Elias Frank Populäre Musik und Medien Musikgeschichte 1 Dozent: Prof. Dr. Sabine Meine 07.07.2016 Neue Musik nach 1945 (nach 1950) Nach Stillstand in den 30er/40er Jahren erfolgte nach dem 2. Weltkrieg ein starker Aufbruch zu Neuem, einschließlich der ungewohnten Erweiterung des Musikbegriffs. Die Musik nach 1950 verlangt eine andere Betrachtungs- und Darstellungsweise als frühere. Die Weltöffnung der Musik, der Pluralismus der Stile, die gleichzeitigen Richtungen, Schulen und individuelle Entscheidungen legen nahe, Zeit und Raum nach 1950 als Einheit zu betrachten. Andererseits gibt es die Generationsfolge und zeitgebundene Tendenzen. Doch bevor ich genauer auf die kompositorischen Entwicklungen eingehe, zunächst zu den Voraussetzungen dafür: Um 1950 empfand man allgemein eine Zäsur: - politisch und moralisch als Neubeginn nach Weltkrieg und Naziregime (“Stunde null“) ästhetisch als Erweiterung des Musik- und Kunstwerkbegriffs, auch des Hörens stilistisch als Ende des Neoklassizismus und Beginn des seriellen Denkens technisch als Aufbruch in die elektronische Musik und in eine neue Klangwelt Diese Einschnitte prägten die kompositorischen Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg, die in der Vorlesung in vier chronologisch angeordnete Phasen unterteilt wurden: 1. 2. 3. 4. 1.) Unge/er-hörtes Nachholen, 1945-1949 Neu beginnen!? Die 1950er Jahre Aufbruch und Öffnung ab den 1960er Jahren Politische Bezüge seit den 1960er Jahren Unge/er-hörtes Nachholen, 1945-1949 Diese Phase der kompositorischen Entwicklungen betrifft die „Vätergeneration“ und steht somit noch im Bann des um 1920 entstandenen Neoklassizismus – eine vom Individuum abgelöste, objektive Kunst, die den Hörer bei klarem Bewusstsein lassen soll. Wie der Titel des Abschnitts bereits verrät, geht es in dieser Zeitspanne darum, die in der NS-Zeit verbotenen Kompositionen zu rehabilitieren. Denn gerade Komponisten der Moderne wurden im Dritten Reich als Vertreter der „Entarteten Musik“ herabgewürdigt, verachtet und politisch verfolgt. Darunter auch die zwei Komponisten Paul Hindemith und Karl Amadeus Hartmann. Ersterer, geboren 1895 in Hanau und gestorben am 28. Dezember 1963 in Frankfurt, verkörperte in besonderem Maße den Typ eines in Theorie und Praxis gleichermaßen versierten “Universalmusikers“. Er reagierte auf das Aufführungsverbot seiner Werke mit Emigration in die USA. Durch sein nach dem 2. Weltkrieg angestrebtes Ziel, das zerstörte Deutschland, sowie die am Ende stehende Gesellschaft durch Musik wiederaufzubauen, wurde er zum Vorbild der Nachkriegsgenration. Passend zu seiner Behauptung „Amateurmusik ist in ihrem Wesen Gemeinschaftsmusik“ hörten wir in der Vorlesung einen Marsch aus seiner musikpädagogischen Komposition “Wir bauen eine Stadt. Ein Spiel für Kinder“. Solche “einfachen“ Stücke erfreuten sich nach dem 2. Weltkrieg großer Beliebtheit und wurden flächendeckend als Animation zur Gemeinschaft an die Schule gegeben. 1 Elias Frank Populäre Musik und Medien Musikgeschichte 1 Dozent: Prof. Dr. Sabine Meine 07.07.2016 Kritik erfuhr Paul Hindemith dadurch von dem berühmten Theoretiker Theodor W. Adorno, der in jener pädagogischen Musik die Gefahr einer Manipulierung der Menschen sah, die erneut zur der Bildung einer “falschen“ Gemeinschaft führen könne. Der zweite, Hartmann, geboren am 2. August 1905 und gestorben am 5. Dezember 1963 in München, war ebenfalls ein deutscher Komponist und großer Symphoniker, dessen Anspruch es war, durch Musik Politik zu machen. Dieser zog sich nach 1933 an den Starnberger See, 25 km südwestlich von München zurück – er emigrierte nach Innen. Dort reflektierte er das große Leid von Gewalt und Krieg kompositorisch. Doch „trotz aller politischen Gewitterwolken, [glaubte er immer] an eine bessere Zukunft.“ Mit dem Ende des 2. Weltkrieges kam es zu den Aufführungen seiner Kompositionen, welche mit großem Interesse gehört wurden. Des Weiteren gründete er 1945 die “musica viva“, eine Münchner Konzertreihe für Neue Musik, welche sich zu einer der bedeutendsten Konzertreihen der zeitgenössischen Musik etabliert hat. Als Beispiel für sein musikalisches Schaffen hörten wir einen Ausschnitt aus seinem Bühnenwerk “Simplicius Simplicissimus. Drei Szenen aus seiner Jugend“, in dem er sich musikalisch mit dem Geschehen des 30-jährigen Krieges auseinandersetzt. 