Ethik ist Orientierungshilfe - Basale

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Ethik ist Orientierungshilfe
Ethik als Kompetenz der Selbstberatung durch Selberdenken
1. Irritationen
Ich nehme an, im Pflegealltag wissen Sie in der Regel, was Sie zu tun
haben. Sie verfügen über viel berufsspezifisches Fachwissen und wie
alle Menschen über reichlich Lebenserfahrung. Mit anderen Worten,
wir Menschen entscheiden und handeln meist gewohnheitsmässig,
routiniert, sicher und selbstverständlich. Eine Art stillschweigendes
Orientierungs- oder Steuerungswissen leitet uns. Wir kennen uns aus.
Manchmal allerdings wird unser Tun problematisch. Wir erfahren,
dass die erworbenen Gewohnheiten, unsere weltanschaulichen und
moralischen Grundüberzeugungen und all die Patentrezepte keine
Geltungskraft mehr haben. Sie tragen nichts mehr zur Handlungsorientierung bei. Die Navigationssysteme versagen. Das Zerbröseln der
bisher gültigen Verhaltens- resp. Handlungsmuster führt unweigerlich
in Verunsicherungen, Irritationen und stürzt uns in Ratlosigkeit. Und
plötzlich stecken wir mit Haut und Haar mitten in der Frage “Was soll
ich tun?” oder „Was sollen wir tun?“
Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein sagt: „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.“1 Ich
habe also immer dann ein Problem, wenn ich mich nicht auskenne. Im
Bereich der Ethik lassen sich nach Kurt Bayertz in der Hauptsache
drei Arten von Problemen beschreiben, die zu einer Desorientierung
führen können:
1. Probleme, die aus dem Konflikt von moralisch (eindeutig) Gebotenem und dem Bevorzugten herrühren: Alles was ich liebe ist entweder
illegal, unmoralisch oder dick machend!
2. Probleme aufgrund von Unklarheiten über die für eine moralische
Bewertung heranzuziehenden empirischen Fakten: Ist die Wirksamkeit
einer Therapie empirisch nachgewiesen oder fehlen mir die notwendigen Fakten als Entscheidungshilfe.
1
Wittgenstein, Ludwig ; Philosophische Untersuchungen
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1
3. Probleme, die durch die Kollision von moralischen Werten oder
Prinzipien entstehen: Was für die einen ein Zellenhäufchen ist, mit
dem getrost geforscht werden darf, interpretieren andere bereits als
eine heranwachsende, unantastbare Persönlichkeit.2
In einer dauerbeschleunigten, sich stetig wandelnden und radikal pluralistischen Welt verschärft sich diese Problemlage drastisch: Zum einen stellt sich angesichts des immensen Fortschritts in Wissenschaft
und Technik die Frage, ob alles Machbare auch ethisch vertretbar ist.
Zum anderen sind wir konfrontiert mit einem globalisierten, ökonomischen Totalitarismus, mit Wertepluralismus bzw. Werterelativismus,
dem Zwang zur ständigen Neuorientierung und den Folgen von Brüchen aller Art. Die Welt ist aus den Fugen – kein Wunder leben wir
heute rastlos und sehr häufig auch ratlos.
Ein kurzer Blick auf die gegenwärtige kulturelle Landschaft gibt Auskunft darüber, was hinter dem permanenten Orientierungsnotstand unserer Tage steckt.
2. Die Zeit in der wir leben
Betrachten wir Zeit-Design, werden vor allem vier Dinge deutlich:
1. Wir sind heute gleichzeitig in mehrere, tief greifende Veränderungsprozesse verstrickt, die auf verschiedenen Ebenen miteinander
wechselseitig verbunden und vermengt sind. Das Tempo dieser Veränderungen nimmt stetig zu. Wir leben in einer Zeit der rasanten Um-,
Auf- und Abbrüche. Das Leben ist zur Dauerbaustelle geworden. Das
Provisorium ist eine der wenigen Konstanten..
2. Wir leben mit dem Bewusstsein der wachsenden Differenzierung –
insbesondere der gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme. Wir navigieren in einer Welt, die zunehmend ausdifferenzierter, komplexer,
unübersichtlicher und damit auch undurchschaubarer wird. Die Welt
ist für viele eine unzusammenhängende, eine fragmentierte und oft
auch unverständliche geworden.
