Theorien des Wählerverhaltens Die ersten Untersuchungen zu den Gründen der Wahlerfolge der NSDAP enstanden bereits in den dreissiger und vierziger Jahren (Ortega, 1932; Heberle, 19341 und 1945, Lederer, 1940, Loomis und Beegle, 1946 sowie Pratt, 1948). Von diesen frühen Studien ist wegen ihrer grossen Gründlichkeit vor allem Heberles Arbeit hervorzuheben, auch wenn sie regional auf Schleswig-Holstein begrenzt ist. Heberle untersuchte - von den frühen, örtlich aber sehr unterschiedlichen Wahlerfolgen der NSDAP im ländlichen Schleswig-Holstein veranlasst - Anfang der dreissiger Jahre die Einflussgrössen für den Stimmenanteil der NSDAP. Neben der Auswertung von veröffentlichten Statistiken unternahm er dazu auch Interviews unter der ländlichen Bevölkerung.2 Er kam zum Ergebnis, dass vor allem Gebiete mit Milchwirtschaft als vorherrschender Produktionsform - diese waren von der Landwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre am schlimmsten betroffen - einen weit überdurchschnittlichen NSDAP-Anteil aufwiesen. Bereits in dieser frühen Untersuchung wird die Wirtschaftskrise - hier in der Ausprägung des drastischen Preisverfalls für landwirtschaftliche Güter - als kritischer Faktor für den Aufschwung der Nationalsozialisten in den Vordergrund gestellt. Indem er neben der mittelständischen landwirtschaftlichen Produktionsform auch den Protestantismus als weitereren Schlüsselfaktor für die Wahlerfolge der Nationalsozialisten identifizierte, enthielt Heberles Arbeit einen weiteren wichtigen Aspekt, auf den spätere Theorien der NSDAP-Wähler aufbauten. Basierend auf früheren Arbeiten von Ortega (1932) und Lederer (1940) wurde in den fünfziger und frühen sechziger Jahren vor allem von Bendix (1953), Kornhauser (1959) und Arendt (1961) die sogenannte Massentheorie zur Erklärung der Verbreitung des Faschismus im Europa der Zwischenkriegszeit entwickelt. Sie besagt, dass in einer Massengesellschaft, in der starke förmliche Bindungen, wie durch Glaubenszugehörigkeit oder Vereinszugehörigkeit immer mehr an Bedeutung verlieren, und die Individuen daher infolge bedeutender politischer und wirtschaftlicher Krisen - wie in der Weimarer Republik durch den Verlust des Ersten Weltkrieges, die Hyperinflation oder die Grosse Depression - sozial entwurzelt worden und so Heberles Veröffentlichung aus dem Jahr 1934, die noch vor dem vollständigen Wirksamwerden der nationalsozialistischen Zensur in einer deutschen Zeitschrift erschienen war, ist eine stark verkürzte Fassung seiner später erschienen Veröffentlichungen (Heberle, 1945 und 1963). 2 Heberle kann damit als einer der Begründer der modernen Wahlforschung gesehen werden, welche ja die Einflüsse für die Popularität von Parteien und Politikern überwiegend mit Hilfe von Individualumfragen ermittelt. 1 für extremistische Massenbewegungen anfällig geworden seien. Dieses Phänomen treffe vor allem auf die Masse der jüngeren, städtischen Bewohner zu (Brustein, 1999, S. 1305). Die noch immer am weitesten verbreitete Auffassung über die nationalsozialistischen Wahlerfolge stellt die vor allem von Lipset (1960) bekannt gemachte Mittelstandstheorie dar. Sie besagt, dass sich der vorwiegend aus Handwerkern, selbständigen Landwirten, Besitzern kleiner Läden und Angestellten zusammensetzende kleine Mittelstand als Hauptverlierer der ökonomischen Konzentration und Zentralsierung sich von den etablierten poltischen Parteien im Stich gelassen gefühlt hätten. Offensichtliches Zeichen für diese Konzentraion waren die Entstehung grosser