Der Musik- Instinkt

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Daniel J. Levitin
Der MusikInstinkt
Die Wissenschaft einer menschlichen
Leidenschaft
Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Held
Titel der Originalausgabe: This is Your Brain on Music: The Science of a Human
Obsession
Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Held
Copyright © Daniel J. Levitin, 2006
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© Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2009
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Planung und Lektorat: Frank Wigger, Dr. Meike Barth
Redaktion: Martina Wiese
Herstellung und Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd, Pune, Maharashtra, India
Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg
Titelbild: Fotalia
ISBN 978-3-8274-2078-7
Inhalt
1
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5
6
7
8
9
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Was ist Musik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Mit den Füßen wippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Hinter den Kulissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Vorausschauendes Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
You Know My Name, Look Up the Number . . . . . 159
»Sehen Sie sich die Verbindungen an!« . . . . . . . . 209
Was macht einen Musiker aus? . . . . . . . . . . . . . . . 243
Meine Lieblingslieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Der Musik-Instinkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Anhang A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Anhang B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Literatur mit Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401
8
Meine Lieblingslieder
Warum mögen wir bestimmte
Musiken?
Man erwacht aus dem Tiefschlaf und öffnet die Augen. Es
ist dunkel. Das entfernte regelmäßige Klopfen am Rande des
Hörvermögens ist immer noch zu vernehmen. Man reibt sich
die Augen, kann aber weder irgendwelche Umrisse noch Formen ausmachen. Die Zeit vergeht, aber wie lange? Eine halbe
Stunde? Eine Stunde? Dann hört man ein anderes, deutlich
wahrnehmbares Geräusch – einen amorphen, vibrierenden
Klang mit einem schnell schlagenden Pochen, das man in den
Füßen spüren kann. Das Geräusch beginnt und stoppt undefiniert. Es baut sich allmählich auf und schwächt sich wieder
ab, beides geht ohne eindeutigen Beginn und Ende ineinander
über. Diese vertrauten Geräusche sind beruhigend – man hat
sie früher schon gehört. Wenn man sie wahrnimmt, hat man
eine vage Vorstellung davon, was als Nächstes kommen wird,
und das kommt tatsächlich, selbst wenn die Geräusche entfernt und vernebelt bleiben, als würde man sie unter Wasser
hören.
Bereits in der Gebärmutter, umgeben von Fruchtwasser,
hört der Fetus Geräusche. Er hört den Herzschlag seiner
Mutter, der sich ab und an beschleunigt, ein anderes Mal wieder verlangsamt. Und der Fetus hört Musik, wie Alexandra
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Der Musik-Instinkt
Lamont von der Keele University in Großbritannien unlängst
festgestellt hat. Wie sie herausfand, erkennen und bevorzugen Kinder ein Jahr nach ihrer Geburt Musik, die sie bereits
im Mutterleib wahrgenommen haben. Etwa 20 Wochen nach
der Befruchtung ist das Gehör des Fetus voll funktionsfähig.
In Lamonts Experiment spielten Mütter ihren Babys während
der letzten drei Monate der Schwangerschaft immer wieder
das gleiche Musikstück vor. Natürlich hörten die Babys –
durch das Fruchtwasser in der Gebärmutter gefiltert – auch
all die anderen Geräusche im täglichen Leben ihrer Mütter,
darunter weitere Musikstücke, Unterhaltungen und Geräusche
aus der Umwelt. Für jedes Baby wurde jedoch ein bestimmtes Musikstück ausgewählt, das ihm regelmäßig vorgespielt
wurde. Zu den ausgewählten Stücken zählten sowohl Klassik (Mozart, Vivaldi), Hits aus den Top 40 (Five, Backstreet
Boys), Reggae (UB40, Ken Boothe) und Weltmusik (Spirits of
Nature). Nach der Geburt durften die Mütter ihren Kindern
das ausgewählte Stück nicht mehr vorspielen. Erst ein Jahr
später spielte Lamont den Babys wieder die Musik vor, die
sie bereits im Mutterleib gehört hatten, zusammen mit einem
weiteren Musikstück in gleichem Stil und Tempo. So präsentierte man einem Baby, welches das Reggaestück Many Rivers
to Cross von UB40 gehört hatte, ein Jahr später erneut dieses
Stück und dazu Stop Loving You von dem Reggaeinterpreten
Freddie McGregor. Dabei registrierte Lamont jeweils, welches
der Stücke die Babys bevorzugten.
