Wiehl (48432) / p. 1 /19.3.11 Reiner Wiehl Von der inneren Unfreiheit des Menschen VERLAG KARL ALBER A Wiehl (48432) / p. 2 /19.3.11 Von den modernen philosophischen Emotionstheorien ausgehend wird gezeigt, dass der Mensch nicht nur in seiner physischen Natur als unfrei anzusehen ist. Der Mensch leidet an seiner Unfreiheit, denn sein Lebensgefühl wie sein Gefühlsleben verändern ihn so, dass er sich selbst fremd wird und seine Unfreiheit als Schwächung und Minderung von Möglichkeiten erfährt. Die Frage einer möglichen Freiheit wird aufgefächert auf dem Boden der Ontologie, der Anthropologie und der Ethik. Als Gesprächspartner werden vor allem vier Philosophen aufgerufen: Spinoza, Nietzsche, Whitehead und Jaspers. Die Aufsätze haben den Charakter von Meditationen, die sich in eine große Tradition meditativer Philosophie (Descartes, Husserl, Wittgenstein) einreihen. Der Autor: Reiner Wiehl, geb. 1929, war ab 1969 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg und von 1977 bis 1997 Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. Präsident der Karl Jaspers-Stiftung. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u. a. »Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays«, »Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte« und »Subjektivität und System«. Der Herausgeber: Knut Eming, geb. 1953, studierte Philosophie, Germanistik, ev. Theologie und Pädagogik in Bochum und Heidelberg. 1987 Promotion bei Hans-Georg Gadamer an der Universität Heidelberg über Logos und Idee bei Platon. 2003 Habilitation an der Universität (TH) Karlsruhe über Affektbewegungen. Eming ist Inhaber des Lehrstuhls für Ethik an der SRH Hochschule Heidelberg und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe. Wiehl (48432) / p. 3 /19.3.11 Reiner Wiehl Von der inneren Unfreiheit des Menschen Philosophische Aufsätze über Emotionen Herausgegeben von Knut Eming Verlag Karl Alber Freiburg / München Wiehl (48432) / p. 4 /19.3.11 Gedruckt mit Hilfe der SRH Hochschule Heidelberg Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48432-6 Wiehl (48432) / p. 5 /19.3.11 Inhalt . . . . . . . 7 Einleitung von Knut Eming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Geleitwort von Jörg Winterberg und Knut Eming I.Teil: Ontologie 1. Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre . . . 71 3. Spinoza und das psychophysische Problem . . . . . . . . . 125 4. Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 II. Teil: Anthropologie 5. Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit 6. Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen 7. . . . . 163 . . . . . . 178 Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 . 204 8. Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik 9. Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu einer philosophischen Theorie der Gefühle . . . . . . . . . . . . 218 5 Wiehl (48432) / p. 6 /19.3.11 10. Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens . . . . . . . . . . . . 238 11. Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein. Affekte in der Philosophie des Psychischen . . . . . . . . . 249 12. Schmerzausdruck und Schmerzverhalten . . . . . . . . . . 265 III. Teil: Ethik 13. Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza . . . . . . . . . . 291 14. Grenzsituation und ethische Wertebildung . . . . . . . . . 311 15. Menschenwürde in Grenzsituationen . . . . . . . . . . . . 323 16. Moralische Verantwortung – privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluss Karl an Jaspers Essay über Die Schuldfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 17. Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik . . . . . . . . 358 Nachweis der Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 6 Wiehl (48432) / p. 7 /19.3.11 Geleitwort Unsere Hochschule dankt Reiner Wiehl, dem jüngst verstorbenen Emeritus für Philosophie an der Ruprecht Karl Universität Heidelberg, dafür, dass er unsere Hochschule in den letzten Jahren durch gemeinsame Projekte gefördert hat. Vor allem ist die Vorbereitung eines KarlJaspers-Symposions in Moskau (1.–3. Juni 2005) hervorzuheben, dessen inhaltliche Leitung ihm als Präsidenten der internationalen Karl-Jaspers-Stiftung (Basel) oblag, während wir die Organisation, Durchführung und Dokumentation der Tagung übernahmen. Seinen Rat wie seine Erfahrung und Umsicht als Wissenschaftler haben wir hoch geschätzt. Mehrfach durften wir Reiner Wiehl als Gast an unserer Hochschule begrüßen. Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass Reiner Wiehl aufgrund seiner jüdischen Herkunft in der Nazizeit verfolgt und mit dem Tode bedroht war. Diese dunkle Seite unserer Vergangenheit hat er uns nicht zugemutet. Wie hätte das auch zugehen sollen? Und: Was hätte es bewirkt? Goethe trifft das Geschick Reiner Wiehls mit wenigen Worten. »Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Gründe?« Niemand versteht zur rechten Zeit! Wenn man zur rechten Zeit verstünde, So wäre Wahrheit nah und breit Und wäre lieblich und gelinde. J. W. Goethe Bekanntlich bestimmt Hegel die Philosophie als »Wissenschaft von der Wahrheit des Bewusstseins«, für die der Philosoph eine eigene Begriffssprache zu entwickeln hat. Vielleicht hat Reiner Wiehl in seiner 7 Wiehl (48432) / p. 8 /19.3.11 Geleitwort Philosophie der Emotionen unter anderem auch daran gearbeitet, unseren nahen Irrtümern und der fernen Wahrheit näher zu kommen. Jörg Winterberg Rektor der SRH Hochschule Heidelberg Knut Eming SRH Hochschule Heidelberg 8 Wiehl (48432) / p. 9 /19.3.11 Knut Eming Einleitung Die vorliegenden Aufsätze versammeln Arbeiten des Heidelberger Emeritus für Philosophie Prof. Dr. Reiner Wiehl. Die früheste Arbeit stammt aus dem Jahre 1966, es ist seine Heidelberger Antrittsvorlesung, 1 in der er aus den Begriffs- und Ideenlogiken von Platon und Hegel eine spekulative Vernunftphilosophie entwickelt. Der jüngste Aufsatz 2 ist entstanden aus einem Eröffnungsvortrag (2006) zur Tagung Die Schmerzen der Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, in der sich Wiehl mit zwei prominenten philosophischen Schmerztheorien (Wittgenstein und Weizsäcker) auseinandersetzt. Von diesen aus 40 Jahren philosophischen Nachdenkens entstandenen Arbeiten gilt, dass die meisten zwar schon einmal an entlegenen Orten publiziert wurden, wodurch sie aber nur wenigen eingeweihten Fachkollegen bekannt wurden. Warum werden die Beiträge heute einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt? Zum einen, weil der hochaktuelle Zusammenhang zwischen der Unfreiheit des Menschen und den klassisch philosophischen Emotionstheorien erstmalig wieder hergestellt wird. Gemeint sind hier die Freiheitstheorien von Kant, Spinoza und Heidegger – um nur die Vordenker zu nennen, mit denen sich Wiehl hauptsächlich auseinander setzt. Zum anderen ist auch der methodische Zugang von Wiehl im wahrsten Sinn des Wortes klassisch zu nennen. Sein Bezugsrahmen ist nicht an die Erkenntnisfortschritte der Neurowissenschaften gebunden, die bekanntlich die menschliche Willensfreiheit experimentell geprüft und verneint sowie gerade die Unfreiheit des Menschen an den emotionalen Zuständen plausibel gemacht haben. Philosophisch kann Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes. Nur einmal publiziert in der Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt 1966, S. 327–365. 