Musik auf Rädern Ambulante Musiktherapie Konzept Angebot für Menschen mit Autismus Das autistische Syndrom Autismus als eigenständiges Krankheitsbild wurde erstmals Mitte der 1940er Jahre von dem amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner und dem Pädiater Hans Asperger beschrieben. Autismus wird nicht als einheitliches Krankheitsbild gesehen. Vielmehr spricht man von der autistischen Störung bzw. dem autistischen Syndrom, weil eine Vielzahl von Einzelsymptomen zusammenspielt. Diese oftmals komplexen und vielschichtigen Symptome sind überaus unterschiedlich ausgeprägt. Sie umfassen u. a. Kontakt- und Kommunikationsstörungen, Sprachanomalien, Bewegungsstereotypien, das Haften an bestimmten Handlungen sowie die Angst vor Neuem und Veränderungen. Im Vordergrund steht jedoch die Einschränkung des Kontakts und die Bezogenheit auf sich selbst. Beim autistischen Syndrom handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. „Das bedeutet, dass die Entwicklung in ihrer Gesamtheit von der Säuglingszeit an beeinträchtigt wird“1. Diese Auffassung als Entwicklungsstörung grenzt das Syndrom auch von den geistigen Behinderungen ab, wo man von einem „Rückstand“ spricht; beim Autismus dagegen von einer „Abweichung im Funktionieren“. Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an. E. T. A. Hoffmann Dieser Satz kann ohne Weiteres als einer der Leitsätze der Musiktherapie gelten. Die Musik in der Musiktherapie ermöglicht nicht nur den Ausdruck von unaussprechbaren Wünschen, Gedanken und Gefühlen, darüber hinaus wirkt sie auch als nonverbales Kommunikationsmittel. So wird die Musiktherapie als eine Form der Psychotherapie in der Psychiatrie und Psychosomatik, aber auch im Sinne von Krankenbegleitung eingesetzt. Menschen mit Autismus zeigen zumeist eine hohe Affinität zur Musik. Dies zeigt sich beispielsweise dadurch, dass sie oftmals auf gesungene Worte besser reagieren als auf gesprochene. Musiktherapie als multisensorische Therapieform ist für Menschen mit Autismus besonders gut geeignet. Durch eben diese Eigenschaft der Multisensorik spricht sie alle Sinne an. Unsere Welt öffnen Das Kernproblem, das im Umgang mit autistischen Menschen besteht, ist sicherlich die mangelnde Kontaktfähigkeit, durch die insbesondere die direkten Angehörigen belastet sind. Durch die Störung der Wahrnehmungsverarbeitung sowie die weitere weit verzweigte Symptomatik und die oftmals vorhandenen Sprachstörungen schafft man es oft nicht, diese Menschen in ihrer Welt zu erreichen, in die sie sich zum Schutz vor der Reizüberflutung zurückziehen. Auf mehreren Ebenen kann so ein Zugang zum autistischen Menschen gefunden werden, z. B. vom Spüren der Vibrationen über das Hören der Melodien bis hin zum akustischen oder visuellen Wahrnehmen des Gegenübers, der Umwelt und schließlich der Kommunikation mit umgebenden Personen. Die Musik schafft einen angstfreien Zugang. Bei jugendlichen und erwachsenen Menschen mit Autismus, bei denen die Symptomatik zumeist nicht mehr allzu ausgeprägt ist, kann die Musiktherapie die bereits entwickelten Strukturen festigen. Sie hilft beim weiteren Beziehungsaufbau und bietet gleichzeitig eine geschützte Rückzugsmöglichkeit. Aktuelle Studien aus den USA bekräftigen die Wirksamkeit der Musiktherapie für Menschen mit Autismus. Es konnte bestätigt werden, dass die kommunikativen Fähigkeiten im Laufe der Behandlung verbessert werden2. Wir sollten aber eben nicht in diese Schutzwelt eindringen, sondern müssen unsere Welt Stück für Stück für die autistischen Menschen öffnen, damit sie allmählich lernen können, sich darin zurechtzufinden. Die Musik bietet mit ihrer bereits beschriebenen multisensorischen Wirkungsweise eine gute Möglichkeit dazu: Man hört die Klänge, man spürt die Vibrationen und die Oberfläche der Instrumente, man sieht z. B. Saiten schwingen und man riecht und schmeckt bisweilen das Material, z. B. das Holz einer Blockflöte. Wir erreichen den autistischen Menschen auf seinem „empfangsbereiten Sinneskanal“ und können allmählich unsere Welt öffnen und den nach und nach entstehenden Kontakt auf- und ausbauen. Wichtig hierbei ist ein sehr sorgsames Vorgehen, ansonsten droht der sofortige Rückzug des autistischen Menschen. Um dies zu erreichen, arbeitet die Musiktherapie mit vielartigen und vielfältigen Instrumenten, Liedern und Spielformen. Die nonverbale kommunikative Wirkung der Musik in der Musiktherapie kann hier besonders gut helfen, eine angstfreie Atmosphäre und damit leichte Zugangswege im Miteinander zwischen Patient und Therapeut zu schaffen. Das Problem der Kontaktaufnahme wird in der Musiktherapie insofern gelöst, als dass die musikalische Kommunikation eine Brückenfunktion zwischen dem Therapeut und dem autistischen Menschen einnimmt. Musik auf Rädern Ambulante Musiktherapie Erwartungsdruck. Wir möchten dem Menschen mit autistischer Störung zu mehr Kontakt zu sich selbst verhelfen und ihm ein