Aber, lieber Beethoven

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Ewald Lucas
Seminar: “Die Missa Solemnis” Herr Prof. Dr. A. Gerhard
Institut für Musikwissenschaft Bern
WS 1998/ 99
Aber, lieber Beethoven,
was haben Sie denn da wieder gemacht?
Beethovens C-Dur-Messe, Op. 86:
Ein autonomes Kunstwerk zur persönlichen Andacht in
aristokratischem Rahmen.
Inhalt
Seite
1. Einleitung
2
2. Die Geschichte der C-Dur-Messe
2
3. Das historische, soziale und gattungsgeschichtliche Umfeld
6
4. Die Textvertonung vor Beethoven
9
5. Analyse der C-Dur-Messe
12
5.1 Traditionelles in Beethovens Messkomposition
13
5.2 Die Arten der Textvertonung bei Beethoven
15
5.3 Vermittlung von Gefühlswerten im Kyrie und im Benedictus
16
5.4 Strukturelle Dramatisierung des Textes
18
5.5 Gloria und Credo
20
5.6 Sanctus und Agnus Dei
26
6. Widersprüche in der C-Dur-Messe
29
7. Schlusswort
31
8. Bibliographie
33
1
1. Einleitung
“Aber, lieber Beethoven, was haben Sie denn da wieder gemacht?” Mit diesen Worten soll
sich Fürst Nikolaus II von Esterházy nach der Uraufführung von Beethovens C-Dur-Messe an den
Komponisten gewandt haben. Neben diesem Ausspruch gibt es verschiedene andere Belege dafür,
dass Beethovens erster Vertonung des liturgischen Messetextes zu Beginn kein Erfolg beschieden
war. Es dauerte auch einige Zeit, bis die Partitur - bezeichnenderweise ohne Einzelstimmen - im
Druck erschien. Später, und dies gilt auch noch heute, stand das Op. 86 sowohl in der
Aufführungspraxis als auch in der musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Beethovens Messen
im Schatten der weit bekannteren, beliebteren und bewunderten Missa Solemnis, die Beethoven
selbst als sein gelungenstes Werk bezeichnete.
Während Die Missa Solemnis den Zuhörern und Betrachtern noch heute zahlreiche Rätsel
aufgibt und ihre Monumentalität und Machart manch einen verstört und auf Unverständnis stösst,
könnte man die Beschäftigung mit der C-Dur-Messe dagegen schon fast als Erholung empfinden.
Dennoch erweckte die Komposition offensichtlich das Missfallen von Nikolaus II. In der
vorliegenden Arbeit soll nun der Frage nachgegangen werden, welche signifikanten Neuerungen
Beethovens Komposition, insbesondere im Vergleich mit den sechs späten, zwischen 1796 und
1802 geschriebenen und vom Fürsten hochgeschätzten Messen Haydns enthält, um die
geringschätzige Reaktion Nikolaus’ hervorzurufen.
Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Entstehungsgeschichte von Beethovens
Op.86, die erste Rezeption, frühe Rezensionen und Beethovens hartnäckige Bemühungen um eine
Drucklegung des Werks. Daran schliesst sich ein Blick auf das historische, soziale und
gattungsgeschichtliche Umfeld der Messe an. Von Interesse sind insbesondere die Neuerungen,
welche die kirchlichen Reformen des Kaisers Josephs II in den 1780er Jahren mit sich brachten, und
deren Auswirkungen auf den Umgang mit der Gattung Messe und mit der teilweise veränderten
Situation bezüglich einer konkreten Funktionalität der Kirchenmusik. Das vierte Kapitel beschäftigt
sich mit der Rolle des Textes in Messvertonungen, die vor Beethovens Werk entstanden sind, und
mit der Wichtigkeit, die das Eingehen auf den Ordinariumstext für die Komposition hatte, oder eben
nicht hatte. Der darauf folgende, grössere Abschnitt ist der Analyse von Beethovens C-Dur-Messe
gewidmet, zunächst den eher traditionellen Erscheinungen, dann den unterschiedlichen Arten der
Textbehandlung in den verschiedenen Sätzen des Messzyklus’, zwischen direkter
Gefühlsvermittlung und starker Dramatisierung der Vorlage durch die individuelle Vertonung der
einzelnen Texteinheiten. Im Zusammenhang mit Beethovens Op. 86 ergeben sich schliesslich
zahlreiche Widersprüche und Missverständnisse, auf die im sechsten Kapitel eingegangen wird.
2. Die Geschichte der C-Dur-Messe
Der Hof in Eisenstadt pflegte den Namenstag seiner Fürstin Josepha Maria Hermengild
(geborene Liechtenstein), der Gattin von Fürst Nikolaus II von Esterházy, festlich zu begehen. In
den Jahren in denen dieser Tag - der 8. September (Mariä Geburt) - nicht auf einen Sonntag fiel,
fand die Feier jeweils am darauffolgenden Sonntag statt. 1807 war dies der 13. September. Nikolaus
II beauftragte nun Ludwig van Beethoven mit der Komposition einer Messe, die an diesem Tag
aufgeführt werden sollte. Aus demselben Anlass hatte bereits Joseph Haydn zwischen 1796 und
1802 seine letzten sechs Messen komponiert. Beethoven hatte aber weder eine enge Beziehung zum
Eisenstädter Hof, noch besass er einen Ruf als Komponist geistlicher Musik. Eine Messe hatte er bis
dahin noch keine komponiert. Möglicherweise verhalf ihm die Vermittlung seines früheren Lehrers
Joseph Haydn oder seine Reputation als Komponist zu diesem Auftrag.
Die Messe in C-Dur Op. 86 war zwar nicht Beethovens erstes kirchliches Werk, aber doch
sein erstes für den gottesdienstlichen Gebrauch. Einen ersten Hinweis auf dessen Komposition
finden wir in einem Brief Beethovens an den Fürsten Nikolaus. Der Komponist entschuldigt sich in
seinem Schreiben vom 26. Juli 1807 aus Baden für die Verzögerung bei der Fertigstellung der
Messe, verspricht aber, das vollendete Werk bis zum 20. August zu übergeben, so dass noch
2
genügend Zeit bleiben würde, es einzustudieren. Im selben Brief kommt auch sein Respekt vor den
Messkompositionen Haydns zum Ausdruck, denn er schreibt, er werde die Messe “mit viel Furcht”
übergeben, da der Fürst ja gewohnt sei, die “unnachahmlichen Meisterwerke” Haydns zu hören 1.
Tatsächlich hielt Nikolaus II sehr viel von Haydns Musik, und Fürst Ludwig Starhemberg, einer
seiner Gäste, die 1802 zu den Festlichkeiten eingeladen worden waren, bezeichnet in seinem
Tagebuch die bei dieser Gelegenheit aufgeführte “Harmoniemesse” Haydns als “Messe superbe,
nouvelle musique excellent du fameux Haydn” 2. Beethovens Aufgabe war also nicht leicht, obwohl
ihm Nikolaus II am 9. August antwortete, dass er sich sehr darüber freue, die Messe zu erhalten,
dass er sich sehr viel davon verspreche und die Besorgnis um den Vergleich mit den Haydnschen
Messen den Wert seiner Messe nur erhöhe 3.
Ende Juli kehrte Beethoven von Baden nach Heiligenstadt zurück und machte sich dort an
die Vollendung der C-Dur-Messe. Am 13. September fand schliesslich die Uraufführung in der
Eisenstädter Bergkirche statt. Es war offenbar Brauch, dass sich nach dem Gottesdienst die
anwesende musikalische Elite in den Gemächern des Fürsten einfand, um mit diesem die
aufgeführten Werke zu besprechen. Beim Eintritt Beethovens, soll nun Nikolaus II die bereits
zitierte Frage an ihn gerichtet haben: “Aber, lieber Beethoven, was haben Sie denn da wieder
gemacht? 4” Ausserdem soll Beethoven gesehen haben, wie der neben dem Fürsten stehende
Kapellmeister Johann Nepomuk Hummel gelacht habe. Wie tief ihn die Messe enttäuscht und
verärgert hatte, geht deutlich aus einem privaten Brief des Fürsten hervor: “La messe de Beethoven
est insuportablement ridicule et detestable, je ne suis pas convaincu qu’elle puisse meme paroitre
honnêtement: j’en suis colère et honteux. 5” Er empfand die Messe demnach nicht nur als vom
Traditionellen und Gewohnten abweichend, sondern gar als unerträglich lächerlich und abscheulich.
Die Frage nach den Gründen für dieses vernichtende Urteil lässt sich sicherlich nicht zweifelsfrei
beantworten. Es ist davon auszugehen, dass eine mangelhafte Aufführung dabei eine nicht
unbedeutende Rolle spielte. Einem Brief des Fürsten an seinen Vize-Kapellmeister, geschrieben am
12. September 1807, ist nämlich zu entnehmen, dass die Probe- und Arbeitsdisziplin der
Sängerinnen und Sänger sehr zu wünschen übrig liess. Diese scheinen oft grundlos den Proben und
sogar den Auftritten ferngeblieben zu sein, so dass Nikolaus seinem Vizekapellmeister androhte, ihn
zur Verantwortung zu ziehen, falls dieser nicht strengstens auf Besserung achte. In Anbetracht
dieser Zustände würde es nicht erstaunen, wenn die Qualität der Aufführung unbefriedigend
ausgefallen wäre, zumal Beethovens Messe doch bedeutende Schwierigkeiten bietet, zum Teil
sicher noch grössere als eine Messe von Haydn. Von Beethoven selbst, der einige Proben und die
Aufführung dirigiert hatte und zu diesem Zeitpunkt noch gut hörte, erfahren wir diesbezüglich aber
nichts.
Entgegen ersten Überlieferungen 6 hat Beethoven zwar Eisenstadt nicht noch am Tag der
Aufführung verlassen 7, doch scheint er auch noch Jahre später mit grosser Erbitterung von diesem
Misserfolg gesprochen zu haben. Es versteht sich von selbst, dass er die Widmung an Nikolaus II
zurückzog und sie nach mehreren Änderungen schliesslich auf Fürst Kinsky übertrug.
Die erste öffentliche Aufführung einzelner Teile der Messe (Gloria, Sanctus und Benedictus)
fand am 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien statt. Die Wiener Zensurbehörde verbot zwar
“lateinische Worte aus dem Kirchentext auf den Anschlagzetteln […], im Theater aber” durften sie
“ohne Anstand gesungen werden. 8” Die Messsätze bildeten allerdings nur einen kleinen Teil eines,
wie damals üblich, enormen Programms, in dem unter anderem auch die fünfte und die sechste
1
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 3, Leipzig (Breitkopf & Härtel), 1923, S. 34 ff.
Riethmüller, Albrecht/ Dahlhaus, Carl/ Ringer, Alexander L.: Beethoven: Interpretationen seiner Werke. Band II,
Laaber 1994, S. 2
3
Thayer, Band 3, S. 35
4
Thayer, Band 3, S. 37
5
Friesenhagen, Andreas: Die Messen Ludwig van Beethovens. Studien zur Vertonung des liturgischen Textes zwischen
Rhetorik und Dramatisierung, Köln-Rheinkassel (Christoph Dohr), 1996, S. 32
6
Thayer, Band 3, S. 37
7
Friesenhagen, S. 32
8
Kinsky, Georg: Beethovens thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen,
München (Henle), 1955, S. 240
3
2
Symphonie, das Klavierkonzert in G-Dur und die Chorfantasie erklangen. Johann Friedrich
Reichardt, der als Ohrenzeuge zugegen war, bezeichnete die Aufführung der “Hymnen” als
missglückt und verfehlt 9.
Wie im Konzertsaal, so hatte Beethoven auch bei den Verlegern kein Glück mit seiner ersten
Messe. Am 8. Juni 1808 schrieb er an Breitkopf & Härtel einen Brief, in dem er die Messe,
zusammen mit den Symphonien fünf und sechs sowie der Cellosonate Op. 69 für 900 Gulden anbot
10
. Rückblickend könnte man meinen, Beethoven habe schon beim Verfassen dieses Schreibens
befürchtet, nur mit grosser Mühe die Veröffentlichung der Messe zu erreichen. Denn, anders als die
anderen Werke, pries er dieses besonders nachdrücklich an, mit dem vielzitierten Satz: “Von meiner
Messe […] glaube ich, dass ich den Text behandelt habe, wie er noch wenig behandelt worden.”
Ausserdem flunkerte Beethoven, die Messe sei schon an mehreren Orten günstig aufgenommen
worden und habe “unter anderem auch bei Fürst Esterházy” in Eisenstadt “viel Beifall” erhalten. Er
gab sich überzeugt, dass die Partitur und der Klavierauszug einträglich sein würden. Dazu ist
allerdings zu sagen, dass die Komposition einer solchen Messe als Dienst angesehen wurde, die
Werke meist an einen bestimmten Anlass und Auftraggeber gebunden und nicht zur
Veröffentlichung bestimmt waren. In den nun folgenden Verhandlungen liess Beethoven nichts
unversucht, den Verlag zum Druck des Werkes zu bewegen. Am 16. Juli erhielt der Verlag, der
offenbar an der Messe nicht interessiert war, auf seine Gegenofferte Beethovens Antwort 11. Neben
den bereits erwähnten Werken bot dieser zusätzlich noch zwei Klaviersonaten oder eine Symphonie
an, alles zum Preis von 700 Gulden. Doch weder dieses Entgegenkommen, noch ein kleiner
Erpressungsversuch (“die Messe müssen Sie nehmen, sonst kann ich Ihnen die andern Werke nicht
geben”), noch andere Überzeugungsversuche nützen etwas. Beethoven meinte, er schaue nicht nur
darauf, was nützlich, sondern auch was rühmlich sei und schlug vor, die Messe in einem Konzert
aufzuführen, worauf gleich eine grosse Nachfrage entstehen würde. Um eine grössere Verbreitung
zu ermöglichen, könne man den Klavierauszug mit deutschem Text versehen. Zudem gab
Beethoven eine persönliche Erfolgsgarantie und erklärte sich bereit, im Notfall selbst Subskribenten
zu gewinnen. In einem weiteren Brief schrieb der Komponist schliesslich, er mache die Messe
Breitkopf & Härtel zum Geschenk und würde sogar selbst die Kosten der Schreiberei übernehmen
12
. Er begründete sein Beharren auf der Drucklegung dieses Werks damit, dass es ihm “vorzüglich
am Herzen liegt” und schmeichelte dem Verlag, der es mit seinen “Notentipen für gedruckte Noten”
leichter als andere Verleger verstehe, Partituren zu drucken. Anstelle der zwei Klaviersonaten
beinhaltete sein Angebot nun zwei Klaviertrios, der Gesamtpreis betrug 600 Gulden. Beethoven
fügte jedoch an, dass er anderswo genausoviel für diese Werke bekommen könnte. Am 14.
September 1808 holte Härtel die Werke zum Preis von 100 Dukaten persönlich in Wien ab. Die
Schenkung der Messe war aber offensichtlich nicht angenommen worden, so dass Beethoven auch
mit Simrock in Bonn zu verhandeln begann 13. In Briefen vom 5. April und 26. Juli 1809 an
Breitkopf & Härtel verlangte Beethoven schliesslich für “Christus am Ölberg”, “Fidelio” und die CDur-Messe zusammen 250 Gulden, und am 19. September schrieb er endlich “die 3 Werke sind
schon abgeschickt.” Spätere Erwähnungen der Messe in Briefen an den Verlag betrafen nur noch
einige Korrekturen, die Ausarbeitung der Orgelstimme, die dann allerdings ausblieb, die deutsche
Übersetzung des Textes und die Widmung. Der Druck der Partitur erfolgte erst im Oktober 1812,
mit lateinischem und deutschem Text. Ein Nachdruck der Partitur erschien 1824 in Paris, ein
Klavierauszug 1827 bei Breitkopf & Härtel. 1826 gab Simrock die Chorstimmen heraus. Bei
Breitkopf & Härtel erschienen die Chorstimmen erst 1846, und ein Jahr darauf folgten die
Orchesterstimmen.
Neben den bisher angeführten Aussagen sind Zeugnisse über die Messe von Beethovens
Zeitgenossen selten. Im “Journal des Luxus und der Moden” vom Januar 1808 erscheint ein
“Auszug eines Briefes”, in dem der Schreiber verkündet, “dass unser Beethoven so eben eine
9
Thayer, Band 3, S. 39
Thayer, Band 3, S. 40
11
Thayer, Band 3, S. 41
12
Thayer, Band 3, S. 42
13
Kinsky, S. 237
10
4
ausserordentlich schöne, ganz seiner würdige Messe vollendet hat, welche am Feste Mariä bei dem
Fürsten Esterházy aufgeführt werden soll. 14” Hier stellt sich allerdings die Frage, wie der Schreiber
dieser Worte überhaupt ein Urteil über die eben erst vollendete Messe abgeben konnte, bevor diese
erstmals gespielt worden war. In einer Kritik in der Allgemeinen musikalischen Zeitung ist 1815 zu
lesen, Beethoven glänze auch auf dem Gebiet der Messkomposition als ein Stern erster Grösse 15.
Der Schreiber lobt die “Originalität der Gedanken” und die “Edle Haltung, in der (kaum mit
Ausnahme einiger Momente) nur das Heilige zur Erscheinung” komme. In der AmZÖ (Allgemeine
musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat) ist 1817 über
eine Aufführung der Messe am 26. Oktober zu lesen, es handle sich um eine “wenig bekannte, ganz
eigenthümliche und doch kirchliche Composition”, die der Feier angemessen gewesen sei 16. Im
selben Jahr steht in der Allgemeinen musikalischen Zeitung: “Giebt man auf, was Jahrhunderte
hindurch als Kirchenstyl anerkannt wurde: so muss man mehrere Sätze dieses Werks, besonders
vom Credo an, hoch preisen. 17” 1828 erscheint in der RM (Revue Musicale) eine weitere Kritik.
Der Verfasser François-Joseph Fétis schreibt, die Messe gehöre nicht zu den besten Kompositionen
Beethovens 18. In ihr herrsche eine gewisse Verlegenheit und eine Unerfahrenheit in der Gattung.
Die ausführlichste Rezension stammt aus der Feder E. T. A. Hoffmanns und erschien 1813 in der
Allgemeinen musikalischen Zeitung. Hoffmann beurteilt das Werk als “ganz des genialen Meisters
würdig” 19. Er gibt allerdings zu, “ein musikalischer Freigeist zu sein” und über Verstösse gegen
den reinen Kirchensatz und die gegenwärtige Messtradition hinwegzusehen.
Bereits vor einer näheren Betrachtung der C-Dur-Messe von Beethoven lässt sich also
einiges darüber sagen. Beethoven hatte offenbar grossen Respekt vor seinem ehemaligen Lehrer
Joseph Haydn, der ihm in mancherlei Hinsicht als Vorbild diente. Er war sich aber auch bewusst,
dass seine erste Messkomposition viel Neues enthielt, dadurch mit der bisherigen Tradition brach
und sich erheblich von den Messen Haydns unterschied. Dies beweist, dass Beethoven sich nicht
einfach damit begnügte, der Gattung Messe ein weiteres Stück Dutzendware beizusteuern, sondern
bemüht war, etwas Eigenständiges, vom als traditionell empfundenen Hasse-Wienerischen
Kirchenstil Abweichendes zu schaffen. Beethovens Sorge um den unausweichlichen Vergleich
seines Werks mit den Messen Haydns ist demzufolge nicht nur als Bescheidenheitsfloskel zu
verstehen. Sie wurzelte sicherlich nicht unbedingt im Zweifel an der Qualität der C-Dur-Messe,
sondern möglicherweise vor allem in der Erkenntnis, dass die von ihm angestrebten und
umgesetzten Neuerungen - nur weil sie eben neu waren - schlecht aufgenommen werden könnten.
