Das Dreieck SKN. - von Ralf Beiderwieden

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Das Dreieck S-K-N.
Auge und Ohr. Schüler, Klang und Notenbild
Von Ralf Beiderwieden
Immer wieder geht es darum, SCHÜLER, KLANG und NOTENBILD zusammenzubringen.
„W“
Ein Musikunterricht mit Tafel und Kreide über irgendwelche Dreiklangsumkehrungen ist
Unfug, wenn nicht darüber gesprochen wird, wie sich die Umkehrung auf den Klang auswirkt.
Selbst wenn sich an so eine Theorie-Sitzung eine Gehörbildungs-Aufgabe anschließt, bleibt es
verabsolutierte, sinnlose graue Theorie, wenn nicht gezeigt wird, an welcher Stelle des
Musikstückes diese Umkehrung musikalisch bedeutsam wird. Und weil ich im engen
musikunterrichtlichen Sinne dafür keine bedeutsame Stelle finden kann, würde ich vermuten:
Unterricht über Dreiklangs-Umkehrungen ist fast immer Unfug. Ob da oben im
Violinschlüssel g-c-e oder c-e-g oder e-g-c steht, ist musikalisch schnuppe, darum ist die
Ausführung im Generalbass ja auch freigestellt. Wichtiger schon kann allerdings sein (und
korrekterweise bezeichnet dies der Sachverhalt der Umkehrung), ob der Grundton im Bass
liegt oder die Terz, manchmal auch die Septime, selten die Quinte. Der schwebende, noch
offene Zustand der meisten Rezitativanfänge, verglichen mit dem schließenden Quintfall der
Kadenz im selben Rezitativ, die kraftvollen, ruhigen, farbenreichen Linien der Bassführung in
einer Händel-Arie nutzen den Reichtum, der durch die Umkehrbarkeit von Dreiklängen
entsteht. (Wobei Händel und die meisten Zeitgenossen damals vom Bass aus gedacht haben
und nicht vom Grundton aus; aber eben auch nicht als Dreiklangs-Umkehrung, sondern als
Sextakkord über dem Basston.)
Oder Intervall-Lehre. Nicht zu fassen, wieviel Unterrichtszeit verschwendet wird, um,
ziemlich oft ziemlich wenig kompetent, auch in theoretischer Hinsicht, Schülern
einzutrichtern, wieviele Halbtonschritte welche Intervalle haben.
Oder so manche arbeitsteilige Gruppenarbeit, in der die Schüler irgendwelche „Parameter“,
Melodik oder die Dynamik oder die Rhythmik in Schublädchen stopfen. – Dass hier der
„Parameter“-Begriff auch fachlich und didaktisch entwertet wird, dass diese ganzen
„Parameter“-Schubläden Quatsch sind, ist an anderer Stelle deutlich genug angemerkt worden
(Kapitel „Parameter“ in „Musik unterrichten“). In diesem Zusammenhang hier ist
entscheidend, ob die Kinder da, womöglich nach über-minutiösen Teilaufgaben,
irgendwelche Sachverhalte auf dem Papier untersuchen – oder ob sie überhaupt versuchen,
eine lebendige klangliche Vorstellung zur Sprache zu bringen.
In diesen und allen ähnlich gelagerten Fällen lautet die Frage: Ist das, was hier untersucht wird,
überhaupt wichtig für den Klang der Musik? Gelingt es hier überhaupt, das, was in der Musik
lebendig erklingt, zur Sprache zu bringen? Wenn nicht, ist es schlecht.
Dasselbe gilt aber ziemlich bald auch umgekehrt. Wenn das Unterrichtsgespräch über
unverbindliches Geplauder, womöglich in stereotypen Vokabeln wie „ruhig, getragen,
abgehackt, fröhlich, dramatisch, melodiös, dissonant“ hinauskommen soll, muss genauer
hingehört werden. Und von einer bestimmten Genauigkeit an heißt hinhören: In den
Notentext schauen. Sehr bald wird zur Sprache kommen müssen, wie sich ein Thema
verändert, wenn es von Dur in Moll verwandelt wird. Die Frage „Welche Instrumente spielen
mit?“, „Welche Instrumente setzen neu ein?“ werden bald ins Spiel kommen. In Ravels Bolero
werden wir nur die allerersten Themen-Einsätze mit dem Ohr bestimmen können. Schon den
Einsatz des (klassisch angeblasenen) Saxophons wird kein Schüler-Ohr mehr bestimmen
können, die ganze Klangverdichtung, den Einsatz von Quintparallelen, Misch-Klängen,
Mixturen müssen wir im Notentext nachvollziehen. Oder die Lehrerin sagt es vor. Wer nicht
lesen lernt, muss viel glauben. Emanzipatorische Erziehung muss aber heißen: Befähigen, die
Sache selbst nachzustudieren. – All dies sind ganz geläufige Inhalte der Unterstufe. Inhalte der
Oberstufe, womöglich aufs Abitur hin zielend, sind damit noch kaum angesprochen. Ein
verdecktes Leitmotiv im dritten Akt des Siegfried aufspüren; die Verwandtschaft zwischen
Haupt- und Seitenthema im ersten Satz einer Beethoven-Klaviersonate zeigen; polyphone und
homophone Passagen in der Bach-Motette vergleichen. Sich fragen, warum Artusi eigentlich
über Monteverdis Dissonanzbehandlung so gemeckert hat; oder wie in Schuberts
Lindenbaum jene „Eddies“ zustandekommen, diese Stellen, in die der Hörer hineintritt und
bei denen er plötzlich nicht mehr weiß, wo er wieder herauskommt und was ihm gerade
widerfahren ist, kompositorisch betrachtet. Oder auch, wie, gerade jenseits des Notentextes,
sich musikalische Interpretationen voneinander unterscheiden. Inwiefern Simon Rattle
denselben Beethovensatz doch so ganz anders klingen lässt als Furtwängler, vielleicht auch
Karajan: Wenn das über allgemeine Anmutungs-Äußerungen oder unterschiedliche
Metronomangaben hinausgehen soll, müssen wir über agogische Freiheiten sprechen und
darüber, wie flächig der eine gestaltet und wie filigran die Begleitfiguren beim anderen
herauskommen. – Selbstredend, dass ich mit meinen Schülern über Kategorien wie
„Notentext-Treue“, also „Werk-Treue“, zentrale Kategorien der Interpretation, überhaupt erst
sprechen kann, wenn wir uns intensiv mit dem Notentext beschäftigt haben.
