Was zusammenklingen soll und was nicht

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Siebentes Kapitel - Was zusammenklingen soll und was nicht
Die Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden sollen, wurden in der Einleitung aufgeworfen. Dort hatte ich gesagt:
Es geht stets um die Entscheidung, welche Töne zusammenklingen sollen, welche
nicht, welche Töne mit in das Pedalfeld gelangen sollen, welche draußen bleiben
müssen oder auszufiltern sind.
Mit solchen Entscheidungen beginnt erst Interpretation.
Die Komponisten überlassen diese Entscheidungen in hohem Maße dem Interpreten,
denn die Pedalhinweise sind meist sehr allgemein, und was die Schreibweise der
Komponisten betrifft, müssen wir uns stets der Besonderheit der Klaviernotation
bewusst sein, die sich von der aller anderen Instrumente unterscheidet.
Diese Besonderheit wurde in der Einleitung (Seite 8/9) beschrieben. Zusammengefasst in einem Satz wäre sie so zu charakterisieren:
Die für das Klavier notierten Notenwerte geben weder eine verbindliche Auskunft darüber, wie lange eine Note tatsächlich klingt, noch geben sie eine verbindliche Auskunft darüber, wie lange der Finger die Taste festhält.
Damit Finger und Fuß in einer Weise zusammenwirken, die das Prädikat künstlerisch
verdient, ist ein verständiges Lesen des Textes unabdingbar, ein Lesen, das die Noten
nicht nach ihren Buchstaben sondern in ihrem Sinn erfasst, das nicht nur fragt: Was
steht da ? sondern auch: Was ist damit gemeint ?
Prof. Günter Philipp hat den Unterschied zwischen Schreibweise und klanglichem
Ergebnis eindrucksvoll veranschaulicht. In seinem Buch "Klavier, Klavierspiel,
Improvisation" überträgt er den Anfang eines bekannten Stücks aus der für das
Klavier vorherrschenden, technischen Notation ( = das, was die Finger machen) in
die musikalische Notation ( = das, was tatsächlich klingt). Indem er die tatsächlichen
Tondauern der Noten ausschreibt, macht er, bewusst, ein Werk, das jeder Pianist
kennt, unkenntlich bzw. kaum mehr entzifferbar. Bitte schauen Sie noch nicht auf die
nächste Seite, versuchen Sie erst herauszufinden, um welches Stück es sich handelt.
Bsp. 162 a
"
aus: "Klavier, Klavierspiel, Improvisation" von Günter Philipp
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Hier rechts, Bsp.162 b,
die vertraute Schreibweise von Chopins
Etüde op.25 Nr.12, die
auf der Seite zuvor bis
zur Unkenntlichkeit in
eine musikalische Notation verpackt war.
Bsp.162 b
Der Fall des Beispiels 162 ist der leichteste aller denkbaren Fälle: Da alle Töne
verlängert werden und alle mit Hilfe des Fußes, bedarf es auch keiner Entscheidung,
welche Töne durchklingen sollen.
Sehr oft aber ist eine Entscheidung zwischen Finger und Fuß zu treffen: Soll ein Ton
mit Hilfe der festgehaltenen Taste oder des gehaltenen Pedals durchklingen, soll ein
Ton durch das Loslassen der Taste oder des Pedals gelöscht werden ? Es geht um die
Frage, wann und wie die Finger die Funktion des Pedals unterstützen oder ersetzen.
Das Verfahren ist als "Fingerpedal" bekannt. Es wird aber fast immer nur im Zusammenhang mit (langsamen!) Alberti-Bässen erwähnt und angewendet, wie hier in
Bsp.163 (Mozart, Sonate KV 332).
Bsp.163
"Fingerpedal": Das Pedal wird bei den Verzierungen weggenommen. Damit dabei die Harmonie
nicht abreißt, werden links die Noten der Alberti-Bässe mit den Fingern festgehalten.
Etwas mehr Nachdenken erfordert Bsp.164 (Liszt, Ricordanza), wo in Takt 8 die
ausdrucksstarken Vorhalt-Töne Gis, Dis und His nicht mit in das lange Pedalfeld des
A-Dur-Sext-Akkordes gelangen dürfen.
Bsp.164
Takt 8
festhalten
festhalten
loslassen
In Takt 8 das Pedal bei den abwärts schreitenden Achteln wegnehmen und hier, nach dem
Ausfiltern der Vorhaltnoten Gis, Dis, His, wieder nehmen. Dabei muss auch das tiefe Cis des
Taktanfangs mit in das Pedalfeld gelangen ( = bis zum Pedaltritt festhalten).
