Magie und Geister

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Die Menschen Thailands sind grossmehrheitlich aufrichtige und praktizierende Buddhisten, die zwar nicht unbedingt auf direktem Weg das Nibbana erreichen, aber mindestens
auf einer höheren sozialen oder spirituellen Ebene wiedergeboren werden möchten. Sie
üben darüber hinaus oft religiöse Praktiken aus, die aus westlicher Sicht als abergläubisch
betrachtet werden. Für Thailand ist das Neben- und Miteinander von Buddhismus, Hinduismus, Islam und Animismus kein Gegensatz, sondern eine Realität, die kaum hinterfragt wird und in allen Kreisen und Gegenden präsent ist. Der Glaube an Geister und an
magische Rituale ist im muslimischen Süden ebenso verbreitet wie in der modernen
Hauptstadt. Dieses synkretistische Repertoire geht aus der spirituellen Geschichte Thailands hervor und dient der Lebensbewältigung der Menschen, die tagtäglich vor der
Frage stehen, wie es morgen weitergeht: in der Familie, beim Broterwerb, im Königreich.
Der Buddhismus mag den richtigen Weg aufzeigen, aber die konkreten Ziele, Hoffnungen
und Erwartungen sind nur in der Kombination von Buddhismus und Animismus zu verstehen. Damit die Menschen das erreichen, was sie anstreben und erhoffen, sind sie auf
Amulette, Zaubersprüche und Tattoos angewiesen, und sie brauchen den Schutz von guten Geistern, die in die richtige Stimmung versetzt werden müssen.
Die "Kraft" der Mönche
In den Klöstern residieren Äbte und Mönche, die religiöse Rituale durchführen, beispielsweise
auf der Basis von Geburtsdaten. Wie an christlichen Wallfahrtsstätten erwarten die Tempelbesucher Zuspruch und Kraft für ihr künftiges Leben, bitten um Gesundheit und Glück in der
Liebe, Erfolg in Schule und Beruf, sozialen Aufstieg, Schutz vor Feinden und vor tödlichen
Waffen. Die Klöster "bedienen" solche Erwartungen. Allein schon das Rezitieren von religiösen Pali-Texten, eine Art Sprechgesang der Mönche, das auch Chanting genannt wird, lädt die
anwesenden Laien mit positiver Energie auf. Die Mönche versprühen gesegnetes Wasser, verteilen Gebetstexte und Medaillons, geben medizinische Präparate ab oder hauchen ihnen
"Kraft" ein. Sie "arbeiten" mit Illustrationen, Diagrammen und Zauber- oder Beschwörungssprüchen. Entsprechend geschulte Mönche erstellen astrologische Gutachten mit detaillierten
Vorhersagen für das künftige Leben. Die Mönche werden für ihre "Dienstleistungen" von den
Laien meistens finanziell honoriert, obwohl die Ordensregeln den Kontakt mit Geld untersagen.
In Thailand gilt diese Vorschrift offensichtlich nicht. Im Gegenteil: Je höher die Geldspende,
umso besser für das Karma des Spenders, unabhängig von seinen effektiven finanziellen Möglichkeiten.1
Oft sind die Klöster auch in den Handel mit Amuletten involviert. Einige Mönche und die von
ihnen geweihten Amulette sollen über magische oder übernatürliche Kräfte verfügen. Manche
Amulette enthalten Materialresten aus Mönchsgewändern oder Dachziegeln von Klöstern,
Palmblattmanuskripte und magische Formeln, die auf Maulbeerbaumpapier geschrieben sind.
Die Amulette werden durch Gebet und Meditation der Mönche "aufgeladen" und sollen dann
vor bösen Geistern, Mördern, Krankheiten und Gefahren des Strassenverkehrs schützen. Soldaten und Polizisten und selbst die militanten Gegner der jeweiligen Regierungen erhoffen sich
von Amuletten, dass sie nicht von tödlichen Geschossen getroffen oder von anderen Waffen
verletzt werden. Solche Vorstellungen und der Glaube an Unverwundbarkeit durch Amulette
und Zaubersprüche sind im ganzen Land verbreitet, selbst im muslimischen Süden.