2 Schmerzausdruck und Schmerzverhalten. In: Schiltenwolf, M. und Herzog, W. (Hrsg.), Die Schmerzen. Würzburg 2011, S. 35 ff. 1 9 Wiehl (48432) / p. 10 /19.3.11 Knut Eming man sich mit ihren Ergebnissen nicht zufrieden geben, denn ob die Unfreiheit des Menschen damit schon verstanden ist, ist immer noch offen – und mehr noch: Ob die Freiheit des Menschen nicht doch möglich ist, ist gar nicht ausgemacht. Klassisch ist die Zugangsweise von Wiehl deswegen, weil er im Unterschied zu Kant nicht transzendental, sondern ontologisch an die Grundfrage nach der Freiheit und Unfreiheit des Menschen herangeht. Analog zur klassischen Metaphysik untersucht Wiehl zuerst die Grundbegriffe philosophischen Nachdenkens, indem er die philosophischen Theorien von Spinoza, Kant und Heidegger spekulativ reflektiert, bevor er sich der Ethik und Anthropologie zuwendet. Nach Wiehl kann man nicht Ethik treiben, ohne über Grundbegriffe räsonniert zu haben, die man in der Ethik ständig verwendet. Für ihn steht ein spekulativer Vernunftbegriff im Zentrum seiner Überlegungen. Das Manko der gegenwärtigen Philosophie sieht er in dem minimierten Anspruch der Vernunft. Wenn die modernen Ethiken die Vernunft als Richtschnur verwenden, dann meinen sie – in der kantischen Einteilung – den Verstand, der in der Frage der Rechtfertigung von Handlungseinstellungen überfordert ist und keine hinreichenden Kriterien liefern kann. Ähnliches gilt für die Anthropologie, die direkt mit der Ethik benachbart ist. Wiehl hat zuweilen auf die eine von Kants Bestimmungen der Anthropologie zurückgegriffen, wonach sie untersucht, »was der Mensch aus sich macht.« 3 Weil sich die heute bekannten Anthropologien von dieser Rückbindung an die Ethik abgelöst haben, hat er die systematische Zugehörigkeit von Anthropologie und Ethik wieder zur Geltung bringen wollen. Wenn also die Arbeiten von Wiehl hier in der systematischen Gestalt einer modernen Metaphysik geordnet werden, liegt etwas ganz Neues vor uns, die Erarbeitung einer philosophischen Theorie der Emotionen, die ganz und allein auf dem Boden einer Ontologie als spekulativer Philosophie der Vernunft entwickelt wird. Der innere Zusammenhang von Ontologie, Ethik und Anthropologie Die wichtigste Abhandlung nicht allein im ersten Teil, sondern im ganzen Werk ist die schon erwähnte Heidelberger Antrittsvorlesung. Mit 3 Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, B III 10 Wiehl (48432) / p. 11 /19.3.11 Einleitung ihr betont der frisch gebackene Privatdozent Reiner Wiehl von Anfang an seine intellektuelle Eigenständigkeit. Die Antrittsvorlesung war zugleich auch die Grundlage für seine spätere Berufung nach Heidelberg. Seinerzeit war insbesondere Dieter Henrich von ihr so sehr beeindruckt, dass er Wiehls Berufung entscheidend förderte. Unabhängig von dieser akademischen Erfolgsgeschichte kann sich jeder heute noch durch intensive Lektüre davon überzeugen, dass wir mit der Antrittsvorlesung den Ursprungsort von Wiehls Philosophieren vor uns haben. Worum geht es? In der Antrittsvorlesung geht es um eine philosophische Reflexion der Ideen- und Begriffslogiken von Platon und Hegel. Wiehl stellt die für ihn zentrale These auf, dass das Reflexionsniveau – man kann auch sagen der Theoriestatus – vieler Philosophien sich daran bemisst, inwieweit sie von »negativen logischen Ereignissen« 4 ungewollt bestimmt werden. An Hegels Kant-Kritik wird gezeigt, dass Kant seinen eigenen kritischen Vernunftstandpunkt nicht durchhalten kann, weil er nicht die begrifflichen Unterscheidungen erarbeitet, die er benötigt, um zu einer umfassenden Selbstkritik der Vernunft zu kommen. Um es mit Platon zu formulieren, entschlägt sich Kant der Möglichkeit, von einer Begriffslogik zu einer Ideenlogik zu gelangen oder anders gesagt, er verstellt sich die Möglichkeit, die Logik des Verstandes zu transzendieren und zu einer Logik der Vernunft zu kommen. In ihr hätte er den Grund für die Unterscheidungen des Verstandes, der Anschauung und der Urteilsformen erkennen und zugleich das Vernünftige als Reflexion in sich begreifen können. Die Grundform einer möglichen Logik der Ideen sieht Wiehl in Platons Spätdialog Sophistes entwickelt, den er zeitgleich zu seiner Antrittsvorlesung neu herausgegeben und kommentiert hat. Platon zeigt in seiner Dialektik der größten Gattungen, dass jede Seinssetzung unmittelbar nach sich zieht, etwas von ihr zu unterscheiden, was man als Setzung eines Nichtseins bezeichnen könnte. 5 So bald man beide Siehe unten S. 61 ff. So geschieht es in der eleatischen Logik. Wenn Parmenides sagt, nur das eine in sich zusammenhängende Sein ist, dann muss er zur Absicherung seiner These das Gegenteil auch behaupten: Das Nichtsein ist nicht, es ist weder zusammenhängend, noch eines, sondern unzusammenhängend und zwei oder gar vieles. Es stehen sich also einfache Bestimmungen gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen: Sein versus Nichtsein, eins versus zwei/vieles, zusammenhängend (einheitlich) versus nichtzusammenhängend (diskontinuierlich). Parmenides Ontologie wird von Platon durch wenige logische Einwände dazu gezwungen, einzugestehen, dass das Nichtsein auch ein eigenartige Form 4 5 11 Wiehl (48432) / p. 12 /19.3.11 Knut Eming Setzungen voneinander unterscheiden will, kommen die Ideen der Identität und Verschiedenheit hinzu, weil man sagen muss können, dass beide Setzungen voneinander verschieden – oder , was gleich bedeutend ist – nicht-identisch sind. Dieses Spiel mit einfachen Bestimmungen gehört zur logischen Form dessen, womit und woran sich die Philosophie, die eine Unterscheidungskunst sui generis ist, fortan immer abarbeitet. In den platonischen Dialogen entdeckt Wiehl ein Theorie-Verhalten, dem er später immer wieder neu nachspürt, und das man die Erfahrung des Denkens nennen könnte; neben den Begriffsbestimmungen, neben den Setzungen einer philosophischen Theorie gibt es immer Gegenteile und/oder Gegensätze, die ausgeschlossen und/oder unbestimmt bleiben, weil zwischen beiden »nicht zu vermitteln ist« 6 und so die Vermittlung – mit Hegel gesprochen die Versöhnung – der Gegensätze ausbleibt. Diese einfach anmutende Vorgehensweise, die Unbestimmtheit und Unterbestimmtheit begrifflicher Unterscheidungen in philosophischen Theorien aufzudecken, bildet gleichsam die Unruhe für alle weiteren philosophischen Reflexionen und Erörterungen, mit der Wiehl insbesondere moderne Ontologien daraufhin prüft, ob sie einer begriffslogischen Kritik standhalten. 7 Aus spekulativen Gründen führt er eine Störung, eine Unterbrechung in den theoretischen Apparat von philosophischen Theorien ein, und untersucht sie darauf hin, ob sie zur Erkenntnis und damit zur Anerkennung der Wahrheit ihres Gegenteils in der Lage sind. Zur Veranschaulichung der Vorgehensweise einer logisch motivierten Philosophiekritik nehmen wir ein einfaches Beispiel aus dem platonischen Dialog Gorgias, an dem man nachvollziehen kann, wie eine Position in ihr Gegenteil verkehrt wird. Ein Sophist namens Kallikles stellt die Behauptung, die These auf, dass die eigentliche Natur der Gerechtigkeit darin besteht, dass es ein natürliches Recht des Stärdes Seins aufweist: die der Verschiedenheit. Platon macht sich in seiner Kritik an der parmenideischen Ontologie die Vieldeutigkeit des Wortes »nicht sein« (ouk einai) zunutze; sie changiert zwischen »nicht (mē)« – »nichts (mēden)« – »die Idee des Nicht-… (idea toū mē)« – »das Nichtsein (to mēden)« und »das Nichts (to mē)«. Auf diese Weise werden verschiedene Bedeutungen von Negationen entdeckt, die allesamt seiner Auffassung nach zur vagen Idee der Verschiedenheit gehören. 6 Siehe unten S. 59. 