Wie lässt sich feststellen, welchen von zwei Reizen ein
Kind bevorzugt, das noch nicht sprechen kann? Die meisten
Wissenschaftler, die sich mit solchen Säuglingen befassen,
verwenden dazu eine bestimmte Technik, das sogenannte
„konditionierte Hinwenden des Kopfes“, das in den 1960erJahren von Robert Fantz entwickelt und später von John Columbo, Anne Fernald, dem verstorbenen Peter Jusczyk und
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ihren Mitarbeitern verfeinert wurde. Dazu werden im Labor
zwei Lautsprecher aufgestellt und das Kind wird zwischen
die beiden Lautsprecher gesetzt (in der Regel auf den Schoß
seiner Mutter). Schaut das Kind zu einem der Lautsprecher,
beginnt dieser eine Musik oder irgendein anderes Geräusch
zu spielen; schaut es zu dem anderen Lautsprecher, kommt
daraus eine andere Musik oder ein anderes Geräusch. Das
Kind lernt schnell, dass es durch seine Blickrichtung steuern
kann, was gespielt wird. Es lernt also, dass es die Bedingungen
des Versuchs unter Kontrolle hat. Die Versuchsleiter achten
darauf, dass die verschiedenen Reize in einem ausgeglichenen
Verhältnis (nach dem Zufallsprinzip) aus den beiden Lautsprechern kommen: Zur Hälfte ertönt der untersuchte Reiz
aus dem einen Lautsprecher und zur Hälfte aus dem anderen.
Als Lamont dieses Experiment mit den Säuglingen durchführte, stellte sie fest, dass diese tendenziell länger zu dem
Lautsprecher hinschauten, aus dem die Musik erklang, die sie
bereits im Mutterleib gehört hatten. Dies bestätigte, dass sie
die Musik bevorzugten, die sie bereits vor der Geburt kennengelernt hatten. Eine Kontrollgruppe von Einjährigen,
die keines der beiden Musikstücke schon einmal gehört hatten, zeigte keine Präferenz – damit stand fest, dass nicht irgendeine Eigenschaft der Musik selbst dieses Resultat bewirkt
hatte. Weiterhin fand Lamont heraus, dass die Säuglinge unter
ansonsten gleichen Bedingungen schnelle, fröhliche Musik lieber hörten als langsame.
Diese Ergebnisse widersprechen der lange vorherrschenden Theorie der infantilen Amnesie – dass man erst ab einem
Alter von etwa fünf Jahren wahrheitsgetreue Erinnerungen
haben kann. Viele Menschen behaupten, Erinnerungen an
ihre frühe Kindheit im Alter von zwei bis drei Jahren zu besitzen. Allerdings ist nur schwer festzustellen, ob es sich dabei
um echte Erinnerungen an das Originalereignis handelt oder
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Der Musik-Instinkt
vielmehr um Erinnerungen an das, was eine andere Person
später über dieses Ereignis erzählt hat. Das Gehirn von Kleinkindern ist noch unentwickelt, seine funktionelle Spezialisierung noch nicht abgeschlossen, und die Nervenbahnen sind
noch im Aufbau begriffen. Der Geist des Kindes versucht in
möglichst kurzer Zeit so viel Information wie möglich aufzunehmen. Verständnis, Bewusstsein oder Gedächtnis des Kindes für Ereignisse weisen normalerweise noch große Lücken
auf, denn es hat noch nicht gelernt, wichtige Ereignisse von
unwichtigen zu unterscheiden oder Erlebnisse systematisch
zu codieren. Damit ist ein Kleinkind prädestiniert für Suggestion und könnte unbewusst Geschichten, die ihm über sich
selbst erzählt werden, als seine eigenen Erinnerungen abspeichern. Was jedoch Musik angeht, werden anscheinend selbst
vorgeburtliche Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert und
können auch ohne Sprache oder explizites Bewusstsein der
Erinnerung abgerufen werden.