2
vgl. Bayertz, Kurt; Praktische Philosophie als angewandte Ethik, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.); Praktische Philosophie, Hamburg 1991, 27-33.
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2
3. Die Pluralisierung der Lebensformen und sozialen Beziehungen
führt insgesamt in eine zunehmende Individualisierung. Einheitliche
Lebensformen nehmen ab. Die geographische, soziale und politische
Mobilität löst die Menschen aus Traditionen, Verankerungen und Institutionen, die lange Zeit Wissens- und Wertsysteme bewahrt und
auch weitergegeben haben. Ein neuer Sozialisationstypus erscheint am
Horizont: der radikal auf sich selbst zurückgeworfene Einzelmensch,
der lonsome cowboy.
4. Wir haben mit Wertepluralismus und Werterelativismus zu leben.
Pointierter: Absolut gültige Werte haben sich längst in relative verwandelt. Die eine Wahrheit fiel der Explosion der vielen Perspektiven
zum Opfer. Die Frage „Welche Werte unter diesen Bedingungen noch
Geltung beanspruchen können resp. sollen?“ ist nur noch schwer zu
beantworten.
Fazit: Die Prozesse durchgehender Desintegration und Pluralisierung
bestimmen zunehmend unser Denken, Handeln und Fühlen. Radikale
Vielfalt ist zur Grunderfahrung der Gegenwart geworden. Die Vielfalt
der Lebenswege, der Lebensweisen, der sozialen Umwelten, der
Glaubens-, Sinn-, Wissens- und Orientierungssysteme, der Berufsrollen und der gewachsenen Identitäts- und Beziehungsmuster ist enorm.
Peter Sloterdijk hat recht, wenn er sagt: „In der Welt sein heisst im
Unklaren sein.“3
Das bedeutet im Klartext: „Es werden der Problemlösungsfähigkeit
künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als
diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte
meistern könnten.“4 Wir fahren auf offener See und die Navigationsinstrumente taugen nur noch bedingt. Shakespeare lässt Hamlet in
weiser Voraussicht sagen:
„Die Welt ist aus dem Leim – Fluch ihren Tücken,
dass ich zur Welt kam, sie zurechtzurücken!“5
3
Sloterdijk, Peter; Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014, S. 9
ebd. S.90
5
Shakespeare, William; Hamlet 1. Akt, 5. Szene
4
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3
Wahrlich wir sind herausgefordert im wahrsten Sinne, heraus aus der
Enge bisheriger Grenzen, hinein in ein noch unbekanntes Neues.
2.1 Der postmoderne Mensch
Die Auswirkungen für uns Menschen sind offensichtlich: Persönliche
Orientierung und Identitätsfindung wird unter den Bedingungen einer
rapide sich wandelnden und pluralistischen Welt zu einem schwierigen Geschäft. Wir bewegen uns in unsicherem Gelände. Der Boden
unter unseren Füssen steht nie ganz fest.
Nicht nur unsere persönliche Identität erfahren wir wegen den vielfältigen Umwandlungen als etwas Prekäres, Offenes und Unabgeschlossenes, Differenziertes und Labiles. Beinahe alles erweist sich heute als
offen, unbestimmt und entscheidungsabhängig. Wir sehen uns genötigt, aus einem Riesenangebot möglicher Lebenschancen und Lebensformen auswählen zu müssen. Wir sind herausgefordert, unser Leben
zu designen und zu verantworten. Unsere Lebenslage lässt sich als eine Art Freistilkultur (Beck) beschreiben.
Immer häufiger erleben wir auf den verschiedensten Gebieten chaotische Zustände und ringen um Orientierungswerte Massstäbe, Leitplanken oder Koordinatensysteme. So gut wie nichts von dem, was
wir tun müssen und machen können, gründet noch in unbefragbar gewissen Überlieferungen, Routinen, Überzeugungen oder Zwängen.
Unser Leben wird immer weniger von vorgegebenen Geboten, Werten, Normen oder Direktiven geprägt. Am Ende aller Beratungen sind
wir auf das angewiesen, was uns selbst noch einigermassen zu überzeugen vermag.
