Strukturbezogene Psychotherapie Stefan Zettl, Dipl.-Biol. Dipl.-Psych. Praxis für Psychoanalyse und Psychotherapie - Heidelberg Psychische Störungen … als Ausdruck unbewusster Konflikte, deren Integration ganz oder teilweise misslungen ist und die sich deshalb maladaptiv auswirken … als Ausdruck eingeschränkt verfügbarer Funktionen, die den Umgang mit inneren und äußeren Anforderungen erschweren Strukturell beeinträchtigte Patienten • zeigen themenspezifische Affektaktivierung • erleben intensive negative Emotionen • können diese schlecht regulieren • differenzieren nicht zwischen Selbst- und Objektaspekten • zeigen eine mit aggressiven Affekten besetzte Selbstrepräsentanz • verhalten sich aggressiv gegen Andere • Andere reagieren darauf mit negativ getönten Handlungstendenzen und Affektverhalten (interaktiver negativer Zirkel) OPD-Achse IV: Struktur Die Achse IV „Struktur“ stellt eine Beschreibung struktureller Funktionen des Selbst in Bezug auf die Möglichkeiten der Selbstregulation sowie seiner Beziehungen zu den Objekten zur Verfügung (traditionell: „Ich-Funktionen“) Die Einschätzung orientiert sich an dem interaktionellen Handeln in den letzten 1-2 Jahren OPD-Achse IV: Struktur 1a 1b 2a 2b 3a 3b 4a 4b 5 Selbstwahrnehmung Objektwahrnehmung Selbstregulierung Regulierung des Objektbezugs Kommunikation nach innen Kommunikation nach außen Bindung an innere Objekte Bindung an äußere Objekte Struktur gesamt OPD-2: Strukturfoki (1) Wahrnehmung: • Selbstreflexion • Affektdifferenzierung • Identität • Selbst-Objekt-Differenzierung • Ganzheitliche Objektwahrnehmung • Realistische Objektwahrnehmung OPD-2: Strukturfoki (2) Steuerung: • Impulssteuerung • Affekttoleranz • Selbstwertregulierung • Beziehungen schützen • Interessenausgleich • Antizipation OPD-2: Strukturfoki (3) Kommunikation: • Affekte erleben • Phantasien nutzen • Körperselbst • Kontaktaufnahme • Affektmitteilung • Empathie OPD-2: Strukturfoki (4) Bindung: • Internalisierung • Introjekte nutzen • Variable Bindungen • Bindungsfähigkeit • Hilfe annehmen • Bindungen lösen OPD-Achse IV: Struktur 1 2 3 4 n.b. gut integriert mäßig integriert gering integriert desintegriert nicht beurteilbar In der diagnostischen Einschätzung sind halbe Stufen 1,5 sowie 2,5 und 3,5 möglich Dysfunktionales Beziehungsangebot von strukturell gestörten Patienten Affekterleben: Affektausdruck uneindeutig, reduziert; Vorherrschen maladaptiver Emotionen wie Verzweiflung, Verwirrung, Enttäuschung, Gekränktheit usw. Selbsterleben: orientierungslos, labilisiert, ungesteuert, emotional überflutet oder entleert Objekterleben: Einschränkungen von realistischer Objektwahrnehmung, Empathie, Kontaktfähigkeit, Verständigung, positiver Beziehungserwartung Bedürfnislatenz: unausgesprochene, große passive Erwartungen Bewältigungsstil: Tendenz zur Vermeidung, Zurückweisung, Entwertung, Verstrickung mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl. Strukturbezogene Psychotherapie • Indikation: Patienten mit eingeschränkt verfügbaren strukturellen Funktionen oder Ich-Funktionen, bei schweren Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder somatoformen Störungen • Therapeut und Patient bemühen sich gemeinsam, realitätsgerecht wahrzunehmen, das emotionale Erleben nachzuvollziehen und ein verantwortliches Handeln zu ermöglichen • Fokussierung maladaptiver Verhaltensmuster • Abgrenzung von konfliktorientierter Behandlungstechnik Rudolf G (2004): Strukturbezogenen Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart Zielsetzungen strukturbezogener Psychotherapie Kurzfristig: den Patienten in der Bewältigung aktueller unerträglicher Befindlichkeiten unterstützen Mittelfristig: unzureichend verfügbare strukturelle Funktionen vorübergehend als Hilfs-Ich substituieren Langfristig: für strukturelle Einschränkungen, die zunächst nicht verändert werden können, Bewältigungsmöglichkeiten erarbeiten Langfristig: unzureichend verfügbare strukturelle Funktionen entwickeln, erproben und einüben mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl. Therapeutische Grundhaltung bei strukturell gestörten Patienten (I) • Sich einstellen auf die eingeschränkten Beziehungskompetenzen