Bewusstsein seiner Selbstwirksamkeit ermöglichen, denn Selbstempfinden und die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit stehen in engem Zusammenhang. In Kontakt kommen Um die Kontaktaufnahme zu erreichen, gehen wir stets vom Patienten aus, d. h. wir arbeiten mit dem, was der autistische Mensch uns bietet. Dazu nehmen wir ihn so an, wie er ist und sich in der Therapie verhält, und akzeptieren ihn vollständig. Weiterhin erfassen wir mit besonderer Wahrnehmungs- und Resonanzbereitschaft sein Verhalten und erspüren seine Bedürfnisse, Bewegungen und Äußerungen. Dabei achten wir auch stets auf die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz und erwarten nie zuviel vom Patienten. Die konkreten musikalischen Inhalte der Therapie wie Spielformen entwickeln sich aus der so entstehenden Atmosphäre und den Angeboten des Patienten. Selbst wenn er zunächst überhaupt nicht reagiert, haben wir die Möglichkeit, im musikalischen Spiel die momentane Atmosphäre auszudrücken, um das Hier und Jetzt spürbar und erlebbar zu machen. Dies geschieht ohne jeglichen Das Verhalten sowie die Bewegungen, sogar der Atem des Patienten können musikalisch begleitet und kommentiert oder gespiegelt werden. Als konkrete Arbeitsweise sei hier das „kommentierende Singen“ exemplarisch angeführt, bei dem der Therapeut das Geschehen im Raum singend kommentiert, dabei begleitet er sich vielleicht auf der Gitarre oder dem Klavier. Ein unruhig hin- und herlaufendes Kind wird im Laufrhythmus auf einer Trommel begleitet, bis es irgendwann das Spiel des Therapeuten durch schnelleres oder langsameres Gehen verändert. Aber auch mit anderen bekannten und alltäglichen Spielsachen wie beispielsweise Handpuppen schaffen wir es, mit dem autistischen Menschen in Kontakt zu treten. Klanggesten wie Klatschen oder Schnalzen für den oder mit dem Patienten zusammen können bei der Kontaktentstehung helfen. Sowohl dem Patienten als auch dem Therapeuten stehen Spielsachen und Musikinstrumente zum Ausdruck zur Verfügung. Konkrete Arbeitsweisen und damit verbundene Therapieziele sind demnach u. a. Das musikalische Umsetzen der Stereotypie, wodurch der autistische Mensch Halt findet und sich von außen widergespiegelt erlebt. Die Stereotypien sowie weitere ähnliche Symptome wie zwanghafte Rituale oder Bindung an ungewöhnliche Objekte können so reduziert werden. Durch die Ritualfunktion der Musik kann eine Einbindung der oft bestehenden Angst, z. B. vor neuen Ereignissen, geschehen. Musikalische Spiegelung des Verhaltens und der Affekte helfen dem autistischen Menschen bei der Affektregulierung und -abstimmung. Im weiteren Therapieverlauf wird sich eine Beziehung entwickeln, in welcher der Mensch mit Autismus zunehmend seine Wünsche äußert und umsetzt und auch eigene Spielideen einbringt. Somit beginnt eine wechselseitige Kommunikation. Die entstandene Beziehung ist die Basis zur weiteren Entwicklung.3 Es ist möglich, dass die Erfolge sich nur langsam einstellen. Bis der Mensch mit Autismus beginnt, auf die Musik zu reagieren, können durchaus mehrere Wochen oder gar Monate vergehen. An kleine Erfolge gilt es anzuknüpfen, mit ihnen zu arbeiten und sie wachsen zu lassen. So erlangt der autistische Mensch allmählich eine Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit nach außen, die sich dann auch auf den Alltag überträgt/übertragen kann. Silke Kammer, Bad Nauheim Musik kann durch das Hervorrufen von emotionaler Bewegung ein Weg zum Spracherwerb sein. Durch die vom Menschen mit Autismus ausgehende Musiktherapie entsteht ein Raum, in dem er sich in seinem „So-Zustand“ voll und ganz angenommen fühlt. Somit ist die Vorraussetzung für den Kontakt gegeben, die sich schließlich zu einer Begegnung ausweiten kann. Diese Begegnung, bei der sich Therapeut und Patient – vielleicht nur für Sekunden – füreinander öffnen, wird nach und nach aufgebaut und gestärkt. Literatur: 1 aus: FRITH, UTA: Autismus. Ein kognitionspsychologisches Puzzle. Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin, New York 1992, S. 26 2 GOLD, C., WIGRAM, T., ELEFANT, C. 2006 3 Dieser Therapieverlauf und die damit verbundenen Ziele orientieren sich an den Forschungen von KARIN SCHUMACHER. Musik auf Rädern Ambulante Musiktherapie Musik auf Rädern „Musik auf Rädern“ ist ein junges Team aus Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten. Wir bringen Musik in Kindergärten, Schulen, Kliniken, Rehabilitationszentren, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Alten- und Pflegeheime, Hospize und Privathaushalte. In unserer musiktherapeutischen Arbeit orientieren wir uns an individuellen Bedürfnissen und Wünschen. Auf kreative und engagierte Weise versuchen wir, mit Musik in tiefere Schichten vorzudringen, als es oft mit Worten geht. Q3 design, Dortmund, www.Q3design.de Musik auf Rädern arbeitet bundesweit. Eine Übersicht über die bisherigen Standorte finden Sie unter www.musikaufraedern.de.