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Eine andere Art des Fingerpedals ist in Beispiel 165 erforderlich, ebenfalls in Ricordanza, in den Takten unmittelbar vor denen des letzten Beispiels.
Während der Sechzehntel-Umspielungen der Tenor-Kantilene muss das Pedal
zumindest gelüftet werden, darf nicht durchgetreten bleiben.
Bsp.165
Akkorde links spielen !
Zu Bsp.165: Während der Quintolen-Umspielung darf das Pedal nicht durchgehend getreten
bleiben. Ersatzweise halten die Finger die Tasten des darunter liegenden Akkordes fest.
Die Pedalangaben des Beispiels 165, nach denen das Pedal während des ganzen
Taktes getreten bleiben soll, stammen von Emil von Sauer; aber selbst ihm, der Liszts
und Brahms' Werke mit falschen und sinnwidrigen Pedalvorschriften übersät hat, ist
zugute zu halten, dass er Pedalangaben wie die obigen vermutlich nicht wörtlich
verstanden wissen wollte.
Den meisten Pedalangaben haftet etwas Ungefähres an. Sie sind verschieden auslegbar. Pedalzeichen dürfen wir nicht automatisch in dem Sinne lesen, dass das Pedal
während des ganzen Taktes gedrückt bleiben soll, vielmehr ist es, meistens, so zu
verstehen, dass in dem betreffenden Takt das Pedal benutzt wird, was also einschließt, dass es zwischendurch auch gelüftet wird.
Das unverbindlich Kursorische vieler Pedalvorschriften zeigt Bsp.166 (Isaac Albeniz,
"Evocation"), wo ein taktweise durchgehaltenes Pedal einen gestaltlosen Brei ergäbe.
Auch hier bedeuten die Zeichen nur, dass in jedem Takt das Pedal benutzt wird,
wobei es aber über längere Taktteile aufgehoben bleibt, z.B. in den Takten 11 und 14,
bis die Vorhaltsnoten D (T.11 und T.13) und C (T.14) ausgefiltert sind.
Bsp.166
Takt 11
T.14
Am Ende der Takte 11 und 13 muss reines as-moll bzw., in T.14, reines Ges-Dur zu hören sein.
Albeniz gibt mit seiner Schreibweise eine Hilfestellung. Er notiert die Achtel-Bässe
zusätzlich als ganze Notenwerte und zeigt damit an, dass sie durchklingen sollen.
Viele Literaturstellen aber machen es dem Interpreten nicht so leicht.
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Im T.193 der Polonaise-Fantaisie op.61 (Bsp.167) gibt der Text keinen Hinweis. Man
muss von selbst darauf kommen, dass das Bass-E nicht abreißen darf, wenn, rechts,
der ausdrucksstarke sonore Vorhalt Fisis ausgefiltert wird. .
Bsp.167
T.193
Das Bass-E festhalten, bis der Pedaltritt auf dem Gis erfolgt ist.
Auch am Anfang der Polonaise-Fantaisie (Bsp.168) ist Chopins langes Pedal nicht
wörtlich zu nehmen, zumindest kann man es nicht wörtlich auf einen Konzertflügel
unserer Zeit übertragen. Der expressive Vorhalt Fes in der Mittellage sollte ausgefiltert werden, weil er die Harmonie verfremdet, die drei noch folgenden Fes des
Aufgangs dagegen stören wegen der höheren Lage nicht mehr, erhöhen, im Gegenteil, den Reiz des weiten Klanges.
Bsp.168
ausfiltern !
Die Tasten des Ces-Dur-Aufgangs festhalten, bis der Pedalwechsel auf dem Es erfolgt ist.
Wir unterscheiden, als Begriffe, zwischen eigentlichen und uneigentlichen Tönen.
Die eigentlichen Töne sind die Töne, die durchklingen, die uneigentlichen die, die
ausgefiltert werden sollen. Diese uneigentlichen Töne, die ausgefiltert werden, sind
Melodieumspielungen, Durchgangs-Töne oder ausdrucksstarke, also betonte VorhaltTöne.
Fast immer befinden sich diese uneigentlichen, auszufilternden Töne in einer tiefen
Lage oder in der sonoren Mittellage des Flügels.