7 Man vergleiche dazu Wiehls Kritik an Husserls Phänomenologie, Heideggers Fundamentalontologie und Gadamers Hermeneutik in »Metaphysik und Erfahrung« (Frankfurt 1996), S. 127 ff. und S. 155 ff. 12 Wiehl (48432) / p. 13 /19.3.11 Einleitung keren gibt. Aufgrund seiner Stärke bekommt einer mehr als ein anderer, weil er sich dieses Mehr an Gütern nicht nur aneignen kann, sondern schlicht nimmt. Dieser Naturalismus des Stärkeren wird dadurch unterlaufen, dass Platon sich wiederum die Mehrdeutigkeit dessen, was »stärker sein« bedeutet, zunutze macht. Zunächst kann man bekräftigen, dass der Stärkste sich nicht nur gegen einen anderen, sondern auch gegen mehrere andere durchsetzt. Dieser Sinn von »stärker sein« heißt so viel wie, an Körperkraft stärker oder gar außerordentlich stark sein – so wie z. B. Herakles. Und natürlich ist der Stärkere schlicht der, der die anderen, die Schwächeren, besiegt und dominiert. Stärker zu sein heißt also allgemein, wenn »Stärkere die Schwächeren besiegen«. Diese Begriffsklärung wird von Sokrates im Gespräch mit dem Sophisten Kallikles vorgenommen, weil die Ausgangsthese so ausgeweitet wird, dass sie den Boden bereitet für die Widerlegung. Die Begriffsbestimmung »stärker« wird schlicht dadurch unterlaufen, dass die Relativität des Begriffspaars »stärker – schwächer« umgedreht wird. Wenn die Schwächeren sich zusammentun, um den Stärkeren zu stürzen und ihm die Vormachtstellung zu nehmen, dann sind sie (i. e. die Schwächeren) in diesem Fall stärker. Und »stärker sein« heißt neben der Bedeutung, an Körperkraft stärker sein, auch noch stärker und also besser zu sein in der Fähigkeit, sich zusammenzuschließen und an Verabredungen festzuhalten. Der Satz »Gerechtigkeit ist das Recht des Stärkeren« muss also erweitert werden, wenn er zutreffend bleiben soll; dazu muss er so umformuliert werden, dass er das Gegenteil auch in sich aufnimmt, nämlich »Gerechtigkeit ist das Recht der Schwächeren«. Man kann sich trefflich darum streiten, wie im einzelnen die Erweiterung aussehen würde und welche Konsequenzen man daraus ziehen will. Ist Gerechtigkeit das Recht der Schwächeren, das darauf zielt, die wenigen (körperlich) Stärkeren schwächer zu machen? Oder beruht die Aufhebung des Gegensatzes »stärker versus schwächer« darin, dass man die Relativität der Prädikate »stärker« bzw. »schwächer« durch ein objektives Prädikat versöhnt? Unabhängig von diesen grundsätzlichen Fragen ist klar, gerecht kann nur sein, wenn die Schwächeren bei der Verteilung von Gütern nach einem bestimmten Maß beteiligt werden. Nur dann kann zwischen den Gegensätzen Versöhnung stattfinden. Der kleine Exkurs hat gezeigt, dass Begriffsbestimmungen von theoretischen Setzungen auch ethische Prädikate sein können. Grundsätzlich gilt, das Verfahren der Auflösung von Gegensätzen soll überall 13 Wiehl (48432) / p. 14 /19.3.11 Knut Eming anwendbar sein. Die damit verbundene Absicht ist, nicht einseitige, sondern umfassende Behauptungen zu formulieren, unabhängig von dem Standpunkt, den ein Sprecher einnimmt. Wiehl verbindet in seiner Antrittsvorlesung Denkformen der platonischen mit der hegelschen Philosophie, weil Hegel in der Moderne die platonische Ideenlogik in seiner spekulativen Philosophie kongenial entfaltet, indem er sie sowohl in seiner Logik wie in seiner Theorie des Geistes aktualisiert und neu zur Geltung bringt. 8 Was haben wir erreicht, wenn es uns philosophisch gelingt, die entgegengesetzten Behauptungen nicht auszuschließen, sondern in die Prämissen einer These aufzunehmen? Der Fortschritt lässt sich ethisch als Forderung ausdrücken: Jede Philosophie muss es schaffen, in sich die Wahrheit von Anderssein und Verschiedenheit aufzunehmen. In dieser Maxime steckt die hermeneutische Erfahrung der Anerkennung des Anderen, oder wie Gadamer es ausdrückt, die Erfahrung, dass der Andere gegen mich recht haben könnte. Wiehl geht darüber weit hinaus, denn er bezieht die begriffliche Erfahrung der Vermittlung von Gegensätzen nicht allein auf Prozesse der Verständigung und des Verstehens, sondern auf die systematischen Prämissen von philosophischen Theorien generell. Er entdeckt, dass gerade die verborgenen oder verschwiegenen Voraussetzungen jede Theorie von innen heraus negativ bestimmen und als »negative logische Ereignisse« ihr Unwesen treiben. Sie sind seiner Auffassung nach die Ursachen von Streit und bilden den Anfang des Misslingens von Versöhnung. Es darf nicht verschwiegen werden, dass Wiehl auch einen Impuls des späten Whitehead aufnimmt, den er allerdings in seiner Antrittsvorlesung mit keinem Wort erwähnt. Nach Whitehead haben alle Systeme – auch manche philosophische – das Bestreben, ihre eigenen Voraussetzungen und Unterscheidungen so zu befestigen, dass sie über der Freude der Selbstbestätigung des eigenen Ansatzes übersehen, was sie ausgeschlossen haben. (A. N. Whitehead, Denkweisen. Frankfurt 2001, S. 120 ff.) Gerade aber das von ihnen ausgeschlossene, das meist als unwahr oder unwesentlich bewertet wird, muss – wenn man sich nicht im Kreis drehen möchte – mit den eigenen Prämissen vermittelt werden. Erst wenn man über die eigenen Voraussetzungen hinausgehen kann und die Seinsart dessen anschaut, was ausgeschlossen und mit Platon gesprochen als nicht-seiend gesetzt wurde, erfährt man über den eigenen Ansatz mehr und kann ihn durch Integration des Ausgeschlossenen erweitern und vervollständigen. Nach Whitehead macht es den Reiz der großen Systeme von Platon, Aristoteles und Leibniz aus, dass sie sich meist jenseits ihrer Systembildungen bewegen und weiterentwickeln. Jede in sich reflektierte Philosophie hat diese Stärke in sich, die letztlich nichts anderes ist als eine Abneigung gegen jede Art von Dogmatismus. 8 14 Wiehl (48432) / p. 15 /19.3.11 Einleitung Diese Einsicht hat theologische Implikationen als jüdisch-christliche Frage nach dem Ausbleiben der Versöhnung, sie hat aber auch philosophiegeschichtliche Implikationen. Die Gigantomachie verschiedener sich bis heute ausschließender Schulen 9 währt seit Platons Zeiten bis heute. In seiner Antrittsvorlesung spielt Wiehl die möglichen Kombinationen durch, unter welchen Voraussetzungen welche Formen von Nicht-Versöhnung bis hin zum Grenzfall der möglichen Versöhnung denkbar sind. 10 Damit führt Wiehl, der zuerst ein Studium der Mathematik und Physik begonnen hatte, die Kombinatorik in die Philosophie ein, von der er dann immer wieder freien Gebrauch machen wird. Was sind also negative logische Ereignisse? Wir finden sie überall dort, wo Phänomene sich in einem Feld zeigen, die sich aber nicht ohne weiteres kategorisieren lassen. Wiehl selbst nennt als Beispiel aus der Philosophie des Geistes die Assoziationen. Sie sind plötzlich da, sie haben eine lockere Verbindung zu ihrer Umgebung, sind aber selbst unbegründet. Diese wunderliche Natur haben die Assoziationen gemein mit unseren Wünschen, wie auch mit unseren Emotionen. Sie treten plötzlich mit kleiner oder großer Intensität auf, sie unterbrechen und lenken uns von Aufgaben und Absichten ab, sie sind als das Andere der Vernunft erst einmal unvermittelt, ja vielleicht sogar unvernünftig. Als solche sind sie Gestalten des Zufalls, Zeugen unserer Kontingenz, modal betrachtet das Gegenteil der Notwendigkeit, aber zugleich mit Zwang verbunden. 11 Es ist also gar nicht verwunderlich, dass Wiehl sich ein ganzes Forscherleben lang mit den Emotionen – oder wie er, ein Bewunderer der Gedankenrevolution des 17. Jahrhunderts, gern formuliert – mit den Affekten beschäftigt. Die zweite große Abhandlung des ersten Teils 12 handelt denn auch konsequent von der Vernunft in der menschlichen Unvernunft, also von der verborgenen Ordnung in der scheinbaren Unvernunft der Affekte. Hier kann man studieren, welche BePlaton, Soph. 246aff Vgl. unten S. 61 ff. 11 Als modernes Beispiel für negative logische Ereignisse könnte man die zerstörerische Kraft von Familiengeheimnissen oder von Traumatisierungen – z. B. bei die »flash backs« bei Verfolgten des Nazi-Regimes – nennen, die aus dem Verborgenen heraus verhindern, dass Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung leben können. 