Wahrsager - auch in der Politik
Manche Wahrsager und Handleser sind Laien. Sie stellen ihr Tischchen bevorzugt an den Zugängen zu den Tempeln und auf Marktplätzen auf, um Kunden jeden Alters und Standes zu
bedienen. Selbst Könige, Premierminister und Militärführer konsultieren Handleser und Astrologen vor wichtigen Entscheiden. Als Prayut Chan-ocha kurz nach der Machtergreifung im
Jahre 2014 erkrankte, führte er dies auf Zaubersprüche oder magische Rituale seiner politischen
Gegner zurück. Der Premierminister konsultiert auch regelmässig Wahrsager, die ihm Ratschläge erteilen, wie er sich zu verhalten habe. Er ist längst nicht der einzige Politiker, der auf
Wahrsager hört: Besonders vor Wahlen wollen die Kandidaten in Erfahrung bringen, ob sie
eine Wahlchance haben. Eine Wahrsagerin in Myanmar soll Thaksin Shinawatra seinen bevorstehenden Sturz vorausgesagt haben. Das Beispiel zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit der Vorhersagen relativ hoch ist, muss doch irgendwann jeder Politiker wieder abtreten.
Die meisten Menschen in Thailand, auch und gerade die Männer, tragen um ihren Hals einen
Anhänger mit der Abbildung eines Buddha oder eines besonders verehrten Mönchs. Beliebt ist
auch ein Talisman, der einen Phallus aus Holz oder Metall darstellt, an einer Schnur um den
Bauch getragen. Beim Baden oder Schlafen wird das Amulett sorgsam auf ein Tablett oder auf
1
Sicher mag es einzelne Mönche geben, die kein Geld berühren. Die Praxis im Ordensalltag sieht anders aus.
Siehe dazu B. J. Terwiel (Monks and Magic - An Analysis of Religious Ceremonies in Central Thailand, Studentlitteratur, London, Bangkok 1975, 129ff).
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dem Nachttischen abgelegt, damit niemand des Nachts aus Versehen darauf tritt. Phallus-Figuren, Glück verheissende Anhänger, Wahrsage-Stäbchen, die Tätowierung des Körpers mit magischen Diagrammen spielen in Thailand eine grosse Rolle, oft ebenfalls im Umfeld eines Tempels. Solche Praktiken sind in ganz Thailand weit verbreitet, auch unter jungen Leuten, werden
aber von buddhistischen Puristen oft und mit einem gewissen Recht kritisiert. Autofahrer sollen
besser aufpassen, keinen Alkohol trinken und langsamer fahren, um sich vor Unfällen zu schützen. Thailand gehört zu den Ländern mit den höchsten Raten an Verkehrstoten pro Einwohner.
Auf der Hut sein müssen Männer und Frauen aber auch vor anderen Gefahren: Als besonders
wirksamer, aber extrem gefährlicher Liebeszauber gilt die Flüssigkeit, die aus dem Schädel
eines unglücklich oder gewaltsam ums Leben gekommenen Toten (beispielsweise einer
schwangeren Frau) gepresst wird. Eine eifersüchtige Frau bereitet eine Mixtur aus ihrer Vaginalflüssigkeit zu, um damit ihren Ehemann ein für alle Mal von anderen Frauen fernzuhalten.2
Magische Tätowierungen
Tätowierungen galten in Thailand, vor allem unter
den Tai-Völkern des Nordens3, als Männlichkeitsrituale, die den Trägern Kraft verliehen und Erfolg
in der Liebe garantierten. Die Tätowierer waren
entweder entsprechend erfahrene Mönche oder
Laien, die ihr Handwerk durch eine langjährige
Lehre bei einem Meister erworben hatten und sich
in der esoterischen Welt von Zahlen, Diagrammen, Tiersymbolen und buddhistischen Lehrsätzen auskannten, um dem Tätowierten ein auf seine
Person abgestimmtes, individuelles Muster auf
den Körper zu applizieren. Heutzutage ist der spirituelle Überbau des Tätowierens weitgehend verflüchtigt. Wer tätowiert werden möchte, wählt
sein Muster nach persönlichen ästhetischen Kriterien aus einem Katalog aus. Tattoos haben aber
ihre Popularität nicht verloren, wie beispielsweise
die Publikation von Izabel Azevedo Drouyer und
René Drouyer (siehe Bild) belegen.4
Nicht immer abgehoben von der buddhistischen Praxis ist auch der weit verbreitete Glaube an
gute und böse Geister (phii). Nach der Tsunami-Katastrophe Ende des Jahres 2004 fürchteten
sich zahlreiche Menschen vor den orientierungslos herumirrenden Geistern der Verunglückten.
Geister von Menschen, die plötzlich und unerwartet versterben, beispielsweise durch Unglück,
Schlangenbisse, Schusswaffen oder Gift, können für die Überlebenden eine Gefahr darstellen.