Ursache dafür, dass sich diese Befürchtungen bestätigten, waren zu einem grossen Teil die
missglückten Aufführungen. Es ist schwer zu sagen, ob Beethoven mit einer erfolgreichen
Veröffentlichung der Messe nicht auch einfach diesen Misserfolgen entgegenwirken wollte, um
seinen guten Ruf als Komponist zu bewahren. Es wäre aber sicherlich verfehlt, seine Anstrengungen
und Äusserungen nur ökonomischen Gründen zuzuschreiben. Jedenfalls zeigt die Beharrlichkeit,
mit der er sich um den Druck der Messe bemühte, dass sie ihm - wie er übrigens in seinem Brief an
den Verlag selber schreibt - “trotz aller Kälte unseres Zeitalters gegen d.g.” “vorzüglich am Herzen
liegt 20.” Aus einer anderen Aussage geht hervor, dass er am liebsten nur “grosse Symphonien,
Kirchenmusik, höchstens noch Quartetten” geschrieben hätte 21. Zudem hatte er scheinbar auch die
Absicht, eine zweite Messe in cis-Moll und ein Requiem 22 zu komponieren. Weder aus diesen
beiden Werken, noch aus einer 1823 von Graf Dietrichstein vorgeschlagenen Messkomposition zur
Annäherung an den Hof ist aber etwas geworden 23. 1823 schrieb Beethoven an Erzherzog Rudolph
14
Thayer, Band 3, S. 39
Kunze, Stefan: Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit, Laaber 1987, S. 248 ff.
16
Kunze, S. 249
17
Kunze, S. 249
18
Kunze, S. 250
19
Kunze, S. 254
20
Thayer, Band 3, S. 42
21
Schnerich, Alfred: Messe und Requiem seit Haydn und Mozart. Wien-Leipzig (C. W. Stahn Verlag) 1909, S 62 (Fussnote)
22
Thayer, Band 3, S. 39/ Schnerich, S. 62
23
Frimmel, Theodor: Beethoven Handbuch. Erster Band, Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1926,S. 406
5
15
- allerdings im Zusammenhang mit der Missa Solemnis - : “Schöneres gibt es nicht, als der Gottheit
sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die strahlen der Gottheit unter das
Menschengeschlecht verbreiten. 24” In eben diese Richtung zielten, ganz im Sinne der Aufklärung,
auch seine Bemühungen um eine deutsche Übersetzung des Textes, die der Messe und ihrer
Aussage zu einer grösseren Verbreitung auch ausserhalb der Kirche, im Konzertsaal, verhelfen
sollte. In einem Brief an Johann Andreas Steicher schrieb er 1824 ausserdem, allerdings bezüglich
seiner Missa Solemnis: ”Ihrem Wunsche, [...] die Singstimmen meiner letzten grossen Messe mit
einem Auszuge für die Orgel oder Piano an die verschiedenen Gesang-Vereine abzulassen, gebe ich
hauptsächlich darum gerne nach, weil diese Vereine bey öffentlichen, besonders aber
Gottesdienstlichen Feierlichkeiten ausserordentlich viel auf die Menge wirken können [...]. 25” Wie
sich nun Beethovens Intentionen auf die Vertonung des Ordinariums auswirkten, welche Gründe
neben der missglückten Aufführung das Missfallen des Fürsten von Esterházy hervorgerufen hat
und ob der Schritt von Haydns Messen zu Beethovens Komposition tatsächlich so gross ist, soll in
der Folge überprüft werden.
3. Das historische, soziale und gattungsgeschichtliche Umfeld
In den Jahren nach 1780 änderten sich die Voraussetzungen für die Kirchenmusik zunächst
in Wien, danach in ganz Österreich und in anderen Teilen des Kaiserreichs sehr stark.
Ausschlaggebend für diese Veränderungen waren in erster Linie die Gedanken der Aufklärung, die
den Erlassen des Kaisers Joseph II zugrundelagen. Die Kirchenmusik war insbesondere durch die
Säkularisation der geistlichen Besitztümer und durch die gottesdienstlichen Reformen betroffen.
Beides beeinflusste den Umfang und den Charakter der Kirchenmusik in grossem Masse. Dabei
spielten sowohl ideelle als auch - als deren Konsequenz - materielle Faktoren eine wichtige Rolle.
Diese Reformen blieben nach Josephs Tod 1790 weitgehend bestehen. Ausserdem trugen die
französische Revolution von 1789 und die Napoleonische Zeit zur Popularisierung des
dahinterstehenden aufklärerischen Gedankenguts bei.
Im Zuge der sogenannten Josephinischen Reformen kam es zur Auflösung von “untätigen”
Orden (ca. 1300 Klöster), die keine nützlichen Tätigkeiten wie Unterrichten oder Krankenpflege
ausübten. Eine staatliche Priesterausbildung und -besoldung wurde eingeführt, die Macht der
Bischöfe und anderer Kirchenfürsten wurde eingeschränkt, und die geistlichen Besitztümer wurden
durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 säkularisiert. Weil diese Veränderungen
natürlich auch den Fortfall des Pfründenwesens beinhalteten, verloren die fest angestellten Sänger
und Instrumentalisten ihre wirtschaftliche Basis. Die Aufrechterhaltung aufwendig gestalteter
Kirchenmusik und der damit verbundene Unterhalt grösserer Kapellen erforderte nun zusätzliche
finanzielle Mittel, die vielerorts nicht mehr in genügendem Masse vorhanden waren. Derartige
Ausgaben mussten von den jeweiligen Kirchenkassen getragen werden oder blieben den
Fürstenhäusern vorbehalten. Ab dem 19. Jahrhundert begannen sich nun bürgerliche Kirchenvereine
zu formieren, die - vor allem in städtischen Pfarrkirchen - anstelle der aristokratischen Kreise die
Kirchenmusik zu tragen begannen. Die Ideale der bürgerlichen Förderer waren aber andere als die
der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Musik diente jetzt nicht mehr der herrschaftlichen
Repräsentation. Auch beschränkte sich die Tätigkeit der Vereine ausschliesslich auf das
sonntägliche Hochamt und fast nur auf die Form der Orchestermesse, die auch für die Fürsten
begehrteste Form liturgischer Musik. Dadurch, dass die Kirchenmusik nun vermehrt auch von der
bürgerlichen Schicht getragen wurde und gleichzeitig das öffentliche Konzertwesen stark im
Aufkommen war, fehlte nicht mehr viel zu einer weitergehenden “Säkularisierung” der
Kirchenmusik, nämlich deren vermehrte Aufführung im Konzertsaal. Nur die strenge staatliche
Zensurbehörde stand einer häufigen Durchführung dieser - heute üblichen - Praxis noch im Weg.
24
Beethoven, Ludwig van: Briefwechsel Gesamtausgabe (Hrsg. Sieghard Brandenburg), Band 4, München (Henle),
1996, S. 446
25
Beethoven, Ludwig van: Briefwechsel Gesamtausgabe, Band 5, S. 363 ff.
6
Trotz der Unterstützung durch das Bürgertum war es aber nicht überall möglich, die Mittel für eine
aufwendige musikalische Ausgestaltung des Gottesdienstes aufzubringen. So waren es neben den
weiter unten beschriebenen ideellen Gründen zusätzlich finanzielle Einschränkungen, die zu einer
starken Polarisierung innerhalb der Kirchenmusik führten. Die Änderung der
aufführungspraktischen Gegebenheiten brachte eine Neubewertung der Gattung mit sich. Auf der
einen Seite standen grosse Messkompositionen, Werke mit einem hohen künstlerischen Anspruch,
individuellem Ausdruck und künstlerischer Originalität, Musik, die keine reine Gebrauchsmusik
mehr war und auch keine Rücksicht mehr auf die verschiedenen äusseren Umstände mehr nahm. So
hatte beispielsweise Haydn den Bläsersatz in seinen Messen noch den jeweiligen Verhältnissen in
der Eisenstädter Hofkapelle angepasst, während Beethoven, davon unabhängig, bereits in der CDur-Messe durchgehend eine doppelte Bläserbesetzung vorsah. Auf der anderen Seite stand die
schlichte Gebrauchsmusik, die überall dort gepflegt wurde, wo die finanziellen Mittel für grössere
Projekte nicht vorhanden waren, und die von den örtlichen Gegebenheiten abhing. Zwischen den
beiden Polen existierten allerdings noch immer die von Leuten wie dem Fürsten von Esterházy in
Auftrag gegebenen Werke, die sich doch stark nach den zeremoniellen Vorschriften zu richten
hatten und der höfischen Repräsentation dienen sollten.
Die allgemeine Zuwendung zu einer einfacheren Musik hatte seinen Ursprung nicht nur in
den fehlenden finanziellen Mitteln, sondern war ebenso durch eine Umdeutung der Funktion der
Kirchenmusik begründet. Bereits im 18. Jahrhundert war die Gattung der Messe, als Teil des
zentralen gottesdienstlichen Anlasses - der Eucharistiefeier -, die vornehmste innerhalb der
Kirchenmusik. Neben der Eucharistiefeier gab es aber eine Vielzahl anderer liturgischer Anlässe
wie Vespern, Andachten, Anbetungen, Prozessionen usw., für die jeweils eine eigene, den
betreffenden Text vertonende musikalische Gattung existierte. Innerhalb der Messe erklangen neben
dem Ordinarium zudem Propriumskompositionen, Motetten und Instrumentalsätze. Die
musikalische Form und deren Ausgestaltung, sowie die Art und Grösse der Vokal- und
Instrumentalbesetzung richtete sich nach liturgischen Rangstufen und strengen zeremoniellen
Vorschriften. An Wochentagen wurde vor allem der Choral gesungen. Die instrumentale
Figuralmusik war dementsprechend weniger umfangreich und kleiner besetzt. In der Advents- und
Fastenzeit war Musik im stile antico, also a-capella-Musik, vorgeschrieben. An Hochfesten und zu
besonderen Staatsakten wurden missae solemnes musiziert, aufwendige, umfangreiche und reich
ausgestaltete Messkompositionen mit erweiterter Instrumentalbegleitung. Der Unterhalt grösserer
Ensembles und Kapellen war allerdings schon damals mit hohen Ausgaben verbunden, die nur an
(weltlichen und kirchlichen) Fürsten- und Adelshöfen, in Klöstern und Stiften vorhanden waren.
Durch eine solche soziale Zuordnung der festlichen Kirchenmusik, erhielt diese nicht nur die
Verherrlichung Gottes zur Aufgabe, sondern mit ihr verband sich ebenfalls die Funktion der
höfischen und fürstlichen Repräsentation, des Herrscherlobs. Die Neuordnung der
gottesdienstlichen Verhältnisse unter Joseph II veränderte nun die kirchenmusikalische Landschaft.
Aller äusserliche Prunk und die damit verbundenen Kosten sollten möglichst vermieden werden.
Die reichhaltige Kirchenmusik wurde immer mehr als luxuriöse, ablenkende und überflüssige
Ausschmückung des Gottesdienstes empfunden. Der Gottesdienst sollte nicht mehr nur ein
religiöses Schauspiel und ein sinnliches Vergnügen ohne aktive Beteiligung des einzelnen
Gläubigen sein, sondern diesem zu einem individuellen Erleben, zu einer subjektiven
Glaubenserfahrung verhelfen. Die Musik musste also so beschaffen sein, dass sie sich für die
Erweckung der persönlichen Andacht eignete. Die Bindung der Kirchenmusik an das liturgischrituelle Zeremoniell oder an die Funktion feudaler Machtdarstellung war nicht mehr entscheidend.
Aus didaktischen Gründen zog Joseph II zudem den deutschen Kirchengesang der lateinisch
gesungenen Musik vor. Ausser der Messe durften alle liturgischen Formen, wie Vespern, Andachten
usw., nicht mehr instrumental begleitet werden. Auch die Anzahl der Orchestermessen verringerte
sich. An Wochentagen war instrumentalbegleitete Musik gänzlich verboten, während sie an Sonnund Feiertagen dem Hochamt vorbehalten war. Der Gemeindegesang mit Orgelbegleitung wurde
zur Norm, während die aufwendige Orchestermesse ein besonderes Ereignis blieb. Die Abschaffung
von verschiedenen Typen religiöser Verehrung, wie Prozessionen, Novenen, Heilig Grab- und
Auferstehungsfeiern schränkte den Einsatz instrumentaler Musik noch mehr ein, so dass sich
7
zahlreiche kirchlich besoldete Musiker ihrer Existenzgrundlage beraubt sahen. Vielerorts blieben
nur noch wenige Stellen besetzt, meist die der Organisten und Kantoren.
Manche Zeitgenossen empfanden diese Entwicklung durchaus positiv. E. T. A. Hoffmann
zum Beispiel macht sich in seiner Rezension der C-Dur-Messe Beethovens zunächst einige
Gedanken allgemeiner Art zur Gattung der Messkomposition 26. In seinen Überlegungen verwirft er
Musik, die in der Kirche “prunkenden Staat” treibe. Insbesondere ist ihm auch die Tendenz ein
Dorn im Auge, “sich überall derselben Mittel des Ausdrucks zu bedienen”, so dass “in der Kirche
Oratorien und Aemter nach Opernzuschnitt” zu hören seien. Ein Komponist dürfe sich “durch das
Miserere, Gloria, Qui tollis u.s.w. nicht zum bunten Gemisch des herzzerschneidenden Jammers
der zerknirschten Seele mit jubilierendem Geklingel verleiten lassen.” Hoffmann ist der Meinung,
“dass man den Reichthum, den die Musik, was hauptsächlich die Anwendung der Instrumente
betrifft, in neuerer Zeit erworben, […] auf edle, würdige Wiese anwenden könne.” Doch habe
Kirchenmusik “selbst bey der Anwendung des figurirtesten Gesanges, des Reichthums der
Instrumental-Musik, ernst und würdevoll, kurz, kirchenmässig zu bleiben!” Den Werken der
Gebrüder Haydn und Mozarts zollt er zwar Lob und Bewunderung, gibt aber dem ursprünglichen,
reinen, hohen und einfachen Kirchenstil der alten Italiener den Vorzug.
An die Stelle des vor allem aufs Äusserliche gerichteten und höfisch-repräsentative Funktion
besitzenden prunkvollen musikalischen Getöses zum Gottes- und Herrscherlob sollte nun also eine
schlichte Musik treten, mit der Aufgabe, die innere Andacht des einzelnen Gläubigen zu fördern
und ihm ein subjektives Glaubenserlebnis und persönliche Anteilnahme zu ermöglichen. Die zu
Beginn des 19. Jahrhunderts beliebte Pastoralmesse und die weit verbreitete Landmesse zeichneten
sich beispielsweise durch eine volkstümlich-liedhafte, eingängige Melodik aus. Besonders die
Landmessen waren so komponiert, dass sie in einer Kirche auf dem Land ohne grossen Aufwand
gesungen und gespielt werden konnten. Sie wiesen in der Regel eine einfache Faktur auf und
benötigten keine grossen Besetzungen. Da allerdings viele Chorleiter und Schullehrer für ihre
eigenen Wirkungsstätten selbst solche Messen komponierten, die höheren ästhetischen Ansprüchen
wohl kaum standhielten, wandten sich die Verfechter der “wahren Kirchenmusik” von dieser oft als
plump empfundenen Musik ab. Die einzig würdige Art der musikalischen Umsetzung eines
liturgischen Textes bot für sie der stile antico, der einerseits auf jeglichen Prunk und instrumentalen
Luxus verzichtete und sich andererseits an der idealen a-capella-Musik des 16. Jahrhunderts
orientierte. Erstmals war also mit der Kirchenmusik auch eine historisierende Komponente
verbunden.
Auf den ersten Blick scheinen die oben beschriebenen, die Kirche betreffenden Reformen
Josephs II keinen Zusammenhang mit Beethovens Komposition der C-Dur-Messe zu haben.
Zunächst einmal erhielt Beethoven den Auftrag zur Komposition von Nikolaus II von Esterházy,
also von einem weltlichen Fürsten. Zudem war der Anlass zur Komposition der Namenstag der
Fürstin und somit primär kein kirchlicher, sondern ein weltlicher mit repräsentatorischer Funktion.
Hinzu kommt der bedeutende Umfang des Werks und der grosse materielle Aufwand - die
Bläserstimmen sind durchgehend doppelt besetzt -, der für seine Aufführung benötigt wird.
Verschiedene Punkte deuten aber darauf hin, dass Beethovens Intentionen gänzlich andere waren,
als die des aufs Äusserliche gerichteten Gottes- und Herrscherlobes. Dazu gehören die schon
erwähnten Bemühungen um eine deutsche Übersetzung, Aufführungen in Konzertsälen und eine
rasche Drucklegung des Werks, das er nicht als untrennbar mit dem ursprünglichen
Kompositionsanlass verbunden verstanden haben wollte. War bis anhin die Komposition einer
grossen Festmesse ausschliesslich für einen bestimmten Anlass und den Auftraggeber bestimmt und
von einer weiteren Verbreitung ausgeschlossen gewesen, so stand dies im Widerspruch zu den
neuen Massstäben, nach denen die Komposition von Musik nicht mehr als Dienst verstanden wurde.
Nicht mehr deren Einbindung in das liturgische Zeremoniell und deren Fixierung auf den
herrschenden Fürsten stand im Zentrum, sondern die direkte Ausrichtung auf den subjektiv
empfindenden Gläubigen. Die unzufriedene Reaktion Nikolaus’ beweist einerseits, dass Beethovens
Absichten gerade den fürstlichen Erwartungen tatsächlich nicht entsprachen, und mag andererseits
26
Kunze, S. 253 ff.
8
seine Veröffentlichungs-Anstrengungen noch verstärkt haben, da nun auch die Widmung an Fürst
Nikolaus wegfiel. In diesem Zusammenhang ist auch Beethovens besorgte Äusserung bezüglich
eines Vergleiches seiner Messe mit den späten Haydn-Messen zu verstehen. Wie sich in der Folge
zeigen wird, widerspiegelt seine Vorgehensweise bei der Vertonung des Ordinariumstextes eine
Haltung, die sich gut mit den aufklärerischen Josephinischen Reformen in Einklang bringen lässt.
Im Zentrum der Komposition stehen der gläubige Mensch, die Andacht des Einzelnen, die religiöse
Innerlichkeit, die persönliche Anteilnahme am Wort und nicht mehr liturgische Beziehungen und
die Erfüllung zeremonieller Vorschriften und repräsentativer Funktionen. Auch für Beethoven
stellte die a-capella-Musik des 16. Jahrhunderts ein Ideal dar. Laut einem Musiklehrer Namens
Freudenberg, der sich mit Beethoven darüber unterhalten hatte, müsste für diesen “reine
Kirchenmusik […] nur von Singstimmen vorgetragen werden, ausser vielleicht ein Gloria oder ein
anderer dem ähnlicher Text. Deswegen bevorzugte er Palestrina, doch sei es Unsinn, ihn
nachzuahmen ohne seinen Geist und religiöse Anschauung zu besitzen. 27” Beethoven nähert sich
somit dem Geist des 16. Jahrhunderts nicht einfach mittels der Übernahme der prima prattica der
klassischen Vokalpolyphonie oder mittels deren Nachahmung durch den stile antico. Bei ihm steht
jedoch, wie bei den Renaissance-Komponisten, allerdings in stark gesteigertem Masse, der Text und
dessen Vermittlung im Vordergrund. Beethoven selbst spricht ja von einer neuartigen Behandlung
des Textes 28, wobei “es bey Bearbeitung dieser grossen Messe meine Hauptabsicht war, sowohl bey
den Singenden als bey den Zuhörenden, Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen 29”.
Alle Äusserlichkeit verliert an Bedeutung, so dass zumindest bei der Missa Solemnis, eigentlich
aber auch schon in der C-Dur-Messe sogar die enge Verbindung mit der Liturgie nicht mehr
zwingend ist, obwohl Beethoven eine Aufführung in diesem Rahmen für besonders wirkungsvoll
befand 30. Die Komposition übernimmt gewissermassen selbst die Rolle der Eucharistiefeier.
Wenigstens unterliegt das Werk nicht den herrschenden Konventionen der Zeit, das heisst vor allem
einer auf die Liturgie ausgerichteten funktionalen Gestaltung. Zur strengen Berücksichtigung des
Wortes kommt in Beethovens Komposition eine starke Betonung des vokalen Elements hinzu. War
im Typ der Orchestermesse des 18. Jahrhunderts der orchestrale Anteil zum bedeutendsten
werkgestaltenden Faktor geworden, verlagerte er das Gewicht deutlich zugunsten des Chores, ohne
jedoch den Orchesterapparat grundsätzlich zu reduzieren. So ist die Instrumentalbesetzung in der CDur-Messe grösser als in jeder Haydn-Messe und erfährt in der Missa Solemnis noch eine
Steigerung. Beethoven versucht also in seiner Messe in gewisser Weise die Andachtserweckung mit
einem äusserst hohen Kunstanspruch zu verbinden.