Wir sind ständig gezwungen aus einem verwirrenden Angebot von
Werten, Moralen, Antwortmoden oder Heilslehren auszuwählen. Die
Selbst- und Orientierungssuche wird zum Dauerauftrag. Orientierungsanbieter haben Hochkonjunktur, Selbstfindung ist zur Industrie
geworden. Wir sitzen in Super- und Intervisionen, lassen uns coachen,
bevölkern Wellness-Oasen oder meditieren in Klöstern oder auf asphaltierten Pilgerwegen. Wir klammern uns an jeden Strohhalm und
greifen nach allem, was die vielen Möglichkeiten reduzieren und die
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Entscheidungszwänge und Orientierungsdefizite mildern könnte. Die
unzähligen Fundamentalismen jeglicher Provenienz profitieren von
dieser Notlage mehr als uns lieb sein darf.
3. Der Ethik – Boom
Zur Ethik im Speziellen: Unser gravierender Orientierungsnotstand
lässt sich exemplarisch am eklatanten Missverhältnis von wissenschaftlich-technischem Verfügungswissen und moralisch-praktischem
Orientierungswissen demonstrieren. Ich zitiere den Philosophen Jürgen Mittelstrass: “In Wissenschaft und (wissenschaftsgestützter)
Technik bildet die Gesellschaft ein positives Wissen aus, d.h. ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel. Positives Wissen allein löst
jedoch noch keine Probleme. Zum positiven Wissen muss vielmehr ein
handlungsleitendes Wissen oder Orientierungswissen hinzutreten, das
eine Antwort auf die Frage, nicht was wir tun können, sondern was
wir tun sollen, ist. Ohne ein derartiges handlungsleitendes Wissen
entstehen Orientierungsdefizite, d.h. das Können wird orientierungslos.”6
Allein schon dieses Einzelbeispiel erklärt den gegenwärtigen EthikBoom. Sonder- oder Bindestrichethiken schiessen wie Unkraut aus
dem Boden: Publikationen zu Medizin-, Wirtschafts-, Umwelt-, Technik-, Tier oder Verkaufsethik füllen ganze Bücherregale. Unternehmen berufen Ethikräte, Berufsverbände formulieren Ethik-Kodices,
Schulen und Nachdiplomkurse unterrichten Ethik als Fach und unzählige Tugendspezialisten kümmern sich von Berufs wegen um das Gewissen der anderen. Es macht den Eindruck, als seien wir auf dem
besten Wege eine durch und durch ethisierte Gesellschaft zu werden.
Ob uns allerdings mit einer florierenden Ethik- und Beratungsindustrie, mit Heerscharen von so genannten Ethik-Experten und unzähligen
Sonderethiken tatsächlich zu helfen ist, bleibt für mich persönlich zumindest eine offene Frage. Skeptisch machen mich vor allem drei
Dinge:
6
Mittelstraß, Jürgen; Zur wissenschaftlichen Rationalität technischer Kulturen, in: Ders.: Leonardo-Welt, Frankfurt a. M. 1992, 33f.
[email protected]
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1. Ethik wird zu einseitig gleichgesetzt mit der Formulierung bestimmter moralischer Standpunkte und Urteile (z.B. „Firmen mit Kinderarbeit werden boykottiert!“). Ethik müsste wieder vermehrt als
Moralreflexion installiert werden. Sie muss auch danach fragen, ob
bestimmte Standpunkte der kritischen Reflexion standhalten oder
nicht.
2. Ethik als wissenschaftliche Disziplin krankt noch immer an Praxisorientierung. Sie verliert sich in der Suche nach allgemeingültigen
Grundregeln oder Moralprinzipien und diskutiert ethische Fragestellungen und Begründungsfragen auf einer für Laien nicht nachvollziehbaren Abstraktionsebene. Dabei bleibt meist ungeklärt, wie denn
nun die akademisch-theoretischen Analysen praktisch implementiert
werden können. Die Ratsuchenden verlangen aber nach umsetzungsorientierten Konzepten für den Alltag.
3. Orientierungshilfe – gerade in ethischen Belangen – erschöpft sich
nicht in der Vermittlung von Rezeptkatalogen und Tools, die wie
Passpartout-Schlüssel zu allem und jedem passen. Orientierung ist
mehr, sie ist wesentlich Selbstorientierung durch Selbstdenken und
demzufolge nicht ausschliesslich die Angelegenheit von Experten und
Berater-Cliquen. Wir sollten wieder vermehrt einem reflexiven Begriff von Orientierung eine Stimme geben, der für die Kompetenz des
Sich-Zurechtfindens durch Selbstdenken steht. Desorientiertheit überwinden wir eben auch mittels des Orientierungsvermögens. Der Orientierungsnotstand in privaten und öffentlichen Angelegenheiten gebietet die Einübung und Erweiterung der eigenen Orientierungskompetenz. Die Kunst des Sich-Zurechtfindens ist Hilfe zur Selbstaufklärung und Selbstorientierung. Wir brauchen keine Ethik-Gurus mit absoluten Wahrheitsansprüchen, sondern Vermittler im mühsamen Geschäft des Austarierens gegensätzlicher Standpunkte und dem Finden
von Kompromissen.
