27 Tages-Anzeiger – Mittwoch, 17. Juni 2015 Kultur & Gesellschaft Träumen? Arbeiten! Leser fragen Der Schweizer Pianist Teo Gheorghiu hat das Wunderkind-Etikett konsequent und erfolgreich abgestreift. Derzeit befasst er sich mit Schubert und Liszt – auf CD und im Zürcher Kaufleuten. Im Zusammenhang mit dem scheidenden Fifa-Präsidenten wundere ich mich wieder einmal, wie Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung dermassen weit auseinanderklaffen können, und vor allem auch, wie immun das Selbstbild eines solchen Menschen gegen jegliche Kritiken und Angriffe von aussen ist. Ist ein Mensch, der für alle, die ihn genug lange kennen, augenfällig beispielsweise von Neid und Missgunst beherrscht ist, sich selber aber als die Herzlichkeit, Güte und Sanftmut in Person sieht, überhaupt zu Selbsterkenntnis fähig? A. H. Susanne Kübler Er träumte vom Fliegen und von einem normalen Leben: Vitus, das pianistische Wunderkind aus Fredi M. Murers gleichnamigem Film von 2006. Teo Gheorghiu dagegen, der Vitus-Darsteller von damals, träumt nicht, oder höchstens davon, endlich dieses Filmetikett loszuwerden. Träume seien nutzlos, hat er einmal gesagt. Man müsse arbeiten, um vorwärtszukommen. Eine klare Haltung, und Gheorghiu ist konsequent. In seiner pianistischen Arbeit, bei der er schon bemerkenswert früh nicht mehr auf den Wunderkind­ bonus angewiesen war, wie auch in seiner Öffentlichkeitsarbeit. Auf seiner ersten CD gab es noch einen «Vitus»-Kleber, auf seiner aktuellen fehlt selbst im Kleingedruckten jeder Hinweis auf den Film: ein Beleg für die Hartnäckigkeit des mittlerweile 22-jährigen Pianisten – und ein bemerkenswertes Entgegenkommen der Plattenfirma, die damit auf ein starkes Verkaufsargument verzichtet. Aus einer einzigen Note Immerhin, es gibt genügend andere. Zum Beispiel die kluge Werkwahl: Gheorghiu kombiniert Schubert-Impromptus und Liszts «La Vallée d’Obermann» mit Liszts Orchestrierung von Schuberts «Wandererfantasie». Und bringt damit zwei Komponisten zusammen, die man gemeinhin eher gegensätzlich sieht. Gekannt haben sie sich nicht, obwohl zeitweise beide in Wien lebten. Liszt bezirzte damals das Publikum als pianistischer Wunderknabe, während der von gesundheitlichen und monetären Krisen geschüttelte Schubert die Öffentlichkeit mied – und das vom Jüngeren gespielte Hochvirtuosen-Repertoire erst recht. Liszt wiederum hat Schubert erst entdeckt, als dieser bereits tot war. Aber dann hat er mehr für ihn getan und mehr von ihm gelernt als manch anderer: Diverse Lieder hat er für Klavier eingerichtet und der Wandererfantasie durch die Orchestrierung ein breiteres Publikum verschafft, als sie es im pianistischen Original je hätte erreichen können. Und vor allem hat er genau beobachtet, wie Schubert aus fast nichts, aus nur einem einzigen Ton beispielsweise, ein ganzes Stück entwickeln konnte: Auch Liszt hat das später, wenn auch in ganz anderem Stil, zu seiner Spezialität gemacht. Teo Gheorghiu hält nichts von interpretatorischen Egotrips, er sucht die Balance zwischen Klang und Struktur. Foto: P. Faccinetto Teo Gheorghiu kommt dieses Vor­ gehen entgegen. Er ist keiner, der schwungvoll und genialisch auf dem interpretatorischen Egotrip durch die ­Partituren fetzen würde; er gestaltet mit Bedacht und Respekt vor dem Werk. Nicht den Effekt sucht er, sondern die Balance: zwischen Klang und Struktur, zwischen Detail und Zusammenhang, zwischen Schubert und Liszt. Wo andere die Stürme durch das (imaginäre) Vallée d’Obermann brausen