2.) Neu beginnen!? Die 1950er Jahre Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit dem Wunsch der jungen Generation mit der alten zu brechen – etwas Neues zu beginnen. Problematisch war jedoch, dass die Jugendgeneration dafür noch ein großes musikalisches Nachholbedürfnis hatte, da nach 1933 die internationalen Entwicklungen in Deutschland von den Nationalsozialisten systematisch unterdrückt wurden. Aus diesem Grund gründete Wolfgang Steinecke 1946 die Darmstädter Ferienkurse bzw. die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, deren erste Jahrgänge (anknüpfend an Abschnitt 1) unter dem Zeichen der Aufarbeitung standen. Erstmals wurden in Deutschland Werke von Arnold Schönberg, Anton Webern, Igor Strawinsky etc. (mit großer Verspätung) aufgeführt. All dies war Teil eines großen “Förderungsprogramms“ für die junge Musikergeneration. Hans Vogt sagte u.a., dass sich durch das Comeback Schönbergs und Weberns der Trend zur Zwölftonmusik mehr und mehr durchsetzte, von der es nur noch ein kleiner Schritt zum totalen Serialismus war. Wie sich dieser letzte, kleine Schritt vollzog, wurde uns in der Vorlesung anhand des Stückes “Variationen für Klavier op. 27“ von Anton Webern nähergebracht. Dieses ist, was sich schon anhand eines kleinen Partitur-Ausschnitts erkennen lässt, komplett strukturiert aufgebaut, woran die junge Generation großes Interesse empfand. Allerdings diente Webern, mit seiner großen Sympathie für die Architektur der Natur, diese Struktur dem Ausdruck, was sich auch an den vielfältigen AusdrucksEinzeichnungen von Peter Stadlen ablesen lässt. Dieser studierte das Stück 1937 für die Uraufführung mit Webern ein. Die junge Generation hörte nun Jahre später diese Werke, was zur Folge hatte, dass sie den Ausdruck nicht mehr wahrgenommen hat und dementsprechend die Musik anders auslegte. Die Jugend verabschiedete sich vom Ausdrucksdenken und legte damit den Grundstein für die Serielle Musik. Diese, angeregt durch Interesse an Mathematik, Statistik, Gruppen, Symmetrie, Raum und Reihen, drängte auf eine Gleichberechtigung aller Elemente einer Komposition. Folglich wurden analog zur alten Tonhöhenreihe, Reihen mit 12 oder weniger Stufen auch für die übrigen Parameter, Dauer, Stärke, Farbe und Anschlag gebaut. 2 Elias Frank Populäre Musik und Medien Musikgeschichte 1 Dozent: Prof. Dr. Sabine Meine 07.07.2016 Man kann vom Fetischismus der Zahl und der damit einhergehenden Systematisierung aller Ton-Parameter sprechen. Als Beispiel für Serielle Musik, konnten wir in der Vorlesung einen kleinen Ausschnitt aus “Structures I“ von Pierre Boulez hören. Bedingt durch die teils “hyperexakten“ Angeben, wurden die menschlichen Grenzen musikalisch rasch erreicht, was ein Grund für den Schritt zur elektronischen Musik war. Darunter versteht man nicht eine elektronisch verstärkte mechanische Musik, sondern elektronisch erstellte Klänge bzw. Kompositionen. Möglich wurde dies durch die Gründung eines Studios des NWDR für elektronische Musik 1951 in Köln. Die Arbeit des Komponisten besteht aus der Herstellung des Materials mit Generatoren (Sinustöne samt Schichtungen, Impulse, Rauschen, Filtern etc.), der Verwandlung (Verzerren, Verhallen) und der Synchronisation (Zusammenbau). Endergebnis ist das Tonband. Kein Interpret ist mehr nötig, auch keine Partitur. Als Beispiel für elektronische Musik hörten wir einen Teil aus dem Stück “Artikulation“ von György Ligeti, ein ungarischer Komponist, den das Verhältnis von Musik und Sprache besonders interessierte und der versuchte, sprachähnliche Klänge mit elektronischer Musik zu schaffen. Das Stück “Artikulation“ ist im elektronischen Studio in Köln entstanden und liegt heute auch in einer visuellen Hörpartitur von Rainer Wehinger vor. Dieser versuchte die elektronischen Klänge mithilfe von verschiedenen Formen und Farben darzustellen. Aus dem 1958 entstandenen Stück, welches ein imaginäres Gespräch darstellen soll, kommt man auch zu der Folgerung, dass man nach einem Jahrzehnt des Serialismus bzw. der Systematisierung langsam wieder zum Ausdrucksdenken zurückkehren wollte – auch der Titel weist darauf hin, denn “Artikulation“ heißt u.a. zum Ausdruck bringen bzw. sich angemessen Ausdruck zu verschaffen. 