Je höher wir auf der Tastatur hinaufkommen, umso problemloser werden Dissonanzen von der Basisharmonie absorbiert.
Bei Melodieumspielungen (z.B. die Sechzehntel-Quintolen in Bsp.165) ist es, wie
schon im letzten Kapitel besprochen, stets die untere Nebennote, die geeignet ist, eine
Harmonie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Deshalb können wir ein Ausfiltern oft
dadurch umgehen, dass die untere Nebennote einer Umspielung sehr dezent gehalten
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wird. Dies ist z.B. dann bedeutsam, wenn ein Bass-Ton, der durchklingen muss,
manuell nicht festgehalten werden kann (vielleicht darf ich Sie bitten, zum Thema
Melodieumspielung zu den Beispielen 146 und 147 zurückzublättern).
Eine solche Verlegenheit ergibt sich häufig: Wir wollen störende Töne herausnehmen, die eigentlichen Töne aber, die durchklingen sollen, lassen sich nicht festhalten,
weil der Notentext keine dazu geeignete Applikation zulässt. Ein Pedalwechsel löscht
dann gleichermaßen störende Töne wie die erwünschten, so wie das ungeeignete
Spritzmittel nicht nur die Blattlaus sondern auch den Marienkäfer vernichtet.
Aber auch für diese Fälle gibt es, meist, künstlerisch gute Lösungen. Ich werde
solche Lösungen gegen Ende des Kapitels vorstellen.
Bleiben wir aber zunächst bei den, sozusagen, angenehmen Fällen, in denen es
möglich ist, Töne durch manuelles Festhalten nach einem Pedalwechsel zu erhalten.
Solche Operationen haben großen Einfluss auf den Fingersatz; denn es gilt jeweils
einen Fingersatz bzw. eine Handverteilung zu finden, die das manuelle Festhalten der
erwünschten Töne ermöglicht. Ein guter Fingersatz berücksichtigt nicht nur technische, sondern auch klangliche Erfordernisse.
Fingersatz und Handverteilung in Beispiel 169 ( = um fünf Takte erweitertes
Bsp.166) haben allein den Zweck, ein luzideres Klangbild zu erreichen.
Zwischen T.15 und 19 würde ein Pedal für je zwei Takte den Klang in opaken Dunst
hüllen. Zur Auflichtung sind dazwischen etliche kleinere Pedalwechsel nötig, die
aber, seien sie noch so geschickt dosiert, nicht verhindern können, dass das Bass-Fes
abbricht. Dieses Fes aber, besonders der Takte 17-18, leitet zum Es-Dur in T.19 und
darf nicht abreißen.
Bsp.169
Takt 11
T.15
Takt 16
T.18
1
1
zu Bsp.169: Am Ende von Takt 16 und 18 sind Pedalwechsel unverzichtbar, anders ist das
decresc. nicht zustande zu bringen, da lange Pedaltritte in dieser tiefen Mittellage den Klang
schnell aufblähen. Der Fingersatz in Bsp.169 erlaubt, das Bass-Fes mit dem 5.Finger festzuhalten. Nur so ist gewährleistet, dass es bei den zusätzlichen kleinen Pedalwechseln nicht abbricht.
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In den Takten 113 und 114 von Bsp.170 (noch einmal "Evocation" von Albeniz) ist
es ebenfalls wünschenswert, dass der Bass erhalten bleibt. Auch hier können noch so
delikat dosierte kleine Pedaltritte den Bass nicht retten. Es geht, soll kein konturloser
Dunst entstehen, nur so, dass man das Tenor-B in Takt 114 rechts greift, um so das
Bass-Es mit dem 5.Finger festzuhalten.
In Takt 114 ist auf dem letzten Achtel ein sorgfältiger Pedalwechsel erforderlich: Auf
der Fermate muss sich, vor dem Eintritt in das As-Dur (T.115), der reine und vollständige Es-Dur-Septakkord herausschälen.
Bsp.170
Takt 113
Takt 115
1
1
zu Bsp.170: Auf dem letzten Achtel von T.114 muss der ungetrübte, vollständige Es-Septakkord
hervortreten. Lauschen Sie diesem Klang lange nach - dann lauscht auch Ihr Publikum.
Im Épilogue aus Ravels Valses nobles & sentimentales ist das Orgelpunkt-G keineswegs nur ideell aufzufassen; man höre Ravels Orchesterfassung. Die Handverteilung
ist so zu wählen, dass das Bass-G festgehalten werden kann (Bsp.171).
