Ole Jana, Musikübertragung 1. Semester, [email protected] Protokoll zur 4. Vorlesung Allgemeine Musikgeschichte (12.11.2015) mit dem Thema Warum erklingt Musik? Zur Frage „Warum erklingt Musik?“ wurden zu Beginn der Vorlesung drei Ansätze zur Beantwortung vorgestellt, auf die nachfolgend näher eingegangen wurde: 1) Musik habe einen „ästhetischen Eigensinn“; 2) Musik drücke Gefühle aus; 3) Musik schaffe Identitäten. Zur Annäherung an den ersten Ansatz wurde zunächst der Begriff „Ästhetik“ untersucht: Er geht zurück auf das altgriechische Wort für Wahrnehmung: αἴσθησις (aísthēsis) und bezeichnet laut Folie eine „Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Reflexion“. Es geht also in der Ästhetik nicht generell um das Schöne, sondern darum, nach welchen Kriterien beurteilt werden kann, ob etwas als schön oder hässlich bewertet wird, oder noch allgemeiner, wie überhaupt wahrgenommen wird (siehe Wikipedia-Artikel zu Ästhetik). Mit der Annahme, Musik habe einen ästhetischen Eigensinn, wird der Musik eine Berechtigung als klingende Kunstform zugesprochen. Der Umstand, dass Musik „eigen“ sei, ist darauf zurückzuführen, dass sie keine soziale oder politische Funktion haben muss, sondern für sich steht; vielleicht auch darauf, dass sie sich auf gewisse Weise abhebt von anderen Kunstformen wie der Malerei. Es wurden drei deutsche Philosophen vorgestellt, die sich mit der Ästhetik auseinandergesetzt haben: Hegel, Jauß und Schopenhauer. Sowohl Hegel als auch Jauß betonen, dass sich die Kunst durch ihre reine Sinnlichkeit von der Wissenschaft abhebt. Beide Philosophen sprechen der Kunst nichtsdestotrotz die Möglichkeit zu, einen Erkenntnisgewinn zu bewirken. Für Jauß steckt dieser Erkenntnisgewinn in Anlehnung an Aristoteles in der κάθαρσις (kátharsis), der moralischen Reinigung des Menschen durch die Kommunikation mit anderen Menschen, zu der er durch ποίησις (póiēsis – entspricht der Schaffung des Kunstwerkes) und αἴσθησις (aísthēsis – entspricht der Rezeption des Kunstwerkes) angeregt wurde. So werden dem Menschen durch küntlerische Erfahrung neue Sichtweisen eröffnet. Bei Schopenhauer liegt der Schwerpunkt auf der Musik, der er als Kunstform die größte Macht auf den Menschen zuspricht und die für jeden nachvollziehbar, da ihr „Verständnis angeboren” (!) sei. Laut Schopenhauer eröffne die Musik uns zudem das „Metaphysische”, womit vermutlich gemeint ist, dass sie, vereinfacht gesagt, ausdrückt, was nicht mit Worten gesagt werden kann, wodurch man in einen der Welt enthobenen Zustand geraten kann. Ich persönlich frage mich, ob Musik tatsächlich als von der Geburt an allgemein verständliche Sprache bezeichnet werden kann, denn immerhin gibt es, glaube ich, vieles in der Musik, das uns allen vertraut und für das Verständnis von Musik notwendig ist, jedoch nicht von Geburt an jedem Menschen in die Wiege gelegt, z. B. ein Dur-Molltonales Bezugssystem. Oftmals sind, um ein Musikstück angemessen rezipieren zu können, komplexe Denkprozesse nötig, die ein Kind gar nicht leisten kann. Viele Komponisten waren jedoch begeistert von Schopenhauers Ideen, insbesondere Richard Wagner. Für den zweiten Ansatz zur Beantwortung der Frage, warum Musik erklingt, nämlich, dass der Grund dafür sei, dass die Musik Gefühle ausdrücke (wobei dies vermutlich kaum vom ersten Ansatz zu trennen ist, denn hier spielt zum Beispiel auch Metaphysik eine Rolle), wurden zwei bekannte Musikbeispiele aus der Barockzeit ausgewählt, die jeweils eine