge Musik erstens ein akustisches Phänomen, zweitens ein vom Menschen gestaltetes Artefakt ist, das drittens einen spezifischen, von sprachlichen Zeichen unterschiedenen Sinn hat, bei dem »jedweder musikalische Inhalt mit seinem hörbaren Substrat koinzidiert.« Zum Begriff »Musik« siehe ferner Hamilton (2007, 2. The Concept of Music), Bicknell (2009, 10 ff.) und Kania (2010). Werfen wir einen genaueren Blick auf drei Elemente von Levinsons Vorschlag. Musik ist erstens ein hörbares Phänomen, ihre Materialien sind Klänge, und diese Klänge erscheinen uns um ihrer selbst willen interessant. Diese Bestimmung ist nicht so selbstverständlich, wie sie klingen mag, denn als »Musik« wurden zu bestimmten Zeiten auch akustisch nicht wahrnehmbare Phänomene wie etwa die Bewegungen 24 Rinderle (48450) / p. 25 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt der Himmelskörper bezeichnet. Noch Theodor W. Adorno (2005, 11; meine Hervorh.) spricht von einem »Ideal stummen Musizierens« und meint, »das ›Machen‹ von Musik« sei vielleicht »ebenso infantil wie lautes Lesen« (ebd., 13); und Charles Rosen macht in diesem Zusammenhang auf interessante Veränderungen des Musikbegriffs aufmerksam: »Das Musikverständnis hatte sich seit Bachs Zeiten radikal gewandelt. Für Mozart war es eine absolute Selbstverständlichkeit, daß die Musik in ihrer Ganzheit hörbar sein mußte, während dies für Bach noch schlicht irrelevant war.« (Rosen 2000, 21 f.) »Dem Gedanken des absolut Unhörbaren in der Musik konnte man zur Zeit der Wiener Klassik, als jede musikalische Linie tatsächlich oder doch wenigstens in der Vorstellung hörbar sein müßte, nichts abgewinnen. Mit Schumann aber trat er wieder nachdrücklich auf den Plan.« (Ebd., 23) Dennoch würden wir heute wohl daran festhalten wollen, daß die akustische Wahrnehmbarkeit ein unverzichtbares Element des Musikbegriffs ist. Musik beinhaltet zweitens, daß wir uns für zeitlich organisierte Klänge um ihrer selbst willen interessieren. Sicher können wir uns für Klänge auch um anderer Dinge willen interessieren, dann aber haben wir es eben nicht mehr mit Musik zu tun. Die gesprochene Sprache wäre ein Beispiel für eine Aufeinanderfolge von Klängen, die uns nicht um ihrer selbst willen interessieren, denn sie kann in aller Regel sehr leicht durch eine schriftliche Mitteilung ersetzt werden. So schreibt Eduard Hanslick (1989, 88): »Der wesentliche Grundunterschied besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur ein Zeichen, d. h. Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist, d. h. als Selbstzweck auftritt.« Hans Heinrich Eggebrecht (1996, 546) meint ähnlich: »Der Ton der Musik ist zum Hören des Tons als Ton gemacht und in dieser Bestimmung frei von allem sonst.« Er fährt dann aber mit der strittigen und meines Erachtens falschen Behauptung fort: »Das zuallererst ist das Schöne an ihm beziehungsweise die Voraussetzung dafür, daß er das Element des Schönen sein kann. […] Was an ihm das Schöne ist: die Freiheit, nur zum Hinhören bestimmt zu sein und in dieser Daseinsbestimmung seine Erfüllung zu finden, gilt […] für die Musik im abendländischen Sinn.« Musik wird drittens von Menschen gemacht, indem sie das jeweilige Klangmaterial auf eine bestimmte Art und Weise formen und organisieren (vgl. Blacking 1973, 11 f.; Floros 2000, 22); und sie wird außerdem von Menschen auf eine bestimmte Weise wahrgenommen und 25 Rinderle (48450) / p. 26 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik rezipiert, denn Musik ist wesentlich immer auch auf Kommunikation angelegt. Man kann sie »als Nachricht vom Menschen für Menschen« (Lachenmann 1996, 72) verstehen und wird daher nicht jedes beliebige Geräusch – nicht jedes Zwitschern eines Vogels oder jedes Stottern eines Motors – als Musik bezeichnen. Geräusche können von einem Komponisten sicherlich in ein Musikstück mit aufgenommen werden. Selbst John