lassen, hört man bei Gheorghiu eine differenzierte Wetterlage. Eine, mit der auch Schubert ­etwas hätte anfangen können. Kein Wunder, schätzt der 1992 als Sohn rumänischer Eltern in Männedorf geborene Gheorghiu gerade den rumänischen Pianisten Radu Lupu besonders. Auch der setzt nicht auf Oberflächenglanz, sondern auf durchdachte, durchfühlte Interpretationen. Kein Wunder auch, dass Gheorghiu seinen Weg ins Pianistendasein allen Möglichkeiten zum Trotz nicht den Schlagzeilen entlang gesucht hat, sondern sorgfältig und Schritt für Schritt vorgegangen ist. Bereits als 9-Jähriger kam er an die Londoner Purcell School, in die Schweiz kehrte er nur in den Ferien zurück (weshalb er besser Englisch spreche als Deutsch, wie er sagt). Eine kurze Zeit verbrachte er am Curtis Institute in Philadelphia bei Gary Graffman, wechselte aber bald wieder nach London. Dort studiert er derzeit bei Hamish Milne an der Royal Academy of Music. und ein witzig-frisches Plädoyer für Liebe und Menschlichkeit. Denn diese Eigenschaften helfen sogar, wenn das Boot scheinbar voll ist. Die Einzigen, die hier trotzdem über die Reling meckern, das sind die weissen Schafe. Isabel Hemmel Tänzer und Diplomat Emilio de Cavalieri gerade mit diesem Stück beteiligt hat. Er hat dafür aussergewöhnlich vielfältige Klangfarben vorgesehen, und Jacobs lässt sich da nicht zweimal bitten. Die Akademie für Alte Musik Berlin ist üppig besetzt, aber auch solistisch gefordert. Und die Sänger (darunter MarieClaude Chappuis, Johannes Weisser oder Marcos Fink) versuchen herauszufinden, was man sich damals unter «­ recitar cantando» vorgestellt haben mochte – in einem expressiven und gleichzeitig schlichten, flüssigen Gesangsstil, der sich nur beim Auftritt des mondänen Lebens virtuose Kapriolen erlaubt. Archaisch, zuweilen auch ein wenig formelhaft wirkt diese Tonsprache; dann wieder berührt sie mit Passagen, wie sie nur in einer Übergangszeit geschrieben werden konnten. Man tastet sich vor ins musikalische Neuland und hält sich doch noch an vertrauten Wendungen fest – bis sich die Musik nach einem prächtigen, mit viel Perkussion ­ ­befeuerten Schlusschor verflüchtigt. Susanne Kübler Subtile Glanzpunkte Die Kontakte in die Schweiz sind aber nach wie vor eng, insbesondere zum Musikkollegium Winterthur, das ihn einst in der Tonhalle bei jenem Schumann-Klavierkonzert begleitet hatte, das dann im Film «Vitus» eine zentrale Rolle spielte. Auch auf der SchubertLiszt-CD ist das Musikkollegium unter der Leitung seines Chefdirigenten Douglas Boyd wieder mit von der Partie: eben in der orchestrierten Wandererfantasie, die das Original überaus ernst nimmt und doch so anders klingt. Liszt konkretisierte mit dem Orchester die Stimmungen, die bei Schubert sozusagen in der Schwebe blieben. Und er befreite das Klavier von jeder Verpflichtung: Es muss sich nicht mehr um alles kümmern, sondern kann seine Glanzpunkte setzen. Gheorghiu setzt sie präzis, subtil, uneitel. Und so, dass es durchaus nicht nach Arbeit klingt. Schubert, Liszt: Excursions (Sony Classical); Soirée classique mit Teo Gheorghiu im Zürcher Kaufleuten: Mittwoch, 24. Juni, 20 Uhr. Kurz & kritisch Theater Gottes Sintflut und der menschliche Beitrag Zürich, Rudolf-Steiner-Schule – Das ganz grosse Nass hatte Gott nicht geschickt, aber Regen genug, um die geplante Uraufführung von «L’Arca» auf dem Grossmünsterplatz ins Wasser fallen zu lassen. Zuflucht fand Origens CommediaTruppe in der Rudolf-Steiner-Schule – und mit ihr Fabrizio Pestillis Neuinterpretation