Neue Z}rcer Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 09.12.2000 Nr.288 86 Mythos Mohammed Eine Studie von Minou Reeves Von Rüdiger Görner Zum Projekt der Aufklärung gehört(e) die Entdämonisierung des Islam. Einen in dieser Richtung wichtigen Impuls gab George Sale mit seiner Übersetzung des Korans ins Englische und den «Preliminary Discourse in the Koran» (1734). In acht Kapiteln setzte er sich mit den christlichen Vorurteilen gegen den «Mohammedismus» auseinander und befand, dass der Prophet vom Glauben an den einen Gott bestimmt gewesen sei, was auch den Christen ein Vorbild sein könne. Gerade dass sich Mohammed eben nicht als Gottes Sohn bezeichnet und keine Wunder gewirkt habe, verleihe ihm, so Sale, Glaubwürdigkeit, wogegen die Vorstellung von der Dreieinigkeit wie eine Konstruktion erscheinen müsse. Das widersprach auf eine geradezu skandalöse Weise dem üblichen Bild vom teuflisch inspirierten Fanatiker Mahound, dem vermeintlichen Apostel zügelloser Sinnlichkeit, dem Hedonisten und Antichristen, dem lustvollen Krieger. So hatte ihn das christliche Mittelalter gesehen; so verunglimpfte ihn auch Luther, der nur einen für noch schlimmer als Mohammed hielt, nämlich den Papst. Sales Bemühung, Aufklärungsarbeit über Mohammed und den Islam zu leisten, fand in Frankreich ihre Entsprechung in Henri Comte de Boulainvilliers' biographischem Versuch «La Vie de Mahomet» (1728); der Autor fand im Islam eine natürliche Form des Religiösen im Gegensatz zur Künstlichkeit des Christentums, womit auch Boulainvilliers die Lehre von der Dreieinigkeit meinte. VON SALE ZUR RINGPARABEL Auf deutsche Aufklärer konnte vor allem Sales Verständnis vom «Mohammedismus» wirken. So lässt sich bereits beim frühen Lessing der Einfluss Sales nachweisen. Und in der von ihm 1774 herausgegebenen Schrift «Von der Duldung der Deisten» des Hermann Samuel Reimarus wird Sale ausgiebig und zustimmend zitiert. Offenkundig ist, dass das berühmte Toleranzkonzept im «Nathan» entscheidend auf Sales These aufbaut, nach der die christliche Dreieinigkeitslehre keine ausschliessliche Autorität beanspruchen könne, sondern vielmehr die Gleichberechtigung der © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG monotheistischen Religionen gelten müsse. Man fragt sich immer wieder, was die Gründe dafür gewesen sein könnten, dass selbst Montesquieu, Voltaire, aber auch Diderot Mohammed und den Islam geisselten, auch wenn sie dem Propheten wirkliche Grösse nicht absprechen wollten. Minou Reeves, eine vielfach ausgewiesene Kennerin der islamischen Kultur und ihrer Geschichte, vertritt dazu in ihrer jüngsten Arbeit, der ebenso material- wie deutungsreichen und überdies eingängig geschriebenen Studie «Muhammad in Europe», eine durchaus überzeugende These: Besagte Intellektuelle mounted a veiled criticism, lambasting Islam which was allowed to stand as an example of revealed religions. So, once again we see how European thinkers whose real intention was to scrutinize their own religion and society had no moral compunction or censorship difficulties in using another religion, Islam, as a substitute. In elf Kapiteln bietet Reeves eine faszinierende Geschichte des Mohammed-Mythos, deren Kern die Frage ist, ob der Prophet ein früher Humanist oder Fanatiker gewesen war, ein «Held» oder ein «Schwindler». Aber gerade weil er so vielgestaltig in Erscheinung trat, konnte aus Mohammed im 20. Jahrhundert auch eine novellistische Travestiegestalt werden. Zu bedenken ist freilich, dass gerade die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts das Gegenstück zur Entdämonisierung des Islam erlebt hat, nämlich die islamistische