4. Die Textvertonung vor Beethoven
Die Betonung, und je nach Art der Betonung auch die Deutung eines bestimmten Textes
oder Textteils war im 17. und 18. Jahrhunderts oft mit dem Verfahren der musikalisch-rhetorischen
Figurenlehre verbunden. Bestimmte Affekte wurden mit Hilfe eines feststehenden Formelschatzes
umgesetzt. Aufgrund der funktionalen Anforderungen der Gattung Messe und dem allgemeinen
tendenziellen Konservativismus in der Kirchenmusik beschränkte sich diese Textbehandlung in
erster Linie auf weltliche Vokalmusik, insbesondere auf die Oper. Schon deren dramatische Anlage,
die im Text begründet ist, bietet sich für eine entsprechende musikalische Umsetzung förmlich an.
Der Ordinariumstext hingegen ist weder dramatisch angelegt noch metrisch gebunden. Eine
Darstellung von persönlichen Emotionen war schon von daher nicht ganz vereinbar mit der
Vertonung des lateinischen, wesenhaft gleichbleibenden und unveränderlichen Textes. Hinzu
kommt die von der Kirche an eine Messkomposition gestellte Forderung nach grösstmöglicher
Objektivität, denn man verstand das Ordinarium als unantastbaren, allgemeingültigen Text, der sich
27
Thayer, Band 5, S. 224
vgl. Zitat S. 4
29
Beethoven, Ludwig van: Briefwechsel Gesamtausgabe, Band 5, S. 364. Diese Aussage Beethovens bezieht sich auf die
Missa Solemnis, lässt sich aber ohne weiteres auch auf die C-Dur-Messe anwenden.
30
Vgl. Zitat S. 6
9
28
direkt auf die Messfeier bezog, keiner gefühlsmässigen und subjektiven Ausdeutung bedurfte und
eine solche auch nicht erlaubte. Sehr wichtig war hingegen oft die Besetzung, Instrumentierung und
Ausdehnung, einer Messkomposition, die mit dem höfischen Zeremoniell in Übereinstimmung
gebracht werden musste. Die Einbindung in einen aristokratischen Rahmen verhinderte ebenfalls
eine subjektive Texterfassung, so dass die Anwendung von figuralen Formeln und Symbolen die
einzige Möglichkeit einer Textumsetzung war. Doch auch diese waren teilweise auf repräsentative
Darstellung ausgerichtet: Als Beispiel sei hier der punktierte Rhythmus genannt, der zu Worten wie
“Kyrie”, “Sanctus”, “Dominus”, “omnipotens”, “judicare” und ähnlichen sowohl die Majestät
Gottes wie die des herrschenden Fürsten symbolisierte. Zusätzlich war dieser Rhythmus oft mit dem
gleichzeitigen Einsatz von Pauken und Trompeten verbunden. Diese und ähnliche Symbole treten
allerdings häufig auch ohne direkten Textbezug auf und waren somit eigentlich als
Bedeutungsträger vom Text unabhängig und hatten nicht das Ziel Textinhalte zu vermitteln.
Es war zwar also möglich, durch eine deklamatorische Vertonung oder durch melismatische
Ausgestaltung bestimmte Worte hervorzuheben und sie mit Hilfe abbildhafter Topoi figural
auszudeuten, doch durfte dies innerhalb eines geschlossenen Satzes nur ihm Rahmen eines
einheitlichen Grundaffekts geschehen. Die Komponisten strebten demzufolge in ihren Messen nach
einer Einheitlichkeit des Affekts und einer homogenen Ausgestaltung der einzelnen Sätze.
Folgendes Zitat von Joseph Haydn widerspiegelt deutlich diese Haltung: ”Ich bat die Gottheit nicht
wie ein verworfenener Sünder in Verzweiflung, sondern ruhig, langsam. Dabei erwog ich, dass ein
unendlicher Gott sich gewiss seines endlichen Geschöpfes erbarme, dem Staube, dass er Staub ist,
vergeben werde. Diese Gedanken heiterten mich auf. Ich empfand eine gewisse Freude, die so
zuversichtlich ward, dass ich , wie ich die Worte der Bitte aussprechen wollte, meine Freude nicht
unterdrücken konnte, sondern meinem fröhlichen Gemüte Luft machte und miserere etc. mit
Allegro überschrieb. 31” “Allegro” ist in diesem Zusammenhang sicherlich nicht nur als
Tempoangabe zu verstehen, sondern vor allem auch als Vortagsbezeichnung im Sinne von “heiter”
oder “fröhlich”. Haydn wendet also gedanklich das vielleicht von einem reuigen Sünder in tiefster
Verzweiflung ausgesprochene “miserere” ins positive und erlaubt so - beispielsweise in einem von
Jubel geprägten Gloria-Satz - die Beibehaltung eines fröhlichen Grundaffekts. Es bestand also
gewissermassen eine Scheu vor einer zu starken Dramatisierung des Textes, und die Komponisten
mussten sich um eine klare Abgrenzung der Kirchenmusik zum affekt- und effektgeladenen
Theaterstil bemühen. Die figurale Affektdarstellung einzelner Worte war zudem in der katholischen
Messe weit weniger bedeutend als im protestantischen Umfeld. Eine Erklärung dafür ist sicherlich
die Tatsache, dass das Gewicht im protestantischen Bereich auf dem verkündeten Wort lag,
während sich der Katholizismus vielmehr als Kirche des Sakraments verstand. Erst im Zuge der
aufklärerischen Reformen fand diesbezüglich eine Gewichtsverlagerung statt, die sich dann auch auf
Beethovens erste Messvertonung auswirkte.
Dass eine Wortausdeutung unter anderem mit Hilfe abbildhafter Figuren nicht wichtig war,
zeigt die Tatsache, dass beispielsweise Haydn solche Floskeln eher selten, zwar meist an denselben
Textstellen, aber nicht in jeder Vertonung, also eher willkürlich anwendet. Beispiele für solche
Topoi sind eine Abwärtsbewegung zu “descendit”, eine Aufwärtsbewegung zu ”ascendit”,
übermässige Intervalle und Chromatik zur Schmerzdarstellung bei “crucifixus” und “passus”, das
Singen in hoher Lage zu “excelsis”, “coeli”, “altissimus”, “vivos” usw., die tiefe Lage zu “terra”,
“mundi”, “mortuos” usw., Unisonogesang zur Symbolisierung von Einzigartigkeit und Einheit bei
“Credo”, “in unum Deum”, “tu solus”, ”Deum verum” usw., die Imitation zu “lumen de lumine…”,
die Wendung in eine nach Moll abgedunkelte Tonart zur Darstellung der Erniedrigung Christi bei
“qui tollis”, “et incarnatus” und viele mehr. Der Vergleich von Haydns Messen mit Kompositionen
anderer Meister bestätigt, dass die Anwendung solcher Figuren alles andere als verbindlich war.
Sehr wohl als verbindlich angesehen werden, kann allerdings der Einsatz der Polyphonie. Die
Polyphonie, insbesondere die Fuge, deren Anwendung am Ende des Gloria und des Credo zum
Standard einer Messkomposition gehörte, war ein Mittel zum Ausdruck von Feierlichkeit. Sie galt
als “kaiserlicher Stil”, als höchste Vollendung musikalischer Kunst. Da sie besonders von Adel und
31
Haydn, Joseph: Haydn Edition. Die 6 späten Messen. Plattenbeiheft, Telefunken-Decca Schallplatten GmbH, 1978, S. 4
10
Kirche gepflegt wurde, verbindet sich mit ihr auch eine soziale Komponente. Der polyphone Stil
verhindert zudem eine stark affektgeladene und subjektivierende Vertonung. Dadurch, dass in ihm
ein geistiges, rationales musikalisches Prinzip befolgt wird, entspricht er in seiner Art der
Geistigkeit des Textes und ist zur textausdeutenden und gefühlsvermittelnden Umsetzung nicht
geeignet. Sein theologischer Wert liegt in der grösstmöglichen Objektivität und
Allgemeingültigkeit. Die vergeistigtste musikalische Form tritt bei Haydn im ersten Teil der
“Nelsonmesse” auf, wo zwei jeweils in Oktaven geführte Stimmen einen Kanon (im Quintabstand)
bilden. Eine musikalische Umsetzung der einzelnen Textworte nach dem Vorbild opernhafter
Tonmalerei der weltlichen Vokal- (Theater-) Musik war in der Kirchenmusik also nicht
erstrebenswert. Eine Polytextur, wie sie im ersten Credo-Teil der “Paukenmesse” vorliegt,
verhindert zudem eine textdienliche und -deutende Vertonung vollends, zumal sie sich mit einem
fugierten Satz verbindet. Es kommt auch vor, dass inhaltlich unterschiedliche Worte auf dasselbe
Motiv gesungen werden, wie beispielsweise “gloria in excelsis” und “gratias agimus” im Gloria der
“Nelsonmesse” und “simul adoratur”, “unam sanctam” und “mortuorum” im Credo der
“Theresienmesse”. Der Einsatz und die Ordnung der Motive sind dort rein musikalisch begründet
und vom Text unabhängig. Dasselbe gilt für Melismen, metrische, dynamische und satztechnische
Akzente, die meist eher zufällig auf bestimmte Worte fallen. Die Verständlichkeit oder gar
Betonung gewisser Worte und Textinhalte war nicht das Ziel. Vielmehr sollte der Text unangetastet
bleiben und die Musik nur Ergänzung zum Wesentlichen, der Eucharistie, sein.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als an die Stelle kleinerer Teilsätze
umfassendere, über weite Strecken durchkomponierte Sätze traten, stellte sich in einer
Messvertonung zunehmend das Problem der Vereinheitlichung und Geschlossenheit. Gloria und
Credo bestanden so beispielsweise bei Haydn nur noch aus drei verschiedenen Abschnitten, jeweils
zwei bewegteren Randteilen und einem kontrastierenden, langsameren Mittelteil. Zur Lösung des
Problems der formalen Organisation innerhalb der längeren Sätze, dienten unter anderem
Übernahmen von Elementen der zeitgenössischen Instrumentalmusik. Dazu gehörte auch die
Annäherung an symphonische Verfahren wie etwa die motivisch-thematische Arbeit. Die formalen
und strukturellen Fragen sollten also vor allem auf der musikalischen Ebene gelöst werden. Damit
verband sich aber ausserdem der Gedanke der Einheit des Affekts und somit eine homogene
musikalische Gestaltung. Deshalb wäre es auch nicht zutreffend, die Kompositionsweise als
wirklich symphonisch zu bezeichnen. Zwar lässt sich in Haydns Messen wohl ein gewisser Grad an
motivischer Arbeit nachweisen, doch fehlt eine Gegensätzlichkeit der Bestandteile, Affekte und
Impulse, welche die Dramatik der Form, das symphonische Prinzip der Sonatenhauptsatzform
begründen. Gerade dieses klassische, von einer inneren Differenzierung geprägte Formverständnis
bietet Beethoven später die Möglichkeit eines verstärkten Eingehens auf den Text. Der Text und
seine Darstellung spielte für Haydn aber nur eine untergeordnete Rolle. Zudem war die
instrumentale Komponente, das Orchester, der formbildende Faktor. Der Chor hatte sich dem
kontinuierlichen Fluss des Orchestersatzes anzupassen. Haydn lehnte sich in seinen
Messkompositionen noch stark an einen barocken Satzaufbau und dessen homogenisierende
Formgestaltung und Fortspinnungstechnik an.
Bereits vor Beethovens Komposition sind bei Haydn die beiden textreichen Sätze von einer
weitgehenden Deklamation der Worte geprägt. Doch diese diente vor allem der Bewältigung der
grossen Textmenge durch den Chor und war dem figurierten und motivisch-thematischen Orchester
untergeordnet. Es fand also keine besondere Text-Vertonung statt, im Sinne einer Hervorhebung
und Betonung der Worte, sondern angestrebt wurde eine weitgehende Homogenität innerhalb eines
Satzes, ein einheitlicher Affekt und eine einheitliche, nach einer musikalischen Logik geordnete
Form. Dies wurde zum Beispiel durch ostinate Begleitfiguren des Orchesters oder durch eine, meist
vom Orchester getragene, eigenmusikalischen Gesetzen folgende Geschlossenheit erreicht. Damit
verbunden war eine Sparsamkeit in der Bildung von neuen Motiven, eine möglichst grosse
motivische Einheitlichkeit und Kohärenz, rhythmische und motivische Kontinuität, die Entwicklung
und Wiederholung von Motiven. Hierfür gibt es viele Beispiele. Im Folgenden seien nur einige
vorgestellt.
11
Durchgehende Begleitfiguren finden sich im “et incarnatus” der “Harmoniemesse” und im
“qui tollis” der “Theresienmesse” (jeweils Achteltriolen in der ersten Violine), im ersten Credo-Teil
der “Theresienmesse” (bis auf wenige Takte durchlaufende Sechzehntel in beiden Violinstimmen),
im “qui tollis” der “Paukenmesse (durchgehende Achtel in den oberen drei Streichern oder im Bass)
und im “et vitam” der “Heiligmesse”. An diesen Stellen sind die Begleitmuster am konsequentesten
durchgehalten, doch treten sie auch andernorts ähnlich auf. Dabei ist es nicht einmal erforderlich,
dass sich solche Figuren unverändert durch einen ganzen Satz ziehen, solange der musikalische
Fluss nicht unterbrochen wird und sich der Grundcharakter nicht ändert. So geschieht es, dass im
Gloria der “Schöpfungsmesse” sogar die Worte “qui tollis peccata”, die mit den dazugehörigen
“miserere”-Rufen nicht gerade Festlichkeit ausdrücken, bei ihrem ersten Erscheinen noch im Fluss
des vorangehenden fröhlichen Jubels und zudem mit einer ähnlichen Motivik gesungen werden.
Erst allmählich, ausnahmsweise ohne deutlichen Einschnitt an dieser Stelle, leitet Haydn zum
ruhigeren Mittelteil des Satzes über. Es lässt sich auch beobachten, dass bei zunehmender
Abruptheit und Plastizität in der Chordeklamation gleichzeitig die Gleichmässigkeit in der
Orchesterbegleitung zunimmt, wie zum Beispiel im Gloria der “Theresienmesse” zu “glorificamus
te”. Das Orchester überlagert und verschleiert dort und andernorts die dramatischere Struktur der
Chorstimmen und verleiht dem Ganzen eine homogene Gestalt. Wie oben schon dargelegt, besitzen
natürlich alle Fugen und fugenähnlichen Stellen ebenfalls einen einheitlichen Ausdruck.
Daneben spielt die Formbildung durch motivisch-thematische Ordnung eine bedeutende
Rolle. Sehr auffällig geschieht dies im Gloria der “Nelsonmesse”. Das zu den Worten “Gloria in
excelsis Deo” gehörende Kopfthema wird nicht nur im ersten Satzteil mehrmals fast identisch
wieder aufgegriffen (zu “gratias agimus tibi” und “Domine fili unigenite”), sondern auch im dritten
(“quoniam tu solus sanctus”). Dasselbe gilt für das “et in terra”-Motiv, das zu “Domine Deus”,
“Filius Patris” und, vor dem abschliessenden Choreinsatz, von den Solisten zu “amen” wieder
eingebracht wird. Ein so starker motivischer Zusammenhang, der sich nicht auf einen Satzteil
beschränkt, sondern die beiden im Affekt ähnlich gelagerten Randteile miteinander verbindet, ist
nicht in allen Messen Haydns vorhanden. Er lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass der
Mittelteil dafür mit seinen unisono deklamierten, fast gesprochenen “miserere”-Einwürfen des
Chors um so ausdrucksgeladener ist und in einen affektneutralen Rahmen gebettet sein will, welcher
der dort aufkommenden Dramatik ausgleichend entgegenwirkt. Das Benedictus derselben Messe
weist übrigens eine dem Gloria ähnliche Faktur und Motivik auf, so dass auch sinnfällige
satzübergreifende Zusammenhänge entstehen. In der “Paukenmesse” lässt sich ein ähnliches
Vorgehen zeigen. Hier ist es das “laudamus te”-Motiv, das zu “benedicimus te”, “adoramus te”,
“Domine Deus”, “Agnus Dei”, “Filius Patri” und dann im dritten Satzteil zu “cum Sancto Spiritu”,
“in gloria Dei Patris” und “amen” wiederkehrt. Im “quoniam”-Teil der Theresienmesse ist es das
Motiv eines punktierten Viertels mit zwei folgenden Sechzehnteln, das die formale Gestaltung des
Abschnitts bestimmt. Die Reihe liesse sich auch hier wieder mit zahlreichen Beispielen fortsetzen.
Es ist nun sicher nicht davon auszugehen, dass die oben beschriebenen Begleitfiguren und
motivischen Verwandtschaften bei Beethoven überhaupt nicht mehr anzutreffen sind, doch haben
sie einerseits nicht dasselbe Gewicht und dienen andererseits teilweise einem anderen Zweck.
5. Analyse der C-Dur-Messe
Hermann Kretzschmar schreibt in seinem “Führer durch den Konzertsaal” über Beethovens
Erstlingswerk auf dem Gebiet der Messkomposition folgendes: “Tatsache ist, dass sich Beethoven
mit dieser Cdur-Messe auf einen ganz anderen Boden stellte, als der war, auf welchem die Messen
seiner Zeit, auch die Haydns und Mozarts, zu entstehen pflegten. 32” Dem steht die Auffassung
Schnerichs gegenüber, der meint, “dass sich bei ihm [bei Beethoven, bezüglich seiner Messen] der
Einfluss seines grossen Lehrers Josef Haydn ganz überwiegend zeigt. 33” Die Analyse soll nun
32
33
Kretzschmar, Hermann: Führer durch den Konzertsaal. Band II, 1, Leipzig (Breitkopf & Härtel), 1921, S. 205
Schnerich, S. 60
12
zeigen, dass Beethovens Werk sicherlich nicht ganz von der Tradition zu trennen ist und sich in ihm
sehr wohl traditionelle Elemente finden, dass aber die hinter der Komposition stehende Idee und
deren Umsetzung tatsächlich neu sind. Vergleichend sollen vor allem die letzten sechs Messen
Haydns zugezogen werden.
5.1. Traditionelles in Beethovens Messkomposition
Das Gewicht der fünf Ordinariumsteile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus mit Benedictus und
Agnus Dei ist, wie schon in Haydns Werken, relativ ausgeglichen. Die textreichen Sätze sind durch
eine ziemlich konsequente syllabische Deklamation und durch ihre Gliederung in nur noch drei
Abschnitte im Vergleich mit früheren Konventionen (Nummernmesse, Kantatenmesse) bereits bei
Haydn gestrafft. Der weitgehende Verzicht auf virtuose, arienhafte Solopassagen zugunsten des
Auftrittes der Solisten als Ensemble und einer grösseren Beteiligung des Chors ist in Beethovens
Komposition ebenfalls nicht neu. Die Gesangssolisten werden ausserdem an bestimmten Stellen
eingesetzt, die ihnen auch in der Tradition oft übertragen wurden. Beispiele dafür sind das
“Christe”, “gratias agimus tibi”, “qui tollis peccata”, “suscipe”, “et incarnatus est” und
“Benedictus”. Wie schon Haydn, verwendet Beethoven symphonische Elemente in seiner
Komposition, allerdings zu einem grossen Teil, wie sich noch zeigen wird, nicht die selben und
nicht demselben Zweck. Die für die Aufführung erforderliche Besetzung entspricht jener Haydns,
die Holzbläser sind jedoch alle doppelt besetzt.