12 Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. Vgl. unten S. 71 ff. 9 10 15 Wiehl (48432) / p. 16 /19.3.11 Knut Eming griffsarbeit zu leisten ist, wenn die philosophische Vernunft sich anschickt, das ihr Andere und Fremde zu erkennen; sie hat – wenn es ihr gelingt – anzuerkennen, dass es eine eigene Wahrheit der Emotionen bzw. Affekte gibt. Die Erkenntnis der Natur der Affekte bringt allein keinen Fortschritt in Richtung Versöhnung, wenn nicht die Vernunft sich in ihrem eigenen Anderssein erkennt und anerkennt: sie ist selbst ein Affekt, der größte von allen, nämlich – wie Wiehl im Rückgriff auf Spinoza und Nietzsche herausstellt – die Liebe. 13 Negative logische Ereignisse bilden nicht bloß in der Ethik und in der Philosophie des Geistes den Anfang für Streit wie für Versöhnung, sondern sie haben in der Philosophie selbst ihren Ort. Als Negationen – ob eingestanden, verschwiegen, unterdrückt oder nicht erkannt – wirken sie fort und dekonstruieren eine philosophische Position hinterrücks. Insofern eignet sich Wiehls ursprüngliche Einsicht auch dazu, kritisch Philosophie und Philosophiegeschichte zu betreiben. Tatsächlich ist die Philosophiegeschichte voll von Demaskierungen scheinbar plausibler Positionen, die sich dann in das Gegenteil ihrer selbst verkehren, wenn man ihren Anspruch an ihnen selbst prüft. Zu dem Zweck muss man nur die lange Geschichte von Platon bis Nietzsche studieren und man findet genügend Beispiele. 14 Generell vollzieht sich die Prüfung einer philosophischen Stellungnahme daran, ob die zugestandenen Prämissen untereinander und angesichts ihrer Folgen stimmig sind. 15 Nachdem wir den systematischen Ort von Wiehls Philosophieren Im Grunde haben das schon die Alten gewusst, denn Platon und Aristoteles nennen die Philosophie, die von ihnen als ein vernünftiges Streben verstanden wird, die Liebe zur Weisheit. Noch deutlicher kommt die affektive Seite im niederländischen Wort »Wissbegierde« zum Ausdruck, das man bei Spinoza auch findet. 14 In seinen Seminardiskussionen mit den Studierenden hat Wiehl die Umkehrung einer Position immer genossen, weil es sich um eine schöne gymnastische Übung für die Verbesserung der Vernunft handelt. Auch hier gibt es verschiedene mögliche Formen; vom Zugeständnis der Möglichkeit des Gegenteils bis hin zum Eingeständnis der Wahrheit des Gegenteils und der Falschheit der eigenen Behauptung. 15 Es muss betont werden, dass Wiehls Konzept der »negativen logischen Ereignisse« im Kern die Vorwegnahme dessen ist, was Derrida als das Ereignis der difference beschreibt, also eines Unterschieds, der nicht markiert ist, aber Konsequenzen und Zugeständnisse zeitigt. Mit Platon gesprochen liegt bei beiden eine Logik des Nichtseins vor, eine Logik des Anders-Seins, die aber von Reiner Wiehl nicht dafür verwendet wird, die Metaphysik oder gar die traditionelle Philosophie zu dekonstruieren oder gar zu destruieren. Im Unterschied zu Derrida führt er die Metaphysik im 20. Jahrhundert fort, indem er an philosophischen Positionen die übersehenen und/oder nicht thematisierten 13 16 Wiehl (48432) / p. 17 /19.3.11 Einleitung gefunden haben, können wir uns nun der Ausarbeitung des Zusammenhangs von Vernunft und Ethik zuwenden. Und auch hier gilt es, unter der Perspektive von Wiehl die modernen Ethiken geschichtlich danach einzuteilen, inwiefern sie unter dem Vorzeichen der Vernunft entwickelt werden – das wären einerseits die Ethiken bis einschließlich Kant – , und die Ethiken, die unter dem Vorzeichen des Anderen der Vernunft, also der Unvernunft entwickelt werden, – das wären andererseits die Ethiken ab Schopenhauer (vielleicht auch schon Schelling) bis heute. Von diesen beiden grundsätzlich möglichen ethischen Theorien sind diejenigen zu unterscheiden, die beides tun, die unter den Bedingungen von Vernunft und Unvernunft die Frage nach Freiheit und Unfreiheit des Menschen stellen. Auch in dieser Klasse lassen sich prominente Positionen finden, allen voran Spinoza und Hegel, in gewisser Weise aber auch noch Nietzsche und Jaspers. Hat man sich erst einmal Wiehls gedankliche Systematik klar gemacht, so verwundert es nicht, dass Spinoza – und am Ende seines philosophischen Arbeitens – auch Jaspers zu seinen Gesprächspartnern gehörte. Beide entfalten die Wirklichkeit der Unfreiheit sowie die Möglichkeit zur Freiheit unter der Perspektive von Vernunft und Unvernunft. Gleichwohl konzentriert Wiehl sich nicht bloß auf die Mischformen, sondern versucht jenseits möglicher Schematisierungen die jeweiligen Stärken und Schwächen herauszustellen. Zur Verdeutlichung schauen wir uns drei Positionen an, an denen sich Wiehl immer wieder orientiert: Kant, Spinoza und Heidegger. Niemand wird sich wundern, dass Kant – der Freiheitsphilosoph per se – zu Wiehls Gesprächspartnern gehört. Freiheit ist nach Kant möglich, wenn wir die empirische Welt überschreiten und als Vernunftwesen aus Freiheit uns zur Anerkennung der Würde anderer bestimmen. Diese andere Kausalität aus Freiheit – in der wir zur Ursache unserer selbst werden – ist nach Wiehl bei Kant unterbestimmt. Mit Nietzsche versteht Wiehl Kausalität nicht bloß als Kategorie von Ursache-Wirkungsverhältnissen, sondern als Interpretationsbegriff. Die Freiheit des Menschen ist genau da am Werk, wo wir uns die Freiheit nehmen, auch gegen die Erfahrung der Unfreiheit neue Kausalitäten zu erfinden, um auf diese Weise unsere Freiheit zu retten. Derartige Umdeutungen finden nicht bloß statt, wenn wir gegen andere Recht behalGegenseiten aufdeckt und sie sowohl an dem eigenen Anspruch wie dem vorliegenden kategorialen Apparat misst. 17 Wiehl (48432) / p. 18 /19.3.11 Knut Eming ten wollen, sondern auch dann, wenn wir uns falsch verstanden fühlen und wir andere Gründe bemühen, die ein mögliches Fehlverhalten, das uns vorgehalten werden könnte, vor uns selbst rechtfertigen. Indem Menschen einen solchen inneren Gerichtshof nicht bloß akzeptieren, sondern zum Zentrum ihres Selbstverständnisses machen, verhalten sie sich ethisch. Wiehl bemüht die in der Moderne seit Kant und in der Antike seit Platon bekannte Figur eines forum internum nicht ausdrücklich, weil er einen Schritt weiter geht: Auch angesichts unserer Emotionen und Gefühle versuchen wir uns vernünftig zu verhalten. Auch hier gilt es, dem nachzugehen, was Wiehl in den feinsten Verästelungen unseres Gefühlslebens wie unseres Lebensgefühls zuerst beschrieben hat – es gibt eine Logik der Gefühle im Dienste der Freiheit. Der wichtigste Gesprächspartner für Wiehl ist bekanntlich Baruch de Spinoza, der Ausnahmephilosoph des 17. Jahrhunderts. Vielleicht verwundert es manche, dass Wiehl gerade Spinoza zum Urheber einer Freiheitsphilosophie macht. In dieser Weise hat Spinoza eigentlich nicht gewirkt, sondern – aufgrund einer verwickelten Werkgeschichte – wurde Spinoza bekannt als Urheber eines Pantheismus, der als Pantheismusstreit Ende des 18. Jahrhunderts in die Philosophie- und Geistesgeschichte einging. Zwischen Wiehl und Spinoza gibt es eine Geistesverwandtschaft; sie sind beide Metaphysiker, die die Auffassung vertreten, dass Ethik und Anthropologie nur dann sinnvoll entwickelt und dargestellt werden können, wenn sie auf dem Hintergrund unseres Wissens von Gott und der Natur betrachtet werden. In diesem großen Zusammenhang gesehen kann der Mensch nur dann frei sein bzw. werden, wenn er seine Natur und sein Wesen erkennt und in Übereinstimmung mit sich handelt. Selbsterkenntnis ist gebunden an die Erkenntnis der eigenen Natur; diese Erkenntnis meint zugleich auch die Akzeptanz des eigenen Wesens. Die zweite Geistesverwandtschaft besteht darin, dass Spinoza als erster in der Moderne die Bedeutung der Gefühle für die Ethik ausgearbeitet hat. 16 Im Blick auf die Unfreiheit spricht Spinoza von der Knechtschaft des Menschen verursacht durch die Affekte, wogegen die ihm mögliche Freiheit wesentlich darin besteht, aus der Liebe zu Gott zu gewahren, dass der Mensch nicht causa sui sein kann, er sich nicht selbst erschaffen hat bzw. erfinden kann. Spinoza setzt in seiner Philosophie eigenwillig fort, was die Wegbereiter einer modernen Emotionstheorie – Descartes und Hobbes – begonnen haben. 