Das macht den „W“-Unterricht über Pop-Musik, über Jazz, oft auch Musical oder Filmmusik
oft so schwierig, schwimmend, spekulativ, haltlos: dass die Möglichkeiten fehlen, das, was im
Klang passiert, im Notentext wiederzufinden.
Also, vorläufig zusammenfassend: Meine Aufgabe als Musiklehrer ist es, Schüler zur Musik zu
bringen, hier: im Musik Hören und im Sprechen über Musik. Dazu muss ich die Schüler zum
Klang der Musik bringen, aber das fordert früher oder später, aber doch eher früher, das
Einsteigen in den Notentext. Sonst wird das alles nichts. Dafür brauchen die Schülerinnen
und Schüler Lesefähigkeit, das heißt auch: ein gewisses Rüstzeug an Theorie und
Begrifflichkeit. Aber theoretisches Rüstzeug und Begrifflichkeit im Notentext bleiben tote
Materie, solange sie nicht im Klang wiedergefunden werden, und das muss bald, sehr bald
heißen: im Klang der real lebendigen Musik. S – K – N: Schüler, Klang und Notenbild
zusammenbringen. Das ist es, worum sich alles dreht in einem ernst gemeinten
Musikunterricht.
„M“
Im „M“-Unterricht (also: im Musizier-Unterricht, im Unterricht über musikalisches Gestalten)
gilt genau dasselbe analog. Ich kann gewisse Patterns im Live-Arrangement oder im
Vorspielen-Nachspielen vermitteln. Aber schon bei behutsamen Annäherungen an größere
komponierte Musik enden diese Möglichkeiten. Spielen in einem Symphonieorchester, auch
im Symphonieorchester einer Schule, geht nicht ohne sicheres Notenlesen, in diesem Fall
tatsächlich: des Umsetzens von Noten in Klang in Echtzeit. Wer das didaktisch nicht mitdenkt,
lehrt Bergsteigen im Flachland. Aber schon in den Anfangsgründen, in der Streicherklasse,
der Bläserklasse, schon im einfachsten Songarrangement für das Klassenmusizieren läuft fast
nichts mehr ohne geschulte Noten-Lesefähigkeit.
Auch hier gilt aber auch das Umgekehrte: Für den Schüler ist musikalisch nichts, aber auch
gar nichts gewonnen, wenn er weiß, wo er auf dem keyboard drücken muss, wenn da ein g
steht. Es muss am Gestalten von Klang und von Klängen und von Verläufen in Klängen
gearbeitet werden, darüber, wie aus denselben Noten verschiedenste Schattierungen im Klang
erzeugt werden können oder was wir tun müssen, damit im Chorsatz die Altstimme rund
genug klingt oder wie die Männer den Sprung in die Falsett-Lage hinbekommen, um die
Tenorstimme singen zu können. Drücken, pusten, zupfen, streichen bleibt leeres Geklingel,
wenn nicht Klang gehört und geformt wird. Da, freilich, stoßen die Keyboards und die
Xylophone und die verbreiteten rudimentären Arrangements mit Gitarre und Bassgitarre
schnell an ihre Grenzen. Streicherklassen, Bläserklassen, einfach schönes Singen im
Klassenverband kommen eine ganze Ecke weiter, wollen aber auch aktiv weiter geführt
werden.
Immer mal wieder kommen zu mir Referendare ins Fachseminar und sagen mir: Unsere
(immer gleichen) Dozenten in der Uni haben uns gelehrt, dass Schüler ohne
Instrumentalausbildung auch keine Noten zu lernen brauchen. Das sind dann später
meistenteils die Lehrerinnen und Lehrer, die die allermeiste Zeit mit fruchtlosem
Theorieunterricht zubringen. In Abwandlung des Kantschen Satzes gilt, ziemlich früh
jedenfalls: Klang ohne Notenbild ist taub. Notenbild ohne Klang ist blind. S-K-N: Immer
wieder und in allen Feldern des Musikunterrichts gilt es Schüler zu befähigen, Klang und
Notenbild in ihrer Vorstellungskraft zusammenzubringen.
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