Deutsches Ärzteblatt 1985: A-2269

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Kulturmagazin
Reiner Speck
Wer Augen hat,
der höre
Als Beitrag zum Europäischen
Jahr der Musik wird bis zum 22.
September 1985 im von James
Stirling konzipierten Neubau
der Staatsgalerie eine eindrucksvolle Ausstellung zum
Thema „Musik in der Kunst des
20. Jahrhunderts" gezeigt, die
von zahlreichen musikalischen
Begleitveranstaltungen ergänzt
wird. Mehr als 500 Werke von
annähernd 300 Künstlern sollen
die wechselseitigen Einflüsse
dieser beiden künstlerischen
Disziplinen veranschaulichen.
Der von Karin Frank von Maur
herausgegebene Katalog darf
als ein Kompendium für Fachleute und Lehrbuch für Laien
bezeichnet werden.
Beim Thema Musik und Kunst
spannt sich der Bogen vor-
schnell einsetzender Assoziationen zwischen Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung" und Kandinskys theoretischen Schriften,
die ihrerseits nicht ohne Strawinski oder Schönberg denkbar
wären.
„Diese Sauce schmeckt blau" —
war die konstante Behauptung
eines Patienten, über den der
Dresdner Arzt Dr. Freudenberg
im Zusammenhang von Psychopathologie und synästhetischen
Begleiterscheinungen in einem
Aufsatz in „Übersinnliche Welt"
1908 berichtete. Darin wurde
auch — wie Kandinsky in seinem
Buch „Über das Geistige in der
Kunst" schreibt — über Farbenhören gesprochen. Dies diente
dem theoretisierenden Maler
zur Entwicklung und Aufzeichnung von Gesetzmäßigkeiten einer Synästhesie. Dieser Begriff
aus dem sinnesphysiologischpsychologischen Grenzgebiet
bezeichnet das synchrone Sinneserlebnis eines optischen und
akustischen Reizes. Ein Instrument — das Farbenklavier — sollte der allgemeinen Verbreitung
dieses farbigen Hörens — audition coloröe — dienen.
Das architektonisch
reizvolle
neue Gebäude
der Staatsgalerie in
Stuttgart
Zur
Ausstellung
„Vom Klang
der Bilder"
in der
Staatsgalerie
Stuttgart
Jaspers nennt die Synästhesie
„ein Durcheinander der Sinnlichkeiten, welches eine klare
Gegenständlichkeit aufhebt".
Rimbauds Gedichtzeile „Ich erfand die Farbe der Vokale ... "
mag daran erinnern, wie wichtig
das Phänomen auch für die Literatur war.
Eine sich von Raum zu Raum
mehr verdichtende Integration
seiner Empfindungen mit seinem Wissen über Musik (Literatur) und Kunst läßt wohl jeden
Besucher der Ausstellung zum
Teilhabenden dieser erweiterten Wahrnehmung werden. Er
durchschreitet eine Fülle von
Material, die Dank übersichtlicher Anordnung dennoch erholsame Promenaden wie in
Mussorgskys erwähntem Musikstück erlauben.
Das kontemplativ einstimmende
Atrium zur Ausstellung bildet
der verbindende Flur zwischen
dem Altbau der Staatsgalerie
und dem erst im vorigen Jahr
fertiggestellten Neubau, der architektonisch vom Zitatenschatz
musealer Baukunst lebt. Hier
hängen — noch ganz dem neunzehnten Jahrhundert verpflichtet — vor dunkelroter Samttapete
Allegorien als dezente Hinweise
auf das zu erwartende Leitmotiv.
Und wie ein großes Versprechen
zur Qualität der Exponate mutet
Paul Gauguins Bildnis des Cellisten Schneeklud an.
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Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 31/32 vom 2. August 1985 (59)
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Musik in der Kunst
Schon hier sei angemerkt, daß
trotz vorzüglicher Konzeption
der Ausstellung eine Chance
vertan wurde: In den weiteren
fünfzehn Räumen, die jeweils
sehr stringent einem Thema gewidmet sind, hätte sich dem interessierten Zuschauer(-hörer)
so manches Bild mit Hilfe eines
kommentierenden walk-man's
rascher und intensiver erschlossen. Das Hören der Bilder erfordert auch eine Stille der Umgebung. So werden die thematischen Zäsuren oft aufgehoben
durch Geräusche aus dem übernächsten Saal. Schon der nächste, ganz Paul Klee gewidmete
Raum, verträgt — will man die
Musikqualität im Werk dieses
Künstlers nachempfinden — keinerlei Geräuschkulisse.
Die folgenden Säle, die dem
Blauen Reiter, dem Orphismus,
Kubismus, Futurismus und DaDa gewidmet sind und weiter
über die osteuropäische Avantgarde zu Mondrian und den
Bauhaus-Künstlern führen, belegen eindrucksvoll die epochalen Parallelen künstlerischer Anschauungen und Bemühungen
im Bereich von Kunst und Malerei. Die Gegenstandslosigkeit
der Kunst fällt nicht von ungefähr zusammen mit dem Verlassen der Tonalität. Und Schönbergs Satz über die Nichtexistenz von Dissonanzen — sie
seien letztlich nur weiter auseinanderliegende Konsonanzen
— erweist sich als Schlüssel
zum Verständnis so manch ei2270
Fotos (4) : Au s de m Kata log „ Vom K la ng de r Bi lde r"
Der erste große Saal ist Johann
Sebastian Bach gewidmet. Die
Kunst der Fuge war vielen Malern über alle Epochen dieses
Jahrhunderts hinweg Sujet genug, für manchen erst auch auslösendes Moment, über Musik
und Kunst nachzudenken. Die
Aura dieses Raumes wird nicht
nur durch ein Meisterwerk von
Kupka — der in Analogie zu Symphonie den Terminus „Symorphie" prägte — geschaffen; auch
die gespielte Bachmusik trägt
wesentlich dazu bei.