16 18 Wiehl (48432) / p. 19 /19.3.11 Einleitung Diese Freiheit gelingt aufgrund der Bindung an etwas, was das schlechthin Gute ist, das selbst die menschliche Vernunft übersteigt. Eine dritte prominente Freiheitstheorie, mit der Wiehl sich beschäftigt, ist die von Martin Heidegger. Mancher mag sich darüber wundern, denn nur wenige halten heute den Freiburger Fundamentalontologen und Seynsmetaphysiker für einen Freiheitsdenker. Wegen Heideggers großer Wirkungsgeschichte – vor allem aber wegen seiner Metaphysikkritik – wird Heidegger diese Ehre zuteil. Der Streit um die Frage, inwiefern man aus Sein und Zeit eine Ethik und eine Politik herausdrehen kann, wird insofern gewürdigt, als Wiehl ihn verabschiedet. Bekanntlich hat Heidegger in der Sorge eine existenzielle Weise des Daseins gesehen, die nicht als Verfallenheit, sondern als freies Sein bei (den Dingen) bzw. als freies Sein mit (den Menschen) zu verstehen ist. In Heidegger findet Wiehl einen Gesprächspartner, der das Verhältnis von Unfreiheit und Freiheit thematisiert hat. Allerdings hat Heidegger nur die Problemstellung entwickelt. Wie und ob es möglich ist, frei zu werden und zu sein, ist von den Voraussetzungen des Heideggerschen Seinsdenkens nicht ersichtlich. Wiehl muss die Position Heideggers letztlich angreifen, denn er halbiert die Vernunft auf das Verstehen und kann so gar nicht das Andere, die Unfreiheit, thematisieren, geschweige denn aufklären. 17 Es gibt zwei weitere philosophische Positionen, die bei Wiehl im Hintergrund immer mitschwingen. Nietzsche und Whitehead. Für Wiehl kommen beide als Freiheitsdenker in Betracht, weil sie neue Denkräume eröffnen. Wichtig an Nietzsche ist seine Demaskierung der Freiheit. Er beschreibt vor allem im Rahmen einer Problematisierung und Selbstkritik von philosophischen Grundbegriffen die Idee der Freiheit als Geschichte des Stolzes, der sich aufgrund einer Selbsttäuschung meint, sich über die Natur seines Leibes erheben zu können. Wichtig an Whitehead ist die Öffnung der Freiheit auf die Prozesshaftigkeit der Natur hin. Er entfaltet im Rahmen einer Prozessontologie eine spekulative Kosmologie der Gefühle, in der das Fühlen nicht mehr bloß der menschlichen Subjektivität vorbehalten bleibt, sondern ontologisch den Organismen öffnet und sich an die Lebendigkeit knüpft. Von all diesen philosophischen Entwürfen aus wird erst die systematische Vieldeutigkeit des Gefühlslebens als einem Zwischen von Es bleibt Jaspers vorbehalten, die Vernunft in die Existenz zu integrieren. Vgl. dazu K. Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen. Groningen 1935 17 19 Wiehl (48432) / p. 20 /19.3.11 Knut Eming Affekt, Empfindung und Gefühl/Emotion verständlich. Unfreiheit wird so auf vielfältige Weise beschreibbar. Weder die Unfreiheit noch die Freiheit wird zu einem Zustand des Systems, sondern aus der Erfahrung von Unfreiheit wie Freiheit entsteht erst die Möglichkeit der bewussten Bewertung und Neuorientierung eines Verhaltens, das man sich zurechnet. Wenn wir uns mit Wiehl auf das Andere der Vernunft und der Freiheit konzentrieren, entdecken wir die Wirklichkeit der Unvernunft und der Unfreiheit; wir stoßen auf die Wirklichkeit des Andersseins, was uns erst einmal die Sprache verschlägt. Kant hat diesen Bereich umschifft, denn für ihn galt es als ausgemacht, dass unter empirischen Bedingungen die Selbstbestimmung des Menschen unter vielfältigen Weisen der Fremdbestimmung, der Heteronomie steht und die Idee der Freiheit der Gefahr ausgesetzt ist, verloren zu gehen. Wiehl geht einen Schritt über Kant und viele andere moderne Ansätze hinaus, indem er gegen alle Vernunftkritik die Zusammengehörigkeit 18 von Vernunft und Unvernunft aufspürt, indem er gegen alle moderne Metaphysikkritik die Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Erfahrung aufdeckt und das Widerfahrnis der Unfreiheit im Lichte der Freiheit sieht. Ihm gelingt es so, die Vernunft in der menschlichen Unvernunft aufzuzeigen, indem er die Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Erfahrung, von Freiheit und Unfreiheit wieder findet. Weil er die Zusammengehörigkeit behauptet, gelingt es ihm die wechselvollen Erfahrungen des Menschen mit seiner Freiheit zu beschreiben. Um es paradox zu beschreiben: Weil Wiehl an seiner Idee einer Ontologie festhält, eröffnet er den menschlichen Erfahrungsraum von Freiheit und Unfreiheit, den der Unfreiheit in der Freiheit genau so wie den der Freiheit in der Unfreiheit. Weil er den Eigenwert der Erfahrung sieht, beginnt er als Philosoph damit, die Feinheiten in der Selbsterfahrung des menschlichen Umgangs mit der Freiheit und Unfreiheit zu beschreiben, 19 um immer wieder seinen Anfang zu behaupten, dass es eine Zusammengehörigkeit von Freiheit und Unfreiheit, dass es eine In der Tradition Spinozas stehend spricht Wiehl von der Zusammengehörigkeit von Vernunft und Unvernunft, von Freiheit und Unfreiheit. Grund dafür ist die Einheitslehre Spinozas, die Geist und Körper als Modi der einen Substanz versteht. Den Gedanken der Komplementarität gibt es bei Wiehl in einer anderen Form; vgl. dazu Die Komplementarität von Selbstsein und Bewusstsein. Ders., Subjektivität und System. Frankfurt 2000, S. 46 ff. 19 Vgl. dazu die beiden Aufsätze: Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu 18 20 Wiehl (48432) / p. 21 /19.3.11 Einleitung Zusammengehörigkeit von Vernunft und Erfahrung gibt. Die Vernunft ist nicht nur in dem ihr eigenen Bereich zu finden, in dem »Logischen« – den Wiehl den der Logik von Begriffen und Idee nennt, hat die Vernunft aufgrund ihrer Fähigkeit zur Ordnung auch in der Erfahrung des Selbst und seiner Leiblichkeit ein Eigenrecht, das sie meist unbemerkt ausübt. Ordnen ist immer schon bewerten, egal ob es um die Ordnung von Affekten – die Psychologen sprechen von Affektregulation – von Handlungen und ihrer Verantwortbarkeit, von Selbstauffassungen und ihren Brechungen geht. Diese Vernunftbegabung der Bewertung kann sowohl zur Befreiung von überflüssigen Ordnungsgewohnheiten eingesetzt werden – tatsächlich arbeitet sie aber häufig im Dienste eingeschleifter Bewertungen und wiederholt so die Unfreiheit des Selbst. Angesichts der individuell sehr verschiedenen Ordnungsmöglichkeiten ist eine ethische Kritik unserer Bewertungsbegriffe notwendig, denn mit Spinoza geht Wiehl davon aus, dass unsere Erkenntnis der Affekte inadäquat ist. Um das einzusehen, braucht es zuvörderst eine Selbstkritik der Vernunft. 20 Zum Titel des Buches Der Buchtitel ist Wiehls Dankesrede für die Verleihung des MargitEgner-Preises entlehnt. Vom Leiden des Menschen an seiner inneren Unfreiheit zu reden, ist philosophisch ungenau, denn was ist »innere Unfreiheit«? Obwohl Wiehl um diese Ungenauigkeit weiß, wiederholt er den Titel noch einmal in der direkt benachbarten Abhandlung Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen. So gelungen die Formulierung ist, so angreifbar ist sie – zumindest für streng denkende Philosophen. Auf den ersten Blick könnte es einer philosophischen Theorie der Gefühle (unten S. 218 ff) und: Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens. (unten S. 238 ff) 20 Im Grunde ist Wiehl von der im 20. Jahrhundert sich vollziehenden Dekonstruktion der Subjektivität unbeeindruckt. Trotz Nietzsches und Freuds Kritik an der Vernunft, die bis zu Derridas Kritik am Logozentrismus reicht, ist Wiehl mit Whitehead ein Anhänger einer monadischen Subjektivitätsphilosophie, wie sie von Platon begonnen und von Leibniz breit dargestellt wird. Personen sind Monaden; sie ordnen von Anfang an ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen und Konzepte nach eigenen Prinzipien. Die Änderung von innerpersonalen Ordnungsgesichtspunkten kann von außen nicht vorgenommen werden. So gesehen sind Personen ipso facto frei – nur wissen sie von dieser Freiheit nichts. 