Traditionell ist in Beethovens Messe auch der grossformale Aufbau, verbunden mit einer Art
von Tonartenplan. Den ersten Satz bildet das Kyrie. Das durchgehaltene langsame Tempo ist zwar
eher ungewöhnlich, findet sich aber auch in Haydns “Harmoniemesse”. Der in E-Dur stehende
“Christe”-Teil entspricht ebenfalls herrschenden Konventionen, wonach die Harmonik dort meist
aufgehellt wurde. Bei Haydn wird an dieser Stelle jeweils der Bereich der Dominante oder der DurParallele der Grundtonart erreicht. Beethovens Gloria scheint ein einziger geschlossener Satz zu
sein, während Haydn seine zweiten Sätze in drei Abschnitte gliedert. Der erste Teil reicht meist bis
vor “qui tollis peccata, manchmal auch nur bis vor “gratias agimus tibi”, der dritte Teil beginnt mit
dem “quoniam tu solus”. In Beethovens Komposition sind zwar diese Teilsätze nicht durch
Schlusskadenzen und -doppelstriche voneinander getrennt, die Übergänge erfolgen fliessend mit
Hilfe instrumentaler Überleitungsfiguren. Auch bei ihm wechselt jedoch das Tempo (vom Allegro
zum Andante), und das Metrum ändert sich (vom alla Breve zum ¾-Takt). Gleichsam als Sinnbild
für die Erniedrigung Christi, der die Sünden der Menschen auf sich nimmt, findet zudem eine
Verdunkelung der Tonart statt. In Haydns Messen stehen so die mittleren Abschnitte fast immer in
der Unterdominante (“Harmonie-” und “Schöpfungsmesse”), in der Mollparallele (“Heiligmesse”),
in der Mollparallele der Unterdominante (“Theresienmesse”) oder in einer Untermediante
(“Nelsonmesse”). Beethovens Umsetzung beginnt in f-Moll und wendet sich dann nach As-Dur,
einer Untermediante der Grundtonart C-Dur. Das Credo ist ebenfalls drei-, mit der abschliessenden
“et vitam”-Fuge, wie bei Beethoven, oft sogar vierteilig angelegt. Der Abschnitt zu den Worten “et
incarnatus” bis “sepultus est”, welche die Menschwerdung und Kreuzigung Christi zum Inhalt
haben, hebt sich auf ähnliche Weise von den Rahmenteilen ab wie der langsame Gloria-Abschnitt.
Das Sanctus steht in allen sechs Haydn-Messen in der Grundtonart und ist zweiteilig. Einem
langsamen ersten Abschnitt folgt zu den Worten “pleni sunt coeli…” und “osanna…” ein bewegter
zweiter. Beethoven komponiert seinen Satz dagegen in A-Dur, welches sich allerdings erst im
jubelnden “osanna” wirklich stabilisiert. Das Benedictus ist ausser bei Beethoven auch in der
“Nelson-” und “Harmoniemesse” zweigeteilt und greift das “osanna” aus dem Sanctus wieder auf.
Tonartlich bewegen sich die Benedictus-Sätze der “Pauken-“, “Nelson-“, “Heilig-“ und
“Schöpfungsmesse” in demselben Bereich wie die langsamen Mittelsätze von Gloria und Credo. In
den beiden erstgenannten Werken findet dabei jeweils eine Aufhellung von Moll nach Dur statt,
während in den zwei anderen die Unterdominante bestehen bleibt. Beethovens Benedictus beginnt
in F-Dur, das “osanna” steht in A-Dur. Auch im Agnus Dei ist eine Zweiteiligkeit gegeben mit
einem langsameren “Agnus Dei” und einem lebhafteren “Dona nobis pacem”. Bezüglich der
13
Tonarten lässt sich gleiches feststellen wie in den Benedictus-Sätzen. In Beethovens Op. 86 beginnt
das Agnus Dei in c-Moll und hellt sich beim “dona nobis” nach C-Dur auf.
Die aufgezeigten tonartlichen Verhältnisse entsprechen alten barocken Traditionen, wonach
der Schritt zurück in Richtung der Moll- oder b-Tonarten zur Versinnbildlichung des
herabsteigenden, leidenden und die Menschen erlösenden Christus diente. Die Anwendung der
Kreuztonarten war dagegen mit der Auferstehung und dem Jubel verbunden. Wie weit Haydn und
Beethoven mit der symbolischen Bedeutung dieser Anlage noch vertraut waren, lässt sich allerdings
nicht sagen. Dasselbe gilt für die Anwendung rhetorischer Formen der barocken Affekten- und
Figurenlehre. Die rhetorisch-abbildhaften Topoi, die schon bei Haydn nur eine kleine Rolle spielen
und eher willkürlich eingesetzt werden, haben auch in der Messe von Beethoven für die
Textausdeutung nur eine sekundäre Bedeutung. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Beethoven
diese rhetorischen Mittel gezielt einsetzte, oder ob er sie einfach, ohne sich über deren Bedeutung
voll bewusst zu sein, von der überlieferten Tradition übernahm. Als Beispiel gelte hier das
dynamisch, harmonisch und in der Tonhöhe stark kontrastierende “adoramus” (Gloria T. 48 ff.), das
ausser in der “Pauken-” und der “Nelsonmesse” in Haydns Werken vergleichbar, wenn auch nicht
so zugespitzt, umgesetzt ist. Es ist fraglich, ob Beethoven (und auch Haydn) die Bedeutung dieser
Zurücknahme kannte, als Sinnbild für den Priester, der an dieser Stelle der Liturgie demütig den
Kopf neigte. Möglich ist an einigen Stellen genauso ein zufälliges Zusammentreffen der
Figurenlehre mit dem davon unabhängig komponierten Notentext. Die Generalpause und die OktavAchtelketten am Anfang des Gloria könnten aus dieser Sicht beispielsweise einfach als klangliche
Effekte und Mittel zur Dramatisierung gedacht sein und müssen nicht unbedingt als Darstellung von
Ewigkeit und Allmacht verstanden werden. Andere Figuren wiederum sind so einsichtig, dass sie zu
ihrem Verständnis keines theoretischen Überbaus bedürfen, sondern im Gegenteil sehr naheliegen.
Dazu gehört beispielsweise die absteigende Linie zu “descendit” oder der Aufstieg zu “ascendit” im
Credo.
Historischen Indizien zufolge war das Verständnis der Figurenlehre und damit ein bewusstes
rhetorisches Komponieren bereits seit 1750 im Abnehmen begriffen. Es erstaunt um so mehr, dass
in der C-Dur-Messe deutlich mehr figurale Topoi zu finden sind als noch bei Haydn. Allerdings
scheint sich Beethoven erst im Hinblick auf seine Missa Solemnis intensiv mit älterer Kirchenmusik
auseinandergesetzt zu haben. In einer Notiz von 1818 ist zu lesen: “Um wahre Kirchenmusik zu
schreiben - alle Kirchenchoräle der Mönche durchgehen auch zu suchen, wie die Absätze in
richtigsten Übersetzungen nebst vollkommener Prosodie aller christkatholischen Psalmen und
Gesänge überhaupt. 34” Auch eingehende Studien an Werken Bachs und Händels bildeten einen Teil
der Arbeit an seiner zweiten Messe. Wie bereits erwähnt, spielte das Wort in der protestantischen
Kirche eine grössere Rolle als in der katholischen, weshalb die Musik Bachs auch bedeutend mehr
rhetorische Figuren enthält.
Trotz dem häufigen Vorkommen dieser seit dem Barock tradierten abbildhaften Topoi, sind
diese nicht essentiell für Beethovens Musiksprache. Traditionelle Gestaltungsmodi, zu denen alte
Formen und die abbildhaften Figuren der Affektenlehre gehören, verloren ihre Bedeutung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also schon zur Zeit Haydns. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
wurde nun bekanntlich eine klare Vergegenwärtigung des Textes und die direkte Vermittlung von
Stimmungen und Gefühlen durch Musik, ohne den Umweg über nur rational erfassbare Topoi,
immer wichtiger. Die in Beethovens Vertonung liegende direkte Emotionalität und innere Dramatik,
welche den Hörer unmittelbar ansprechen, macht die überlieferten rhetorischen Mittel eigentlich
überflüssig. Die erstaunliche Präsenz abbildhafter Typologie in Beethovens Op. 86 ist also nicht
bestimmend für das Wesen der Komposition, weshalb im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher
darauf eingegangen wird. Insgesamt ist festzustellen, dass sich Beethoven in seiner ersten Messe
deutlich von der Tradition und von den im vorangehenden Kapitel beschriebenen Bestrebungen
nach grösstmöglicher Homogenität und formaler Ordnung löst.
An dieser Stelle sei ein kurzer Seitenblick auf Beethovens zweite Messe erlaubt. Man kann
sagen, dass die C-Dur-Messe in mancher Hinsicht progressiver ist als die D-Dur-Messe, die Missa
34
Thayer, Band 4, S. 130
14
Solemnis. Sie entfernt sich von traditionellen Mustern, enthält neue, von der Tradition unabhängige
Ausdrucksvarianten und stellt das individuelle Glaubenserlebnis in den Mittelpunkt. In Beethovens
zweiter Messe hingegen spielen die überlieferten Formen eine äusserst wichtige Rolle. Allerdings
ist die Verwendung barocker Satzformen und Figuren, der starke Gebrauch des Kontrapunkts und
anderer traditionsbefrachteter Elemente nicht einfach als Rückkehr zu einem konservativen Stil zu
sehen. Das Gegenteil ist der Fall. In der Wiederaufnahme des Alten besteht gerade das Neue. Die
Archaismen der Form, des Ausdrucks und des Stils sind als programmatische und historisierende
Auseinandersetzung mit der Gattung zu verstehen, beruhen also auf einem bewusst reflektierten,
gezielten Einsatz alter Elemente. Die auf diese Weise erfolgende Selbstreflexion der Gattung steht
ausserdem in einem Spannungsverhältnis zum aktuellen, subjektivierenden Zeitstil, der sich durch
seine Gefühlsästhetik und die Dramatisierung der Vorlage auszeichnet, und den Beethoven in seiner
zweiten Messe ebenfalls wieder aufgreift. Der Komponist versucht also, in der Missa Solemnis mit
allen möglichen Mitteln auf den Text einzugehen und ihn so aus der engen Verbindung mit der
Liturgie zu lösen, gewissermassen der Komposition die Rolle der Liturgie zu übertragen.
5.2. Die Arten der Textvertonung bei Beethoven
Nachdem durch die Josephinischen Reformen die Kirchenmusik nicht mehr nur funktionell
an das äusserliche liturgische Zeremoniell und die repräsentative Machtdarstellung gebunden sein
sollte, sondern die Erweckung der Andacht und persönlichen Religiosität des einzelnen Menschen
zur Aufgabe hatte, änderten sich die Voraussetzungen für den Komponisten. Durch die Verlagerung
von der Äusserlichkeit zur Innerlichkeit gewann einerseits der zu vertonende Text an Bedeutung,
andererseits wurde von den Komponisten nun vermehrt eine Subjektivierung des Ausdrucks
gesucht, eine Gefühlsästhetik, die zum Ziel hatte, auf direktem Weg spezifische Empfindungen
hervorzurufen und dadurch die Distanz zum Hörer zu verringern. Die Musik sollte unmittelbar
ansprechende Gefühle, Leidenschaft, Sehnsucht, Trauer, Freude usw. erregen. Das blosse
Vorhandensein des Textes reichte also nicht mehr aus. Die Worte sollten vergegenwärtigt, das heisst
fassbar und, wenn möglich, fühlbar gemacht werden. Anstelle feststehender Formen und formelhaftstatischer Formulierungen trat das Bemühen um einen individuellen, originalen Ausdruck, um noch
nicht dagewesene Lösungen. Der Aspekt des Eigenständigen, Individuellen und Subjektiven zeigt
sich unter anderem in der Abkehr von in der Tradition verhafteten Elementen, wie etwa figuralen
Abbildungsfloskeln und Symbolen, die schon bei Haydn keine Rolle mehr spielten. So fand nun
auch in der Kirchenmusik eine Entwicklung von stereotyper Gebrauchsmusik zu einer individuellen
Kunstmusik mit hohem künstlerischem Anspruch statt. Damit rückte aber ebenso das Individuum der schaffende und nicht mehr dienende Komponist auf der einen, der subjektiv fühlende und
denkende, urteilende, aufgeklärte Zuhörer auf der anderen Seite - stark ins Zentrum.
Wenn der oben zitierte Kritiker bemerkte, dass Beethovens erste Messe nicht dem
entspreche, was “Jahrhunderte hindurch” als “Kirchenstyl” gegolten habe, so dachte er dabei nicht
nur an die damals traditionelle orchesterbegleitete Messe. Vielmehr bezog er sich auf die einer
“würdevollen” Ordinariumsvertonung ziemende Objektivität, die in Beethovens Werk im Vergleich
zur Tradition fehlt. An deren Stelle tritt der Ausdruck einer subjektiven, menschbezogenen
Emotionalität und eine Anlage, die auf das direkte sinnliche Erleben des Zuhörers abzielt.
Der Text des Messordinariums ist nun allerdings in sich kein dramatischer oder lyrisch
gebundener. Er bietet ganz im Gegenteil, besonders in den Textreichen und prosaischen Sätzen
Gloria und Credo, kaum Ansatzpunkte für eine dramatische oder gefühlsvernittelnde Vertonung. So
gibt es zwei Möglichkeiten der Textbehandlung. Wo es möglich ist, steht für Beethoven ganz klar
die Umsetzung der im Text liegenden Stimmung im Zentrum, um im Zuhörer dadurch direkt die
betreffenden Gefühle zu erwecken. Geht das nicht, bemüht sich Beethoven um eine möglichst
plastische, den Text in seiner Struktur wiedergebende und sich mit ihm zu einer Einheit
verschmelzende Vertonung. Die Plastizität des Textes, die durch die individuelle Komposition jeder
einzelnen Aussage entsteht, soll dem Hörer nun erlauben, sich selbst mit dem Text
auseinanderzusetzen und dadurch ebenfalls zur persönlichen Religiosität zu finden.
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Ein Mittel, womit in der Musik die erwünschte Plastizität und damit eine möglichst starke
Annäherung an die gesprochene Sprache erreicht werden kann, ist die Deklamation. Diese geht von
den Textworten aus, deren Rhythmus und Akzente sie korrekt und sprachnah wiedergibt. Dadurch
erhält der Text ein grösseres Gewicht. Was die richtige Behandlung der Wortrhythmen und -akzente
angeht, ist in Beethovens Op. 86 im Vergleich mit den Messen Haydns nichts wirklich Neues zu
finden. Beide Komponisten haben den Ordinariumstext im wesentlichen syllabisch vertont. Es ist
jedoch zu beobachten, dass bei Beethoven die Motivik noch stärker an die jeweilige Wortgestalt
angepasst ist und mit ihr eine Einheit bildet. Dies führt besonders im Gloria und im Credo zu einer
Motivgestalt, die charakteristisch, jedoch oft auf grundlegende Elemente reduziert ist. Die Motivik
geht dadurch streng vom Wort und damit auch von den Vokalstimmen aus und ist nicht
eigenständig. Die harmonische und motivische Gestaltung und Entwicklung, welche sonst die Form
und die Struktur des Satzes nach immanent musikalischen Gesichtspunkten bestimmen, treten in
ihrer Funktionalität hinter den Text zurück. Die höchste Stufe der sprachnahen Deklamation wird
erreicht durch den Verzicht auf den nicht vokalen Anteil im a-capella-Satz, durch das Weglassen
der harmonischen Komponente im Unisono und durch eine fehlende melodische Bewegung, also
durch einen rezitierenden Stil. Die enge Verknüpfung zwischen Wort und Motiv führt, wie weiter
unten näher erläutert, zu einer Abfolge gegensätzlicher Bewegungen und wechselnder Impulse und
damit zu einer Dramatisierung des Satzes. Wie sich zeigen wird, kann diese Dramatisierung in
gewissen Fällen ebenfalls Teil der Ausdrucksästhetik und mit der direkten Gefühlsvermittlung
verknüpft sein, nämlich da, wo das dramatische Umfeld mit der Wortbedeutung und den
auszudrückenden Emotionen übereinstimmt.
Es ergibt sich fast von selbst, dass durch die starke Gewichtung des Textes und durch die
dafür angewandten Mittel ebenso die Vokalstimmen, die diesen tragen, aufgewertet werden. So ist
in Beethovens Op. 86 nicht mehr das Orchester form-, struktur- und motivbestimmend, sondern der
Chor und die Gesangssolisten. Das Orchester tritt meistens hinter diese zurück und ist ihnen
höchstens gleichgestellt. Dagegen treten die Singstimmen mehrmals a capella in Erscheinung. Auch
auf dieser Ebene rückt also die dem Menschen eigene Stimme und damit der sich selbst äussernde
und einbeziehende Mensch ins Zentrum des Interesses. Es ist sicher kein Zufall, dass Beethoven als
einer unter vielen die a-capella-Musik des 16. Jahrhunderts, insbesondere die Musik Palestrinas,
hoch schätzte und in ihr die reinste Form der Kirchenmusik sah.
5.3. Vermittlung von Gefühlswerten im Kyrie und im Benedictus
Im Kyrie und im Benedictus findet die musikalische Umsetzung des Ordinariumstextes
vornehmlich auf der Basis direkter Ausdrucksvermittlung statt. Das Kyrie in Beethovens erster
Messe verkörpert in keiner Weise den Affekt des Majestätischen und Pompösen, mit dem die
Ankunft des kirchlichen Fürsten (Jesus) und des weltlichen Herrschers dargestellt werden sollte, wie
dies auch bei Haydn noch der Fall ist. In allen der letzten sechs Messen Haydns verwendet der
Komponist den Topos des punktierten Rhythmus als Sinnbild für Herrschaft und Macht. Hinzu
kommt der Einsatz von Pauken und Trompeten als herrschaftliches Symbol. Der Kyriesatz wird
gewissermassen zu einer Festouvertüre. Die Pracht und der Festcharakter nehmen den Platz der vom
Text und der Liturgie eigentlich vorgegebenen Demut, der Vorbereitung auf die Eucharistie, des
Schuldbekenntnisses, der Busse und der Bitte um Erbarmen ein. Auch das von Beethoven gewählte
langsame Tempo ist in den Zeitgenössischen Messvertonungen eher die Ausnahme. Wie wichtig
dem Komponisten selbst das Einhalten des richtigen Zeitmasses war, widerspiegelt sich in der
auffällig langen Tempo- und Vortragsbezeichnung “Andante con moto assai vivace quasi Allegretto
ma non troppo”. Der langsame Satz des Streichquartetts in C-Dur Op. 59 Nr. 3 ist sehr ähnlich,
nämlich mit “Andante con moto quasi Allegretto” überschrieben. Der Charakter des Kyrie lässt sich
somit mit dem eines langsamen zweiten Satzes vergleichen, und nicht mit dem eines eher
extrovertierteren Kopfsatzes. Haydn setzt nur in seiner “Harmoniemesse” den Kyriesatz in
durchgehend langsamem Tempo. Das Kyrie der “Nelsonmesse” ist mit “Allegro moderato”
überschrieben. Die vier übrigen Messen wechseln nach einer langsamen Einleitung ebenfalls ins
16
Allegro. Zur Vorstellung kirchlicher Erhabenheit gehörte aber ein langsames Zeitmass. Beethoven
selbst schreibt über den ersten Satz der C-Dur-Messe: ”Der allgemeine charakter […] in dem Kyrie
ist innige Ergebung, wahre Innigkeit religiöser Gefühle […]. Sanftheit liegt dem Ganzen zu Grunde
[…]. 35”. Die Bitte um Erbarmen ist verbunden mit einer freundlichen, zuversichtlichen Stimmung
oder, wie E. T. A. Hoffmann schreibt, der “Ausdruck eines kindlich heiteren Gemüths, das, auf
seine Reinheit bauend, gläubig der Gnade Gottes vertraut und zu ihm fleht, wie zu dem Vater, der
das Beste für seine Kinder will und ihre Bitten erhört. 36” Ein anderer Rezensent der AmZ
(Allgemeine musikalische Zeitung) bemerkt ebenfalls das “Erhebende, womit in dem Kyrie das
Herz zur Andacht geführt wird. 37“ Diese Aussagen lassen sich aufs beste mit der oben genannten
Vortragsbezeichnung in Einklang bringen: Das Erhabene mit dem “Andante”, die Freundlichkeit,
Zuversicht und Heiterkeit mit “con moto assai vivace quasi Allegretto” und die Zurücknahme, die
Verinnerlichung und Sanftheit mit “ma non troppo”. Beethoven setzt nun also in seiner Vertonung
zu dem Wort “Kyrie” nicht homorhythmisch deklamierte Akkordblöcke ein, sondern lässt den
Wortlaut kantabel, liedhaft-lieblich melodisiert von den in Terzen geführten Frauenstimmen
vortragen. Während die Männerstimmen mit einem kurzen Orgelpunkt das Fundament bilden,
erheben sich über ihnen die Oberstimmen. Die Punktierung im Bass ganz zu Beginn erinnert zwar
vielleicht noch an deren traditionellen Einsatz, kommt aber hier kaum zur Geltung. Ungewöhnlich,
aber in dieser Messe konstitutiv, ist, dass die motivische Ausgestaltung vom Chor und nicht vom
Orchester ausgeht. Das Orchester ist in seiner Begleitung zudem nicht unabhängig, sondern stark an
das vokale Thema gebunden, welches es mit Achteln umspielt. Die Getragenheit, die Vermeidung
von Dramatik und die einfachen formalen und harmonischen Verhältnisse ziehen sich durch das
ganze Kyrie. Dieses öffnet sich zum in Takt 37 beginnenden “Christe”-Teil in E-Dur. Hier steigert
sich nun der Ausdruck durch die a capella einsetzenden Solostimmen, durch die Betonung einzelner
Worte und durch einige Akzente, ohne dass dadurch allerdings der Fluss des Satzes unterbrochen
wird. Über eine Scheinreprise in Takt 71 (“Kyrie eleison” noch in E-Dur), die ihren Höhepunkt in
Takt 80 erreicht, wird in Takt 84 das Anfangsthema in C-Dur wieder aufgegriffen. Erst in den
Takten 112 - 116 und 123 - 130 findet der Chor zu homorhythmischer Deklamation, während dem
Orchester jeweils das Kopfmotiv übertragen wird, zunächst in seiner umspielten und danach in
seiner originalen Form. Die Deklamation ist hier jedoch nicht eine extrovertierte Akklamation, wie
in anderen zeitgenössischen Messen üblich, sondern im Gegenteil eine Zurücknahme, eine
Reduktion auf Unisono, Rhythmus und Text im Piano und eine dadurch gesteigerte
Verinnerlichung. Wie gesehen, basiert die musikalische Umsetzung im Kyrie zwar auf dem Text,
beruht aber nicht auf der Vertonung der einzelnen Worte, sondern auf der Vermittlung des
dahinterstehenden religiösen Gefühls und der Verbreitung einer erhebenden Atmosphäre.