Vor einigen Jahren gelangte eine Studie in die Schlagzeilen
der Zeitungen und die morgendlichen Talkshows, der zufolge
es intelligenter macht, wenn man täglich zehn Minuten lang
Mozart hört (der sogenannte „Mozart-Effekt“). Das Hören
von Musik könne, so wurde behauptet, die Leistung bei unmittelbar nach dem Hören erteilten Aufgaben zum räumlichen Vorstellungsvermögen verbessern (einige Journalisten
dachten, dies würde auch mathematische Fähigkeiten einschließen). Mitglieder des amerikanischen Kongresses verabschiedeten Resolutionen, und der Gouverneur von Georgia
bewilligte Gelder zum Kauf einer Mozart-CD für jedes neugeborene Baby in Georgia. Die meisten Wissenschaftler fühlten sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Zwar gehen wir intuitiv
davon aus, dass Musik andere kognitive Fähigkeiten verbessern kann, und würden es alle begrüßen, wenn die Regierung
den Musikunterricht an den Schulen finanziell unterstützen
8 Meine Lieblingslieder
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würde; die betreffende Studie, die diese Behauptung aufstellte,
enthielt jedoch zahlreiche wissenschaftliche Mängel. Sie stellte
einige richtige Behauptungen auf, aber die Begründung war
fehlerhaft. Ich persönlich fand das ganze Tamtam etwas abstoßend, weil es implizierte, dass man sich nicht mit Musik um
ihrer selbst willen beschäftigen sollte, sondern nur dann, wenn
sie dazu beitrug, dass man bei anderen, „wichtigeren“ Dingen
bessere Leistungen erzielte. Stellen Sie sich vor, wie absurd es
klänge, wenn man den Spieß umdrehen würde. Wenn ich behauptete, Mathematik zu lernen, verbessere die musikalischen
Fähigkeiten – würden Politiker deswegen die Mathematik mit
Finanzspritzen fördern? In staatlichen Schulen wird Musik
oftmals stiefmütterlich behandelt und bei finanziellen Engpässen als erstes Fach geopfert. Häufig wird versucht, Musik
aufgrund ihrer positiven Begleiterscheinungen zu rechtfertigen, anstatt ihre Daseinsberechtigung darin zu sehen, dass sie
an sich ein Gewinn ist.
Das Problem bei der „Musik macht intelligenter“-Studie
lag auf der Hand: Die Kontrollen bei den Experimenten waren unzureichend. Wie Nachforschungen von Bill Thompson, Glenn Schellenberg und anderen ergaben, waren die
geringfügigen Unterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen zwischen den beiden Gruppen allein durch die
Auswahl der Kontrollaufgaben bedingt. Verglichen damit,
einfach nur in einem Raum zu sitzen und nichts zu tun,
schnitt Musikhören recht gut ab. Erhielten die Versuchspersonen der Kontrollgruppe jedoch auch nur eine leichte
geistige Anregung – etwa durch Lesen oder das Hören eines
Hörbuches –, war Musikhören nicht mehr von Vorteil. Als
weiterer Mangel der Studie erwies sich, dass kein plausibler
Mechanismus für diesen funktionellen Zusammenhang
vorgeschlagen wurde: Wie könnte das Hören von Musik die
Leistungen bei räumlichen Aufgaben verbessern?
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Der Musik-Instinkt
Glenn Schellenberg hat darauf hingewiesen, wie wichtig es
ist, kurzfristige Effekte von Musik von langfristigen zu unterscheiden. Der Mozart-Effekt bezog sich auf einen unmittelbaren Nutzen; andere Forschungen haben jedoch tatsächlich
bestätigt, dass sich musikalische Aktivitäten auch langfristig
auswirken. Durch das Hören von Musik werden bestimmte
neuronale Schaltkreise verändert oder ausgebaut. Unter anderem ist davon die Dichte der dendritischen Verbindungen
in der primären Hörrinde betroffen. Wie der Neurowissenschaftler Gottfried Schlaug von der Harvard University gezeigt hat, ist der vordere Teil des Corpus callosum – der auch
als Balken bezeichneten Masse aus Nervenfasern, welche die
beiden Großhirnhemisphären miteinander verbindet – bei
Musikern signifikant größer als bei Nichtmusikern, und zwar
insbesondere bei Musikern, die bereits früh mit der musikalischen Ausbildung begonnen haben. Dies spricht dafür, dass
die Verarbeitung von Musik mit zunehmender Übung immer
stärker auf beide Gehirnhälften verteilt wird, denn Musiker
rufen neuronale Strukturen aus der linken und der rechten
Hemisphäre ab und koordinieren sie.
In mehreren Studien ließen sich nach dem Erwerb motorischer Fähigkeiten, wie sie sich beispielsweise Musiker
aneignen, mikrostrukturelle Veränderungen im Kleinhirn
nachweisen, darunter eine größere Zahl und Dichte von Synapsen. Schlaug zufolge besaßen Musiker zumeist ein größeres
Kleinhirn als Nichtmusiker sowie eine erhöhte Konzentration
grauer Substanz. Die graue Substanz ist jener Teil des Gehirns, der die Zellkörper, Axone und Dendriten enthält und
in dem vermutlich die Informationsverarbeitung erfolgt; die
weiße Substanz hingegen ist für die Übertragung von Informationen zuständig.