Cage zieht eine klare Grenze zwischen den Geräuschen, die als Teile seines Stücks 4’33‚ anzuhören sind, und den Geräuschen, die nicht mehr dazu zählen. Im ersten Fall haben wir es eben nicht mehr nur mit einem reinen »Alltagsgeräusch«, sondern mit einem akustischen Phänomen zu tun, das in einem zeitlich organisierten Gebilde eine bestimmte Bedeutung annehmen kann. Wir haben demnach gute Gründe, an einer Unterscheidung zwischen bloßen Alltagsgeräuschen und akustischen Ereignissen mit einer musikalischen Bedeutung festzuhalten (vgl. Eggebrecht 1996, 547; Hamilton 2007, 4. The Sound of Music; Kania 2010, 348 f.). 2 Levinsons Definition wird meines Erachtens nun genau den beiden Kriterien gerecht, die ich oben für eine angemessene Bestimmung des Begriffs der Musik aufgestellt habe: Sie weist eine gewisse Offenheit auf, ist also nicht zu exklusiv und fundamentalistisch, so daß wir mit ihr zahlreiche Produkte anderer Kulturen ganz unproblematisch der Musik zuordnen können. Auch Menschen in anderen Kulturen produzieren und rezipieren zeitlich organisierte Klänge, die ihnen – und uns! – um ihrer selbst willen interessant erscheinen können. Gleichzeitig zwingt uns diese Definition nicht zum Verzicht auf eine allgemeingültige Unterscheidung zwischen Musik und Nichtmusik, sie nötigt uns also nicht zu einem Verzicht auf Differenzierungen und führt nicht zu einem begrifflichen Relativismus. Levinson (1990, 268) räumt durchaus ein, daß er zunächst nur »unseren« Begriff von Musik Siehe ferner Mahnkopf (2007, 67) über den Ausdruck des Unmenschlichen mittels musikalischer Geräusche: »Das Unmenschliche, das In-Humane, bedarf freilich eines anderen Klangmaterials, eines, das die Fremdheit, die von außen kommende Feinseligkeit, die Bedrohlichkeit seitens einer unbekannten Macht, auszudrücken vermöchte. Eine Möglichkeit sehe ich in Geräuschen, und zwar in harten und schmerzhaften, und darin, sie mit Mitteln der fortgeschrittenen Elektronik zu entstellen.« Dabei sollte man nicht vergessen, daß es nur allzu humane Geräusche – das Pochen des Herzens, den menschlichen Atem – gibt, die ein hohes Potential an Expressivität aufweisen. Bei Salvatore Sciarrino und Beat Furrer etwa spielen musikalische Nachahmungen solcher Geräusche eine wichtige Rolle. 2 26 Rinderle (48450) / p. 27 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt expliziere und damit beschreibe, wie wir – Personen, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur sozialisiert wurden – über Musik denken: »The concept to be explicated will […] be that possessed by twentieth-century Westerners, but it is one intended to have application to phenomena all over the world.« Der Umstand jedoch, daß wir von einer bestimmten Kultur geprägt sind, muß uns nicht an einer Offenheit gegenüber kulturellen Phänomenen aus anderen Kulturen hindern. Die unleugbaren Schwierigkeiten der Bestimmung eines universellen Begriffs von Musik müssen uns also nicht von der Klärung unseres eigenen Verständnisses von Musik abhalten, und es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sich dieser aus unserem Selbstverständnis entwickelte Begriff auch zur Bezeichnung bestimmter Phänomene aus anderen Kulturkreisen eignet. Manche Phänomene sowohl in unserer eigenen Kultur als auch in anderen Kulturen würden wir nicht als Musik bezeichnen, und es ist keine kulturimperialistische Haltung, wenn man auf der grundsätzlichen Möglichkeit einer solchen Unterscheidung besteht. Allein der von einer alternativen Definition des Begriffs »Musik« ausgehende Hinweis, eine bestimmte Aktivität von Mitgliedern anderer Kulturen zähle auch zur Musik, kann nicht als echter Einwand gelten. Man kann nämlich immer die Rückfrage stellen: Wie sieht diese »alternative Definition« genau aus? Und sobald diese alternative Definition dann vorliegt, bleiben nämlich zwei Möglichkeiten offen: Wir könnten uns entweder veranlaßt