Seite des Gegensatzes Freude – Trauer beleuchten sollen: Beim ersten Beispiel handelt es sich um das Weihnachtsoratorium von J. S. Bach, eine Freudenmusik der Weihnachtszeit, welche fest im deutschen Kulturkreis verankert ist. Die bekannten fünf Paukenschläge des Beginns und anderes musikalisches Material sind aus der Glückwunschkantate „Tönet, ihr Pauken“ vom selben Komponisten übernommen worden – dieses so genannte Parodieverfahren findet sich bei Bach häufig und hatte im 18. Jahrhundert keine negative Konnotation. Im Verlauf des Eröffnungschores tritt das Paukenmotiv immer wieder auf und wird dabei von anderen Instrumenten und dem Chor übernommen (Klavierauszug siehe Folie 18 ff.). Es wurde bewusst eine Aufnahme gewählt, die mit einem Laienchor entstanden ist, um zu demonstrieren, dass das Stück in der gesamten Bevölkerung rezipiert und aufgeführt wird. Die erhebende und vereinende Wirkung des Oratoriums wird an einigen Merkmalen des Eingangschores nachgewiesen (siehe Folie). Als Gegensbeispiel diente die Arie der Dido „When I am laid on earth“ aus Purcells Oper „Dido und Aeneas“ nach dem römischen Dichter Vergil, in der Dido ihr Schicksal beweint in der Absicht, sich umzubringen, da sie von ihrem Geliebten Aeneas, Gründungsheld Roms, verlassen wurde. Wegen ihres traurigen Inhalts werden Arien dieser Art als „Lamento-Arien“ bezeichnet (ital. „lamento“ = Klage). Seit der Arie der Arianna von Monteverdi hat sich als musikalische Ausdrucksform von Schmerz der so genannte Lamento-Bass verbreitet, ein „passus duriusculus“, ein chromatisch absteigender Bass meist im Umfang einer Quarte. Das aus diesem passus duriusculus aufgebaute viertaktige Bass-Ostinato durchzieht die gesamte Arie, dient als Fundament für den sich steigernden Gesang der Dido und drückt so ihren Schmerz aus (weitere Merkmale siehe Folie). Mit dem dritten Ansatz, Musik schaffe Identitäten, nähern wir uns inhaltlich der ersten Vorlesung, in der es auch um die Identifizierung mit Musik ging, so in der Messe „Hercules Dux Ferrariae“. Die Identifikation mit Musik kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden (siehe Folie 31), von denen einige im Folgenden näher betrachtet werden. Als Beispiele für die religiöse / politische Identifikation mit Musik wurden gewählt einerseits das protestantische Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ (1529 gedruckt), dessen Text von Luther stammt und welches mit seinem militärisch konnotierten Text zur Festigung des Protestantismus sowie zur Abgrenzung vom hier durch „alt böse[r] feind“ angedeuteten Katholizismus dienen soll (von Heine stammt der Begriff „Marseiller Hymne der Reformation“ in Anlehnung an die Marseillaise), andererseits „Te lutherum damnamus“, eine Te-Deum-Parodie von Maître Jhan, entstanden ebenfalls im 16. Jahrhundert im Auftrag von Herzog Ercole II. d‘Este, die umgekehrt als direkter Angriff auf Luther und somit auf den Protestantismus zu verstehen ist. Der gewöhnliche TeDeum-Text wurde ersetzt durch einen Text voll von Anschuldigungen Luthers, der u. a. als „Ketzer“ und „Schreckenslästerer“ bezeichnet wird (siehe deutscher Text auf Folie 40). Beide Beispiele zeigen, wie religiöse Musik als politische Waffe missbraucht wird, und man könnte sie als musikalische Übertragungen zeitgenössischer Karikaturen sehen, wie die von Schoen und Cranach d. Ä. (siehe Folien 37 u. 41). Dass Musik für politische und sogar quasi kriegerische Zwecke genutzt wird, ist aber auch durchaus