Renä Magritte: Das
Volksfest, 1961,
Aquarell, schwarze
Kreide und Collage,
44 mal 36,5 cm,
Sammlung Castelli
nes „modernen" Bildes schlechthin.
Die strukturellen Analogien der
Schöpfungen aus Farben und
Tönen offenbaren sich durch die
Versuche der Künstler, einer der
Harmonielehre entsprechenden
Farbgesetzlichkeit auf die Spur
zu kommen. Apollinaire schuf
angesichts der Malerei Delaunays den Begriff des Orphismus,
der an Hand ausgesuchter Beispiele einleuchtend belegt wird.
Kubisten wie Braque, Picasso,
Gris oder Gleizes, deren the-
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menbezogenen Bildern wir hier
wieder begegnen, hatten eine
Vorliebe für musikalische Motive — nicht etwa aus Musikbegeisterung, sondern mehr aus der
Entdeckerfreude an einer kubistischen Form, die Musikinstrumenten innewohnt; vor allem
Streich- und Zupfinstrumente
deren Klangkörper denen von
Frauen gleichen, ließen sich metaphorisch zur Verwirklichung
der künstlerischen Vorstellungen und Ziele heranziehen. Die
Futuristen machten sich auf die
Suche nach einer der Musik entsprechenden Bewegung, um
Zeit im Sinne einer motio zu verbildlichen.
Wir erleben instrumentelle Metamorphosen bei den Dadaisten
und Surrealisten, im Nouveau-
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Musik in der Kunst
Realisme und in der Fluxusbewegung. Zwischenzeitlich prägen immer wieder Licht und Bewegung die bildende Kunst, die
aus dem Geist der Musik geschaffen wird oder mit ihr Zwiesprache hält.
Selbst die zwingende Notwendigkeit bestimmter Topoi und
ihre retrospektiv nachvollziehbaren Zusammenhänge werden
offenbar: Kunsthistorisch war es
kein Zufall, daß in Manhattan
Mondrians Boogie-Woogie Bilder 1942 (schon dafür lohnt sich
die Reise nach Stuttgart) und
nur zwanzig Jahre später Andy
Warhols „Tanzschritt Tango"
entstanden sind.
In der insgesamt exzellent inszenierten, in diesem Jahrhundert bisher weder gezeigten
noch je wohl wieder zu erlebenden Zusammenstellung gibt es
auch Gelegenheit, selten gesehenen Vortizisten und Vertretern einer musikalischen Architektur zu begegnen.
Während die sich bis etwa in die
sechziger Jahre hinein geschaffenen Werke meist durch ihren
„inneren" Klang erschließen,
das heißt durch Betrachten auch
hörbar werden, erreichen dieses
Ziel in der Stuttgarter Ausstellung nicht die Exponate der art
intermedia, einer Kunstrichtung,
die im Verlauf der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre mit Hilfe
der Erweiterung künstlerischer
Materialien unter anderem Musik und Tanz, Licht und Bewegung mit in das bildnerische Geschehen einbezogen. Die hierzu
gezeigten Bilder bleiben in der
Tat tote Relikte, archivierte Partituren oder abgelegte Instrumente.
Und da gerade den jüngsten
Kunstrichtungen allenthalben
mit soviel Aversion und Ignoranz
begegnet wird, wurde hier versäumt, die Kluft, die noch immer
groß ist zwischen dem historisierenden Verständnis einer Modernen und dem engagierten
2272
Ernst Barlach: Der
singende Mann,
Bronzeplastik aus
dem Jahr 1928, die
Maße: 49,9 mal 46,8
mal 39 cm, Staatsgalerie Stuttgart
Verstehen einer Avantgarde, ein
wenig zu verkleinern: ein Notenbild mit einer Strawinski-Partitur
von Kounellis ist eben kein Notenbild, sondern ein Teil eines
musikalischen Werkes, das nur
dann existent ist — zu sehen, zu
hören und zu erleben ist — wenn
es mit Violinspieler und Ballerina aufgeführt, wenn es an Ort
und Stelle erfunden wird: „Da
inventare sul posto" — wie es der
Künstler im Titel des Werkes bestimmt hat. Müssen wir uns wirklich am Ende des 20. Jahrhunderts damit abfinden, auch zeitgenössische Kunst so als Fragment in musealer Umgebung
präsentiert zu bekommen wie
die an Gliedern verstümmelten
Torsi Griechenlands?
Dr. med. Reiner Speck
Dürener Straße 252
5000 Köln 41
Iwan Puni (Jean
Pougny): Der Musiker, 1921, Öl auf
Leinwand, aus zwei
Teilstücken vertikal
zusammengenäht,
145 mal 98 cm
(62) Heft 31/32 vom 2. August 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
Katalogbuch zur Ausstellung „Vom
Klang der Bilder — die Musik in der
Kunst des 20. Jahrhunderts" — Herausgegeben von Karin von Maur,
mit 22 Spezialbeiträgen, ausführlichen Künstleraussagen, 750 Abbildungen, davon 200 in Farbe, Prestel-Verlag, München; an der Museumskasse für 48 DM erhältlich
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