des Sintflut-Mythos. Gott, ein Clown mit bayrischem Mundwerk und reiner Blütenweste (der gebürtige Münchner Manuel Schunter), ist genervt von der Unzulänglichkeit der Menschen. Einzig die Tiere und Noah (Andrea Valdinocci) will er retten. Noahs Bedingung: Seine Tochter Jafette müsse mit an Bord, und mit ihr ein Mann zwecks Erhaltung des Menschengeschlechts. Was der Allmächtige der resoluten Tänzerin (Maëlle Jan) im kornblumenblauen Tutu zur Seite stellt – erschaffen nach seinem Ebenbild – ist ein schnauzbärtiger Rätoromane (Manuel Schunter) mit Nackenmatte und einer Vorliebe für Geranien. Zum Glück gibt es da noch Og (Alfonso D’Angelo), einen italienischen Tollpatsch mit treuem Blick und Cantautorestimme, der das Leben liebt und nichts unversucht lässt, um auf Noahs Arche zu kommen. Doch bevor Jafettes Zuneigung Og und die Menschheit rettet, reden die vier charismatischen Ex-Scuola-DimitriZöglinge neunzig Minuten in einem bunten Sprachengewirr aufeinander ein, erfreuen mit schöner Musik und beeindrucken mit akrobatischen Intermezzi. «L’Arca» ist Teil von Giovanni Netzers Origen-Festival zum Thema Exodus – Warum erkennt sich Sepp Blatter selbst nicht? www.origen.ch CD René Jacobs dirigiert Cavalieris «Rappresentatione» Wie klingt Umbruch? Zum Beispiel so wie in Emilio de Cavalieris «Rappresentatione di Anima & di Corpo», erstmals aufgeführt im Jahr 1600 in einem römischen Betsaal. Seit Jahrzehnten (und auch im Booklet zu dieser CD wieder) wird verhandelt, wo auf dem Weg zur Oper oder dem Oratorium dieses Stück anzusiedeln sei. Und der Dirigent René Jacobs liefert eine überzeugende Antwort – nämlich keine. Er hält die Musik in der Schwebe, gestaltet sie gleichermassen als Abschied (von den alten Regeln der Polyphonie) und Auftakt (zu einer textbezogenen Musikdramatik). Vor allem aber: als Sonderfall. Denn etwas Besonderes ist dieses Stück tatsächlich. Da diskutiert etwa die Seele mit dem Körper (sie in Dur, er in Moll, auch das waren Entdeckungen damals). Auch das Vergnügen und der Verstand, die Welt und die Engel, die Zeit und der gute Rat treten auf: allegorische Figuren, die durchaus lebenspralle Nöte und Freuden debattieren. Und bei allem hört man die damals so intensiv geführten künstlerischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen mit, an denen sich der Komponist, Emilio de Cavalieri: Rappresentatione di Anima & di Corpo, Leitung René Jacobs (Harmonia Mundi France). CD Girlpool feiern den Abschied von der Jugend Wie war das doch alles schön: unbeschwerte Badetage, endlose Zeithorizonte, der sorgenlose Alltag im Elternhaus, der Weg zur Schule, das Leben in einer vertrauten Welt, in der jeder Riss im Gehsteig altbekannt ist. Cleo Tucker und Harmony Tividad vom US-amerika- nischen Duo Girlpool, 18 und 19 Jahre alt, sind gerade erst dem Nest entstiegen, in dem sie aufgewachsen sind. Und schon blicken sie mit ihrer ersten Platte zurück, mit leiser Wehmut, in einfachen und schief gesungenen Songs, nicht perfekt und auch nicht verkopft. «Before the World Was Big» heisst ihr kurzes Debütalbum – und genau davon singen sie, oft unisono, meist nur zur Begleitung von elektrischem Bass und elektrischer Gitarre, in jenem seltsamen, betörenden Einklang, den nur beste ­ Freundinnen erreichen können: von jenem Mikrokosmos, der einem einst ­ völlig reichte. Jenem Mikrokosmos, der einst die Welt bedeutete und nun wie etwas Fremdes, Vergangenes, Abge­ streiftes hinter einem liegt. Das hat was von zartem Punkrock, von Unbändigkeit – besonders wenn die beiden gemeinsam inbrünstig krakeelen. Aber es ist ­eigentlich keine Rebellion, sondern eine schlichte, süsse Wehmut. Eine leise Trauer darüber, dass es kein Zurück gibt in diese wohlige, alte Welt. Die Fachpresse bemängelte zum Teil, dass hier musikalisch sehr wenig passiere. