Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils

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Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils
Anhand hypothetischer moralischer Dilemmata hat Kohlberg in Interviews untersucht,
wie Personen moralische Konflikte interpretieren und die Richtigkeit von Handlungen
beurteilen und begründen. Bei der Bestimmung der Stufen orientierte er sich nicht an
der Präferenz für bestimmte Werte oder Handlungen, sondern daran, welche „sozialen
Perspektiven“ in den Urteilsbegründungen berücksichtigt werden. Kohlberg unterscheidet drei verschiedene Niveaus, die je zwei Stufen beinhalten. Auf präkonventionellem
Niveau orientieren Menschen sich vorwiegend an Interessen und Bedürfnissen von ego
und alter. Sie urteilen aus einer egozentrischen Perspektive (Stufe 1) oder beziehen
einen konkreten anderen in ihre Sichtweise mit ein (Stufe 2). Auf konventionellem
Niveau orientieren sie sich an interpersonalen oder gesellschaftlichen Erwartungen und
Regeln. Sie nehmen dabei in ihrem Urteil Perspektiven ein, die Beziehungen und
Gruppen im sozialen Nahraum (Stufe 3) oder das gesellschaftliche System (Stufe 4)
berücksichtigen. Auf postkonventionellem Niveau schließlich orientieren Personen sich
an individuellen Menschenrechten und dem sozialen Vertrag oder an universalen ethischen Prinzipien. Dabei wird eine der Gesellschaft vorgelagerte Perspektive rationaler
Individuen (Stufe 5) oder der „moral point of view“ (Stufe 6) eingenommen.
Kohlberg beschreibt das Urteilen auf Stufe 1 als Orientierung an Bestrafung und Gehorsam. Soziale Perspektiven werden noch nicht (klar) differenziert; diese „egozentrische“
Perspektive geht mit der fehlenden Berücksichtigung von Interessen anderer und mit
der Verabsolutierung von Regeln und Autoritäten einher. Regeln gelten rigide, Gehorsam ist ein Selbstzweck, die Strafvermeidung ist zentral.
Demgegenüber zeichnet sich die „konkret-individualistische“ Perspektive der Stufe 2
durch die Unterscheidung verschiedener Perspektiven und durch eine Relativierung aus.
Regeln gelten nicht mehr absolut, sondern werden an Interessen und Bedürfnissen
konkreter Individuen gemessen. Fair sind ein Austausch oder eine Übereinkunft, welche
die individuellen Interessen und Bedürfnisse von ego und von alter befriedigen.
Der entscheidende Fortschritt der Stufe 3 besteht darin, dass hier eine Dritte-PersonPerspektive eingenommen wird, d.h. der Standpunkt einer Person, die mit anderen in
Beziehung steht. Es gibt ein gemeinsames Normensystem, an dem Handlungen
gemessen werden. Das Urteilen orientiert sich hier weniger an spezifischen
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individuellen Interessen, sondern vor allem an interpersonalen Erwartungen und
Rollenverpflichtungen im sozialen Nahraum.
Auf Stufe 4 werden nicht nur interpersonale, sondern vor allem gesellschaftliche,
sozusagen „transpersonale“ Beziehungen im Urteilen berücksichtigt. Hier geht es um
den Standpunkt des sozialen Systems bzw. der Gesellschaft: um gesellschaftliche
Rollen, Regeln und Pflichten, um die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und das
Wohlergehen der Gesellschaft, um Recht und Gesetz.
Auf Stufe 5 wird eine der Gesellschaft vor- oder übergeordnete Perspektive
eingenommen. Es werden Grundrechte und Werte anerkannt, die sozialen Bindungen
und Regeln übergeordnet sind. Soziale Regeln werden an der Gerechtigkeit oder dem
Sozialvertrag gemessen. Absolute Rechte und Werte wie Leben oder Freiheit sind
unhintergehbar. Zwischen verschiedenen Standpunkten wird mittels formaler Verfahren
vermittelt.
Stufe 6 schließlich soll den „moral point of view“ widerspiegeln. Das Urteilen orientiert
sich hier an universalen Prinzipien der Gerechtigkeit. Von diesen Prinzipien leitet sich
die gesellschaftliche Ordnung her. Gesetze und soziale Übereinkünfte sind im
Allgemeinen gültig, weil sie auf diesen Prinzipien beruhen. Im Konflikt zwischen
Gesetzen und Prinzipien haben letztere Vorrang. Personen werden als Selbstzwecke
anerkannt, nicht als Mittel.
Die Entwicklungslogik der Stufen beruht auf einer Dezentrierung sozialer Perspektiven. Die moralische Entwicklung zeigt sich in der zunehmenden Berücksichtigung und
Koordination von Perspektiven bis hin zur „idealen Rollenübernahme“ sowie in einem
immer adäquateren Verständnis der Geltungsgründe moralischer Regeln und der
Motive ihrer Befolgung (vgl. Nunner-Winkler/Edelstein 1993). In den späten
Fassungen der Theorie (Kohlberg/Levine/Hewer 1983; Colby/Kohlberg 1987a) werden
allerdings nur noch die ersten fünf Stufen als empirische Stufen verstanden, die sechste
definiert normativ den Endpunkt der Entwicklung.
Aus: Weyers, Stefan: Moral und Delinquenz. Moralische Entwicklung und Sozialisation
straffälliger Jugendlicher, Weinheim: Juventa 2004, S. 31-33
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