Besonders gefürchtet sind Geister von Frauen, die während der Schwangerschaft oder bei der
Geburt eines Kindes sterben. Weniger Unheil anrichten können Geister, die in ihrem vergangenen Leben schwere Sünden begangen haben; ihnen begegnet der Mensch am besten, wenn er
2
Solche extremen magischen Praktiken mögen Einzelfälle sein; sie gehören aber noch nicht der Vergangenheit
an, wurde doch in Udon Thani im April 2015 ein Mönch verhaftet, der angeblich Leichenteile für okkulte Praktiken verwendete.
3
Siehe dazu Susan Conway (Tai Magic - Arts of the Supernatural in the Shan States and Lan Na. River Books,
Bangkok 2014).
4
Zur Bedeutung von Tattoos in Thailand und umliegenden Ländern siehe Izabel Azevedo Drouyer, René
Drouyer, Photos (Thai Magic Tattoos - The Art and Influence of Sak Yant, Riverbooks, Bangkok 2013).
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für sie eine gute Tat vollbringt. Manche Geister sind harmlos, beispielsweise jene früherer Ahnen und Hausbewohner, vor allem wenn sie mit Spenden, Räucherstäbchen, Blumen, Kerzen
und einem Geisterhaus gütig gestimmt werden. Einzelne Geister erlangen sogar einen hohen
Bekanntheitsgrad, und um ihre Gunst zu erlangen, lassen zahlreiche "Gläubige" Schildkröten,
Vögel oder Fische frei. Getrennt geschlechtliche Zwillinge sind gefährdet, weil böse Geister
nach ihrem Leben trachten; deshalb müssen sie in den ersten Lebensjahren miteinander "verheiratet" werden, um die "Seelenräuber" zu verwirren. Kinder werden von früh an angehalten,
Geister mit Respekt und Wohlwollen zu behandeln.
In täglicher Gesellschaft von Geistern
Vor jedem Gebäude, egal ob Wohn- oder Geschäftshaus, steht in Thailand ein sogenanntes
Geisterhäuschen, eine spirituelle Art der Versicherung gegen Feuer, Diebstahl und anderes
Ungemach. Auch Dörfer, Städte, Banken, Universitäten, Wälder, Reisfelder und militärische
Einrichtungen haben ihre Verehrungsstätten
für Schutzgeister, die alle mit Opfergaben wie
Blumengirlanden, Räucherstäbchen, Kerzen,
Esswaren und Getränken bedacht werden wollen. Die Türschwelle ist der Ort eines Geistes
und sollte deshalb nie betreten werden. Wer ein
Haus baut, opfert vor oder nach Errichtung der
Stützpfeiler dem künftigen Hausgeist ZuckerIn der Geisterhaus-Fabrik
rohr, eine Bananenstaude, einen möglichst farbigen Fetzen Stoff und Alkohol (in der Sao-ehk-Zeremonie). Die feierliche Einweihung des
Hauses (thambun bahn) wird dann allerdings durch buddhistische Mönche vollzogen. Dabei
wird ein weisser Baumwollfaden um das neue Haus gespannt, der mit den betenden Mönchen
und einer Buddha-Statue verbunden ist. Damit wird der Platz, auf dem das Haus steht, zu einer
spirituell gereinigten Sphäre, in der Menschen, Geister und Tiere in Harmonie miteinander leben.
Der Geisterglaube geht auf eine Zeit vor der Wanderung der Tai-Völker Richtung Süden zurück, als sie vom Buddhismus noch nicht berührt waren, und ist in Kultur und Alltag bis in die
Gegenwart stark präsent. Für die meisten Bewohner Thailands sind Geisterwesen Teil der Natur
und keineswegs blosse Hirngespinste. Geistergeschichten in Form von Groschen-Publikationen
erzielen grosse Auflagen. Auch die thailändische Fernseh- und Kinowelt kennt zahlreiche Storys, in denen Geister und unerlöste Seelen eine Rolle spielen, beispielsweise in "Nang Nak"
(1999) von Nonzee Nimibutr und in „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives” (2010,
ausgezeichnet mit der Goldenen Palme von Cannes) von Apichatpong Weerasethakul. An die
Stelle von "ausrangierten" Geistern wie der Dreschkorb-Geist, der Getreidekörner stiehlt, treten
neue wie beispielsweise der Geist in der Klimaanlage.