des Patienten, der wenig dazu imstande ist, für sich zu werben und spontane Symapthie zu wecken. Sein dysfunktionales Verhalten sollte nicht als Ausdruck aggressiv-destruktiver oder entwertender Intentionen und Übertragungsangebote interpretiert werden, sondern als Ausdruck seiner interpersonellen Hilflosigkeit verstanden werden • Anteilnahme für die schwierigen biographischen Entwicklungsbedingungen des Patienten. Respekt für seine bis dahin oder zumindest zeitweise wirksamen Bewältigungsstrategien • Abgegrenztheit gegenüber dem interpersonellen Sog oder der interaktionellen Leere des Patienten. • Interesse für die früher einmal angedeuteten, bisher aber noch wenig gelebten Fähigkeiten, Begabungen und Sachinteresen des Patienten mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl. S. 126 Therapeutische Grundhaltung bei strukturell gestörten Patienten (II) • Ernstnehmen des pathogenen Gewichts der Störung und ihrer Auswirkungen, z.B. bezüglich defizitärer Schul- und Berufsqualifikation, katastrophaler Beziehungsarrangements mit Partnern, Kindern und Angehörigen, körperlicher Folgen selbstschädigenden Verhaltens (z.B. Sucht) • Aufrechterhalten von Hoffnung für eine grundsätzlich mögliche positive Entwicklung des Patienten • Therapeutisches „Beeltern“ des Patienten für eine gewisse Zeit • Bereitschaft zu großer therapeutischer Aktivität statt abwartender therapeutischer Distanz mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl. S. 126 Klärung und Erklärung der Situation des Patienten • Narrative des Patienten anregen und ggf. komplettieren • Auf interaktionelle Situationen fokussieren • Die Situationen mikroanalytisch betrachten, auslösende Ereignisse verstehen • Dysfunktionale Muster des Erlebens und Verhaltens herausarbeiten • Umschriebene strukturelle Einschränkungen benennen • Symptomwertige Bewältigungsmuster diskutieren (Kosten/Nutzen) • Biographischen Hintergrund und Entwicklungsbedingungen klären • Aktivierte Persönlichkeitsanteile deutlich machen mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 131 Die therapeutische Arbeit in der Position des Dritten • Die Übertragungsangebote des Patienten, gespeist aus negativen biographischen Erfahrungen, werden therapeutisch nicht aufgegriffen und verstärkt • Patient und Therapeut erkunden gemeinsam die aktuelle Situation des Patienten (vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte) • In der aktuellen Situation werden die dysfunktionalen Muster des Patienten markiert • Die dysfunktionalen Muster werden als Antwort/Notlösung/Bewältigung biographischer Erfahrungen verstanden • Patient und Therapeut suchen gemeinsam nach neuen Verhaltensmöglichkeiten anstelle der dysfunktionalen Muster • Die neuen Möglichkeiten beziehen sich insbesondere auf aktuelle Entwicklungsaufgaben des Patienten • Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten gilt es, früher bewährte Ressourcen des Patienten zu nutzen mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 135 Therapeutische Themen Erkundung des Affektsystems • Wie werden Affekte erlebt, unterschieden, ertragen, reguliert, ausgedrückt, verstanden? Erkundung des Objekterlebens • Wie werden andere erlebt, wahrgenommen, abgegrenzt? • Wie werden Beziehungen gestaltet, geschützt, reguliert? Erkundung des Bindungssystems • Wie werden gute Beziehungserfahrungen bewahrt, schlechte bewältigt? • Wie können gute innere und äußere Objekte genutzt werden? • Wie gelingt der Umgang mit Abschied, Trennung, Verlust? Erkundung des Selbstsystems • Hat der Patient einen selbstreflexiven Zugang zur eigenen Innenwelt? • Verfügt er über eine Sprache für seine Innenvorgänge? • Wie kann er sich selbst verstehen, verantworten, verwirklichen? mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 138 Fokus: Das emotionale Erleben des Patienten • Wie erlebt der Patient Affekte? • Wie gut kann er sie unterscheiden? • Welche Affekte herrschen vor? • Wo sind die Grenzen seiner Affekttoleranz? • Wie versucht er, heftige Affekte zu regulieren? • Wie kränkbar ist er? • Wie deutlich kann er seine Affekte anderen mitteilen? • Lässt er Affekte anderer an sich herankommen? • Versteht er die