Warenhäuser oder die Bildung von Konzernen und landwirtschaftlicher Grossbetriebe. Daher sei der kleine Mittelstand für die NS-Propaganda, die speziell auf die Bedürfnisse dieser Gruppe zugeschnitten war, besonders anfällig gewesen. Die Wahlerfolge der NSDAP werden in dieser Theorie als Resultat der rechtsgerichteten politischen Radikalisierung des Mittelstandes infolge tatsächlicher oder erwarteter Verschlechterung der materiellen Lage analog zur Radikalisierung der Arbeiter zur linksextremen KPD gesehen (Brustein, 1998, S. 1306). Die Theorie des politischen Konfessionalismus, die auf Burnham (1972) zurückgeht, steht zwischen der Massen- und der Mittelstandstheorie. Zwar sei nach Burnhams Ansicht tatsächlich der überwiegende Anteil der NSDAP-Anhänger im mittelständischen, bürgerlichprotestantischen Lager angesiedelt gewesen. Der Grund dafür resultiere aber weniger aus bestimmten Klasseninteressen, sondern der Tatsache, dass dort keine intensiven Parteienbindungen vorhanden waren. Katholiken und Angehörige der industriellen Arbeiterschaft waren dagegen in ein dichtes Netzwerk von sozialen Bindungen eingeflochten, das sich in eine starke Parteienbindung an die jeweilige politische Interessenvertretung - für die Katholiken das Zentrum (die BVP in Bayern) und für die Arbeiter die KPD -, übersetzte. Die Angehörigen dieser beiden Gruppen wurden dadurch weitgehend gegen die nationalsozialistische Propaganda immun. 3 Diese Resistenz der Katholiken gegen neue gesellschaftliche Trends wurde auch von Durkheim (1951) nachgewiesen, der zeigte, dass Angehörige der Römisch-Katholischen Konfession weniger anfällig für Selbstmord waren als Protestanten. 3 In einer Untersuchung über wahlbeeinflussende Faktoren für nordost-amerikanische Städte können Segal und Meyer (1968) die Resistenz von Wählern gegen nachbarschaftliche Ansteckung durch politisch anders Orientierte neben den Katholiken auch für Juden nachweisen. Auch Putnam (1966) weist darauf hin, daß allgemein Angehörige einer religiösen Minorität (Katholiken und Juden) wegen dem geringeren sozialen Austausch der Minderheitengruppe mit dem Rest der Gemeinschaft weit weniger vom politischen Kontext betroffen sind als die religiöse Mehrheitsgruppe (Protestanten). Beginnend mit Hamilton (1982) und Childers (1983) hat sich in den achtziger Jahren eine Richtung entwickelt, deren gemeinsames Herangehen darin besetand, Thesen über die Wahlerfolge der NSDAP-Wähler konsequent anhand vorhandener Daten zu überprüfen. Im Unterschied zu früheren Untersuchungen, die - wenn überhaupt - nur fallsweise empirisch argumentierten, wurden hier state of the art-Techniken aus der Politikwissenschaft oder Soziologie eingesetzt. Übereinstimmendes Ergebnis dieser Veröffentlichungen ist, dass die NSDAP ihre Wahlerfolge in sozio-strukturell ganz unterschiedlichen Kreisen erzielen konnte, und die Nationalsozialisten daher Rückhalt in allen sozialen Schichten gehabt haben musste; so habe z.B. auch ein wesentlicher Anteil der industriellen Arbeiter für die NSDAP gestimmt (Falter und Hänisch, 1986). Daher sei sie am zutreffendsten als Volkspartei des Protests zu bezeichnen sei. Vor allem die Forschungsgruppe um Jürgen Falter hat zahlreiche Erscheinungen herausgebracht (u.a. Falter 1980, 1981, 1991, 1993, 1999) und zudem auch einen maschinenlesbaren Datensatzes mit Wahlergebnissen sowie zahlreichen soziostrukturellen und ökonomischen Daten auf Kreis- und sogar Gemeindeebene zusammengestellt, der beim Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (http://www.za.unikoeln.de) angefordert