sehen, unsere eigene Definition entsprechend zu modifizieren oder zu erweitern, um einen neuen Aspekt von Musik zu berücksichtigen; oder aber wir kommen zum Schluß, diese »Alternativdefinition« beziehe sich nicht mehr nur auf »Musik« in unserem Sinne, sondern gebe uns vielleicht einen Begriff von »Nusik« oder »Pusik« an, der nurmehr teilweise mit unserem Begriff von »Musik« übereinstimme. Wir selbst würden dann daran festhalten können, daß diese besondere Aktivität eben nicht mehr als »Musik« bezeichnet werden sollte. Dabei muß mit dieser begrifflichen Ausgrenzung übrigens durchaus kein (negatives) ästhetisches Werturteil verbunden sein! Im Gegenteil: Es könnte auch viele interessante und wertvolle »Nusik-« oder »Pusikstücke« geben. Ausgehend von diesem allgemeinen Begriff »Musik« können und müssen wir sicherlich mehrere Differenzierungen innerhalb des mit ihm abgegrenzten Bereichs vornehmen. Es gibt überhaupt keinen Grund für Dahlhaus’ Annahme, der Kollektivsingular »Musik« stehe 27 Rinderle (48450) / p. 28 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik diesen Unterscheidungen im Wege oder schließe sie aus. Sinnvollerweise sollte man deshalb zwischen einem allgemeinen Begriff »Musik« und verschiedenen Konzeptionen von »Musik« unterscheiden (dazu in einem anderen Zusammenhang: Rawls 1975, 26 f.). Ihr Begriff erlaubt es uns, bestimmte Phänomene der »Musik« zuzurechnen und von anderen Phänomenen abzugrenzen; die verschiedenen Konzeptionen von Musik geben uns an, welche Arten von Musik es geben kann und aus welchen Gründen wir die eine oder andere Art eher als Musik ansehen würden (vgl. Levinson 1990, 277). An erster Stelle sollte man den Unterschied zwischen reiner Instrumentalmusik und Vokalmusik ansprechen. Dieser Unterschied ist für die vorliegende Untersuchung insofern wichtig, als sich die Frage nach der ethischen Bedeutung dieser beiden Musikarten unter unterschiedlichen Vorzeichen stellt: Der Text eines Liedes kann unmittelbar bestimmte moralische oder ethische Themen ansprechen, und wir werden uns sicherlich sehr viel leichter tun, von der ethischen Bedeutung eines Liedes als der eines Streichquartetts zu sprechen. Die ethische Bedeutung der Vokalmusik kann – zum Teil! – mit der ethischen Bedeutung von Literatur verglichen werden. Doch auch ein Lied fällt unter unsere Definition von Musik. Die musikalische »Begleitung« eines Textes wird uns eben nicht nur als Mittel zu einem ihr fremden Zweck erscheinen, wir werden uns vielmehr auch bei Liedern für musikalisch organisierte Klänge um ihrer selbst willen interessieren. Warum singen wir beispielsweise eine Gratulation zum Geburtstag und begnügen uns nicht mit einem verbalen Ausdruck unserer Glückwünsche? Könnten wir mit Worten unsere Wünsche für das Geburtstagskind nicht sehr viel präziser benennen? Ebenso geben wir anderen Gelegenheiten wie Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen oft einen »musikalischen Rahmen«. Offenbar bringt die Musik hier eine neue Dimension ins Spiel, die der Sprache allein abgeht, und offenbar involviert die Musik unsere Emotionen auf eine Art und Weise, die über verbale Äußerungen weit hinausreicht. Nicht selten reagiert die Musik dabei mit ihren eigenen, spezifisch nonverbalen Mitteln auf die verbalen Aussagen eines Liedes und kommentiert die expliziten Aussagen des Textes in ihrer eigenen »Sprache«. 