Das Benedictus weist einen dem Kyrie sehr ähnlichen Charakter auf, wie schon die
Vortragsbezeichnung “Allegretto ma non troppo” andeutet. Der liturgischen Situation nach
vollzogener Wandlung entsprechend, sollen hier erhebende, andächtige Gefühle geweckt werden.
Die kurze und inhaltlich homogene Aussage bietet kaum Angriffspunkte für eine isolierende und
ausdeutende Vertonung der Einzelworte. Wie im Kyrie, entsteht hier ebenfalls ein Stimmungsbild.
Die Solostimmen, die zu Beginn des Satzes sogar a capella gesetzt sind, tragen gleichsam
verkündend die Benedictus-Worte vor, die vom Chor ab Takt 69 ergriffen und deklamationsnah
aufgenommen werden. Ähnlich wie im Kyrie findet sich in den Takten 90 ff., 114 ff. und 166 ff.
jeweils eine Unisono-Deklamation des Textes durch den Chor, die gleichsam eine Erhöhung der
inneren Andacht darstellt. Das Benedictus der “Nelsonmesse” von Haydn weist in dieser Hinsicht
ganz ähnliche Züge auf. Beethovens Version dieses Satzes weicht denn in seinem Charakter auch
am wenigsten von der Tradition ab. Obwohl das Benedictus aus liturgischer Sicht noch zum Sanctus
gehört, setzt es Beethoven deutlich davon ab, zwar nicht durch einen Schlusstaktstrich, wie dies
Haydn noch tat, aber doch immerhin durch eine Schlusskadenz mit darauffolgendem
Tonartenwechsel. Im Gegensatz zum Kyrie ist im Benedictus auch der Topos des punktierten
35
Beethoven, Ludwig van: Briefwechsel Gesamtausgabe, Band 5, S. 176
Kunze, S. 254
37
Kunze, S. 249
17
36
Rhythmus und der Fanfarendreiklänge zu finden (T. 86 ff., T. 120 ff., T. 140 ff.: “in nomine
Domini”). Als Anleihe aus der Instrumentalmusik liegt hier zudem eine Sonatensatzform vor, mit
Einsatz des Seitenthemas in Takt 70 und der Reprise in Takt 98, allerdings ohne Durchführungsteil.
Neu ist dies aber nicht. Das Benedictus in Haydns “Harmoniemesse” weist dieselbe Faktur auf.
Trotz dieser Anlage spielt aber Beethoven die dramatischen Möglichkeiten nicht aus. War das
Benedictus aber bis anhin ein konzertanter und instrumental dominierter Satz gewesen, in dem sich
das Orchester mehr als andernorts unabhängig von den Vokalstimmen ziemlich frei hatte entfalten
können, verkehrt dies Beethoven in seiner Komposition ins Gegenteil. Nur in den drei Takten, die
zum Osanna überleiten, schweigen die Singstimmen. Andererseits gibt es mehrere Stellen, an denen
sie unbegleitet eingesetzt sind (T. 49 ff., T. 67 ff., T. 89 ff., T. 122 ff., T. 158 ff. und T. 162 ff.) und
den Text so plastisch in den Vordergrund rücken. Wohl liegt die musikalische Bedeutung und
thematische Arbeit besonders während des Chor-Unisonos beim Orchester, doch ist dieses auch dort
nicht völlig frei, sondern wird vom Ordinariumstext durchdrungen. Die vokale Dominanz geht mit
der Omnipräsenz des Textes einher und ist durch sie begründet. Das Zurückdrängen des
instrumentalen Anteils kann zudem als Annäherung des von Beethoven idealisierten a capella
Satzes gesehen werden.
5.4. Strukturelle Dramatisierung des Textes
Im Gegensatz zu den soeben besprochenen Abschnitten lässt sich in den textreichen,
prosaischen Sätzen Gloria und Credo aufgrund der grossen Textmenge mit ihren
aneinandergereihten unterschiedlichen Aussagen kein einheitliches, dem Text entsprechendes
Stimmungsbild mehr aufbauen. Eine gefühlsvermittelnde Vertonung ist kaum möglich. Zudem ist
es nicht die Absicht Beethovens, wie Haydn innerhalb eines Satzes oder Teilsatzes eine möglichst
grosse Homogenität und Einheit des Affekts herzustellen. Die Nuancen, die gegensätzlichen
Aussagen, sollen im Gegenteil differenziert ausgedrückt und nicht einfach nur als traditionelle
Formen und abbildhafte Topoi unter einen in sich unveränderlichen Grundaffekt gestellt werden.
Das Kyrie-ähnliche Motiv in Takt 180 ff. des Gloria (“miserere”) verliert so im zerklüfteten,
dramatischen Umfeld seinen ehemaligen erhebenden Charakter und damit die Funktion der
unmittelbaren Andachtserweckung, bildet also lediglich einen Kontrast zum Vorangehenden und
Folgenden.
An Stelle der direkt emotionalisierenden Musik tritt in der Vertonung der textreichen Sätze
eine innere Dramatisierung. Beethoven führt in seiner Messkomposition den zeitgenössischen
Instrumentalstil, der sich durch eine dramatische Musiksprache auszeichnet, auch in die
Kirchenmusik ein. Das Gloria und das Credo der C-Dur-Messe übernehmen, wie das Benedictus,
Elemente des Sonatensatzes. Allerdings nicht dessen Form oder eine durchgehende motivischthematische Arbeit, sondern die Prinzipien des Stils, zu denen die Heterogenität des Motivmaterials,
die Diskontinuität, die Spannung, die Kontraste und die strukturelle Differenzierung gehören. Die
Vielfältigkeit der musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten mit ihren Gegensätzen und
alternierenden Bewegungen löst das lineare Denken ab. Dieser Stil wird nun von Beethoven nicht
einfach mit dem Ziel angewandt, mittels musikalischer Mittel vordergründige Effekte zu erzielen,
sondern er erweist sich als die ideale Basis für eine Umsetzung des Ordinariums, die auf der
individuellen Hervorhebung und Vertonung der einzelnen Textworte beruht. Die Komposition und
die Anordnung der Motive erfolgen dabei nicht aufgrund immanent musikalischer Ideen, sondern
die musikalische Komponente verliert im Gegenteil ihren Selbstzweck und ihre Autonomie. Es sind
vielmehr der Text und der Wunsch nach der direkten Vergegenwärtigung seiner sprachlichen und
verbalen Qualitäten, der die musikalische Ausformung beeinflusst und bestimmt. Das
Strukturgefühl des Instrumentalstils ermöglicht eine stärkere Durchdringung und plastischere
Darstellung des Ordinariumstextes, in dem sich ebenso unterschiedliche Aussagen in aufzählender
Art aneinanderreihen, wie im musikalischen Satz unterschiedliche Motive gegeneinander stehen. So
findet sich in Beethovens C-Dur-Messe ein sehr ausgeprägtes Wort-Ton-Verhältnis, indem nämlich
jede textliche Aussage musikalisch einem neuen charakteristischen Motiv zugeordnet wird. Die
18
Entwicklung alternierender Bewegungen, wechselnder Impulse und gegensätzlicher Motive bildet
keine musikalisch logische Form, sondern widerspiegelt die prosaische Vorlage plastisch und
sprachnah in ihrer Struktur, in der Wiedergabe der Verhältnisse ihrer Elemente und Aussagen
zueinander, in ihrer Syntax und formalen Ungebundenheit. Die Musik nähert sich also der Gestalt
des Textes an, nimmt teilweise auch sehr deklamatorische, sprachnah rezitierende Züge an,
verschmilzt mit den Worten zu einer Einheit und wird gewissermassen selbst gesprochene Sprache.
Genauso, wie Theatermusik auf Handlung und Gestik reagiert, folgt so die Musik der Messe immer
dem Ordinariumstext.
Die heterogene Motivik ist verknüpft und wird verstärkt durch den Einsatz verschiedener
Satztechniken, die zur kontrastreichen und plastischen Vertonung des Textes beitragen. Dazu
gehören homorhythmische, akkordische Blöcke, polyphone Abschnitte, Unisono-Stellen,
Abschnitte, in denen der Chor in einen rauschenden Orchestersatz eingebaut ist, der häufige Einsatz
von sprachhafter Deklamation bis hin zur Rezitation auf einem Ton, starke dynamische Kontraste,
wechselnde Klangfarben, überraschende, unregelmässige harmonische Wechsel und abrupte
Ausweichungen und ein ungleichmässiger Periodenbau. Hinzu kommen Akzente in Form von
Sforzati, Synkopen oder besonderen motivischen Ausprägungen, wie zum Beispiel Oktavsprünge.
Nicht alle angeführten Mittel und Ebenen der Textbehandlung, die natürlich auch, als eine Form der
Steigerung, miteinander kombiniert auftreten können, wirken per se dramatisch. Durch die
zahlreichen Wechsel, Kontraste und Härten auf relativ engem Raum wird jedoch ein durchgehender,
homogener musikalischer Fluss immer wieder unterbrochen und verunmöglicht. Diese Art der
Vertonung lässt ein heterogenes Gebilde aus einer Vielzahl von verschiedenen gegensätzlichen
Verläufen und Ereignissen entstehen, die sich scheinbar regellos aneinanderreihen. Wichtig ist, dass
die Instrumentalstimmen in diese Verfahrensweise einbezogen werden und mit dem Chor in
Wechselwirkung stehen, wodurch die Gestaltung der Vokalstimmen erst hervortritt. Das Orchester
hat nicht, wie bei Haydn, eine einheitsstiftende Funktion. Haydns Werke weisen durchaus Elemente
einer kontrastierenden Vertonung auf, aber diese sind bei weitem nicht so konsequent
durchgehalten, sondern im Gegenteil eher verschleiert und häufig auch textunabhängig. Beethoven
begnügt sich dagegen nicht nur mit einem sporadischen und massvollen Einsatz der beschriebenen
Mittel, um sie dann sogleich wieder abzuschwächen und durch um so strenger gehaltene Abschnitte
auszugleichen.
Aus einer Dramatisierung der Form , wie sie in der C-Dur-Messe vorliegt, erwächst nun die
Gefahr, dass durch die starke Zergliederung der innere Zusammenhalt verloren geht. Dieser ist
natürlich vor allem durch den Text gewährleistet. Des Weiteren hat schon Thayer bemerkt, dass in
Beethovens Messe das Intervall einer Sexte ziemlich oft über die ganze Messe verteilt aufscheint 38.
Es wäre aber übertrieben, diese Sexte als das dem ganzen Werk zugrundeliegende Hauptmotiv zu
sehen, wie Thayer es tut. Man könnte sie höchstens als einen Gestus bezeichnen, der allen Sätzen
gemeinsam ist und zwischen ihnen eine gewisse Verwandtschaft herstellt, denn eine motivischthematische Entwicklung geht davon nicht aus. Daneben gibt es auch andere Motive in den
verschiedenen Sätzen, die sich kausal aufeinander beziehen, wie zum Beispiel das Kyriemotiv, das
Gloria-Hauptmotiv, die Fortspinnung des “quoniam”-Motivs, das “cum Sancto”- und das “dona”Motiv. Einen engeren Zusammenhalt bewirken ausserdem die Beschaffenheit der zahlreichen
motivischen Figuren und ähnliche Arten der Kontrastbildung an unterschiedlichen Stellen. Die
Motivfiguren sind zwar an bestimmte Textworte und deren Sprachrhythmus gebunden und
unterscheiden sich dadurch voneinander. Sie sind jedoch oft kaum mehr als melodisch amorphe
Elemente des musikalischen Grundmaterials, wie Intervallsprünge, Dreiklänge und
Skalenabschnitte, und sich deshalb relativ ähnlich.
Im Gloria und im Credo ist die persönliche Andacht ebenso wichtig wie in Kyrie und
Benedictus. Die strukturelle Zergliederung und Dramatisierung des Messetextes tragen jedoch nicht
38
Thayer, Band 3, S. 45 ff. Im Kyriethema durchlaufen die Oberstimmen dass Intervall einer Sexte. Das “Christe” steigt
in T. 38 zur Sexten der Tonart auf und fällt dann wieder. Das Gloriamotiv erhebt sich in T. 9 auch bis zur Sexten. Das
“qui tollis” erreicht in seiner zweiten Phrase in T. 146 ebenfalls dieses Intervall. Ebenso findet es sich im “cum Sancto
Spiritu” (erstmals in T. 239) und an vielen anderen Stellen in allen Sätzen der Messe.
19
direkt zur Erweckung von Andacht bei, wie dies durch die emotionale Gefühlsvermittlung in den
anderen beiden Sätzen geschieht. Nur an einzelnen Stellen entspricht die Dramatik auch gewissen
hinter dem Text stehenden Emotionen, wie beispielsweise dem “adoramus” (Gloria T. 48 ff.) oder
den verschiedenen “miserere” Rufen im Gloria und im Agnus Dei (am stärksten gefühlsmässig
aufgeladen im Agnus Dei T. 77 ff.) Die eigenständige musikalische Vertonung der einzelnen
Aussagen, die Übertragung des Sprachcharakters auf die Ebene der Musik und das Bemühen um die
strukturelle Verschmelzung von Text und Musik zu einer Einheit belegen zwar eine intensive
persönliche Beschäftigung des Komponisten mit der Vorlage und sein Bestreben, diese “würdig”
umzusetzen. Ein subjektives Glaubenserlebnis ist dem Hörer allerdings nicht durch die direkte
Wirkung der Musik, sondern erst nach eigener Auseinandersetzung mit dem auf diese Weise
plastisch gestalteten Text möglich. Um so erstaunlicher ist es, dass E. T. A. Hoffmann, der in seiner
Rezension von der Kategorie der Andachtserweckung auszugehen scheint, sich nicht negativ über
Beethovens Verfahrensweise in diesen Messteilen äussert. 39
5.5. Gloria und Credo
Schon im Übergang des langsamen und innigen Kyrieschlusses zum schnellen und
dramatischen Gloriabeginn, der nun im Fortissimo stehend alle zur Verfügung stehenden
klanglichen Mittel aufwendet, liegt ein starker Kontrast, anders als in den meisten Zeitgenössischen
Werken, in denen ja bereits im Kyrie ein festlicher und majestätischer Charakter vorherrscht. Die
ersten zwei Gloriatakte mit ihrem akkordischen “Gloria”-Ruf und den begleitenden Achtelketten
unterscheiden sich nicht von traditionellen Mustern. Der Satzfluss wird aber danach durch eine fast
zweitaktige Generalpause jäh unterbrochen. In T. 5 wiederholen sich die beiden ersten Takte auf der
vierten Stufe, worauf auf die unbetonte Taxtzeit in den Frauenstimmen sogleich das Hauptmotiv des
Satzes einsetzt, dessen Charakter sich vom Vorangehenden völlig unterscheidet, nur von den
Violinen colla parte begleitet wird und dem Satz einen ganz neuen Impuls verleiht. Am nächsten
kommt diesem Anfang von den sechs letzten Haydn-Messen die “Theresienmesse”. Auch hier
pausiert der Chor nach dem ersten “Gloria” während eines Taktes und führt das zweite anders
weiter. Dies geschieht aber ohne jeglichen Bruch und Charakterwechsel. Ausserdem wird der Chor
von einer durchgehenden und vereinheitlichenden Orchestermotivik getragen.
In T. 10 von Beethovens Op. 86 nimmt der Chorbass das Hauptmotiv auf. Die drei oberen
Stimmen kommen akkordisch hinzu, ebenso das volle Orchester. T. 13 bringt wieder
homorhythmische “Gloria”-Deklamationen mit rhythmischen Verkürzungen des Motivs. Diese
führen zum Höhepunkt in den Takten 15 und 16, welche charakterlich dem Anfang entsprechen.
Wieder wird der Fluss gestoppt durch den Eintritt des subito piano in T. 17 und die nur von den
ersten Geigen und den Celli vorgetragenen, gewissermassen vom Himmel zur Erde hinabsteigenden
Figuren, die zum “et in terra pax” überleiten. Diese Stelle kontrastiert auch in den Messen Haydns
mit dem Vorangehenden und zeichnet sich durch eine Zurücknahme der Dynamik, eine Reduktion
des Orchestersatzes und oft auch einen Tonartenwechsel aus. Beethoven reduziert die Beteiligung
des Orchesters auf ein Minimum und setzt den Chor sprachnah deklamierend ein. Das folgende
“bonae voluntatis” ist zwar auch noch homorhythmisch gesetzt melodisch aber viel bewegter und
wieder mit etwas grösserer Orchesterbeteiligung. In T. 28 ändert sich das Satzbild erneut, indem die
von Instrumenten verdoppelten Chorstimmen dieselben Worte nun in einer kurzen Imitation forte
vortragen. Der nächste Einschnitt findet sich bereits in T. 37. Wieder im Piano und akkordisch
gesetzt wiederholt der Chor, jetzt a capella und plastisch klar aus dem Satzzusammenhang gelöst,
die Worte noch einmal. Daraufhin bricht das volle Orchester im Forte herein und steht im
kontrastierenden Wechsel zu den aus dem musikalischen Fluss heraustretenden a-capellaAkklamationen des Chors “laudamus te” und “benedicimus te”. An dieser Stelle erfolgt der erste
motivische Rückgriff auf das Hauptmotiv, allerdings nicht im Chor sondern im Orchester.
Ausserdem stehen diese Akklamationen dem anfänglichen “gloria” inhaltlich nahe, so dass man
39
Kunze, S. 252 ff.
20
nicht von einem willkürlichen oder nur musikalisch-formal bedingten Einsatz des Motivs sprechen
kann. In Haydns “Theresienmesse” greift das Orchester ebenfalls wieder das Anfangsmotiv auf,
jedoch nicht als Kontrast, sondern ganz im Gegenteil, zur Beibehaltung eines einheitlichen Flusses.
Beethovens Umsetzung nahe steht hingegen Haydns Version in der “Paukenmesse”, wo sich
ebenfalls Orchester und a-capella-Chor abwechseln.
Nach dem Forte-“benedicimus” folgt in der C-Dur-Messe, wiederum aus dem
Satzzusammenhang gerissen, als abrupter Kontrast das schon erwähnte “adoramus te” im Piano, in
bedeutend tieferer Lage und auf einem B-Dur-Klang. Ein Wiener Kritiker schrieb dazu: “Das
demüthige Adoramus te nach dem rauschenden Benedicimus te und dem jubelvollen Laudamus te
ging wie ein elektrischer Schlag unter die Betenden; sie alle fühlten, welche Anbethung in Demuth
dem höchsten Wesen gebühre. 40” Dies zeigt, dass auch in einem zergliederten und dramatischen
Umfeld die Vertonung gewisser Worte dem Inhalt entsprechende Gefühle hervorrufen kann. Das
anschliessende “glorificamus”, das zunächst im Orchester, dann auch im Chor das Hauptmotiv
sequenzierend wieder aufnimmt und fortspinnt, entspricht schliesslich doch eher wieder einer
traditionellen Umsetzung des “Gloria”-Jubels.