21 Wiehl (48432) / p. 22 /19.3.11 Knut Eming so scheinen, dass der Autor mit der unter Philosophen wenig beliebten Unterscheidung von »innen« und »außen« arbeitet. Tatsächlich kennt Wiehl diese Relativität bestens und hat sie selbst in einem seiner Aufsätze 21 zu Hegels Phänomenologie des Geistes problematisiert. So wie der sinnlichen Gewissheit – man könnte sie auch das Alltagswissen des common sense nennen – angesichts der Relativität von »links« und »rechts« schnell Sehen und Hören vergeht, ebenso schnell ließe sich eine Dialektik von »innen« und »außen« so zuspitzen, dass diese Unterscheidung hinfällig wird. Warum also benutzt Wiehl diese ungenaue Redeweise? Zunächst trifft auf Wiehls Umgang mit Begriffen zu, was Platon im Theaitet als Mahnung an die Mitunterredner des Sokrates weitergibt: Man soll es mit den Wörtern nicht zu genau nehmen. Es gab und gibt heute noch die Sophistik der genauen Rede, 22 also die Gewissheit von Schnelldenkern, denen zufolge man alles nur richtig bezeichnen müsse, dann gebe es keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Als Schüler von Gadamer hätte Wiehl auch versuchen können, die Bezeichnungen »innen« bzw. »inneres« bzw. »innerlich« durch einen Exkurs in die Begriffsgeschichte aufzuwerten. 23 Aber genau das tut er nicht. Der Begriffslogiker Wiehl geht in diesem Punkt auf Distanz zur Hermeneutik, denn tatsächlich betreibt er nirgendwo in seinen Aufsätzen – auch nicht in seinen Lehrveranstaltungen – das Geschäft der Begriffsgeschichte. Natürlich passt der Titel ganz und gar zu den Aufsätzen des vorliegenden Bandes, denn alle Menschen teilen diese Erfahrung, dass sie die Grade des Verfehlens oder des Verlusts von Freiheit innerlich bemerken und zu reflektieren versuchen. So wie es seit Kant eine Begabung des Menschen für die Philosophie gibt, so auch eine für den Gebrauch der Selbstreflexion. Von der inneren Unfreiheit zu reden meint, Vgl. R. Wiehl, Vom Sinn der sinnlichen Gewissheit in Hegels Phänomenologie des Geistes. Hegel-Studien. Beiheft 3. 1966, S. 103–134 Wiederabgedruckt in: Hegel in der Sicht der neueren Forschung. Hrsg. Von I. Fetscher. Wiss. Buchgesellschaft. Darmstadt 1973 22 Bekanntlich hat Whitehead vom Standpunkt der modernen Logik gezeigt, dass eine genaue Rede insofern nicht möglich ist, als der vollständige und widerspruchsfreie Nachweis von Vordersätzen eines logischen Systems misslingt. Aus diesem und anderen Gründen hat er die Genauigkeit als Maßstab für Wissenschaft und Philosophie verabschiedet. A. N. Whitehead, Denkweisen. Frankfurt 2001. 23 Wenn man über die Nähe von »innen« und »innerlich« versuchen wollte, auf die Innerlichkeit des Gefühls o. Ä. zu kommen, hätte man Wiehls Intention völlig verfehlt. 21 22 Wiehl (48432) / p. 23 /19.3.11 Einleitung dass Menschen ihre Unfreiheit nicht nur spüren, sondern wie Wiehl betont, daran leiden. Das Leiden an der Unfreiheit ist auch nicht bloß ein Gefühl, sondern sie ist eine Kontrasterfahrung. 24 Das Leiden an der Unfreiheit wird dadurch umso deutlicher, dass Menschen in ihrem Selbstverhältnis ihre Unfreiheit dadurch vergrößern, dass sie die ihnen mögliche Freiheit dagegen halten. Es geht also gar nicht um die Innerlichkeit des Verhältnisses von Unfreiheit und Freiheit, sondern um ein Wertbewusstsein, das durch den je hergestellten Kontrast anders moduliert wird. Es gibt viele mögliche Graduierungen, die nach den jeweiligen Bewertungsgewohnheiten anders akzentuiert werden. Sie erstrecken sich von der vorsprachlichen Kontrastierung, die wir in unseren Gefühlseinstellungen 25 vollziehen, bis hin zur Aufstellung und Umdeutung von Kausalitäten, wenn der Kontrast als Leidensdruck wahrgenommen wird. Wo uns Freiheit nicht gelingt und in Unfreiheit umschlägt, behaupten wir unsere Freiheit dadurch, dass wir unser Misslingen deuten und – nötigenfalls – umdeuten. Diese Umdeutungsversuche können fehlschlagen, wenn wir anfangen, uns für unser Misslingen zu ent-schuld(ig)en. Wenn also Wiehl von der inneren Unfreiheit redet, dann bleibt er letztlich als Begriffslogiker der Anwalt der inneren Erfahrung; denn er beschreibt an vielen Beispielen variierend den Übergang von Freiheit in Unfreiheit bzw. umgekehrt von Unfreiheit in Freiheit, er beschreibt, welche Anstrengungen wir unternehmen, uns vom Leiden an der Unfreiheit zu befreien. Trotz aller systematisch begründeten Unterschiede zu Gadamers Hermeneutik wird Wiehl dann zu einem Hermeneutiker, wenn er »ungenau« über das Leiden an der Unfreiheit des Menschen philosophiert. In mehreren Arbeiten geht er doch hermeneutisch vor, denn seiner Auffassung nach haben die Dichter – allen voran Goethe, aber auch Rilke und seine Entdeckung: Jakob Wassermann – das Drama der Seele, ihr Ringen wie die Selbsttäuschungen um die eigene Freiheit breiter und feiner nuanciert als die Philosophie es kann. Hier kommt zum Zuge, dass der Metaphysiker Wiehl zum Anwalt der Erfahrung wird Der Begriff »Kontrast« wurde von Whitehead in das Vokabular philosophischer Grundbegriffe eingeführt. A. N. Whitehead, Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt 1979, S. 186 ff. 25 So kann eine aktuelle Erfahrung von Unfreiheit im Denken, Handeln oder Fühlen kontrastiert werden mit der Erinnerung an eine Zeit, in der jemand sich frei und selbstbestimmt gefühlt hat. Die Bewertung dieses Kontrasts ist seinerseits offen. Wenn nämlich möglich Auswege erdacht werden wächst die Hoffnung. 24 23 Wiehl (48432) / p. 24 /19.3.11 Knut Eming und sich nicht scheut, scheinbar ungenaue Begrifflichkeiten zu erfinden, wie etwa den Begriff der »psychischen Freiheit«. 26 Psychische Freiheit meint die Freiheit, die Menschen sich nehmen, wenn sie ihre Unfreiheit gewahren. Um der Behauptung eigener Freiheit willen greifen Menschen zu dem schon erwähnten Mittel der Umdeutung von Kausalitäten. Was er damit meint, lässt sich an der Erfahrung von chronischer Krankheit – die er im Alter erfahren musste – beschreiben. Jeder, der durch chronische Krankheit in seinen Lebensäußerungen gehemmt oder gar entstellt wird, braucht diese Freiheit. Was den anderen als Störung erscheint, ist Ausdruck eines Leidens, das den Menschen bestimmt und insofern unfrei macht, ohne es tatsächlich zu sein. Diese Freiheit zur Umdeutung geschieht im Wissen um das Leiden an der Krankheit, das von den anderen aber als Scheitern und Versagen oder gar als Defizit naturalisiert wird – und sie geschieht im Leiden an den unangemessenen Zuschreibungen durch die anderen. In wenigen Worten beschreibt Wiehl, dass derartige Umdeutungen Kraft kosten und in die Einsamkeit führen, »wenn nicht von außen neue Kraft zufließt.