3 Diese Reaktionen und Kommentare der Musik können dann auch eine eigenständige ethische 3 Vgl. Kinderman (1986, 66) und Kramer (1998, 48 f.) über Schuberts Erlkönig sowie Ford (1991, 187 f.) über Dorabellas halbherzigen Widerstand gegenüber Guglielmos 28 Rinderle (48450) / p. 29 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt Bedeutung über den Text hinaus annehmen, sie können die Bedeutung des Textes verstärken oder diese auch konterkarieren. Selbst wenn im Falle der Instrumentalmusik die Frage nach der ethischen Bedeutung von Musik klarer fokussiert erscheinen mag – wir werden nicht durch einen Text von den zeitlich organisierten Klängen »abgelenkt« –, so stellt sich unser Hauptproblem doch auf gleiche Weise wie für Exemplare der Vokalmusik. Oft wird zwar der sogenannten »absoluten Musik«, der »reinen Instrumentalmusik«, ein höherer Stellenwert eingeräumt. »[…] nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann«, schreibt Eduard Hanslick (1989, 33), »gilt von der Tonkunst als solcher. […] Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es, denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst.« Dazu kann man stehen, wie man möchte; jedenfalls schließt unser Begriff der Musik die Vokalmusik nicht aus (zur Kritik der allseits grassierenden »Autonomania« in der Musikphilosophie vgl. Ridley 2004, Introduction: Music from Mars und 169), und daher gibt es keinen guten Grund, nicht auch nach dem spezifischen Beitrag der »Begleitmusik« zu einer eventuellen ethischen Bedeutung dieser Werke zu fragen. Weiterhin wird häufig zwischen der ernsten Musik und der sogenannten Unterhaltungsmusik unterschieden; und auch diese Unterscheidung ist für unsere Untersuchung insofern von großer Bedeutung, als viele Autoren den jeweiligen Exemplaren dieser Sparten unterschiedliche expressive Eigenschaften, ethische Bedeutungen und ästhetische Qualitäten zuschreiben. Carl Dahlhaus (1985, 11; meine Hervorh.) spricht sogar von einer Realität, »die von der Dichotomie zwischen E- und U-Musik bestimmt wird«. Dagegen muß man einwenden, daß die Rede von einer »Dichotomie« zwischen diesen beiden Sparten heute als überholt gelten kann. Zwar erfüllt auch diese begriffliche Unterscheidung einen sinnvollen Zweck und hat deshalb ihre begrenzte Berechtigung; dennoch sind die Übergänge in der Realität fließend. Helmut Lachenmann (1996, 70) spricht zwar von »der schwachsinnigen Behauptung von der unzulässigen Unterscheidung von ernster und Unterhaltungsmusik«. Er schreibt: »Das Wort von der Unterschiedslosigkeit von Eund U-Musik gehört zur Strategie der Blödmacherei.« Vollkommen richtig: Avancen in Mozarts Così fan tutte: »When Dorabella said ›no‹ to Guiglielmo […], the music made it perfectly clear that she really meant ›yes‹.« 29 Rinderle (48450) / p. 30 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik Unterschiede sind die unverzichtbare Voraussetzung für klares Denken; aber dennoch rechtfertigt nicht jeder Unterschied die Rede von einer »Dichotomie« bzw. von zwei radikal getrennten Sphären. Sicherlich wird man einräumen müssen, daß es zwischen seichter, kommerzieller Gebrauchsmusik, »die sehr bewußt der Nachfrage nach Glücks-Versprechen dient, und die wider besseres Wissen ein intaktes Ich setzt, einfach, um freundlich Du sagen zu können«, und anspruchsvoller Kunstmusik, »in welcher das Subjekt sich ausdrückt, das heißt: sich einschließlich seiner Widersprüche und seiner Utopien erfahrbar macht« (ebd.), einen tiefen Graben gibt. Die Musik Heinos oder Richard Claydermans hat also schwerlich den gleichen künstlerischen Rang wie die Musik Helmut Lachenmanns oder Enno Poppes. Gleichzeitig sind die Grenzen aber zumindest durchlässig geworden. Die Lieder Bob Dylans und Neil Youngs wird man nicht auf eine Ebene mit den Liedern Heinos stellen können (für weitere Beispiele künstlerisch anspruchsvoller Unterhaltungsmusik vgl. Scruton 1997, 469); und umgekehrt sind einige Werke des Minimalismus nicht ohne weiteres der E-Musik zuzurechnen. Richard Taruskin (2009, 11; meine Hervorh.) sagt ganz richtig: »Whatever one may think of it […], the music of Glass and Reich represents a style that is undeniably at once avant-garde and popular.