Wie gesehen folgen sich also auf engem Raum zahlreiche Brüche und neuansetzende
Motive, die einen einheitlichen Grundimpuls immer wieder stören und verunmöglichen. Nicht nur,
dass ein neuer Text auch eine neue Motivik und Satzgestaltung mit sich bringt, auch auf den
gleichen Text, wie beim “bonae voluntatis”, können Impulswechsel stattfinden. Gerade diese
Uneinheitlichkeit mag unter anderem Fürst Nikolaus II missfallen haben. Ausserdem droht eine
solchermassen zergliederte Komposition bei einer mangelhaften Einstudierung und Aufführung,
wovon im Falle des Op. 86 ausgegangen werden kann, um so stärker auseinanderzufallen. Es lassen
sich auch Parallelen zu Beethovens Orchesterwerken erkennen. Die ersten drei Symphonien riefen
verschiedenen Rezensionen zufolge bei den Hörern vor allem Befremden hervor. Man warf den
Werken das Fehlen von Übersichtlichkeit und Mass vor. Sie hätten keine innere Struktur, seien
regellos, ungeordnet und überladen, enthielten zu starke klangliche Reize und seien deshalb im
Ganzen unverständlich 41. Wenn schon der weltlichen Gattung der Symphonie eine solche Kritik
zuteil wurde, wie sollte denn auf eine solche Vertonung in der Kirchenmusik, die sich allen
Neuerungen gegenüber konservativ verhielt, anders als mit Ablehnung reagiert worden sein?
Die ersten Geigen leiten in T. 71 des Gloria von Beethovens C-Dur-Messe mit einer Figur,
die etwas an jene in T. 17 erinnert, über zum “Gratias agimus”-Teil. Dieser ist formal sehr
übersichtlich gestaltet. Das “Gratias agimus tibi...” und die drei “Domine Deus”- bzw. “Domine
Fili”-Anrufungen bilden jeweils eine Einheit, in welcher der Solotenor als Vorsänger eingesetzt ist
und der Chor, dieselbe Motivik aufgreifend, antwortet. Das Orchester begleitet die Gesangsstimmen
mit fast durchgehenden, aber in einem durchbrochenen Satz vorliegenden Legato-Vierteln. Die
musikalischen Einheiten entsprechen verbalen syntaktischen Gliedern und widerspiegeln dadurch
den Satzbau, wobei die Kadenzen die Interpunktion vertreten. Neben den gleichbleibenden
Orchestervierteln und dem Dialog zwischen Solotenor und Chor verdeutlicht auch die identische
Rhythmisierung von “Domine Deus” und “Domine Fili” den Parallelismus zwischen den drei
Anrufungen, während die unterschiedlich ausgeformte Melodik und der Wechsel der Harmonie auf
die geänderten Inhalte hinweisen.
Wiederum leiten gebundene Viertelnoten die Fortsetzung ein. Der Tradition folgend
wechseln zu Beginn des “qui tollis” Tempo, Metrum und Tonart, doch fällt dies nach den früheren
kontrastreichen Passagen nicht mehr aussergewöhnlich ins Gewicht. Die pochenden Viertel der
Instrumentalbässe und die Synkopen der drei oberen Streicherstimmen verbreiten zu Beginn des
Abschnitts eine aufgewühlte Stimmung. Darüber legt sich die kantable Melodie der Altstimme bis
in T. 147 der Chor zuerst piano dann forte dazu kontrastierend die eindringlichen Worte “miserere
nobis” deklamiert. Der Einschnitt ist hier allerdings noch nicht so stark wie später in diesem Satz
40
Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode Nr. 153 vom 23. Dezember 1819, S. 1265 f., zitiert nach
Friesenhagen, S. 139
41
Schmitt, Ulrich: Revolution im Konzertsaal. Zur Beethoven-Rezeption im 19. Jahrhundert, Mainz, 1990, S. 22 ff.,
nach Friesenhagen, S. 237
21
und im Agnus Dei, doch scheint die dem Sprachgestus nachempfundene Umsetzung die gewünschte
Wirkung erzielt zu haben. In der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode war am
23. Dezember 1819 zu lesen: “Das auffallende Miserere, Miserere ergriff um so mehr, da nicht
leicht Einem die verwandten Töne unbekannt geblieben sind. 42” Ein Vorbild für diese Art der
Vertonung fand Beethoven an der entsprechenden Stelle in Haydns “Nelsonmesse”. Dort fehlt aber
die recht wirkungsvolle seufzerähnliche Dissonanz (T. 148 und 150). Die nun folgende Entwicklung
des “qui tollis”-Motivs wird zunächst von den ab T. 160 einsetzenden “suscipe”-Seufzern abgelöst
und schliesslich vom in T. 163 ff. plötzlich a capella rezitierenden Solistenquartett vollends
unterbrochen. Nach einer variierten Wiederholung der Takte 160 ff. ändert sich der Charakter des
Satzes in T. 176 von neuem. Der Chor erhebt sich mit einer majestätischen Dreiklangsmotivik im
Unisono und wird von den Streichern concitato-artig begleitet. Der Höhepunkt ist in T. 179 mit dem
Fortissimo und der Beteiligung aller Stimmen, ausser den Gesangssolisten, erreicht. Der markante
Oktavsprung im Chor unterstützt von der eine Oktave durchlaufenden Zweiunddreissigstelfigur der
Streicher und Bässe kann sicherlich als figural-rhetorische Darstellung des allumfassenden,
allmächtigen und auch richtenden Gottes gesehen werden. Doch ist die Stelle auch ohne ToposVerständnis von überwältigender Wirkung, zumal sich daran sogleich im subito piano die
dissonierenden “miserere”-Seufzer von T. 147 anschliessen. Diese werden hier abwechselnd vom
Chor und von den Bläserstimmen vorgetragen. Die Ausdrucksintensität nimmt nun wieder etwas ab
und anstelle der sprachhaften Deklamation tritt mit einem Anklang an das Kyrie-Thema in T. 188
eine melodischere Ausformung. Nach einer zunehmenden harmonischen Verdichtung ab T. 197
ertönen nun im Piano, zunächst nur noch von pochenden Streicher- und Bassvierteln begleitet,
nochmals sprachhafte, ehrfurchtsvolle “miserere”-Bitten, gleichsam in einem Gebetstonfall, der die
Bitte um Erbarmen nicht nur strukturell, sondern auch direkt emotional vermittelt.
Die Überleitung zum “quoniam tu solus” erfolgt erneut durch Viertelfiguren, diesmal in den
Holzbläsern. Dieser dritte Satzteil des Gloria ist durch seine Anlage und die inneren motivischen
Verbindungen von bedeutend grösserer Kohärenz geprägt als die vorangehenden und nähert sich
dadurch der Tradition stark an. Das Orchester nimmt während zehn Takten das “quoniam”-Thema
des Chores vorweg, der es dann umfangreicher ausgestaltet aufgreift. Das Motiv in T. 229 spielt
deutlich auf das Gloria-Hauptmotiv aus T. 8 an, womit ein struktureller Bezug zum ersten Satzteil
gegeben ist. Die Einbindung des Chores in den Orchestersatz geschieht hier eher traditionell. In T.
238 beginnt das “cum Sancto Spiritu”, das nun eine Fuge einzuleiten scheint. Thematisch ist es klar
mit dem “quoniam” verknüpft, ist doch das Motiv in T. 240 mit jenem in T. 230 identisch. Diese
Motividentität lässt sich jedoch nicht nur musikalisch, sondern auch durch die sich nahestehenden
Textinhalte rechtfertigen. Wer sich aber auf eine rauschende Schlussfuge gefreut hatte, wird bereits
fünf Takte nach dem letzten Themeneinsatz im Sopran enttäuscht. In T. 254 setzt nämlich der
Chorbass wieder mit dem “quoniam”-Thema ein und unterbricht die Entwicklung. Die folgenden
Figuren zu “tu solus” sind Umkehrungen des “cum Sancto”-Dreiklangs, während gleichzeitig
mehrmals der Anfang des “quoniam”-Themas im Orchester stufenversetzt und immer in einer
anderen Stimme wiederholt wird und in den mittleren Chorstimmen in T. 270 ebenfalls wieder
erklingt. T. 280 bringt darauf wieder das fugierte “cum Sancto Spiritu”. Das polyphone Gefüge
reicht bis T. 314, wo der Chor plötzlich dazu kontrastierend in akkordischen halben Noten und in
einer harmonischen Verdichtung von Pausen durchsetzte “amen” deklamiert. Nach Erreichen des
Höhepunkts im Fortissimo, wechselt der Charakter des Satzes erneut. Die Frauen- und
Männerstimmen tragen jeweils paarweise gekoppelt abwechselnd das variierte “quoniam” im Piano
vor, bevor sie sich ab T. 330 wieder in homorhythmischer Deklamation zum Fortissimo steigern
und in T. 332 gar überraschend vom Orchester unbegleitet auftreten. Die Aufnahme des “cum
Sancto”-Themas, das den Rest des Satzes bestimmt, erfolgt in T. 335 wiederum in Stimmenpaaren.
In T. 343 greift der Solosopran dasselbe Thema zum Wort “amen” auf und in Takt 350 singt der
Chor auf die ersten drei, nun um das vierfache gedehnten, Töne des Themas denselben Text.
Bemerkenswert ist hier der Kontrast zwischen dem ersten, im Piano vorgetragenen und nur von den
den Chorbass stützenden Fagotten und Celli begleiteten “amen” und dem zweiten, das im Forte
42
Zitiert nach Friesenhagen, S. 139
22
steht und sämtliche Instrumente beschäftigt. Schon zwei Takte später findet sich erneut eine
gegenteilige Lautstärke und der Chor ist während dreier Takte a capella gesetzt. In der Folge werden
die Takte 342 bis 356 in variierter und etwas erweiterter Form wiederholt und der Gloria-Satz
dadurch abgeschlossen.
Bei Haydn ist das “quoniam tu solus” und besonders das “cum Sancto Spiritu” jeweils
relativ kurz gehalten und, bis auf einige Takte in der Theresienmesse, durchwegs homorhythmisch
gestaltet. Eine ausführlichere, polyphone, oft (ausser in der “Pauken-” und “Theresienmesse”)
fugische Vertonung bleibt den Worten “in gloria Dei Patris” und “amen” vorbehalten. Obwohl nun
Beethoven den gesamten Text des dritten Gloria-Teilsatzes in die Schlussbildung mit einbezieht,
und obwohl sich dieser Abschnitt besonders durch eine grosse motivische Kohärenz auszeichnet
und zahlreiche Rückgriffe und Kombinationen aufweist, entsteht darin kein einheitlicher Charakter.
Die beiden dominierenden Themen sind zwar miteinander verwandt, aber doch klar ihren jeweiligen
unterschiedlichen Textworten zugeordnet. Ausserdem führen die zahlreichen dynamischen,
satztechnischen, harmonischen und klanglichen Kontraste und Wechsel eine gewisse Kleinteiligkeit
herbei, die einen geschlossenen musikalischen Fluss verunmöglicht und dadurch auch den Zuhörer
nicht zur Ruhe kommen lässt.
Wie dass Gloria so ist das Credo aufgrund seines bekenntnishaften und prosaischen
Charakters nicht für eine direkt emotionalisierende Vertonung geeignet, weshalb Beethoven zur
Textvermittlung auch hier das Mittel der inneren Differenzierung und strukturellen Dramatisierung
anwendet. Der Beginn des Credo-Satzes erinnert an die Praxis der Orchestermessen des 18.
Jahrhunderts. Die Chorblöcke besitzen lediglich harmonische Funktion und sind ins instrumentale
Geflecht eingebunden. Die Fagotte und Celli eröffnen das Credo im Piano mit einem DreiklangsAchtelmotiv, das im Verlaufe des ersten Teilsatzes als Begleitfigur immer wieder aufgenommen
wird und vereinheitlichend wirkt. In T. 3 setzt der Chor mit einem Unisono-“Credo” ein. In T. 4
übernehmen die Violinen das Begleitmotiv im Pianissimo. Danach folgen drei weitere akkordische
Choreinwürfe. Durch die Verkürzung der Pausen zwischen den Rufen, die rhythmische Diminution,
die Beschleunigung der harmonischen Wechsel und das Crescendo vom Piano zum Forte erhält
dieser Beginn einen sehr dynamischen Charakter und entwickelt sich auf ein Ziel hin, das in T. 9
erreicht wird. An diese spannungsvollen Anfangstakte schliesst sich ein eher statischer Abschnitt
an. Den majestätischen, scharf punktierten Fanfaren der Bläser und der Pauke im Fortissimo
antwortet der in den Orchestersatz eingebundene Chor mit den Worten “in unum Dominum” und
“patrem omnipotentem”. Nach einem imitatorischen Motiv zu “factorem coeli et terrae” folgt zu
instrumentalen Sforzati auf unbetonte Taktzeit das “visibilium omnium”, welches ab T. 26
homorhythmisch deklamiert vorgetragen wird. Durch eine kurze Generalpause abgetrennt singen die
Chorstimmen darauf, in völligem Kontrast zum Vorangehenden, im Piano, unisono und nur von den
gezupften Streichern verdoppelt “et invisibilium”.
Das Bekenntnis zur zweiten göttlichen Person ist ab T. 31 wieder mit dem Achtelmotiv des
Beginns verknüpft, wodurch die Einheit zwischen Gottvater, und -sohn auch musikalisch umgesetzt
erscheint. Nicht nur die göttliche Einheit wird aber so dargestellt, sondern auch der Beginn einer
neuen textlichen Einheit. Danach beginnt, immer noch in derselben Satzstruktur eine Modulation,
die über a-Moll (T. 44) nach Es-Dur (T. 54) moduliert. In T. 49 folgen sich einige imitierende,
majestätisch punktierte “ante omnia”-Rufe, die in T. 51 in ein Unisono des Chors münden, wobei
das in T. 52 reduzierte Orchester nur noch colla parte begleitet. Drei markante ganztaktige Akkorde
der Streicher und Fagotte kündigen im Piano den nächsten kontrastierenden Abschnitt an. Von den
fp-Akzenten des Orchesters gestützt, singen die Chorstimmen in jeweils zweitaktiger, auch als
abbildhafte Rhetorik deutbarer, Imitation “Deum de Deo” und “lumen de lumine”, bevor sie in T.
65 erneut im Unisono und von den fortissimo spielenden Streichern verdoppelt in Okavsprüngen
“Deum verum” deklamieren. In schnellem Wechsel folgen sich darauf Orchestereinwürfe auf den
unbetonten dritten Taktschlag und unbegleitete akkordische “genitum”-Rufe, an die sich in T. 71, in
einer nochmaligen Zurücknahme der Satztechnischen Mittel, das durch eine Generalpause
abgetrennte, a capella und unisono vorgetragene “non factum” reiht. Das anschliessende
23
neuansetzende “consubstantialem patri” beginnt imitatorisch, entwickelt sich aber rasch zu einem
pausendurchsetzten akkordischen Satz und wird vom Orchester mit dem bekannten Achtelmotiv
begleitet. Dessen Anwendung ergibt sich hier ebenfalls aus der Verknüpfung mit der göttlichen
Person und aus dem Text, in dem auch der Relativsatz “per quem omnia...” direkt zu “patri” (T. 74)
in Bezug steht. Den Höhepunkt dieses Abschnitts bilden die dem “Deum verum” ähnlichen
Unisono-Oktavsprünge des “omnia” mit abschliessendem Dreiklangs-Abstieg. Das begleitende
Achtelmotiv wirkt zwar, wie verschiedene Begleitfiguren bei Haydn auch, eher vereinheitlichend.
Bei Beethoven bleibt der musikalische Fluss allerdings nicht über weite Strecken bestehen, sondern
er wird durch die beschriebenen markanten Einschnitte unterbrochen.
Das nun folgende “qui propter” bezieht sich nicht nur textlich durch den Relativsatz,
sondern auch musikalisch durch die Rückkehr nach C-Dur auf “et in unum Dominum” (T. 33). Die
ersten paar Takte besitzen mit ihrer im Piano vorgetragenen, kantablen Melodik einen gänzlich
entgegengesetzten Charakter als das unmittelbar Davorstehende, um dann allerdings in T. 102
bereits wieder zum Fortissimo und einer auf Intervallsprünge beschränkten Motivik
zurückzukehren. Zum vollen Orchester deklamieren die Männer- und Frauenstimmen jeweils
paarweise gekoppelt abwechselnd und mit zunehmendem Ambitus “descendit” und finden dann bei
“de coelis” wieder zu homorhythmischer Akkordik. Der Abschnitt von “qui propter” bis “de coelis”
wird in Moll und etwas variiert wiederholt und moduliert nach B-Dur, der Dominante vom Es-Dur
des mittleren Satzteils.
Fast rhapsodisch im Charakter und an die verschiedenen Überleitungsfiguren im Gloria
erinnernd, führt die Klarinette den Adagio-Teilsatz ein. Mit ihrem absteigenden Motiv verbindet
sich, wie bereits mit der Moll-Wendung des “qui propter” und der Wahl einer dunkleren Tonart für
das Adagio, das Bild der Erniedrigung Christi durch dessen Menschwerdung. Wie in allen HaydnMessen ist auch in Beethovens Komposition der Beginn dieses Mittelteils den Solisten vorbehalten.
Begleitet wird das Solistenquartett von den gezupften Streichern. In den Takten 141 und 143 finden
sich in der Klarinette und im Fagott bzw. in den Streichern bereits Chiasma-Motive als figurale
Abbilder des Kreuzes. Der ruhige Charakter des Satzes verändert sich aber vorerst auch während
des “et homo factus est” des Solotenors nicht. In T. 147 aber fällt der Chorbass dem Solisten
gleichsam ins Wort. Das “crucifixus”, nun im Forte stehend, erhält durch die Concitato-Figuren der
oberen Streicherstimmen, die Synkopen der Flöten und Oboen und durch zahlreichen Sforzati einen
dramatischen Charakter. Die übrigen Chorstimmen nehmen die rhythmische Form des vom Bass
vorgegebenen “crucifixus”-Motivs auf, variieren aber dessen melodische Komponente. Das
folgende, fast sprachhaft deklamierte “sub Pontio Pilato” geht zwar aus diesem Motiv hervor, steht
ihm aber durch die gegenteilige Dynamik, die chromatische, dem passus duriusculus ähnliche
Linienführung, den Unisono-Satz und die colla-parte-Begleitung kontrastierend entgegen. In T. 155
findet sich bereits der nächste Einschnitt. In der Klarinette und im Fagott erklingt wieder ein
Chiasma-Motiv, in dem sich mit je einer verminderten Quinte, Septime und Quarte gleich mehrere
saltus duriusculi folgen, und das jeweils den letzten sonst unbetonten Achtel des Takts akzentuiert.
Die Verwendung des Chiasma im Zusammenhang mit der Kreuzigung ist für die Kirchenmusik der
Klassik völlig untypisch und lässt den Schluss zu, dass sich Beethoven nicht erst im Hinblick auf
seine zweite Messe eingehend mit älterer Kirchenmusik, beispielsweise Bach, auseinandergesetzt
hat. Zu diesem Motiv spielen die Streicher die unbetonten Taktachtel, wovon der erste jeweils
piano, der zweite forte gesetzt ist. In dieses spannungsvolle Umfeld setzen nun auch die Solisten
ein, mit ihren versetzten, teilweise synkopischen, im Piano gehaltenen Ausrufgesten zu “passus”.
Spannungsverstärkend wirken auch die chromatischen Vorhalte in verschiedenen Stimmen. Zu den
Worten “et sepultus est” scheint sich der Satz zu beruhigen, bevor in T. 164 plötzlich wieder das
Forte hereinbricht und der Ausdruck und die Dramatik stark zunimmt, durch das Tremolo der
zweiten Geigen, die Akkordbrechungen in den ersten Violinen und Bratschen, das
Nebeneinanderstellen tonartlich entfernter, unaufgelöster verminderter Septakkorde und die
erneuten, aus einem verminderten Septimensprung bestehenden Exklamationsmotive der Solisten,
die zudem im Dialog mit dem akkordischen Chor stehen. Nach Erreichen des Fortissimo in T. 168
folgt eine Variante der Takte 155 und 156 mit dem Chiasma-Motiv. Daran schliesst sich als völliger
24
Gegensatz im Piano, zum Pianissimo hin abnehmend, das harmonisch stabile und diatonisch
kadenzierende “et sepultus est” an.