werden kann und der auch die Datengrundlage für diese Untersuchung bildet.4 Es ist das Verdienst dieser Welle von Veröffentlichungen, die Empirie in die Diskussion eingebracht zu haben, wodurch die Güte künftiger Arbeiten über die NSDAPWählerschaft vor allem auch im Vergleich zur bereits vorgebrachten empirischen Evidenz zu beurteilen ist. Vor allem in den neunziger Jahren enstand - zuerst mit dem Namen von William Brustein verbunden - eine neue Welle von Untersuchungen, in der explizit der sektoral und regional differenzierte Einfluss der Wirtschaftskrise und die Veränderung der materiellen Lage der Wähler, die aus ihr folgte, als Hauptgrund für die Entwicklung der Wahlresultate in den Mittelpunkt des Interesses gestellt wurde (Abraham, 1986; Brustein 1990, 1996; Brustein und Ault, 1993; Brustein und Falter, 1994; Falter und Zintl, 1988, Falter, 1992). Bei diesem Ansatz wird die Veränderung der Popularität der Weimarer Parteien darauf zurückgeführt, dass Individuen diejenige Partei wählen, von der sie eine Maximierung ihrer persönlichen Wohlfahrt erwarten. Die Verschiebungen in der Parteienpopularität in der Endphase der Weimarer Republik sei daher darauf zurückzuführen, dass vor allem die NSDAP ihr Programm am besten an die im Verlauf der Wirtschaftskrise veränderten ökonomischen Rahmenbedigungen breiter Wählerschichten angepasst hätte. 4 Zur Beschreibung des Datensatzes siehe Hänisch (1989). Die aktuellste Entwicklung in den Analysen über die Einflussfaktoren für die Wahlerfolge der NSDAP entstand weniger aus der Überlegung heraus, eine inhaltliche Neuerung anzubringen, sondern entsprang vielmehr der Anwendung eines neuen ökonometrischen Ansatzes auf Wahldaten aus der Weimarer Republik. Zwar wurde in den Erscheinungen, die der Welle 'Volkspartei des Protests' zuzurechnen sind, bereits ein empirischer Ansatz verwendet, der den zu diesem Zeitpunkt in den Politikwissenschaften üblichen Verfahren entsprach. Diese reichten von der Berechnung einfacher Korrelationen, über OLS-Regressionen mit Paneldatensätzen bis zur Schätzung von Pfadmodellen mit latenten Variablen. O'Loughlin, Flint und Anselin (1994) setzten dagegen erstmals raumökonometrische Verfahren ein und konnten nachweisen, dass Ansteckungseffekte sowie räumliche Heterogenität einen zusätzlichen, bedeutenden Einfluss für das Zustandekommen der Wahlresultate ausüben. Weitere Arbeiten, die diesen Ansatz verwenden, folgten (Brustein 1998; Flint, 1995, 1998a, 1998 und Stögbauer, 1999). Resistenz oder andererseits besondere Anfälligkeit bestimmter Wählergruppierungen gegenüber der NS-Bewegung werden hier zurückgeführt auf die Einbindung in soziale Netzwerke mit lokalem Bezug. So kann z.B. das in der Theorie des politischen Konfessionalismus enthaltene Element des Widerstands vor allem der Katholiken gegen die nationalsozialistische Propaganda dadurch erklärt werden, dass Angehörige der katholischen Minorität stärker in ihr soziales Netzwerk eingebunden waren als die protestantische Mehrheit in ihres. Literatur Abraham, D. (1986), The Collapse of the Weimar Republic, Holmes & Meier, New York. Arendt, Hannah (1955), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Origonal: The Origins of Totalitarism), Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt. Bendix, Reinhard (1952), Social Stratification and Political Power, American Political Science Review 46/3, S. 357-375. Burnham, Walter (1972), Political Immunization and Political Confessionalism: The United States and