« Auch was die Bewertung einzelner Werke aus diesen beiden Sparten angeht – und oftmals dienen die Abgrenzungen zwischen E- und U-Musik ausschließlich entsprechenden Auf- oder Abwertungen –, sollte man sich vor pauschalen und voreiligen Urteilen hüten: Es gibt auf der einen Seite gute Rocksongs von den Rolling Stones, Jimi Hendrix oder Deep Purple sowie wunderbare Jazzimprovisationen von Dexter Gordon, Sonny Rollins oder Branford Marsalis; und auf der anderen Seite gibt es absolut unverständliche und sterbenslangweilige Avantgarde-Kompositionen, die wirklich keinen besonderen ästhetischen Wert für sich in Anspruch nehmen können. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung möchte ich jedenfalls davon ausgehen, daß sich die Frage nach einer ethischen Bedeutung und einem ästhetischen Wert – wenn auch auf unterschiedliche Weise – sowohl für Werke der ernsten Musik als auch für Werke der Unterhaltungsmusik stellt. Innerhalb der Kategorie der sogenannten E-Musik wird heute zusätzlich oft zwischen Alter Musik, klassischer Musik und Neuer Musik unterschieden: Die Musik aus der Zeit zwischen ca. 1600 und 1945 bezeichnet man als klassische europäische Kunstmusik. Grob gesprochen wird man den Beginn dieses Zeitalters auf die ersten Opern Claudio Monteverdis und sein Ende auf die ersten seriellen Kompositionen von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen datieren können. Musik 30 Rinderle (48450) / p. 31 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt – man müßte genauer sagen: eine bestimmte Form von Musik – nach 1945 wird dagegen häufig als Neue Musik bezeichnet 4 ; und Musik vor 1600 wird dann gerne als Alte Musik bezeichnet. Über den genauen Verlauf der Grenze müssen wir uns hier nicht streiten: Denn zum Teil wird man den Beginn von Neuer Musik bereits um 1910 mit den ersten atonalen Kompositionen von Arnold Schönberg ansiedeln wollen, und zum Teil wird man auch noch bis ins 17. Jahrhundert hinein von Alter Musik sprechen können. Wesentliches Merkmal für die europäische Kunstmusik in dem genannten Zeitraum bleiben jedenfalls die Tonalität und die Funktionsharmonik. Da diese Merkmale vor allem in der seriellen Musik nach 1945 zunächst radikal in Frage gestellt wurden, konnte man zunächst von einem radikalen Bruch ausgehen – obwohl sich die Wogen inzwischen wieder etwas geglättet haben, die Übergänge fließend geworden sind und die Tonalität längst kein Tabu mehr ist. Im Abstand von nun 100 Jahren werden zunehmend wieder die Gemeinsamkeiten der Neuen Musik der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit der klassischen europäischen Kunstmusik wahrnehmbar (vgl. Taruskin 1997, 369). Selbst wenn man die Rede von einem »Bruch« als gerechtfertigt ansieht, spielt aber auch die Unterscheidung zwischen »klassischer Musik« und »Neuer Musik« für die vorliegende Untersuchung nur eine marginale Rolle: Zum einen ist die sogenannte U-Musik – sieht man von Einflüssen Neuer Musik auf Jazz und Pop ab – von diesem Bruch kaum berührt; und zum anderen gibt es zunächst gar keinen Grund, warum man nicht auch von einer ethischen Bedeutung der Neuen Musik sprechen können sollte. Tatsächlich mag man mit einer »Krise« der musikalischen Expressivität in der Neuen Musik ihre Möglichkeiten zur Artikulation von »Subjektivität« und im Anschluß daran ihre ethische Bedeutung in Frage gestellt sehen. Zur Selbstthematisierung der Subjektivität in der Musik der Moderne siehe insbesondere Albrecht v. Massow (2001, 78 ff. und 257 ff.) sowie Walter Bühl (2004, 126 ff.); und zur Konstruktion eines bürgerlichen, zugleich autonomen und sensiblen Subjekts im 1. Satz von Mozarts Prager Symphonie siehe die Analyse von Susan McClary (1994). Siehe außerdem Lawrence Kramer (1995, 21): »[…] music participates actively in the cultural construction of Zur Fragwürdigkeit des Begriffs »Neue Musik« siehe allerdings schon Schönberg (1992, 41 ff.). Er spricht von einem bloßen »Schlagwort«, einem »Kampfruf« und meint, alle wahre Kunst sei letztlich »Neue Kunst« und alle Musik »Neue Musik«. 