4. Hilfe zur Selbstaufklärung und Selbstorientierung
Mein Ethikverständnis hat sich aus den genannten Gründen zu einem
mehrdimensionalen weiterentwickelt. Ich begreife Ethik als eine Theorie mit Praxisorientierung. Sie hat per definitionem mit Problemen
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und Fragestellungen zu tun, die in den konkreten Lebensprozessen der
Menschen fest verankert sind. Bleibt Ethik nicht mit Anwendung verknüpft, bleibt sie leer und absurd – ein reines Gedankenspiel. Ethik
soll und ein Grundriss-Wissen bereitstellen, das von uns in den jeweiligen Lebensvollzügen zu gestalten ist. Sie schafft Orientierungswerte.
Daran sind insbesondere die Bereichsethiken zu messen. Gerade von
ihnen, da sie Anwendung intendieren und Praxistauglichkeit versprechen, erwarten die Ratsuchenden Hilfestellungen für den Praxisalltag.
Wenn z. B. in Spitälern, Institutionen oder Unternehmen die Frage
diskutiert wird, was denn Selbstbestimmung, Menschenwürde, gutes
Sterben, Freiheit oder verantwortliches Personalmanagement sein
könnte, dann geht es dringlich um konkrete Umsetzung und nicht nur
um die Begründung ethischer Prinzipien. Die Bedeutung und Stärke
spezieller Ethiken gründet nicht in ihrem Status als Sonderethik, sondern in der Klärung besonderer Probleme. Sonderethik ist Ethik in besonderen Situationen.
Ich plädiere vehement dafür, ethisches Wissen wieder verstärkt für die
individuellen und gesellschaftlichen Belange fruchtbar zu machen.
Denn in Situationen ethischer Desorientierung wünschen wir uns
nichts sehnlicher als die Fähigkeit, unseren Umgang mit ethischen
Fragen und Problemen zu reflektieren und daraus Handlungsentscheidungen abzuleiten. Wir erhoffen uns Hilfe zur ethischen Selbstorientierung. Wir wollen wissen, wohin die Reise geht. Wir wollen wissen,
was wir zu tun haben.
Diese Zielorientierung verändert die Perspektive und bestimmt ethische Beratung durch Selbstdenken als genuinen Teil der praktischen
Philosophie. Praktische Philosophie resp. ethische Beratung ist vorrangig die Tätigkeit des methodisch geleiteten Selberdenkens – philosophische Praxis im eigentlichen Sinn! Philosophie als Philosophieren
ist Tätigkeit, Vollzug, Handlung. Dabei geht es um die konkrete, praktische Erfahrung des Denkens, Selbstdenkens und des Gesprächs. Philosophieren ist Nachdenken, ist Welt- und Selbstbesinnung in Dialogform. Die Kunst des Philosophierens kann vernünftige Perspektiven
für ein sinnvolles Leben erschliessen.
Ich komme zum Schluss.
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4. Schluss
In einer Welt, die pausenlos Irritationen und Anpassungskrisen erzeugt, müssen wir wieder lernen uns selbst zu orientieren. Die Förderung der Kompetenz zur Selbstberatung durch Selbstdenken oder moderner der Orientierungskompetenz ist heute ein must. Gerade in Unternehmen und Institutionen sollten Mitarbeitende nicht ausschliesslich von externen Profis orientiert und beraten werden. Ich habe eine
Philosophieauffassung stark gemacht, die das Selbstdenken und damit
in der Folge die ethische Beratung als Hilfe zur Selbstaufklärung und
Selbstorientierung in den Vordergrund rückt. Ethische Beratung, die
Suche nach Angemessenheit und das Miteinander zu Rate gehen, ist
dauernder Vollzug.