Weimar Germany, Journal of Interdisciplinary History 3, S. 1-30. Brustein, William (1990), The Political Geography of Fascist Party Membership in Italy and Germany (1918-1933), in: Hechter, Michael; Opp, Karl-Dieter und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions - Their Emergence, Maintenance and Effects, Walter de Gruyter, New York. und Brian Ault (1993), The Social Origins of Agrarian Nazism, Political Power and Social Theory 8, S. 141-172. und Jürgen W. Falter (1994), The Sociology of Nazism: An Interest-Based Account, Rationality and Society 6/3, S. 369-399. (1996), The Logic of Evil: The Social Origins of the Nazi Party, 1925-1933, Yale University Press, New Haven. und Brian Ault (1998), Joining the Nazi Party, American Behavioral Scientist 41/9, S. 1304-1323. Childers, Thomas (1983), The Nazi Voter: The Social Foundations of Fascim in Germany 1919-1933, The University of North Carolina Press, Chapel Hill. Durkheim, Emile (1951), Suicide, Free Press, Glencoe. Falter, Jürgen (1980), Wählerbewegungen zur NSDAP 1924-1933: Methodische Probleme Empirisch abgesicherte Erkenntnisse - Offene Fragen, in: Büsch, Otto (Hrsg.), Wählerbewegungen in der Europäischen Geschichte, Colloquium Verlag, Berlin, S. 159-202. (1981), Radicalization of the Middle Classes or Mobilization of the Unpolitical?, Social Science Information 20/2, S. 389-430. (1985), Hat Arbeitslosigkeit tatsächlich den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkt?: Eine Überprüfung der Analyse von Frey und Weck, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 200/2, S. 121-136. (1986), Der Aufstieg der NSDAP in Franken bei den Reichstagswahlen 1924-1933, German Studies Review 9, S. 319-359. und Dirk Hänisch (1986), Die Anfälligkeit von Arbeitern gegenüber der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928-1933, Archiv für Sozialgeschichte 26, S. 179-216. Flint, Colin (1995), The Political Geography of Nazism: The Spatial Diffusion of the Nazi Party Vote in Germany, University of Colorado, Dissertation, Ann Arbor, Michigan. (1998a), Forming Electorates, Forging Spaces: The Nazi Party Vote and the Social Construction of Space, American Behavioral Scientist 41/9, S. 1282-1303. (1998b), The Political Geography of the Nazi Party's Electoral Support: The NSDAP as Regional Milieuparteien and National Sammlungsbewegung, The Arab World Geographer 1/1, S. 79-100. Hamilton, Richard (1982), Who voted for Hitler?, Princeton University Press, Princeton. Heberle, Rudolf (1934), Die politische Haltung des Landvolks in Schleswig-Holstein 19181932, Volksspiegel, 1/4. Ortega, y, G. (1932), The Revolt of the Masses, Allen & Unwin, London. Kornhauser, William (1959), The Politics of Mass Society, Free Press, New York. Lederer, E (1940), The State of the Masses, Norton, New York. Lipset, Seymour M. (1960), Political Man, Doubleday, Garden City, NJ. Loomis, Charles und Allan Beegle (1946), The Spread of German Nazism in Rural Areas, American Sociological Review 11, S. 724-734. O'Loughlin, John, Flint, Colin und Luc Anselin (1994), The Geography of the Nazi Vote: Context, Confession, and Class in the Reichstag Election of 1930, Annals of the Association of American Geographers, 84/3, S. 351-380. Pratt, Samuel (1948), The Social Basis of Communism and Nazism in Urban Germany, MAthesis, Michigan State University. Stögbauer, Christian (1999), Measuring the Impact of the Depression on the Radical Vote in the Weimar Republic: A Spatio-Temporal Approach, University of Munich Discussion Paper, 99-11.