In den Zeremonien des täglichen Lebens und im Festkalender vermischen sich buddhistische
Vorstellungen mit uralten animistischen Traditionen und aus Indien stammenden brahmanischhinduistischen Anschauungen, Ritualen und Zahlenspielereien.5 So binden Mönche um das
5
Die Zahlensymbolik hat nicht nur im Buddhismus (die drei buddhistischen Grundpfeiler Buddha, Lehre und
Mönchsgemeinschaft, die vier "edlen Wahrheiten", der achtfache Pfad), sondern auch in anderen Religionen
grosse Bedeutung (Dreifaltigkeit, die zwölf Apostel, die Vier mit den vier Jahreszeiten, den vier Elementen, den
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rechte Handgelenk der Tempelbesucher einen Baumwollfaden, der niemals gewaltsam entfernt
werden sollte, weil sonst der Lebensodem versagen könnte; diese Praxis der Seelenanbindung
gehört zum spirituellen Repertoire vieler Völker Südostasiens ohne expliziten Bezug zum Buddhismus.
Mit Geistheilung gegen Mikroben
Medial begabte (oder erfahrene) Menschen sprechen in Trance mit Verstorbenen oder Geistern
zu Fragen, wie der Ehemann von seinen ausserehelichen Affären weggebracht werden könne
oder ob man das bevorstehende Examen an der Universität bestehen werde. Probleme am Arbeitsplatz, ein schlechter Geschäftsgang, Krankheiten oder Schwierigkeiten in der Familie werden auf schwarze Magie zurückgeführt. Schlechte oder böse Geister können sich in den Körpern von Menschen einnisten, allenfalls unter Zuhilfenahme von schädlichen Mikroben, und
Krankheiten verursachen und müssen dann mit einem speziellen Ritual ausgetrieben werden.
Deshalb "behandeln" thailändische Heiler und Kräuterspezialisten nicht nur die organischen
Symptome einer Krankheit, sondern beziehen deren psychologische Ursache, die Möglichkeit
von Schadenzauber und den Einfluss missgünstiger oder verärgerter Geister mit ein.6 Häufen
sich die unerklärlichen Todesfälle oder passieren andere seltsame Dinge, ist möglicherweise
ein ganzes Dorf verhext: In diesem Fall führt ein besonders versierter Abt ein Ritual durch,
wobei Gebete, Weihwasser, sakrales Garn, Nahrungsmittel wie Bananen und Zuckerrohr und
allenfalls Bambusrohre mit eingefangenen Geistern eine Rolle spielen.
Hochzeiten, Totenzeremonien und andere wichtige oder als wichtig erachtete Ereignisse im
Leben eines Menschen, eines Dorfes oder einer ganzen Gruppe von Menschen sollen wenn
immer möglich auf "glückverheissende" Tage gelegt werden, die von einem Mönch oder einem
versierten Laien festgelegt werden. Auch dieser in Thailand weit verbreitete Brauch hat keine
Basis im Buddhismus, sondern geht wahrscheinlich auf brahmanische Vorbilder zurück. Dabei
werden Jahreszahlen, Mondmonate, Wochentage und Tageszeiten in Betracht gezogen.
Wer Thailand verstehen möchte, sollte sich auf das magische und animistische Denken seiner
Bewohner einlassen. Wer nur rational denkt, dringt nie in den Kern thailändischer Lebensbewältigung vor. So weit entfernt von religiösen und magischen Vorstellungen in ländlichen Gegenden Europas ist Thailand übrigens nicht. Noch heute ist im religiösen Kalender der Geisterglaube präsent (am Allerseelentag). Wer betet, bittet seinen Gott und die Heiligen um die Erfüllung seiner Wünsche und dankt für die Heilung nach Krankheiten oder Unfällen. Wichtige
Ereignisse im Leben wie Geburt, Hochzeit und Tod sind mit religiös-sakralen Handlungen verbunden. Manche Menschen schwören auf Kraftorte oder umarmen Bäume zum Auftanken.
Schutzengel und Zahnfeen wachen über das Wohlergehen von Kindern. Ob Thailand, ob Europa: Im Glauben an übersinnliche Phänomene manifestiert sich die Angst, ins Bodenlose zu
fallen. Der Mensch balanciert durchs Leben über einem unsichtbaren Netz, das ihn aufzufangen
vermag, wenn er strauchelt.
vier Temperamenten, den vier Kardinaltugenden, den vier Evangelisten und den vier Buchstaben des Namens
Adam).
6
Siehe zu diesem Themenkomplex des magisch aufgeladenen Heilens Louis Golomb (An Anthropology of
Curing in Multiethnic Thailand. University of Illinois Press, Urbana, Chicago 1985).
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