Die strukturelle Dramatisierung des Textes, die hier auch mit einer emotionalen einhergeht,
zeigt, dass Beethoven die Textvorlage in jedem ihrer einzelnen Bestandteile ernstgenommen hat.
Die inhaltlich differenzierten verbalen Glieder und die aufzählende Form des Textes finden in einer
solchen kleinteiligen musikalischen Umsetzung ihre Entsprechung. Als äusserstes Gegenbeispiel
lässt sich der schon erwähnte Mittelabschnitt des Credo aus Haydns “Harmoniemesse” anführen, in
dem durch eine durchgehende Triolenbegleitung zugunsten eines starken Zusammenhalts jegliche
strukturelle Dramatik vermieden wird. Aber auch in der “Nelsonmesse”, die bezüglich einer
derartigen Vertiefung in den Text am weitesten geht, sind die Einschnitte bei weitem nicht so stark,
so zahlreich und von einer so grossen Vielzahl kontrastierender Mittel geprägt wie In Beethovens
Werk. Hier wird kein Zustand und kein statischer Affekt wiedergegeben, sondern eine inhaltliche
Entwicklung, eine Dramatisierung durch innere Differenzierung. Es findet keine Gestaltung auf rein
musikalischer Ebene statt, durch Ausbildung und Wiederholung fasslicher Motive. Motivrückgriffe
sind immer Textbedingt. Doch die Wiederholung von Textworten ist nicht einfach mit dem
Aufgreifen eines unveränderten musikalischen Motivs verbunden. Im Falle von “passus” und “et
sepultus est” knüpft Beethoven in der Wiederaufnahme des Textes zwar an den jeweiligen
Charakter, die Stimmung und die Motivik der beiden Aussagen an, jedoch in einer entwickelnden
Art, die den Ausdruck und den Kontrast gesteigert wiedergibt.
Von drei auftaktigen Achteln der Streicher eingeleitet, beginnt in T. 183 der dritte Teilsatz
des Credo, Allegro ma non troppo, im  -Takt, und in C-Dur. Es sei hier allerdings nochmals gesagt,
dass die traditionelle Unterteilung des Satzes in drei Abschnitte aufgrund der durchgehenden
starken Zergliederung nicht mehr dasselbe Gewicht hat wie noch bei Haydn. Der Solobass setzt auf
der Doppeldominante der Tonart von den Streichern colla parte begleitet ein, mit einer Motivik, die
durch ihren rezitativartigen Gestus den Charakter einer Verkündigung annimmt. Der Chor nimmt
das Thema auf und steigert sich vom vollen Orchester begleitet in den Takten 195 ff. zu
majestätischer Dreiklangsbrechung im Unisono. In T. 102 beginnt wieder ein kurzer, in eine
Triolenbegleitung des Orchesters eingebetteter imitatorischer Abschnitt. Nachdem der Chor in T.
208 erneut zu akkordischem Gesang zurückgefunden hat, folgen einige Takte, die in ihrer
Ausgestaltung dem “laudamus te” und “benedicimus te” im Gloria (T. 41 ff.) ähnlich sind. Die
Fanfarenmotive der Blechbläser und der Pauke in den Takten 209 und 211 kündigen das hohe
göttliche Gericht an und stehen im Wechsel mit dem unisono, a capella und sprachnah
deklamierenden Chor in den Takten 210 und 212. In den folgenden Takten hebt ein Registerwechsel
den Gegensatz zwischen “vivos” und “mortuos” hervor. Angesichts der Vertonung ähnlicher
Gegensatzpaare, wie beispielsweise “visibilium” und “invisibilium” (T. 23 ff.), verwendet
Beethoven hier allerdings schon fast bescheidene Mittel, zumal unter anderem die Dynamik und die
durchlaufende Triolenbegleitung unverändert bleiben. Allgemein wirkt der dritte Credo-Teilsatz
durch eine Zurücknahme der starken kontrastierenden Mittel über weite Strecken homogener als
andere Abschnitte. Die nächste Chorimitation ab T. 216, immer noch von Triolen begleitet, gipfelt
im Unisono der drei oberen Stimmen in T. 223 und dem abschliessenden Einklang aller
Chorstimmen zu “non, non”. Ein Triller-Motiv in den Bässen und die durchbrochen weitergeführte
Triolenbewegung führen zum solistisch vorgetragenen ”et in Spiritum Sanctum...”. Bemerkenswert
ist die vom Fagott in T. 232 gespielte Figur, die hier fast leitmotiv-ähnlich auf das “cum Sancto
Spiritu“ im Gloria (T. 240) anspielt. Von einem Trompeten- und Paukensignal eingeführt,
verkündet der Chor in T. 247 ff. wiederum im Unisono und fast nur auf einem Ton rezitierend
fortissimo “qui locutus est per prophetas”, noch immer in dieselbe Streicherbegleitung eingebunden
und von Trompeten und Pauke skandierend gestützt. Die Takte 254 ff. entsprechen den Takten 226
ff. Wie schon im ersten Satzteil zu den Worten “Credo” und “in unum Dominum” (T. 31)
widerspiegelt hier die motivische Wiederholung die Wiederholung der aufzählenden Textstruktur.
Der unterschiedliche Sinngehalt des Textes wird dann durch die verschiedene musikalische
Weiterführung verdeutlicht. Während diese in T. 230 ff. den Solisten vorbehalten war, so ist es jetzt
der Chor, der plötzlich im Piano, fast unbegleitet und im Unisono in einer aufsteigenden Skala “et
in unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam” vorträgt. Ausser in der “Pauken-“ und der
25
“Schöpfungsmesse“ ist dieser Text auch in Haydns Messen im chorischen Einklang gesetzt. In T.
268 findet sich der nächste, wieder etwas stärkere Einschnitt. Ähnlich wie in den Takten 41 ff. des
Gloria und 209 ff. des Credo wechseln sich hier das volle Orchester und der unbegleitete Chor mit
kurzen Forte-Einwürfen ab. Auf das dreitaktige imitierende “resurectionem” in T. 273 ff. folgt als
Kontrast das in tiefer Lage im Piano gesungene “mortuorum”.
Den Abschluss des Satzes bildet das “et vitam venturi saeculi, amen”. Wie im Gloria bleibt
dem Zuhörer hier ebenfalls eine festliche Schlussfuge versagt. Noch vor dem letzten Themeneinsatz
im Bass setzt der Sopran bereits wieder aus. Nachdem auch die Bassstimme den Themenkopf
vorgetragen hat, sind zwei instrumentale Takte in kontrastierendem Piano eingeschoben, deren
Motivik aus dem Fugenthema stammt. In T. 298 greifen die drei oberen Singstimmen das Thema in
paralleler Stimmführung subito fortissimo wieder auf. Analog zu T. 296 folgen in T. 304 wieder
instrumentale Zwischentakte im Piano, bevor das Fugenthema in der Stimme der Soloaltistin
erscheint. Paarweise verbunden tragen die sich abwechselnden Männer- und Frauenstimmen des
Chors zum Skalenmotiv aus der Fortsetzung des Themenkopfes (T. 284 ff.) das Wort “amen” vor,
während die Orchesterbegleitung teilweise weiterhin von der Fugenmotivik bestimmt wird. Die
Takte 318 ff. bringen eine Engführung des Themas im Forte, das sich zum Fortissimo steigert. Nach
einer Fermate auf der Dominante in T. 332 nehmen die Gesangssolisten das Thema wieder auf,
ebenso nach einem Unterbruch durch fortissimo skandierte “amen”-Rufe des Chors in T. 337 ff. In
T. 343 beginnt dann die letzte Steigerung, die zum Abschluss des Credo im Fortissimo führt. Zur
Schlussgestaltung in diesem Satz, ebenso wie im vorangehenden Gloria, ist zu sagen, dass hier, im
Vergleich mit anderen Stellen, die musikalische Fassung gegenüber der Textübermittlung stärker an
Bedeutung gewinnt und sich insofern einer traditionelleren Umsetzung nähert. Im Vergleich mit
Haydn fehlt aber eine gewisse Grossflächigkeit und Nahtlosigkeit.
5.6. Sanctus und Agnus Dei
Das Sanctus ist sowohl den gefühlsvermittelnden wie auch den strukturell dramatisierten
Sätzen zuzurechnen. Anders als im Kyrie und im Benedictus ist es hier nicht die Erweckung von
Andacht, die im Vordergrund steht, sondern eher ein Gefühl von Ehrfurcht vor der Heiligkeit
Gottes. Die Dynamik geht im ganzen Abschnitt nicht über das piano hinaus, nimmt im Gegenteil
gegen Ende sogar zum dreifachen piano hin ab. Nach einer viertaktigen Orchestereinleitung nimmt
der unbegleitete Chor dasselbe Motiv zunächst auf, um es dann deklamierend, gleichsam
choralähnlich psalmodierend und enharmonisch wendend weiterzuführen. In Takt 10 setzt das
Orchester wieder ein. In den Pauken und Bässen ertönt ein von auftaktigen ZweiunddreissigstelTriolen geprägtes Tremolomotiv, dessen bedrohliche Wirkung einzig durch die LegatoDreiklangsbrechungen der ersten Violinen etwas abgeschwächt wird. In Takt 13 bricht nun die
düstere Stimmung vollends durch. Die Harmonie wechselt abrupt in die erniedrigte zweite Stufe,
also nach B-Dur. Verstärkt wird der Bruch durch das subito piano, in der Pauke sogar pianissimo,
nach vorangegangenem Crescendo. Der aus dem Triolenmotiv erwachsende Paukenwirbel wirkt
äusserst fahl und angsteinflössend. Der den Text eindringlich deklamierende Chor wird nun nur
noch von der Pauke begleitet, die den Sprachrhythmus skandiert und damit die Betonung der von
den Stimmen “gesprochenen” Worte verstärkt. Der Chor schliesst mit einem phrygischen Schluss
auf A-Dur, das sich in der Folge als Dominante des anschliessenden “pleni sunt coeli” herausstellt.
Klarinetten, Fagotte und Hörner nehmen die Schlusswendung des Chores auf, während der
Paukenwirbel im dreifachen Piano den Zuhörer noch einmal erschauern lässt. Die strukturelle
Kurzgliedrigkeit, die starken Kontraste auf engem Raum, die sprachnahe Textdeklamation, die
relative harmonische Instabilität, der sehr dünne Orchestersatz, die Zurücknahme der musikalischen
Parameter und die düstere Stimmung erzeugen ein Gefühl der Atem-, Halt- und Hilflosigkeit. Die
anfängliche Demut der ersten Sanctus-Rufe steigert sich zu höchster innerer Gefühlsintensität, zu
erstarrender Ehrfurcht vor dem allmächtigen Gott. Der Satz bildet somit einen klaren Gegensatz
zum später folgenden, Erlösung verkündenden, sanften Benedictus. Er steht aber auch in völligem
Widerspruch zur Tradition. Die Sanctus Sätze von Haydn besitzen alle einen feierlichen,
26
schreitenden teilweise fast majestätischen Charakter. Sie weisen eine homogene, undramatische
Form und klare harmonische Verhältnisse auf. Durch die Zurücknahme der Dynamik an einigen
Stellen und besonders am Ende (ausser in der “Harmoniemesse”) ist zwar bei Haydn ebenfalls eine
demütige Haltung vorhanden, doch steigert sich diese nicht wie bei Beethoven dramatisch bis zur
Erstarrung, sondern leitet den festlichen Jubel des “pleni sunt coeli” ein. Zudem ist in Haydns
Sätzen die Beteiligung des Orchesters, dem in der Schöpfungsmesse sogar eine zehntaktige
Einleitung übertragen wird, bedeutend grösser, und die Vokalstimmen sind gewissermassen in den
Orchestersatz eingebettet. Im Gegensatz dazu steht in Beethovens Version, wie schon im
Benedictus gesehen, die vokale Komponente, und mit ihr die Deklamation des Textes, klar im
Vordergrund. Das Tremolomotiv kann zwar als Topos verstanden werden, als Zittern derer, die das
Gericht erwarten, doch bedarf es zum Verständnis von Beethovens Sanctus des rationalen Überbaus
der Figurenlehre wohl kaum. Beethoven muss sich der barocken rhetorischen Bedeutung des
Tremolo nicht zwingend bewusst gewesen sein.
Einzelne Elemente, die Beethoven in seinem Sanctus anwendet, sind im Agnus Dei von
Haydns “Paukenmesse” und im Sanctus seiner “Schöpfungsmesse” zu finden. Das Sanctus von
Hummels Es-Dur-Messe, Op. 80, weist ebenfalls gewisse Parallelen auf. In den genannten Sätzen
von Haydn spielt die Pauke ein Motiv, das jenem Beethovens ähnlich sieht. Es fehlen aber die
Steigerung zum erschauernden Wirbel und die den Text betonende Skandierung. Die Pauke
erscheint ausserdem nicht so dominant und als einziges Begleitinstrument, sondern ist meist in den
Orchestersatz eingebaut. Zwar tritt sie besonders in der “Paukenmesse” an einigen Stellen
bedeutend hervor, ist dabei aber in einen grösseren, harmonisch ausgewogenen, Rahmen eingepasst,
in dem insgesamt doch die melodisch kantabel ausgestalteten Vokalstimmen oder das motivischthematische Orchester vorherrschen. Es ist wohl kein Zufall, dass das Sanctus der
“Schöpfungsmesse“ mit 35 Takten das bei weitem ausgedehnteste von Haydn ist. Bei Hummel
ertönt nach den beiden ersten, noch vom Orchester gestützten Sanctus-Rufen jeweils ein
Paukenwirbel. Danach trägt der Chor die restlichen Worte in einem lieblichen, stile-anticoähnlichen a-capella-Gesang vor, der, was die Stimmung angeht, eher Beethovens Benedictus
gleicht. Auch hier herrschen stabile harmonische Verhältnisse vor. Beethoven übernimmt nun zwar
die Elemente der Pauke und des a-capella-Satzes, verwendet sie aber, wie gesehen, viel zugespitzter
und wirkungsvoller zur dramatischen Steigerung. Wie in Gloria und Credo liegt in diesem Sanctus
eine dramatisierende Umsetzung des Textes vor. Die strukturelle Dramatik geht aber zusätzlich mit
einer emotionalen einher, so dass der Satz, was die direkte Vermittlung von Gefühlen angeht, mit dem
Kyrie und dem Benedictus verglichen werden kann.
Auf das “pleni sunt coeli” und das “osanna”, das sich im Benedictus identisch wiederholt,
wird hier nicht eingegangen, da die Abschnitte kaum von der überlieferten Tradition abweichen.
Das lässt sich damit erklären, dass der durch den Text vorgegebene Jubelcharakter natürlich schon
zur extrovertierten Festlichkeit eines Fürstenhofes sehr gut gepasst hatte und auch keiner Vertonung
der Einzelworte bedurfte.
Im Agnus Dei verbinden sich ebenfalls strukturelle und emotionale Dramatik. Im ersten
Satzteil bis T. 35 werden dreimal die Worte “Agnus Dei...” gesungen, wobei Beethoven nach der
ersten Anrufung das “miserere nobis” weglässt. Die Motivik ist in allen drei Abschnitten dieselbe,
die einzelnen Worte sind denselben Figuren oder ihren Ableitungen zugeordnet. Die
Sprachhaftigkeit steht gegenüber einer melodischen Ausformung stärker im Vordergrund als im
anschliessenden “dona nobis pacem”. Die Anlage der drei Abschnitte ist trotz ihrer Parallelitäten
alles andere als statisch. Die zahlreichen verminderten Akkorde, die sich ständig verändernde
harmonische Grundlage, die sich entwickelnde melodische Gestalt, die schroffen Pausen, die
Variierung der Phrasenlänge, der Rhythmik und der Motivelemente rufen eine grosse Spannung
hervor, deren Ziel das erlösende, ruhigere und stabilere “dona nobis pacem” ist. Der Charakter des
Teils entspricht dem eines fast verzweifelnden, eindringlichen, drängenden Hilferufs und einer Bitte
um Erlösung. Die Tonart c-Moll etabliert sich an keiner Stelle des Satzteils als Zieltonart, sie ist nur
Ausgangspunkt eines harmonischen Ganges, der bis zum Erreichen des C-Dur zu Beginn des
zweiten Satzteils reicht. Lediglich in den ersten drei Takten breitet sich die Tonika als Klangfläche
27
aus. In taktweisem Aufbau erklingt in drängenden Achteltriolen zuerst nur der Grundton, dann die
Mollterz dazu und schliesslich auch die Quinte, wobei in den zwei ersten Takten die erste
Takthälfte jeweils den Klarinetten und Fagotten vorbehalten ist. Nach der Komplettierung des
Tonikaakkords in T. 3 wird der harmonische Rhythmus gleichzeitig mit dem zum Forte
crescendierenden Einsatz der Chorstimmen beschleunigt. Auf einen Dominantseptimakkord auf
dem dritten Taktschlag folgt kurz ein Tonikaakkord, worauf der Satz auf einem unaufgelösten
verkürzten Dominantseptnonakkord, der auf eine Fortführung gerichtet ist, vor einer Generalpause
innehält. Es folgen, wieder im Piano, sequenzierte, nach Atem ringende “qui tollis”-Motive, mit
Vorhalten auf “tollis”. In T. 8 wiederholt sich der Anfang variiert und gesteigert, nun von g-Moll
ausgehend. Daran schliessen sich von neuen akkordbrechenden Motiven begleitete “miserere”Seufzer und -Rufe an, unterbrochen von den Triolenfiguren der während zweier Takte unbegleitet in
Erscheinung tretenden und kadenzierenden Soloklarinette. eine variierte Form der Takte 1 ff und 8
ff., gekoppelt mit dem Akkordbrechungsmotiv in der Klarinette, leitet die dritte, wiederum
gesteigerte, Anrufung ein. Zu dem Wort “peccata” setzt der Chor, vom ganzen Orchester begleitet,
im Forte zu einem kurzen Fugato an, ehe in T. 32 das “miserere” verkürzt wiederaufgegriffen wird.
Die Überleitung zum “dona nobis pacem”-Teil erfolgt mittels eines sequenzierten, “dolce”
vorgetragenen und nur von einigen vorweggenommenen leisen “dona” akkordisch gestützten
Triolenmotiv der Soloklarinette. Diese solistische Einlage scheint sogar E. T. A. Hoffmann verstört
zu haben, der sonst fast nur lobende Worte für Beethovens Komposition findet. In der AmZ schreibt
er 1813 dazu: “Ob aber Stellen, wie die folgende, welche auch schon bey dem Schluss des Agnus
vorkommt, nicht zu opernmässig klingen, lässt Rec. dahin gestellt seyn; 43” Im Gegensatz zum
vorangehenden Satzteil kehrt nun, ganz dem Text entsprechend, harmonisch Ruhe und Frieden ein.
Die Tonika wird kaum je verlassen, und der Satz gliedert sich in eine Abfolge kurzer C-DurPerioden mit einer schnellen Kadenzierung fast jeder Motivgruppe. So beispielsweise in den Takten
43, 45, 49, 57, 61 und 65. Es liegt also eine harmonische Geschlossenheit vor, die eine dramatische
Formkonzeption auf dieser Ebene verunmöglicht. Beethoven verlässt jedoch das Prinzip der
Kontrastbildung im Dienste einer plastischen Herausstellung der Textworte nicht ganz. Es tritt aber
nur stark abgeschwächt in Erscheinung. Die “pacem”-Einwürfe des Chors in T. 50 ff. fallen kaum auf.
