Sich entziehen Die Musik Steven Daversons beschwört die Schönheit des Ungreifbaren: Formen, die im Fluss bleiben, sich nicht zu fest umrissenen Körpern verdichten; Dinge, die man sehen, aber nicht berühren kann – es sind solche der Intuition zuwider laufende und eben deshalb nur um so faszinierendere Erscheinungen, die wesentliche Aspekte von Daversons reicher kompositorischer Fantasie einfangen. Sein Zyklus Elusive Tangibility (übersetzt etwa: „flüchtige Fassbarkeit“), von dem bis jetzt die Teile II, IV und V vorliegen, verweist bereits mit seinem Titel auf diesen Vorstellungshorizont – und löst ihn auch musikalisch ein: Das fünfte Stück dieser Werkreihe, Zugunruhe für großes Ensemble (2008), etabliert eine Anzahl fluktuierender Gestalten, die fortwährend zwischen transitorischer Vagheit und motivischer Konkretisierung schweben, ohne sich doch je zu dauerhaften Prägungen zu verfestigen. Die sich in der Titelgebung spiegelnde Bildhaftigkeit dieses kompositorischen Zugriffs wird dabei durchaus bewusst eingesetzt: Wolkenformationen oder, analog zum Werktitel, sich sammelnde Vogelschwärme kommen einem in den Sinn. Entscheidender jedoch als dergleichen Vorstellungen (die ja immer auch von den individuellen Bildwelten der Hörer abhängen) ist die ihnen zugrunde liegende poetische Idee – die eines, in den Worten des Komponisten, „dialogue between the weightless and the settled“. Einer solchen Balance des Schwebenden und des sich Ablagernden wohnt ein Moment von Gegenläufigkeit inne, das in unterschiedlicher Form auch andere Werke Steven Daversons auszeichnet. So wird in Face of Blades für Violine solo (2009) das musikalische Material aus einem opaken, geräuschhaften Anfangsklang nach und nach herausgeschält; der Verlauf der Komposition folgt nicht dem Modell organischen Wachstums, sondern der Idee einer Reduktion und Ausdifferenzierung des zu Beginn Gegebenen. Zugleich werden die so entstehenden Gestalten, Figuren und Klangereignisse einer Zeitstruktur unterworfen, die sie in immer kleinere Einheiten zwängt, komprimiert und schließlich vernichtet. Der Zug des Gewaltsamen, der hier zutage tritt, scheint nur auf den ersten Blick dem Streben nach Balance zu widersprechen: Rigide Strukturen wie die der Zeitorganisation in Face of Blades sind für Steven Daverson kein Selbstzweck, sondern ein dramaturgisches Mittel. Zum einen lösen sie musikalische Verdichtungs- und (Selbst-)Zerstörungsprozesse aus, deren dramaturgische Energie sich dem Hören unmittelbar erschließt. Zum anderen dienen sie als Ausgangspunkt kompositorischen Handelns, sie eröffnen gerade dort, wo ihre Rigorosität bis ins Extrem getrieben erscheint, die Möglichkeit abschwächenden, ausgleichenden, humanisierenden Eingreifens. Jenseits aller strategischen Funktionen im Kompositionsprozess schließlich generiert ein solches Vorgehen außergewöhnliche klangliche Texturen, die in ihrer Dichte an Verfahren und Vorbilder in der bildenden Kunst erinnern: nicht ohne Grund beschreibt der Komponist sein Tun in Analogie zu Plastik und Skulptur. Damit ist einmal mehr die spezifisch haptische Qualität seiner Musik benannt, ihre besondere, sich gleichwohl stets entziehende Körperlichkeit. Markus Böggemann