4 31 Rinderle (48450) / p. 32 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik subjectivity.« Aus diesem Grund, so Helmut Lachenmann (1996, 111), unterscheide sich die abendländische Musik, »in der sich das Ich als Individuum, als eigenwilliger Geist zu erkennen gibt, indem es sich in die Ungeborgenheit der Reflexion vorwagt« auch »von Grund auf von der Musik anderer Kulturen, wo sie – durchweg kultisch gebunden – ihre magische Rolle beibehalten hat«. Ohne hierfür gute Belege anführen zu können, wage ich doch, an dieser allzu simpel wirkenden Gegenüberstellung ein Fragezeichen anzubringen. Dennoch möchte ich vor voreiligen Verallgemeinerungen warnen: Es kann nicht als ausgemacht gelten, daß die Neue Musik und mit ihr die Abwendung von der Tonalität und der traditionellen Funktionsharmonik zu einer allgemeinen Krise des expressiven Potentials von Musik geführt haben – und allein dieses ist für meine weiteren Überlegungen entscheidend. Wenn diese Fähigkeit in der Neuen Musik nur noch in abgeschwächter Form vorliegen oder ganz verschwunden sein sollte, wäre damit zumindest eine Grundlage ihrer ethischen Bedeutung in Frage gestellt. Doch zu dieser Annahme gibt es in meinen Augen keine Veranlassung. Sowohl der Vokal- als auch der Instrumentalmusik, sowohl der sogenannten E-Musik als auch der sogenannten U-Musik wird man expressive Eigenschaften zuschreiben können; und auch Werke der Neuen Musik bilden hier keine Ausnahme. Umstritten ist heute, wie die Rede von emotionalen Eigenschaften eines Musikstücks erklärt oder verstanden werden soll: Einem Musikstück kann man schließlich keine Emotion der Freude oder der Trauer zuschreiben. Doch daß viele Musikstücke expressive Eigenschaften haben und daß die Wahrnehmung dieser Eigenschaften auch für ein angemessenes Verständnis und eine entsprechende Wertschätzung von Musik wesentlich sind – das jedenfalls wird heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. 5 Strittig bleibt zudem, ob die Anwesenheit expressiver Eigenschaften auch ein notwendiges Element für jede Art von Musik ist. Hans Heinrich Eggebrecht (1985, 41) scheint das zumindest für die Musik im »europäischen Sinne« anzunehmen: »Musik im europäischen Sinne Selbst wenn viele »Musikwissenschaftler und Ästhetiker«, so Gustav Falke (1997, 62), »nicht müde [werden], die Ausnahmestellung der Musik zu behaupten« und die Auffassung vertreten, »Noten und Töne könne man nicht ansehen, was sie ausdrücken«, so redet »in Wahrheit […] jeder ganz selbstverständlich davon, daß ein Stück heiter oder melancholisch sei«. Falke fügt auch ganz richtig hinzu: »Daß man sich über den Ausdruck streiten kann, wäre kein Einwand. Musik ist eben interpretierbar und interpretationsbedürftig […].« (Vgl. auch Rosen 2010, 5.) 5 32 Rinderle (48450) / p. 33 /1.3.2011 Musik und ihre Expressivitt ist mathematisierte Emotion oder emotionalisierte Mathesis.« »Musik im abendländischen Sinne ist geprägt durch rationalisierte Emotion und emotionalisierte Rationalität.« (Eggebrecht 1996, 40 f.) Diese Annahme läßt sich aber in zweierlei Hinsicht in Frage stellen: Zum einen scheint sie mir viel zu weit, denn sicherlich gibt es »mathematisierte Emotionen« auch in anderen Künsten; und zum anderen ist diese Definition viel zu eng, denn auch zeitlich organisierte Klänge, denen entweder das emotionale Element (z. B. serielle oder aleatorische Musik) oder das mathematische Element (z. B. romantische Musik) abgeht, kann man noch als Musik bezeichnen. Was dann ihre Erklärung angeht, lautet mein eigener Vorschlag, daß sich die Expressivität von Musik als das Resultat der ein- und mitfühlenden Imagination des Hörers, d. h. als das Produkt der emotionalen Phantasie eines aufmerksamen Rezipienten verstehen läßt. Der Hörer stellt sich dieser Auffassung zufolge eine mehr oder weniger deutlich individuierte Person vor, die ihre Emotionen in dem betreffenden Musikstück zum Ausdruck bringt. Das