Der Königsweg einer ethischen Beratung könnte in einer maieutisch
orientierten Vorgehensweise liegen, die uns zu tieferen Einsichten
hinführt. Ziel der Beratung ist dabei nicht nur die Ermöglichung eines
kompetenten moralischen Urteils der Ratsuchenden, sondern auch die
Einübung ethischer Kompetenz. Im Vordergrund stehen nicht irgendwelche Orientierungsdirektiven, die aus der Warte einer bestimmten
normativ-grundlagenethischen Theorie geboten scheinen. Vielmehr
geht es darum, Ratsuchende in die Lage zu versetzen, moralische Fragen und Probleme selbständig angemessen durchzuarbeiten. Ein wichtiger methodischer Beitrag dazu liefert das Sokratische Gespräch.
Wirkliche Einsicht, so Sokrates, erlangen wir nur, wenn wir eine Frage selbst untersuchen. Selber denken macht schlau! Deshalb bedürfen
wir der Möglichkeit, unsere Gedanken zu formulieren und sie an den
Anderen zu erproben. Im Zwiegespräch lernen wir die Persönlichkeit
von Anderen kennen und ihre Interessen, Werte, Überzeugungen, und
Vorurteile, ihre Art zu denken und zu argumentieren verstehen. Am
meisten jedoch lernen wir über uns selbst, wenn wir im Dialog mit
anderen unsere eigenen Gedanken, Gefühle und Erfahrungen klären
und sie uns damit erst zu eigentlich ganz zu eigen machen. Das philosophische Gespräch ist deshalb die wohl fruchtbarste Art, unser Denken zu schulen.
Noch einmal: Die Suche nach Orientierungshilfen, nach begründeten
Handlungsregeln für die Praxis sowie nach grundlegenden Prinzipien
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der Ethik ist mit höchsten Ansprüchen verbunden. Ich plädiere deshalb für mehr Zeit zur Selbstreflexion und zum Innehalten. Mitarbeitende müssen ermutigt werden, sich in der Kunst des SichZurechtfindens zu üben. Ethische Selbstberatung als Selbstorientierung durch Selbstdenken kann Differenzierungsvorgänge ankurbeln.
Sie kann helfen, erstarrte Begriffe oder festgefahrene Denkgewohnheiten als solche zu erkennen. Sie kann neue Denk-Räume und unvermutete Perspektiven eröffnen und so Wege zu mehr Orientierungsund Handlungswissen erschliessen. Damit erst verwandelt sich unser
Wissen in ein (lebens-)praktisches Wissen bzw. Gebrauchswissen.
Was aber bei aller Beratungskunst bleibt, ist die sokratische Bescheidenheit: Wir wissen, dass wir nicht viel wissen. Ich weiss, dass ich
nicht weiss. Wohlverstanden: nicht nichts. Das eigene bescheidene
Wissen mit dem Wissen anderer zusammenzubringen und daraus einen Lernprozess zu gestalten, das ist Beratung. Nicht mehr. Aber auch
nicht weniger.
Ethik macht uns nicht automatisch zu Menschen der guten Taten. Sie
weiss auch nicht alles, weil die Erfahrungszusammenhänge, auf die
sie sich bezieht, eine ungeheure Vielfältigkeit aufweisen. Doch vielleicht ist das alles gar nicht so wichtig!? Vielleicht ist es bedeutsamer,
dass wir lernen, Grundorientierungen situationsbezogen und angemessen aufeinander zu beziehen und zu beurteilen mit dem Ziel, wieder
handlungsfähig zu werden. Die Schulung der kognitiven Fähigkeit, die
sittlichen Probleme des (Berufs-) Alltags zu erkennen, zu artikulieren
und zu bewältigen, sollten wir nicht Fachleuten und Ethikräten überlassen. Wer andauernd Experten-Wissen einkauft, der trägt dazu bei,
dass das Wissen zum Gebrauchsgegenstand verkommt, den wir jederzeit herbeischaffen können, wenn wir ihn brauchen. Damit aber wird
die Fähigkeit des Selbstdenkens, des eigenständigen Lernens zerstört
und das Wissen der Beteiligten unterminiert. Schaffen Sie Raum und
Zeit für das Erlernen dieser Art von Orientierungskompetenz, damit
das berufspezifische Erfahrungswissen der Mitarbeitenden nicht einfach brach liegt.
Ich danke Ihnen für Ihr aufmerksames zuhören.
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