Ob diese strukturellen Veränderungen im Gehirn auch
die Fähigkeiten auf nichtmusikalischen Gebieten verbessern,
8 Meine Lieblingslieder
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ist bislang noch nicht bestätigt. Nachgewiesen ist allerdings,
dass sich durch Musikhören und Musiktherapie eine ganze
Reihe von psychischen und physischen Problemen überwinden lassen. Aber kommen wir zu einem fruchtbareren
Forschungsgegenstand, dem Musikgeschmack, zurück …
Lamonts Ergebnisse sind insofern von Bedeutung, als sie
beweisen, dass das Gehirn bereits vor und kurz nach der
Geburt Erinnerungen speichern und diese noch nach langer
Zeit abrufen kann. Konkreter zeigen diese Ergebnisse, dass
die Umwelt – selbst wenn sie durch das Fruchtwasser und die
Gebärmutter gedämpft wird – die Entwicklung und Vorlieben eines Kindes beeinflussen kann. Der Boden für musikalische Vorlieben wird also bereits im Mutterleib bereitet. Das
kann aber noch nicht alles sein, denn sonst würden Kinder
sich einfach nur zu der Musik hingezogen fühlen, die ihren
Müttern gefällt oder die in Geburtsvorbereitungskursen gespielt wird. Man kann sagen, dass die musikalischen Vorlieben durch das in der Gebärmutter Gehörte beeinflusst, aber
nicht festgelegt werden. Hinzu kommt eine längere Phase der
kulturellen Anpassung, während der das Kleinkind die Musik
der Kultur aufnimmt, in die es hineingeboren wurde. Vor einigen Jahren tauchten Berichte auf, nach denen Kleinkinder,
bevor sie sich an die Musik einer (für uns) fremden Kultur
gewöhnen, ungeachtet ihrer Kultur oder Rassenzugehörigkeit westliche Musik anderer Musik vorziehen. Diese Ergebnisse wurden jedoch nicht bestätigt; vielmehr stellte man fest,
dass Kleinkinder lieber Konsonanzen als Dissonanzen hören. Dissonanzen lernt man erst später im Leben zu schätzen,
wobei der Grad an Dissonanz, den verschiedene Menschen
tolerieren, variiert.
Das hat wahrscheinlich neuronale Gründe. Konsonante
und dissonante Intervalle werden in der Hörrinde über unterschiedliche Mechanismen verarbeitet. Kürzlich hat man die
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Der Musik-Instinkt
elektrophysiologischen Reaktionen von Menschen und Affen auf wahrgenommene Dissonanzen untersucht (also auf
Akkorde, die aufgrund ihres Frequenzverhältnisses dissonant
klingen, nicht wegen des harmonischen oder musikalischen
Kontextes). Dabei zeigte sich, dass Neuronen in der primären
Hörrinde – der ersten Ebene der cortikalen Verarbeitung von
Tönen – ihre Feuerungsraten bei dissonanten Akkorden synchronisieren, nicht jedoch bei konsonanten Akkorden. Warum das eine Vorliebe für Konsonanz hervorruft, ist allerdings
noch nicht klar.
Über die Hörwelt von Kleinkindern ist einiges bekannt.
Die Ohren von Kindern sind zwar schon vier Monate vor
der Geburt voll funktionsfähig, das sich entwickelnde Gehirn braucht jedoch Monate oder Jahre, um die vollständige Verarbeitungsfähigkeit für akustische Reize zu erlangen.
Säuglinge erkennen Transpositionen von Tonhöhe und Zeit
(Tempoveränderungen). Das lässt darauf schließen, dass sie
zu relationaler Verarbeitung imstande sind – was selbst die
fortschrittlichsten Computer immer noch nicht besonders gut
beherrschen. Jenny Saffran von der University of Wisconsin
und Laurel Trainor von der McMaster University haben Belege dafür zusammengetragen, dass Säuglinge auch auf die
absolute Tonhöhe achten können, wenn eine Aufgabe dies
erfordert. Das deutet auf eine zuvor nicht bekannte kognitive
Flexibilität hin: Schon ganz kleine Kinder können je nach Bedarf verschiedene Verarbeitungsmethoden anwenden – die
vermutlich über unterschiedliche neuronale Verschaltungen
ablaufen.
Wie Trehub, Dowling und andere gezeigt haben, ist die
Melodielinie für Babys die hervorstechendste musikalische
Eigenschaft; sie können Ähnlichkeiten und Unterschiede
selbst nach 30 Sekunden Retentionszeit feststellen. Erinnern
wir uns, dass man als Melodielinie oder Kontur den Verlauf der
8 Meine Lieblingslieder
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Tonhöhen einer Melodie bezeichnet – das Auf und Ab der
Melodie –, wobei die Größe der Intervalle keine Rolle spielt.