ist der Kerngedanke der sogenannten Persona-Theorie der musikalischen Expressivität (vgl. Rinderle 2010, 5. Gesten einer imaginären Person …), bei der die Phantasie des Hörers eine zentrale Bedeutung hat. Obwohl die emotionale Erregung oder Assoziation des Hörers nicht die Grundlage der Zuschreibung von expressiven Eigenschaften bilden, ist eine emotionale Resonanz beim Hörer dennoch eine wichtige Begleiterscheinung bei der Wahrnehmung expressiver Musik (vgl. Rinderle 2010, 6. … und emotionale Antworten des Hörers). Die expressiven Eigenschaften eines Musikstücks sind nicht nur beliebige Eigenschaften, die wir zur Kenntnis nehmen können oder auch nicht, sondern tragen zum Verständnis und zum ästhetischen Wert eines Musikstücks bei. Und wenn dessen ästhetische Vorzüge unter anderem von seinen ethischen Eigenschaften abhängig sein können, dann gibt es auch eine Interaktion der ethischen und ästhetischen Dimensionen von Musik (vgl. Kapitel 2). Halten wir den Zwischenstand unserer Überlegungen fest: Die Ausgangsfrage lautet, worin eine mögliche ethische Bedeutung von Musik bestehen könnte. Zum einen habe ich diese Frage bereits auf expressive Musik eingeschränkt, ohne doch kontroverse Vorannahmen in bezug auf das expressive Potential verschiedener Musikarten vorauszusetzen. Zum anderen habe ich vorgeschlagen, die expressiven Eigenschaften von Musik als Resultat der ein- und mitfühlenden Phantasie des Hörers und seiner Imagination einer musikalischen persona 33 Rinderle (48450) / p. 34 /1.3.2011 Von der Expressivitt zur Ethik zu verstehen. Mit diesen Annahmen können wir unsere Frage bereits etwas präzisieren: Welche ethische Bedeutung kommt der Annahme zu, ein Musikstück lade dazu ein, sich eine fiktive Person vorzustellen, die dort ihre Emotionen zum Ausdruck bringt? Daß die Begegnung mit einer sei es realen, sei es fiktiven Person, die durch bestimmte Gesten auch ihre Emotionen zum Ausdruck bringt, eine bestimmte ethische Bedeutung haben kann, wird sehr viel weniger merkwürdig klingen als nur die ungenaue und vieldeutige Rede von einer ethischen Bedeutung von Musik. Nach wie vor bleibt an dieser Stelle aber offen, warum denn »Emotionen« und ihr »Ausdruck« in irgendeiner Weise ethisch bedeutsam sein sollen. Schon die Begriffe »Emotion« und »Ethik« schillern in zahlreichen Facetten und lassen sich unterschiedlich verstehen. 1.3 Emotionen und ihr Ausdruck Es gibt unterschiedliche Arten von Musik, und die Eigenschaften, die diese Arten trotz aller Unterschiede gemeinsam haben, garantieren nicht, daß alle Menschen den gleichen Zugang zu den verschiedenen Musikstilen und -richtungen haben. Viele Werke der Neuen Musik entziehen sich einer leichten Konsumierbarkeit, und auch eine neue Einspielung der Streichquartette von Joseph Haydn oder der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven wird nicht die gleichen Verkaufszahlen erzielen wie – um drei der meistverkauften Tonträger des Jahres 2008 in Deutschland zu nennen – die neuen Alben Back to Black von Amy Winehouse, Black Ice von AC/DC oder Death Magnetic von Metallica. Wesentlich ist dabei jedoch die Tatsache, daß ein großer Teil der Musik, über alle Unterschiede zwischen verschiedenen Musikarten hinweg, den Hörer in emotionaler Hinsicht anspricht. Gerade im Vergleich zur Malerei oder zur Literatur scheint die Musik die Emotionen ihrer Rezipienten in sehr viel stärkerem Maße zu berühren. Dieser Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen ist der Philosophie seit langer Zeit bekannt, und er ist seit kurzem auch Gegenstand intensiver Forschungen in der empirischen Musikpsychologie (vgl. Juslin/Sloboda 2001; Scherer/Zentner 2001; Rötter 2005; Sloboda 2005; Juslin/Västfjäll 2008). Unklar bleibt bisher, wie er zu erklären ist: Stehen akustische Reize in einem engeren Zusammenhang mit unseren Emotionen als visuelle Reize? Oder steht die Musik in einem 34