In diese unbeschwerte Stimmung bricht nun in T. 65 zur Wiederholung der Worte “Agnus
Dei” mit aller Gewalt eine Episode von höchster emotionaler Intensität herein. Schon der gänzlich
unliturgische Rückgriff auf den “Agnus Dei”-Text mitten im “dona”-Teil wäre Grund genug zur
Kritik gewesen. Wie schon frühere Stellen gezeigt haben, ist eine Textwiederholung bei Beethoven
aber zudem immer mit einer Steigerung des Ausdrucks verbunden. So beginnt der Abschnitt hier
plötzlich wieder in c-Moll, mit Paukenwirbeln und Streichertremolo - teilweise in Akkordbrechung
-, und steigert sich unter Beteiligung des gesamten Orchesterapparates und des Chores zum
Fortissimo in Takt 73. Die Dramatik und die Spannung erhöhen sich noch durch die scharf
akzentuierten Synkopen und den ab T. 71 während 12 Takten unaufgelösten, stellenweise zum
Septnonakkord erweiterten, Akkord auf der Doppeldominante. Innerhalb dieses harmonischen
Schwebezustandes ändert sich der Charakter der Musik in T. 77 erneut radikal. Das Orchester ist auf
die pianissimo spielenden Bässe und Violinen reduziert, die, sich komplementär ergänzend, das
pochende Metrum markieren. Das nach dem verzweifelten Aufschrei des vorangehenden “Agnus
Dei” vom Chor rezitierte “miserere” gleicht nur noch einem angstvollen Flüstern und kommt der
gesprochenen Sprache äusserst nah.
Die Rückkehr zum “dona“ in T. 82 ff. geschieht, analog zur Überleitung in T. 36 ff., über die
Triolen der Soloklarinette. Die folgen Takte sind praktisch mit dem ersten “dona”-Abschnitt
identisch, bevor in T. 108 eine kurze Imitation einsetzt. Ganz der “laudamus te”-Stelle aus dem
Gloria (T. 41 ff.) entsprechend, tragen die Fagotte und Hörner alleine das “dona”-Motiv vor, das im
übrigen dem Gloriamotiv sehr ähnlich sieht, worauf der Chor, nur von den Streichern verdoppelt,
antwortet. Dasselbe wiederholt sich sechs Takte später. Der Chor weicht allerdings kurz nach E-Dur
aus um dann aber sogleich wieder nach C-Dur zu kadenzieren. Die Takte 132 ff. bringen die letzten
24 Takte in leicht veränderter Form wieder. Nach weiteren 12 Takten, in denen sich in den
43
Kunze, S. 263
28
Instrumentalstimmen teilweise sequenzierte Teile des “dona”-Motivs finden, und die Singstimmen
schliesslich auf einem über drei Takte ausgehaltenen c liegenbleiben, nimmt Beethoven zum
“dona”-Text das Kyriethema des Anfangs wieder auf und rundet damit den Zyklus ab. Übrigens
zeigt sich in der direkten Gegenüberstellung des Hornmotivs in T. 178 und des Flötenmotivs in T.
179 die enge Verwandtschaft zwischen dem Kyrie- und dem “dona”-Thema.
Das “dona nobis pacem” unterscheidet sich von der Tradition, ähnlich wie das Kyrie, durch
den Verzicht auf einen festlichen, pompösen und majestätischen Affekt. Es verbreitet sich eher eine
erhebende Stimmung, in welcher der Frieden verkündet und auch vermittelt wird. Ausserhalb der
“Agnus Dei”-Episode spielen Pauken und Trompeten nur zweimal sieben Töne auf den ersten
Schlag (T. 108, T. 132), mit der Anweisung “sempre piano”, während das ganze übrige Orchester
und der Chor im Forte stehen. Der Satz, und damit die ganze Messe, endet im piano, mit der
Reprise des innigen Kyrie-Themas. Die Schlussabschnitte der letzten sechs Messen Haydns
enthalten zwar durch den Einsatz der Solisten oder durch eine Zurücknahme der Dynamik bis zum
Pianissimo auch zurückhaltendere Stellen, enden aber schliesslich doch im rauschenden Forte. Die
Wiederaufnahme des Kyriethemas im “Dona nobis pacem” war eine durchaus übliche Praxis.
Ungewöhnlich ist bei Beethoven nur, dass dieses Thema lediglich in den letzten Takten wieder
aufscheint, gewissermassen als Reminiszenz, während in der Tradition im Falle eines solchen, oft
aus praktischen Gründen erfolgenden, Rückgriffs der ganze “dona”-Text zur Musik des Kyrie
vorgetragen wurde. Die zuversichtliche Stimmung, von der die Bitte um Erbarmen im Kopfsatz
geprägt war, überträgt sich hier auch auf die Bitte um Frieden. Insofern könnte das Kyrie auch als
Prolog angesehen werden, der das Ende schon vorwegnimmt.
6. Widersprüche in der C-Dur-Messe
Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen lassen sich rund um die C-Dur-Messe von
Beethoven eine Reihe von Missverständnissen, Widersprüchen und Paradoxa aufzeigen. Diese
Widersprüche finden sich zwischen der Intention des Komponisten und der an ihn gestellten
Erwartungen, zwischen der tatsächlichen und der erwarteten Wirkung des Werks, im Werk selbst
und zwischen Beethovens Absicht und dem durch deren Umsetzung erzieltes Resultat.
Die Intentionen, die Beethoven bei der Komposition seiner C-Dur-Messe umzusetzen
versuchte entsprachen wie gesehen nicht den Erwartungen, die Fürst Nikolaus II von Esterházy, an
die Komposition einer Festmesse stellte. Beethoven war sich dessen wohl bewusst und deshalb auch
etwas besorgt 44. Das Erwecken von Andacht und eines persönlichen religiösen Empfindens passten
nicht in einen Rahmen, in dem der höfische Prunk und die repräsentative Darstellung
herrscherlicher Grösse im Vordergrund stehen sollten. Wohl war Nikolaus’ Auftrag der Anstoss zur
Entstehung dieses Werks gewesen, doch scheint Beethoven bei dessen Ausarbeitung nicht
besonders auf den Anlass Rücksicht genommen zu haben. Ganz ähnlich verhielt es sich ja auch mit
der Missa Solemnis. Das ursprünglich für das Hochamt am 9. März 1820 anlässlich der
Inthronisationsfeier des Erzherzogs Rudolph als Erzbischof von Olmütz geplante Werk vollendete
Beethoven erst drei Jahre nach dem feierlichen Anlass. Zu seinem Vorteil hatte er dieses Werk aus
eigenem Antrieb zu komponieren begonnen und war somit eigentlich nicht durch einen Auftrag an
eine bestimmte Lieferfrist gebunden. In der Folge blieb zwar der Widmungsträger derselbe, die
einstige Bestimmung der Messe geriet aber zur Nebensache.
Die besonders in den textreichen Sätzen stark zergliederte Messe konnte allerdings die
fürstliche Gesellschaft auch unabhängig von des Komponisten Aussageabsichten nicht
zufriedenstellen. Es gibt kaum Momente, die dem festlichen Anlass auf gewohnte Art und Weise
gerecht werden. Das Kyrie und das Benedictus stehen der Tradition zwar noch am nächsten.
Insbesondere der Kyriesatz aber, der das festliche Hochamt angemessen eröffnen sollte, besitzt wohl
einen feierlichen, jedoch eher innerlich erhebenden als majestätisch repräsentierenden Charakter.
Nirgends in der ganzen Messe bietet sich dem Zuhörer die Möglichkeit, sich dem Genuss einer
44
vgl. S. 3
29
festlichen, rauschenden Musik und grossen, zusammenhängenden Klangflächen hinzugeben.
Bruchstück folgt auf Bruchstück. Auch eine echte Fuge, der Höhepunkt aller musikalischen Kunst,
sonst ein Muss in jeder Messvertonung, die als etwas gelten will, fehlt in Beethovens Op. 86. Die
fugenartig ansetzenden Schlüsse der Messe könnten sogar als klägliche und misslungene Versuche
des Komponisten missverstanden worden sein. Zudem mochten die übertriebenen, scharfen
Kontraste und sprachhaften und emotionalisierenden Elemente dem Publikum wohl vulgär
vorgekommen sein, denn aus Sicht der Kirche und des fürstlichen Auftraggebers hatte eine
Ordinariumsvertonung nicht opernhaft-subjektiv zu sein, sondern musste eine der Materie würdige
Objektivität bewahren.
Auch in der Komposition selbst treten Widersprüche auf. Auf der einen Seite steht
Beethovens Idee mit seiner Art der Textvertonung dem Gläubigen zu einem subjektiven
Glaubenserlebnis zu verhelfen, in ihm “religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen”.
Der Mensch steht im Zentrum und auf das Menschengeschlecht sollen mit Hilfe der musikalischen
Umsetzung die vom Text ausgehenden “Strahlen der Gottheit” verbreitet werden. Diese Verbreitung
soll zudem durch Aufführungen auch ausserhalb des Kirchenraumes und durch eine Druckausgabe
des Werks begünstigt werden. Auf der anderen Seite steht der hohe Kunstanspruch des Werks. Der
Komponist wird selbst zum Schöpfer eines Kunstwerks und ist nicht mehr nur Diener an der
Schöpfung und am Wort Gottes. Beethovens subtile Textbehandlung ist nicht für jeden
verständlich. Es fehlt über weite Strecken eine eingängige, volkstümlich-liedhafte Melodik wie sie
beispielsweise in den sehr volksnahen Ruralmessen zu finden ist. Zudem ist eine Aufführung wegen
des benötigten grossen Orchesterapparates immer mit grossem Aufwand verbunden, was einer
wirklich grossen Verbreitung zu einer Zeit, als noch keine Tonträger existierten, im Wege stand.
Die Puristen und Befürworter einer “wahren Kirchenmusik” hofften, gerade durch die Abkehr von
grossen Orchestermessen zugunsten einer neuen Schlichtheit die Andachtserweckung steigern zu
können und hatten damit im Grunde eigentlich dasselbe Ziel wie Beethoven. Von der geforderten
Schlichtheit kann bei ihm allerdings nicht die Rede sein.
So verständlich Beethovens Absicht nach der vorangehenden Analyse erscheint, so
unverstanden blieb sie für seine Zeitgenossen und so entgegengesetzt fällt deren Wirkung aus. Für
den Hörer, der sich nicht so intensiv mit Beethovens Textvertonung auseinandergesetzt hat, findet
diese auf einer viel zu hohen geistigen Ebene statt. Zwar erhält jede Aussage ihre eigene
musikalische Umsetzung, durch die sie in ihrer Eigenständigkeit hervorgehoben und wodurch die
Struktur der Vorlage ersichtlich wird. Aber gerade diese angestrebte Einheit von Text und Musik,
diese Übertragung der Heterogenität innerhalb des prosaischen Messetextes auf die musikalische
Ebene, was eine stärkere Vergegenwärtigung des Textes und eine subjektive Auseinandersetzung
mit demselben ermöglichen und bewirken soll, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuhörers vom Text
weg, hin zur Musik. Denn wurde der Text bis anhin auf eine homogene, im Affekt innerhalb
grösserer Abschnitte nicht so stark und häufig wechselnde Musik gesungen, in der die
wiederkehrenden Motive in musikalisch logischerer und verständlicherer Art geordnet waren, so
konnte den Worten grössere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier aber, wo die Musik in immer
neue, gegensätzliche und nicht in einer musikalisch logischen Form angeordnete Affekte und
Motive zergliedert ist, findet der Zuhörer keine stabile Basis vor, keine musikalische Umsetzung,
die ihm einen gewissen Halt bieten könnte, der ihm eine stärkere Anteilnahme am Text ermöglichte.
Freilich verhindert zwar Beethoven durch seine Art der Vertonung, dass sich der Zuhörer einem
einheitlichen musikalischen Fluss geniessend hingeben kann, und entspricht dadurch wohl
unbewusst den Forderungen der Gegner aufwendiger Kirchenmusik. Denn der Gläubige sollte
schliesslich nicht zum Musikgenuss, sondern wegen des Gottesdienstes zur Kirche gehen. Die
Ablenkung vom Wesentlichen, vom Text, ist aber durch die angewandten Mittel und die immer neu
eintretenden musikalischen Ereignisse zu gross, obwohl diese ja gerade textbedingt sind. Man
könnte sogar den Eindruck bekommen, Beethoven habe hier, ungeachtet der Gattung und des
Textes, seine musikalischen Ideen zu verwirklichen gesucht und in den Vordergrund gerückt, er
habe also gänzlich am Text vorbei komponiert. Beethoven erreicht also mit seiner Vorgehensweise
in den textreichen Sätzen gerade das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt. Tatsächlich war ja in
den traditionellen Messkompositionen die Musik und vor allem deren instrumentale Komponente
30
form- und strukturbildend. Der Text wurde dabei nur sekundär berücksichtigt. Dadurch blieb er aber
vom kompositorischen Geschehen weitgehend unangetastet und behielt somit eine gewisse
Eigenständigkeit. Bei Beethoven nun steht der Text im Zentrum der Komposition. Die Musik hat
sich nach ihm zu richten, ist also im Prinzip äusserst textdienlich. Durch die oben beschriebene
Übertragung der Form, Struktur und Syntax des Textes auf die Musik strebt der Komponist eine
grösstmögliche Verschmelzung der Wort- und der Tonebene an. Der Text wird so ein Teil der
Komposition. Paradoxerweise verliert er gerade hier, wo er grössere Beachtung findet und sogar
bestimmender Ausgangspunkt der Vertonung ist, seine Eigenständigkeit.
7. Schlusswort
Als Fürst Nikolaus II von Esterházy Beethoven mit der Komposition einer Messe
beauftragte, erwartete er wohl ein auf den betreffenden Anlass, den Namenstag der Fürstin,
zugeschnittenes Werk. Durch seine Abweichung vom traditionellen “Kirchenstil” geht Beethoven in
der Messe aber weit über die Erfüllung der Funktionalität hinaus. Ausgehend von seinen Absichten
und Idealen begnügt er sich nicht mit der Reproduktion eines Typs, sondern wirkt einer Bewahrung
von Konventionen entgegen. Er schreibt nicht ein an höfische Repräsentation oder andere
ausserhalb liegende Faktoren und zeremonielle Vorschriften gebundenes und entsprechend
gestaltetes Werk, sondern eines, das sich durch seine Authentizität und durch seine
eigenschöpferische Natur als Original von der in der Tradition verhafteten Kirchenmusik abhebt.
Anstelle eines Stücks Gebrauchsmusik schafft er also ein autonomes Kunstwerk, das zwar auch für
einen Einsatz in der Liturgie vorgesehen ist, aber über diese dienende Funktion hinaus geht und
ebenso ausserhalb des Kirchenraumes aufgeführt werden soll.
Kaiser Joseph II hatte mit seinen kirchlichen Reformen unter anderem einen Gottesdienst
angestrebt, der nicht mehr auf äusserlichen Prunk ausgerichtet sein, sondern den einzelnen
Gläubigen zu einer persönlichen Anteilnahme am Wort Gottes und zu innerer Andacht verhelfen
sollte. Dadurch gewann der liturgische Text an Bedeutung, was dessen musikalische Umsetzung
beeinflussen sollte. Puristen forderten die Abkehr von der aufwendig gestalteten Orchestermesse
und teilweise gar die Rückkehr zur einzig “wahren Kirchenmusik” nach dem Vorbild des 16.
Jahrhunderts. Auch Beethoven war das starke Eingehen auf den Ordinariumstext wichtig. So ist in
seiner Vertonung der Text der Zentrale Faktor, der die musikalische Komposition bestimmt, ohne
dass der Komponist deshalb auf die Verwendung aller ihm zur Verfügung stehenden musikalischen
Mittel verzichtet. Beethovens Absicht ist es, dem Publikum den Text so direkt wie möglich zu
vermitteln. Er wendet sich ab von der Einhaltung einer objektiven Distanz, von der Beibehaltung
eines einheitlichen Affekts, von einer weitgehenden Homogenisierung des musikalischen Satzes
und von barocken Satzformen. Auch der Einsatz von abbildhaften Figuren ist unbedeutend.
Beethoven behandelt den Text, wie er an Breitkopf & Härtel selbst schreibt, tatsächlich auf eine
neue Art. In den Sätzen Kyrie und Benedictus geschieht dies ausgehend von einer Ausdrucks- und
Gefühlsästhetik, deren Ziel es ist, die Textworte auf direktem emotionalen Weg zu vermitteln. In
den textreichen Sätzen ist dies aufgrund des prosaischen, lehrhaft aufzählenden und reihenden
Charakters der Sprache nicht möglich. Deshalb versucht Beethoven dort mit Mitteln des Kontrastes
und der strukturellen Dramatisierung, durch die Ausprägung einer differenzierten Motivik und die
Anwendung unterschiedlichster Satztechniken, die Heterogenität und den Sprachcharakter der
Textvorlage in ihrer Struktur hervorzuheben. Die plastische Vergegenwärtigung des Ordinariums
wird vom amorphen Text selbst bestimmt und unterliegt nicht der Formung nach einer
eigengesetzlichen musikalischen Logik. Die Worte und die dazugehörige musikalische Umsetzung
verschmelzen zu einer Einheit. Die dramatisierenden Kompositionsmittel, die ausserhalb der
Kirchenmusik schon länger ihre Gültigkeit besassen, sind nicht grundlegend neu. Neu ist nur ihre
Übernahme in die Messkomposition. Im Sanctus, im Agnus Dei und an einzelnen Stellen des Gloria
und des Credo ist die auf diese Weise erfolgende Vergegenständlichung des Textes zudem ebenfalls
mit einer unmittelbaren emotionalen Gefühlsvermittlung verbunden. Mit Hilfe der verschiedenen
Ebenen der Textvertonung beabsichtigt Beethoven dem Hörer eine subjektive Auseinandersetzung
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mit dem Text, eine persönliche Anteilnahme zu ermöglichen und “die strahlen der Gottheit unter
das Menschengeschlecht (zu) verbreiten.” Man kann allerdings nicht leugnen, dass der grosse
Aufwand, mit dem sich eine Aufführung des Werks verbindet, und die eher vom Text ablenkende,
statt ihn vermittelnde Art der Vertonung die Erweckung von Andacht und das Erleben
verinnerlichter Religiosität, ausser im Kyrie und im Benedictus, nicht gerade begünstigen.
Freilich hat Beethoven für sein Werk gewisse Elemente im Bereich des Grossformalen von
Haydn übernommen, und auch im Kleinen finden sich Anknüpfungspunkte. Bei Beethoven fehlt
jedoch ein gewisses Gleichgewicht. Haydn erlaubte sich auch gewisse Freiheiten, wie zum Beispiel
den Paukeneinsatz im Agnus Dei der “Paukenmesse”. Doch kommen derartige Extravaganzen bei
ihm nicht so gehäuft und zugespitzt vor wie bei Beethoven. In der “Nelsonmesse”, wo sich wie
gesehen eine der C-Dur-Messe von Beethoven ähnliche sprachhafte “miserere”- und “benedictus”Deklamation findet steht dem beispielsweise im ersten Teil des Credo als Gegengewicht ein
nüchterner, völlig undramatischer Kanon gegenüber. An anderen stellen wird die den Vokalstimmen
enthaltene Dramatik durch eine durchgehende Orchesterbegleitung verschleiert und abgeflacht.
Insgesamt geht Haydn viel weniger weit, was eine Vermittlung von Gefühlen oder eine
Dramatisierung des Textes betrifft, und wenn er sich an einzelnen Stellen doch in diese Richtung
bewegt, so fehlt die bei Beethoven durchgehaltene Konsequenz.
Die erfolglosen ersten Aufführungen in Eisenstadt und in Wien lassen sich nach diesen
Ergebnissen durchaus erklären. Die Gründe für eine Ablehnung der C-Dur-Messe durch den Fürsten
waren wohl letztlich in erster Linie der Mangel an Festlichkeit und Repräsentation, die fehlenden
Klangflächen und Fugen, die allzu zahlreichen, als zu opernmässig empfundenen Freiheiten
(insbesondere die “Agnus Dei”-Episode), die Bruchstückhaftigkeit und Formlosigkeit. Doch bei
einer ernsthaften Vorbereitung, seriösen Einstudierung und qualitativ guten Aufführung hätte Fürst
Nikolaus II vielleicht nicht ganz so abschätzig und erbost reagiert. Denn trotz, oder gerade wegen,
der strukturellen Dynamisierung und Dramatik, der Zergliederung des Textes durch seine
musikalische Umsetzung zur Erlangung hoher Plastizität, muss die Musik Zusammenhalt haben,
zusammenhängend und fliessend vorgetragen werden, und nicht eine statische Aneinanderreihung
der einzelnen Wort-Ton-Einheiten bleiben. Diese Schwierigkeit, die in dieser Messe zweifelsohne
grösser ist als bei irgend einer Haydn-Messe, konnte die fürstliche Hofkapelle aber offensichtlich
nicht überwinden.
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