aktuell, wie das Beispiel Helly Luv (Folie 66) zeigt, die mit ihrem Popsong „Revolution“ (2015) Partei für die Kurden ergreift im Konflikt mit dem Islamischen Staat, was besonders deutlich wird im begleitenden Musik-Video. Luv selbst sagt, dass sie ihre Musik als „Waffe“ sieht. Neben religiöser / politischer Identifikation mit Musik gibt es mitunter auch die Identifikation mit einem Geschlecht, was keineswegs nur ein Phänomen unserer Tage ist, wie das Beispiel des Concerto delle Dame zeigt, einem weiblichen Vokalensemble am Hof von Ferrara im 16. Jahrhundert, welches höchst virtuos sang, wie das an Verzierungen reiche Notenbeispiel und das Zitat Alessandro Striggios (Folien 56 f. u. 87) zeigen. Das Ensemble genoss allerdings nicht nur Lob, sondern wurde auch als „verweiblichte Gefahr“ gesehen, wie das Zitat auf Folie 88 sowie der Fall des Bassisten Giulio Brancaccio zeigen, der die Flucht ergriff, da er es als Soldat als ehrlos ansah, gemeinsam mit einem Frauenensemble zu singen. Hier stellt sich die Frage, ob dieses Beispiel uns der Beantwortung der Frage, warum Musik erklingt, näher bringt, da ich den Sängerinnen nicht unbedingt unterstellen würde, dass sie in diesem Ensemble sangen, um den Feminismus zu propagieren. Jedoch zeigt das Beispiel, dass Musik als weiblich bzw. männlich wahrgenommen werden kann, ganz gleich ob dies intendiert ist oder nicht. Grund für das Musizieren kann auch die eigene Arbeit sein, wie folgendes Beispiel zeigt: 1966 nahm der Folk-Sänger Pete Seeger gemeinsam mit Bruce Jackson ein Video auf, das zeigt, wie afroamerikanische Gefangene im Ellit Unit of Huntsville Prison in Texas bei der Arbeit den GospelSong „Down by the River Side“ sangen. Die Gospel-Songs spielten ursprünglich eine Rolle bei der Missionierung afrikanischer Sklaven und übernahmen später als Arbeitslieder die Funktion, einerseits die Gemeinschaft und die eigene Seele zu stärken, andererseits bei der Arbeit auf den Plantagen in einem gemeinsamen Takt zu bleiben, denn oft gab es harte Strafen für jene, die zu langsam arbeiteten. Als Beispiel, wie Musik zur gesellschaftlichen / politischen Identifikation beitragen kann, wurde das Chorfinale der 9. Sinfonie von Beethoven gewählt, in dem der Komponist die „Ode an die Freude“ von Schiller vertont hat. Die Verwendung von Chor und Text in einer Sinfonie war zu seiner Zeit ein Novum. Beethoven, der noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Anhänger Napoleons war, dessen Euphorie aber mit der Kaiserkrönung desselben in Enttäuschung umschlug, drückte mit diesem Finale das Ideal einer freien, brüderlichen Welt aus, die er zu seiner Zeit – die Uraufführung der Sinfonie fällt in die Zeit um den Wiener Kongress, der die Rückkehr zu alten Adelsprivilegien und zu absolutistischen Herrschaftsformen bedeutete – nicht verwirklicht sah. Durch den recht allgemein gehaltenen Text konnte das Finale als Inbegriff verschiedener gesellschaftlicher bzw. politischer Ideen und Ereignisse ausgelegt werden: Demokratie, Sozialismus, Ende des 2. Weltkrieges, Wende, europäische Einigung (eine instrumentale Version des Finalthemas ist seit 1985 Europahymne). Fazit: Warum erklingt Musik? Gründe können sein: - Schönheit, Sinnlichkeit der (absoluten) Musik - Ausdruck / Verstärkung von Empfindungen unterschiedlicher Art bezogen z. B. auf festliche Ereignisse oder die Untermalung einer dramatischen Bühnensituation - Stärkung der Identifikation mit bestimmten Gruppierungen, Ideen oder Dingen