Achtet jemand ausschließlich auf die Melodielinie, so codiert
er beispielsweise nur, dass die Melodie nach oben führt, aber
nicht, wie weit. Die Sensitivität von Säuglingen für die Melodielinie ähnelt der Sensitivität für die Satzmelodie, die zum
Beispiel Fragen von Ausrufen unterscheidet und unter den
linguistischen Oberbegriff der Prosodie fällt.
Fernald und Trehub haben dokumentiert, dass Eltern
mit Säuglingen anders sprechen als mit älteren Kindern und
Erwachsenen, und zwar in allen Kulturen. Sie sprechen langsamer, mit einem erweiterten Tonhöhenspektrum und in einer
insgesamt höheren Tonlage. Mütter (in geringerem Maße auch
Väter) tun dies praktisch von Natur aus, ohne spezielle Anleitung; Wissenschaftler bezeichnen diese übertriebene Betonung als Ammen- oder Babysprache oder auch als Mutterisch.
Unserer Ansicht nach hilft die Ammensprache, die Aufmerksamkeit des Babys auf die Stimme der Mutter zu richten und
die Wörter eines Satzes voneinander zu unterscheiden. Statt
wie zu einem Erwachsenen zu sagen: „Das ist ein Ball“, würde
man in der Ammensprache etwa sagen: „WAS ist das?“ (mit
Betonung auf dem Fragewort). „Ist das ein BAAALLL?“ (mit
stärkeren Tonhöhenschwankungen und einem deutlichen Anstieg am Ende von Ball ). Oft signalisiert die Satzmelodie bei
solchen Äußerungen besonders deutlich, ob die Mutter eine
Frage stellt oder eine Aussage macht; durch Übertreibung
der Unterschiede zwischen einer ansteigenden und einer abfallenden Satzmelodie lenkt die Mutter die Aufmerksamkeit
darauf. Sie erzeugt im Grunde einen Prototyp für eine Frage
und einen Prototyp für eine Aussage, die leicht zu unterscheiden sind. Schimpft die Mutter, so erzeugt sie von Natur aus –
ebenfalls ohne spezielle Anleitung – eine dritte prototypische
Form der Äußerung, kurz und knapp, ohne große Variationen
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Der Musik-Instinkt
der Tonhöhe: „Nein!“ (Pause) „Nein! Bah!“ (Pause) „Ich sagte, nein!“ Die Babys besitzen offenbar eine angeborene Fähigkeit, die Satzmelodie zu registrieren und, bevorzugt über
bestimmte Tonhöhenintervalle hinweg, zu verfolgen.
Zudem können Kleinkinder, wie Trehub zeigte, konsonante Intervalle wie die reine Quarte und die reine Quinte besser
codieren als dissonante wie den Tritonus. Trehub zufolge erleichtern es die ungleichen Schritte unserer Tonleiter, bereits
in früher Kindheit Intervalle zu verarbeiten. Zusammen mit
ihren Mitarbeitern spielte sie neun Monate alten Säuglingen die reguläre, aus sieben Tönen bestehende Dur-Tonleiter sowie zwei von ihr selbst erfundene Tonleitern vor. Bei
einer dieser erfundenen Tonleitern unterteilte sie die Oktave
in elf gleich große Schritte und wählte dann sieben Töne aus,
die sie mit ein oder zwei Schritten Abstand einfügte. Bei der
anderen Tonleiter unterteilte sie die Oktave in sieben gleich
große Schritte. Die Aufgabe für die Kinder lautete, einen
falschen Ton herauszufinden. Erwachsene schnitten bei der
Dur-Tonleiter gut ab, bei den beiden künstlichen, noch nie zuvor gehörten Tonleitern jedoch schlecht. Die Babys hingegen
erzielten bei beiden Tonleitern mit ungleichen Tonabständen
gute Ergebnisse, bei der Tonleiter mit regelmäßigen Abständen jedoch deutlich schlechtere. Aufgrund früherer Arbeiten
geht man davon aus, dass neun Monate alte Säuglinge noch
kein geistiges Schema für die Dur-Tonleiter verinnerlicht haben. Somit legen Trehubs Ergebnisse nahe, dass ungleiche
Schritte, wie sie auch bei der Dur-Tonleiter vorkommen, ganz
allgemein leichter zu verarbeiten sind.
Es sieht, mit anderen Worten, so aus, als hätten sich das
menschliche Gehirn und die gängigen musikalischen Tonleitern in Koevolution entwickelt. Die seltsame, unregelmäßige Anordnung der Töne der Dur-Tonleiter ist kein Zufall:
Melodien mit dieser Anordnung, die sich aus der Physik der
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