« 27 Aus diesem Grunde fielen seine Urteile über die beiden großen Kranken der neueren Philosophiegeschichte – Nietzsche und Jaspers – immer sehr milde und abwägend aus. Was zeigen Wiehls Beispiele? Dass die Ethik – also der Wille zur eigenen Freiheit – nicht von Metaphysik und Ontologie getrennt werden kann, dass die Begriffsbildung nicht eigens ein wissenschaftliches Verhalten ist, sondern eines, das »lebensdienlich« ist; dass der Umgang mit Kausalinterpretationen ursprünglich ein Verhalten ist, das zum Menschen gehört wie das Sprechen; dass Umdeutung von Kausalitäten Ausdruck von Selbstbehauptung – der Behauptung der individuellen Freiheit eines Selbst ist. Er beschreibt die alltäglich stattfindende innerliche Auseinandersetzung als »gedankliches Experimentieren mit diesen und jenen kausalen Deutungen«, die sich insbesondere auf die Prägung unseres Alltagslebens durch »affektive Modalitäten« bezieht. An ihnen sehen und prüfen wir selbst, ob und inwiefern wir frei sind, nicht nur zu tun, was wir wollen, sondern auch der zu sein, für den wir uns halten. »Freiheit entfaltet sich primär im Spielraum kausaler Interpretationen und im Bereich der kritischen Prüfung derselben auf ihre Vgl. unten S. 163 ff. Wiehl reklamiert für sich »den von mir gefassten Begriff« der »psychischen Freiheit«. 27 Vgl. unten S. 175. 26 24 Wiehl (48432) / p. 25 /19.3.11 Einleitung Stichhaltigkeit hin.« Was daran verwundert, ist die Nähe zum amerikanischen Pragmatismus, und natürlich das immer mitschwingende Sokratische »Erkenne dich selbst«, das auf Selbstprüfung und Wahrhaftigkeit abzielt. Wiehl hat – auch in seinem Seminarstil – eine große Nähe zu Sokrates, die bei ihm bis in die Physiognomie, ja sogar bis in die Leiblichkeit führt. An dem Erzieher Sokrates betont er die Tugend der »Gewissenhaftigkeit«, die er allerdings nicht als Instanz der Moral versteht, sondern als Affekt. »Menschliche Freiheit gehört zusammen mit dem Affekt der Gewissenhaftigkeit.« 28 Es gilt eine Verunsicherung aufzuklären, die sich bei manchem einstellt, der aufgrund des Untertitels mindestens ein eigenes Kapitel zu einer der bekannten Emotionen erwartet – etwa Liebe, Hass, Freude, Trauer. Tatsächlich akzentuiert Wiehl wohl bekannte Emotionen in seinen philosophischen Deutungen neu, etwa die Liebe gedeutet als Menschenfreundlichkeit, die Verzweiflung gedeutet als Jasperssche Grenzsituation, die Trägheit (acedia) gedeutet als Gleichgültigkeit, die sich als Rücksichtnahme in gut gemeinte Absichten kleidet. Nur geht es Wiehl nicht darum, den seit Aristoteles in der Philosophie bekannten Emotionstheorien 29 eine weitere hinzuzufügen. 30 – Wiehl selbst spricht mitunter auch von philosophischen Affektenlehren. Er bezieht er die o. g. Basisemotionen zurück auf ihren philosophischen oder zeitgeschichtlichen Hintergrund, auf dem sie entwickelt bzw. problematisiert werden. Dazu bieten ihm Werke der Literatur gute Gelegenheiten, auf Exemplifizierungen von einzigartigen Affektschicksalen zu stoßen. Neben den schon erwähnten Figuren aus Goethes Faust – Gretchen und Faust selbst – haben ihn besonders Beatrices Liebe (Dante), aber auch Penthesileas Zorn (Kleist) und natürlich der Zorn des Achill sowie Odysseus Listen (Homer) fasziniert. In seiner breiten literarischen Lektüre ist er auf Jakob Wassermanns Romanfigur »Caspar Hauser« gestoßen. Der Untertitel »… oder über die Trägheit des Herzens« deutet eine schicksalhafte Emotionsgeschichte an, in der die Trägheit (acedia) der zentrale Affekt ist. Allerdings leidet Caspar Hauser nicht selbst an der acedia, sondern die sich ihm zuneigende MitVgl. unten S. 249 ff. Aristoteles, Rhetorik, B2 ff. 30 Die beiden letzten großen philosophischen Darstellungen der Emotionen oder Affekte, auf die Wiehl immer wieder zurückkommt, stammen von Spinoza und Nietzsche. Erstere findet man im Schlussteil von Spinozas Ethik, letztere ist aufgrund der aphoristischen Arbeitsweise auf das gesamte Werk Nietzsches verstreut. 28 29 25 Wiehl (48432) / p. 26 /19.3.11 Knut Eming welt. Die Menschwerdung des Findelkindes Caspar Hauser scheitert und verliert sich im Ungewissen, weil die an ihm interessierten Mitmenschen, die meist zu den Gebildeten gehören, in ihm die natürliche Unschuld suchen und so an Caspar Hauser selbst kein Interesse haben. 31 Es handelt sich um eine Tragödie des Scheiterns der allseits bekannten »guten Absichten«, die sehr fein in allen ihren Verstrickungen und symbolischen Interaktionen auslegt wird. Im Sinne der philosophischen Hermeneutik Gadamers setzen die Aufsätze im mit »Ethik« überschriebenen Teil das Gespräch vor allem mit zwei Philosophen fort, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Nietzsche und Jaspers. Zunächst verwundert die Konzentration auf Nietzsche, aber für Wiehl teilen Nietzsche und Spinoza zwei ganz wesentliche Grundsätze; die durchgängige Unfreiheit des Menschen, anders gesagt, seine Fremdbestimmung durch Affekte und äußere Ursachen, und vor allem die These, dass die Vernunft nichts anderes als der stärkste Affekt ist. Zum anderen ist Nietzsche ein Gewährsmann für Wiehl, weil Nietzsche im Sinne historischen Takts (Gadamer) zwischen Platon als »dem zartesten Gewächs des Altertums« und dem Platonismus – damit meint Nietzsche vor allem das Christentum mit Jenseitsreligion und Diesseitsverneinung – zu unterscheiden weiß. Nietzsche ist der vehemente Kritiker des Platonismus und zugleich weiß er, dass er selbst mit dem originalen Platon viele Voraussetzungen teilt. Und schließlich gibt es noch eine Gemeinsamkeit die Wiehl an Nietzsche wie an Spinoza herausstellt: Die Liebe ist als amor dei intellectualis (Spinoza) bzw. als Eros der stärkste Affekt, die den Leib mit der Vernunft versöhnt. Neben Nietzsche dominiert Jaspers den Ethik-Teil. 32 Die ungewohnte Beschäftigung mit Jaspers verwundert nicht, denn Wiehl hat im Zuge seiner Präsidentschaft der Internationalen Karl-Jaspers-GeIm Unterschied dazu ist Faust alles andere als unschuldig; auf seinen Drang nach Freiheit weist Wiehl ausdrücklich hin – am Ende schlägt Fausts Tatendrang in Unfreiheit um, denn der blinde Faust schaufelt sich selbst das eigene Grab. So lange das Begehren zur Freiheit nicht mit der Selbsterkenntnis verbunden ist und so begrenzt wird, so lange bleibt der Mensch in der Unfreiheit – im Rahmen der ihn drängenden Mächte. 32 Wiehl weist in seiner Abhandlung Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz als Ethik (unten S. 358 ff.) eigens darauf hin, dass jeder Satz bei Jaspers auf Nietzsche zurückverweist und bei ihm gefunden werden könnte. Was Jaspers von Nietzsche nicht übernimmt, sind seine anstößigen und verunglimpfenden Übertreibungen. Dazu war Jaspers zu sehr strenger Ethiker. 31 26 Wiehl (48432) / p. 27 /19.3.11 Einleitung sellschaft (Basel) über Jahre hinweg Jaspers als Metaphysiker des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. Am Ende ging es ihm vor allem darum, aus Jaspers einheitlichem Philosophiekonzept eine moderne Ethik zu entwickeln, die in unausgesprochenen Rückblick auf Max Weber die Verantwortung eines jeden aus zweierlei Hinsicht problematisiert – ethisch wie politisch. Gegen die übliche Gegenüberstellung des Ethischen als Sphäre des Privaten und der Politik als Sphäre des Öffentlichen betont Wiehl auch hier eine Zusammengehörigkeit von Ethik und Politik. Er scheut sich in der Darstellung der existentiellen Verantwortungsethik nicht, die von Jaspers in der legendären 1. Vorlesung des Wintersemesters 1945/46 gestellte Schuldfrage wieder aufzugreifen, obwohl diese Grundfrage Wiehl selbst existenziell betrifft. Immer wieder hat Wiehl betont, dass er diese Vorlesung für das beste hält, was Jaspers vorgetragen und veröffentlicht hat – gerade weil er in vierfacher Weise nach Schuld fragt, als persönliche, moralische, rechtliche und vor allem metaphysische Schuld. Es ist vor allem die metaphysische Schuld, die nach Wiehl am schwersten wiegt und der sich kein Deutscher entziehen kann. Mit Wiehls Aufsätzen zur Ethik kommen wir in der Wirklichkeit unserer Republik an. Im Unterschied zu den in der Literatur üblichen Deutungsschemata ist es weder die Schuld noch die Scham – als Verhalten (emotional) wie als Wert (ethisch) – sondern die