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es ist erstaunlich, wie viel hier aus dem beschränkten Tonmaterial gemacht wird. Ein bisschen Geschrammel, drei, vier Töne auf der Gitarre, dazu Stimmen, die sich heben und senken zu der Geschichte einer gewissen Emily, die nicht mehr hier ist: Fertig ist der Song. Effizienter und zugleich ungezwungener als die beiden Mädchen aus Los Angeles kann man nicht musizieren. Adrian Schräder Girlpool: Before the World Was Big (Wichita Recordings/MV). Lieber Herr H. Was einem auf den ersten Blick sehr seltsam erscheint, ist auf den zweiten, dritten und vierten gar nicht besonders rätselhaft. Personen wie Sepp Blatter (oder Gerhard Schröder, Otto Schily, Chris­ toph Mörgeli et al.) sind mit ihrer Selbsteinschätzung, die uns als masslose Selbstüberschätzung erscheinen mag, nicht mausbeinallein. Sie haben ihre Anhänger, die sie in ihrer Meinung von sich selber bestärken und ihnen erklären, warum die anderen bloss neidisch sind oder was auch immer. Selbsterkenntnis entwickelt man nicht unabhängig von anderen und losgelöst von konkreten Situationen, sondern immer bezogen auf das konkrete Umfeld und dessen Anforderungen. Sepp Blatter kann ja mit einigem Recht behaupten, dass die Kritik an ihm sehr eurozentristisch ist. In Afrika ist er durchaus der Fussball-Messias, als der er sich selber sieht. Auch versteht man weltweit unter Korruption nicht dasselbe. Was den einen als höchst korrupt erscheint, ist dem anderen nur ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit, dass eine Hand die andere wäscht, ohne dass man einander den Pelz nass macht. Peter Schneider Der Psychoanalytiker beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an [email protected] Dazu kommt: Die Fussballwelt ist hinsichtlich der Verankerung in der Realität ohnehin etwas Besonderes. Sie vereint Widersprüche, die sonst unvereinbar sind. Die Fans hängen mit lokalpatriotischer und nationaler Treue an Mannschaften, die nichts anderes sind als ein zusammengewürfeltes Team hochbegabter und höchstbezahlter Wanderarbeiter. Die Rede von der völkerverbindenden Kraft des Fussballs geht locker zusammen mit Begriffen wie Hochrisikospiel und der Separation von Fangruppen in mit Zäunen gesicherten Sektoren. Credo quia absurdam, das ist das Glaubensbekenntnis in dieser Welt. Sepp Blatter ist eine perfekte Verkörperung dieses Bekenntnisses und nicht einfach bloss ein Dieter Behring des Fussballs, dem man halt nur noch nicht auf die Schliche gekommen ist. Nachrichten Klassik Gustavo Dudamel muss Tonhalle-Konzerte absagen Nächste Woche hätte der venezolanische Stardirigent Gustavo Dudamel sein Debüt in der Zürcher Tonhalle geben sollen – nun zwingen ihn heftige Rückenschmerzen zur Absage. Die Termine vom 24. bis 26. Juni übernimmt der ­Tonhalle-Chefdirigent Lionel Bringuier; auf dem Programm stehen Brahms’ 2. Klavierkonzert (mit Yuja Wang) sowie seine 1. Sinfonie. (suk) Literatur Der Zytglogge-Verlag wird von Schwabe AG übernommen Am 1. Juli übernimmt die Schwabe AG die Aktienmehrheit des Zytglogge-Verlags. Die Zytglogge AG wird eigenständig weitergeführt. Der Verlagssitz zügelt nach Basel. Hugo Ramseyer übergibt die Verlagsleitung an Thomas Gierl. (TA)