Architektur als natürlicher Prozess

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Architektur
als natürlicher Prozess
NGHIÊM
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Um die Jahrtausendwende begannen sich die Rahmenbedingungen für
die Architektur in Vietnam grundlegend zu ändern. Durch die Verbreitung
des Internet erhielten die Menschen Zugang zu vielen verschiedenen
Informations- und Wissensquellen, die Gesellschaft wurde offen für Neuerungen. 2006 erregte Võ Trọng Nghĩa als erster vietnamesischer Architekt
weltweit Aufsehen durch seine experimentellen Bambusbauten. Er trug
wesentlich zur konzeptuellen Entwicklung der Architektur und zur Stärkung
der Rolle des Architekten in Vietnam bei.
2009 gründeten wir das Büro a21studĩo mit fünf Mitgliedern. In unserer
Arbeit ießen sowohl Ein üsse der traditionellen vietnamesischen Baukunst
als auch der sogenannten tropischen Architektur wie jene von Luis Barragán
oder Geoffrey Bawa ein. Bereits bei unseren ersten Projekten verfolgten
wir einen nachhaltigen Umgang mit Raum und Material: Wir investierten viel
Zeit in die Recherche nach architektonischen Lösungen, machten typologische
Studien zu Hofhäusern und untersuchten unterschiedliche Bauweisen.
Nach den frühen Bauten wie dem a21 House sowie zahllosen unvollendeten Projekten folgte ab 2012 die Suche nach einer neuen, freieren
Ausdrucksweise. The Nest war das erste Bauwerk dieser Phase. Wir ließen
uns bei dem Projekt von Vögeln inspirieren, die ihr Nest einfach aus dem
bauen, was sie um sich herum vorfinden. Entsprechend besteht das Bauwerk
aus gebrauchten Materialien und aussortierten Resten unserer ausufernden
Konsumwelt. Das Haus besitzt dadurch ad hoc eine Geschichte, die
sich aus den Geschichten seiner einzelnen Komponenten zusammensetzt.
Das Recycling ermöglicht nicht nur eine gleichermaßen umweltverträgliche
wie nutzerfreundliche Umgebung, sondern hat auch die Baukosten im
Vergleich zu Projekten in konventioneller Bauweise reduziert. Die Bedeutung
dieser Projekte liegt nicht nur in der Nutzung gebrauchter Materialien
oder der Kostenersparnis für die Auftraggeber, sondern gerade auch darin,
Schönheit im Alltäglichen zu finden – und so die Fesseln der Sehgewohnheiten und die Doktrin der konventionellen Ästhetik abzustreifen, die sonst
in Bauwesen und Design vorherrschen.
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Das Jahr 2014 wurde zu einem Meilenstein für uns, als das Projekt
The Chapel mit dem Preis World Building of the Year des World Architecture
Festival ausgezeichnet wurde. Der Entwurf orientiert sich am Typus des
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eines öffentlichen Gebäudes, in dem sich die Dorfgemeinschaft trifft und
an kommunalen Aktivitäten teilnimmt. Der Bau beschreitet einen neuen Weg
im Umgang mit traditionellen Formen der Architektur: Er bedient sich tradierter
Werte und Formen, um den gegenwärtigen Gesellschaftsentwurf und die
damit verbundenen Probleme zu re ektieren. Bei diesem Gebäude geht es
grundlegend um das schwierige Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in einer modernen Gesellschaft. Die Auszeichnung ermutigte uns, die
Suche nach neuen architektonischen Ansätzen für die Gemeinschaft fortzusetzen.
Nach The Chapel haben wir im Jahr 2014 anhand einer Reihe von
Projekten unsere Haltung weiter geschärft. Wir haben unsere Entwurfs- und
Arbeitsmethoden optimiert, das Re- und Upcycling sowie Bearbeitungsprozesse
vereinfacht. Bauzeit sowie Auswirkungen auf die Umwelt wurden dabei
verringert. Sämtliche Komponenten lassen sich zudem ohne großen Ressourcenverbrauch wieder zurückbauen und wiederverwenden.
Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir die Architektur
nicht nur als Bauen begreifen, sondern als Mittel der Re exion über unsere
Gesellschaft – einer materialistischen Gesellschaft, die die Spiritualität einerseits
unterdrückt und andererseits für allerlei Heilsversprechen empfänglich ist.
Das Projekt Pagoda spiegelt diese Überlegungen wider, es ist ein fast immaterielles Gebäude, eine Pagode in ihrem ursprünglichen Sinn: ein Schattenspender
für die Meditation. Mit dieser Radikalität haben wir eine neue Freiheit für
unser architektonisches Denken entdeckt.
Im Gegensatz dazu bringt das Saigon House aus dem Jahr 2015 unsere
Gefühle gegenüber unserer Heimatstadt sehr konkret zum Ausdruck. Wir
haben Materialien, Farben sowie die Anordnung einzelner Volumina unter einem
Dach und auf einer Parzelle bewusst eingesetzt, um vertraute Bilder von
Saigon zu evozieren, die von der Vielfalt der Dachlandschaft und Gassen
geprägt sind. Unser Ziel ist es, dass die Menschen, die unsere Architektur
benutzen, diese bewusst erleben und als anregend empfinden, anders als es
bei der Mehrzahl charakterloser Gebäude der Fall ist, die im ganzen Land
entsteht.
Nach über fünf Jahren des Experimentierens und der Suche im Bereich
Entwurf und Konstruktion wenden wir uns mit mehr Erfahrung wieder traditionellen Aspekten der Architektur zu, ohne von rein formalen Faktoren geleitet
zu werden. Für uns gibt es im Entwurfsprozess keine Einschränkungen
hinsichtlich Form, Konstruktion oder Konzept. Stattdessen betonen wir die
kulturelle Offenheit und die Freiheit im Ausdruck, damit das tradierte Wissen
um typologische Vielfalt und klimaangepasstes Bauen nicht verlorengeht,
sondern in eine andere Form von Schönheit überführt wird – eine, die dem
gesellschaftlichen Wandel angemessen ist.
Darin gründet auch unsere Überzeugung, dass wir mehr Verantwortung
für den Schutz unserer Lebensräume tragen müssen. Wir müssen die Auswirkungen der Architektur auf die Umwelt minimieren. Dafür muss ein Gebäude
von jedem erbaut werden können, von Handwerkern, Nutzern oder Architekten.
Es sollte leicht zu errichten und auch leicht wieder abzubauen sein, damit
Architektur zu einem wahrhaft natürlichen Prozess werden kann: Sie wird
geboren und vergeht, frei von der Gier nach Permanenz.
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