3.) Aufbruch und Öffnung seit den 1960er Jahren In den 1960er Jahren setzt ein Trend zur Individualisierung, insbesondere eine endgültige Ablösung vom seriellen komponieren ein. Die Zeit ist vorbei in der Form etwas Festgelegtes ist. Jedes Werk ist anders, da jedes eine eigene, einmalige Form besitzt, welche auch nur zu diesem passt. Folglich verlangt jedes Werk eine sehr kreative Kompositionsweise. Instrumentalspiel, Stimme und Text werden experimentell ausgelotet. Die diese Zeit kennzeichnende Offenheit lässt sich aber nicht nur musikalisch erkennen, sondern auch kulturpolitisch. Man beginnt sich mit den Verbrechen der NS-Zeit auseinanderzusetzten. Ebenfalls beispielhaft für die politische Offenheit ist der legendäre Satz „Ich bin ein Berliner“ aus der berühmten Rede von John F. Kennedy 1963 in Berlin - mit der Offenheit wurde Deutschland auch internationaler, was wiederum Einflüsse auf die Musik hatte. So war u.a. der Amerikaner John Cage, ein Hauptvertreter der experimentellen Musik, 1958 in Darmstadt, um mit seiner Zufallsmusik, Europa eine Alternative zur Serialität zu bieten. Auch der Italiener Luciana Berio, bis 1959 Leiter des 1953 in Mailand gegründeten Studios für elektronische Musik (Studio di Fonologia Musicale), schuf fantasievoll-experimentelle Werke, die Klangelemente der instrumentellen und phonetischen Ebene verbinden und zu neuen Klängen und Gestalten vorzudringen suchen. Beispielhaft hierfür ist die seiner Frau, der US-Amerikanischen Konzertsängerin und Komponistin Cathy Berberian, gewidmete “Sequenza III“ (1963) für eine Solostimme, die eine große Palette neuer Klangmöglichkeiten verlangt. 3 Elias Frank Populäre Musik und Medien 4.) Musikgeschichte 1 Dozent: Prof. Dr. Sabine Meine 07.07.2016 Politische Bezüge seit den 1960er Jahren Einen Einstieg in den letzten Abschnitt bildete in der Vorlesung ein geschichtlicher Exkurs zum Vietnamkrieg (1955-1975): Dieser begann nach der Teilung Vietnams in das kommunistische Nordvietnam und das antikommunistische Südvietnam als Bürgerkrieg, in dem Nordvietnam Südvietnam stürzen wollte und als kommunistisches Land wiedervereinen wollte, wie es letztlich auch geschah. Ab 1965 eskalierte dieser Bürgerkrieg, da US-Präsident Johnson Nordvietnam bombardieren ließ und anschließend immer mehr Bodentruppen zur Unterstützung Südvietnams entsandte. Daraufhin unterstützen die Sowjetunion und die Volksrepublik China Nordvietnam. In Vietnam wurde der kalte Krieg in Form eines Stellvertreterkrieges heiß. Besondere Bekanntheit erlangte der Krieg einerseits durch das besonders brutale und grausame Vorgehen der US-Amerikaner (Man schätzt die Zahl vietnamesischen Kriegsopfer auf mindestens zwei bis zu über fünf Millionen). Andererseits ging er als der erste verlorene Krieg der Amerikaner in die Geschichte ein. Diese hatten mit ca. 60000 gefallenen Soldaten zwar vergleichsweise weniger Tote zu verzeichnen, doch schafften sie es nicht, sich gegen die unberechenbaren Guerillakämpfer der Nordvietnamesen durchzusetzen. Die US-Amerikanische Bevölkerung reagierte größtenteils empört auf das grausame Vorgehen der eigenen Soldaten. Eine sehr bekannte Protest-Reaktion ist die Verunglimpfung der Amerikanischen Nationalhymne “The Star-Spangled Banner“ durch den amerikanischen Gitarristen Jimi Hendrix auf dem Woodstock-Festival im Sommer 1969. Dieser ließ durch seine experimentelle Spieltechnik und den Einsatz von Effekten zwischen den bekannten Motiven der Hymne auch Kriegsszenen hörbar werden. Ein weiteres Beispiel aus der avantgardistischen Musik ist das Werk “Black Angels – Thirteen Images from the Dark Land“ von George Crumb für ein elektronisches Streichquartett. Allerdings hat George Crumb das als Anti-Vietnamkrieg rezipierte Stück erst im Nachhinein auf den Vietnamkrieg bezogen. Ein ebenfalls wichtiger Punkt des 4.) Abschnitts betrifft die politische Musik der DDR der 1970er Jahre und die dazugehörige Frage, wie man Neue Musik innerhalb einer realsozialistischen Parteidiktatur komponieren konnte. Auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED 1971 legte man fest, dass es in der DDR keine Einschränkung mehr in der künstlerischen Produktion gibt, jedoch mit der Bedingung, solange dies auf sozialistische Weise geschehe. Den deutschen Komponisten Georg Katzer schreckten solche Einschränkungen jedoch nicht ab, sondern stachelten ihn an und führten ihn zu sehr gründlichen Überlegungen welche sich wiederum auf seine Kompositionen auswirkten. So schaffte er es in seinem Werk “Die D-Dur-Musikmaschine“ implizit Kritik am Zwang zum “verordneten Optimismus“ in der DDR zu nehmen. 4