Selbstmythisierung. Doch hat sich die fundamentalistische Mobilisierung der Gläubigen inzwischen selbst als radikale Ideologie entlarvt, welche die grosse Tradition des Toleranzdenkens im Islam schlicht ignoriert. MYTHOS UND HISTORIE Es ist das Verdienst von Minou Reeves, dass sie den Mohammed-Mythos vor dem sorgfältig erarbeiteten Hintergrund der historischen Vita des Propheten darstellt. Dabei kommt sie zu überraschenden Befunden. Der angebliche Erzkrieger Mohammed imposed various restrictions on his men. They were not to kill women or children or non-combatants. Prisoners of war were to be treated well and given food (. . .) Mutilation of the dead and looting Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung LITERATUR UND KUNST were prohibited. All this was a complete break with Arab tradition. It anticipated the Geneva Convention by thirteen centuries. Man kann diese Toleranz aus der uranfänglichen, aber gleichzeitig übergeschichtlichen Bundesidee zwischen Gott und Mensch ableiten, wie sie der Koran vertritt (Sure 7/171) und die zum Sinnkern des islamischen Sufismus gehört. Es ist eine Toleranz der religiös inspirierten menschlichen Grösse. Paul Valéry schrieb einmal: «Goethe wie Napoleon verfallen mitunter beide, jeder nach seiner Natur, der Verführung des Orients. Bonaparte schätzt am Islam die einfache und kriegerische Religion. Goethe berauscht sich an Hafis – beide bewundern Mohammed. Aber was wäre europäischer, als sich vom Orient verführen zu lassen?» Grösse, Hegel und Carlyle sahen dies nicht anders, entspringt im Falle Mohammeds aus seiner mystischen «Gewissheit des Herzens» (Annemarie Schimmel) und seinem Einblick in die Natur des Menschen, dessen sinnliche Qualität er ebenso achtet wie dessen geistiges Vermögen. Der europäische Orientalismus des 19. Jahrhunderts nahm das «Mohammedanische» nur noch als Ausdruck für profanen Sinnesrausch wahr, aber auch als konstruiertes Gegenbild zu einer sich zunehmend technisierenden Zivilisation. Der «Orient» wurde, wenn man so will, zum Reservat der Sinne, das sich mangels ausgeprägter politischer Konturen nach allen Regeln kolonialistischer Kunst ausbeuten liess. Das Arabische bestand in den Augen der europäischen Orienta- © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Samstag, 09.12.2000 Nr.288 86 listen nur noch aus Wasserpfeife schmauchenden Müssiggängern, Opiumsüchtigen, Harems und wilden Pferden – ein Märchen eben, jeder Phantasie willfährig. Fragt man nach den Gründen für den heutigen islamischen Fundamentalismus, dann kommt man schwerlich umhin, darin auch eine Reaktion auf westliche Projektionen und Fehleinschätzungen zu sehen. Das Gefühl, missverstanden zu werden, scheint bereits den historischen Mohammed bedrängt zu haben, wie bereits Dagobert von Mikusch in seiner 1932 erschienenen Biographie «Mohammed: Tragödie des Erfolgs» darlegte. Es hat den Anschein, dass dieses Empfinden zu einer Konstante im islamischen Kulturbewusstsein geworden ist. Manches spricht dafür, dass der Grundwiderspruch in diesem Glauben zwischen sufischer Mystik und ihrem Humanismus einerseits sowie andererseits orthodoxer Militanz und Fanatismus erst in postkolonialer Zeit in verschärfter Form ausgetragen werden konnte. Indifferenz gegenüber solchen Widersprüchen oder blindes Verurteilen der anderen Kultur stellen in einer wirklichen Weltgesellschaft keine Option mehr dar. Wir müssen die Gründe für solche Widersprüche verstehen lernen – am sinnvollsten anhand von Büchern wie diesem. Minou Reeves: Muhammad in Europe. A Thousand Years of Myth-Making. With a biographical contribution by P. J. Stewart. Garnet Publishing Reading 2000. 320 S., £ 25.–. Blatt 2