Affektäußerungen anderer? • Kann er mit anderen gemeinsame Affekte haben? • Kann er anderen gegenüber empathisch sein? mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 138 Fokus: Objekterleben und Beziehungsdynamik • Wer sind die wichtigen anderen? • Wie gut kann er sie von sich abgegrenzt wahrnehmen? • Wie gut vermag er andere mit eigenen Interessen, Überzeugungen und Einstellungen wahrzunehmen? • Wie gut vermag er sich in andere hineinzuversetzen? • Wie realistisch kann er die Objektwelt sehen, welche Verzerrungen herrschen vor? • Wie gut kann er zu anderen Kontakt aufnehmen, Beziehungen eingehen? • Wie gut kann er Beziehungen, die ihm wichtig sind, vor Beschädigung durch eigen Impulse bewahren? • Wie gut vermag er, sich anderen verständlich zu machen? • Kann er in Beziehungen zu anderen seine eigenen Interessen wahren? • Kann er die berechtigen Interessen anderer gelten lassen? • Kann er die möglichen Reaktionen anderer auf sein Tun antizipieren? mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 139 Fokus: Bindung • Kann sich der Patient emotional an andere binden? • Kann er innerlich gute Beziehungserfahrungen in sich aufbewahren? • Kann er unterschiedliche Beziehungen zu unterschiedlichen Objekten haben? • Sind seine Beziehungen ausschließlich dyadisch möglich? • Spielen für ihn strafende, verfolgende, entwertende innere Objekte eine bedeutsame Rolle? • Ist er imstande, prosoziale Gefühle wie Dankbarkeit, Fürsorglichkeit oder Verantwortung zu erleben und zum Ausdruck zu bringen? • Kann er gegenüber anderen, denen er willentlich geschadet hat, Schuld empfinden? • Kann er sich innerlich unter Zuhilfenahme positiver Introjekte selbst beruhigen und trösten? • Kann er äußerlich bei anderen Hilfe und Unterstützung suchen und annehmen? • Kann er Abschied nehmen und Trauer über Verluste erleben? mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 140 Fokus: Das Erleben des Selbst • Kann der Patient zu sich selbst in Beziehung treten? • Kann er Einblick in das eigene Innere nehmen und dadurch Einsichten gewinnen? • Kann er ein kohärentes Bild von sich gewinnen? • Kann er unterschiedliche Selbst-Aspekte zueinander in Beziehung setzen? • Kann er die eigene biographische Entwicklung verstehen? • Hat er ein Gefühl von Identität, das seiner alters- und geschlechtsbezogen Lebensrealität entspricht? • Kann er selbstverantwortlich planen und handeln? • Hat er ein Gefühl von Ausgerichtetsein und Orientierung in der Welt? • Verfügt er über sprachliche Begriffe für sein seelisches Erleben, d.h. für seine Gefühle, Bedürfnisse und Intentionen? • Kann er in einem inneren Dialog mit sich selbst kommunizieren? mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl., S. 140 Beispiele antidissoziativ wirkender Skills • Frühwarnzeichen erkennen lernen • Körperliche Bewegung • Starke sensorische Reize, z.B.: - Wasabi - Tigerbalsam - Ammoniak - Laute Musik - Stein im Schuh - Kippbrett Realitätsprüfung, Diskriminationstraining Ziel: bessere Unterscheidung zwischen Damals und Heute Procedere: Achtsames Wahrnehmen der aktuellen Situation. Der Focus liegt auf der Frage: Was ist heute anders als damals? (die eigene Person, der Andere, Situation?). Beschreibung der Unterschiede zwischen damals und heute auf der Ebene aller Sinneseindrücke Gemeinsamkeiten der strukturbezogenen Psychotherapie mit TfP, MBT, Schematherapie, DBT und Traumatherapie • Hohe therapeutische Aktivität • Eher beelternde Grundhaltung • Fokussierung auf das gegenwärtige Geschehen und aktuelle Interaktion, keine aktive Förderung der Regression • Arbeit mit „erwachsenen“ Persönlichkeitsanteilen an „kindlichen“ Persönlichkeitsanteilen • Entwicklung und Förderung der Fähigkeit zur Mentalisierung • Ziel der Verantwortungsübernahme für das eigene Leben, Selbstfürsorge mod. nach Rudolf G (2013): Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 3.Aufl. Theory of Mind „Die Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, Gedanken, Überzeugungen, Wünsche und Absichten anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen, um deren Verhalten einschätzen und um vorhersagen zu können, was sie als Nächstes tun werden .“ Attwood (2008)