Trägheit des Herzens (acedia), die das Zusammenleben in der BRD bis heute bestimmt. Wiehl entwickelt eine Akzentuierung der Trägheit des Herzens als Schweigen. Aus der vermeintlichen Rücksichtnahme den Nazi-Opfern gegenüber kann Schuldbewusstsein nicht entstehen, weil sich die junge BRD entschieden hatte, das Leid der Opfer totzuschweigen – ein Schweigen, das sich selbst vor sich ent-schuldigt und sich im Angesicht der Opfer als Rücksicht geriert. Weder die Opfer des NaziRegimes, noch deren Zeitgenossen oder die Nachfahren von beiden können auf diese Weise frei werden, frei von erlittenem Unrecht wie auch frei von zu verantwortender Schuld. Die Eigenart der vorliegenden Arbeiten liegt darin, dass sie den Charakter von Meditationen haben. In ihnen werden Erfahrungsräume eröffnet, die in vielen Dimensionen – ästhetischen, ethischen, emotionalen wie begrifflich kategorialen – beschrieben werden, ohne dass sie vorschnell auf Probleme reduziert werden, die scheinbar leicht lösbar sind. Die Vielheit und die Vielfalt von Erfahrung und der Reflexion auf Erfahrung wird so in einer modernen Philosophie des Konkreten auf27 Wiehl (48432) / p. 28 /19.3.11 Knut Eming zeigbar und in feinen Nuancierungen denkbar. Insofern haben wir den Glücksfall vor uns, dass philosophisch grundlegende Ansätze des 20. Jahrhunderts – die Prozessontologie Whiteheads, die Existenzialontologie Heideggers, die Phänomenologie Schelers, die philosophische Hermeneutik Gadamers – aufgenommen und weiter geführt werden. Zugleich wird der Rückbezug zu den Klassikern der Philosophie hergestellt, vor allem Platon und Spinoza. Nicht zum Selbstzweck oder zur Befriedigung eines Bildungshungers, sondern als der Versuch, ein vormals erreichtes Reflexionsniveau philosophischer Begriffsarbeit zu vergegenwärtigen und fruchtbar zu machen. In diesen großen Rahmen philosophischer Selbstverständigung gehören auch die Gefühle und Emotionen, unsere Erfahrungen mit ihnen sowie das Wissen des Menschen von ihnen. Es gibt gegenwärtig in Deutschland nur wenige, die einen solchen Zugang in dieser Breite und historischen Tiefe wagen würden. Wollte man abschließend die vorliegenden Arbeiten bündig charakterisieren, also die Frage entscheiden, ob sie Abhandlungen (Traktate), Begriffsanalysen, Reflexionen, Meditationen oder Essays sind, so könnte man die Bestimmung wählen, die der Autor mitunter selbst benutzt hat: Essays. Zu einem Essay gehört der schnelle Wechsel von Einfällen und gelungenen Formulierungen, ohne dass alle Konsequenzenn ausgeführt werden. Insbesondere die Arbeiten aus dem ersten Teil (Ontologie) sind auf einem hohen Reflexionsniveau, dem zu folgen und gewachsen zu sein, vom Leser einige Anstrengungen erfordert. In den frühen Aufsätzen liegen kleine Traktate vor uns, die keinerlei Rücksicht auf Lesbarkeit nehmen. Je näher wir den letzten Arbeiten Wiehls kommen, fällt eine Eigenschaft auf: Sie werden literarischer. Auf Wiehls späten Arbeiten trifft zu, was er selbst einmal von ihnen gesagt hat; sie sind Versuche einer philosophischen Schriftstellerei. Es vermählen sich aber nicht Philosophie und Literatur, sondern das Philosophieren wird literarisch. Es wird also keine fremde Schreibweise eingeübt, sondern sie ergibt sich aus dem meditativen Umgang mit philosophischen Fragestellungen, die er weiter entwickelt, indem er ihre Grenzen übersteigt. Letztlich liegen also Meditationen vor, die sich in eine große Tradition meditativer Philosophie (Descartes, Husserl, Wittgenstein) einreihen, Meditationen, die sich selbst immer als Gegenentwurf zu jeglichem Dogmatismus verstanden haben. In ihnen hat die hohe Begriffskunst der Reflexionslogik ebenso Platz wie die Erfahrung der Lebenswelt. 28 Wiehl (48432) / p. 29 /19.3.11 Einleitung Zur philosophischen Biographie In der Nikomachischen Ethik bringt Aristoteles in seiner Diskussion des Glücks (Eudaimonie) das berühmte Wort Solons: »Niemand kann glücklich genannt werden, so lange er lebt.« 33 Wir müssen nicht die Frage beantworten, ob man von Reiner Wiehl das sagen kann, was Wittgenstein seinen Schülern hat ausrichten lassen: »Sagen Sie ihnen, ich habe ein glückliches Leben gehabt.« Aber das Leben Reiner Wiehls war ohne Frage ein philosophisches. Das Wort Solons hat Gadamer einmal so gedeutet, dass nach dem Tod sich ein gelebtes Leben in ein Gebilde verwandelt, das dieses als Ganzes sichtbar macht. Das gilt für die Sichtweise der Zurückgebliebenen wie für das, was das Sterben und der Tod herbeiführt. Die Weiterlebenden tragen all das zusammen, was sie bis dahin in individuellen Gesprächen von dem Verstorbenen und über den Verstorbenen erfahren haben. Aus Gründen der Diskretion hat man zu Lebzeiten des Verstorbenen nicht offen darüber geredet. Erst nach dem Tode darf man dies, weil man beabsichtigt, dem Verstorbenen ein ehrenvolles Angedenken zu bewahren. Im Fall des Todes von Reiner Wiehl hat das eine eigene Tiefenschärfe dadurch erhalten, dass Hans Friedrich Fulda zwei bedeutende Reden gehalten hat, die den Nachlebenden die Augen geöffnet haben; die erste anlässlich des 80. Geburtstags für den Jubilar und die zweite gut ein Jahr später auf den Verstorbenen. Erst nach seinem Tod wurde insbesondere seinen Schülern klar, dass Reiner Wiehl ein Verfolgter des Nazi-Regimes war. Er hat nur fragmentarisch und oft nur in Andeutungen darüber geredet. Reiner Wiehl wurde wegen seiner jüdischen Herkunft als 11-jähriger vom Frankfurter Lessing-Gymnasium ausgeschlossen, im Alter von 14 Jahren wurde er deportiert und hat am Ende des Krieges an einem der berüchtigten Todesmärsche teilgenommen. Seine ihn lebenslang plagende Lungenkrankheit war vermutlich eine Spätfolge dieser Torturen. Nach 1945 wurde er wieder ins Lessing-Gymnasium aufgenommen, machte dort sein Abitur und begann sein Studium an der Frankfurter Universität. Über seinem Schicksal – wie über dem seiner Familie und Anverwandten – lag der bleierne Schleier des Schweigens. Von diesen traumatischen Ereignissen aus gesehen erhalten seine Arbeiten über jüdische Religionsphilosophie wie seine Beschäftigung 33 EN, A 10, 1100a11 29 Wiehl (48432) / p. 30 /19.3.11 Knut Eming mit Ethik und Anthropologie, mit Freiheit und Unfreiheit, mit Schuld und Verantwortung eine lebensgeschichtlich tiefe Bedeutung. Da redet und philosophiert ein Überlebender. Wenn er einmal und fast nur nebenher Sophokles zitiert: »Nichts ist ungeheurer als der Mensch!«, 34 dann meint er vielleicht auch die Tragödie der deutschen Geschichte, verfällt aber weder in eine Anklage, noch wird er moralisch. Reiner Wiehls akademischer Weg war sehr erfolgreich; er hat nach seinem Studium in Frankfurt und nach seiner Assistentenzeit bei Hans-Georg Gadamer zwei Ordinariate (Hamburg und Heidelberg) bekleidet, bekam in Zürich von der Margit-Egner-Stiftung einen philosophischen Preis zugesprochen, wurde Präsident der internationalen Karl-Jaspers-Gesellschaft (Basel) und hat sich in den letzten Jahre seines Lebens ganz seinen philosophischen Arbeiten gewidmet. Er hatte ein Buch über Methoden in der Philosophie in mehreren Kapiteln fertig und parallel dazu begonnen, eine Einführung in die Philosophie zu schreiben. Gelegentlich hat er noch Vorträge gehalten. Trotz schwerer Krankheit hat er an seinem philosophischen Arbeitsleben festgehalten. Aufstehen gegen sechs Uhr, asketisches Frühstück (ein Apfel), Arbeiten am Schreibtisch, nach zehn ein zweites Frühstück, dann Telefonate und Korrespondenz. Nach der Mittagspause philosophisches Studium, zur Teestunde Gäste und abends »Müßiggang« durch die abendländische Kulturgeschichte, insbesondere Musik und Literatur. Reiner Wiehl ist am 30. 12. 2010 im Alter von 81 Jahren in Heidelberg gestorben. 34 Sophokles, Antigone 332 30