Bsp.171
2 2
1 1
2
1
2
1
Auch Beispiel 172 (Liszt, Ballade h-moll) zeigt, wie sehr Pedalisierung und Fingersatz einander bedingen.
Das hohe F in Takt 131 links zu nehmen, ist nachteilig, weil die linke Hand, sollen die Unterstimmen Des - G nicht verloren gehen, erst im allerletzten Moment ( = nach dem Pedalwechsel auf dem B ) hinauf zum F hasten kann.
Bsp.172
(4)
5
T. 131
Takt 131: Auf dem B Pedal wechseln, um das A auszufiltern. Damit dabei die Unterstimmen erhalten bleiben, kommen auf dem B nur der vierte oder fünfte Finger in Frage.
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Fast alle Komponisten greifen bisweilen, wenn auch meist nur partiell, auf eine
kompliziertere musikalische Notation zurück, um ihren Willen zu verdeutlichen, das
heißt: Sie versehen Noten mit zusätzlichen Hälsen oder mit Punkten, die den Notenwert verlängern, oder mit Haltebögen, die von den Noten wegführen.
Bei Bach sind musikalische und technische Notation noch weitgehend identisch: Eine
Viertelnote klingt eine Viertelnote lang, und der Finger hält die Taste auch für die
Dauer der Viertelnote fest.
Aber auch Bach dachte, wie alle Genies, über instrumentale Grenzen hinaus, und
auch ihm schwebte eine Pedalwirkung vor. Weil er das Pedal nicht kannte, musste er
diese Absichten in einer musikalischen Notation zum Ausdruck bringen, wovon die
Sätze seiner Suiten hundertfach Zeugnis geben.
Das Pedal bei Bach habe ich schon weiter vorne erörtert. Als Beispiel für Bachs
"Fingerpedal" transferiere ich Ihnen aus dem Abschnitt über das Pedal bei J.S.Bach
das Beispiel 60 (Allemande aus der ersten englischen Suite) an diese Stelle.
Bach verlängert die unter einer Balkierung stehenden Notenwerte mit Punkten,
zusätzlichen Notenhälsen und mit von den Tönen wegführenden Haltebögen. Dies
beweist, dass er ein Weiterklingen der Töne im Sinne einer Pedalwirkung wollte.
Bei Beethoven gibt es Stellen einer geradezu peniblen musikalischen Notation, wo
die Pedalwirkung, Note für Note, ausgeschrieben ist, so wie hier im ersten Satz der
Sonate op.2 Nr.3 (Bsp.173 a). Das Beispiel entnehme ich in dem Buch "Der Weg
zum künstlerischen Klavierspiel" von Prof. Dr. Josef Dichler (1912 - 1993).
Bsp.173 a
"Aber schon ein paar Takte später (Bsp.173 b) hat Beethoven genug von so viel
lästiger Schreibarbeit und dem Ausrechnen der Notenwerte ... Er gibt daher die
musikalische Notierungsart teilweise auf und deutet seine Absicht nur mehr durch
ganze Noten im Bass an." (Josef Dichler)
- 171 Bsp.173 b
Statt der komplizierten Schreibweise hätte Beethoven einfach Pedalzeichen setzen
können, er zieht es aber meist vor, die tatsächlichen Tondauern auszuschreiben.
Das Pedalzeichen verwendet Beethoven grundsätzlich sparsam, und wenn, dann oft
in der Absicht, lange, kühne Pedalfelder über wechselnde Harmonien hinweg zu
kennzeichnen.
Beethoven verwendet nur wenige Pedalzeichen, weil er den Pedalgebrauch
voraussetzt. Sein Schüler Carl Czerny schreibt: "Der Gebrauch der Pedale war bey
ihm sehr häufig, weit mehr, als man in seinen Werken angezeigt findet."
Ein bedeutender Komponist aber ist genauer als jeder
andere. Johannes Brahms ergänzt häufig, viel mehr als
andere Komponisten, die auch bei ihm überwiegende
technische durch die viel präzisere musikalische Notation, in der er genau mitteilt, wie lange Noten tatsächlich
klingen bzw. welche Töne ausdrücklich nicht durchklingen sollen.
Seine über die Maßen beredte Schreibweise zeigt sich
sehr schön am Intermezzo h-moll, op.119 Nr.1
(Bsp.174). Er legt, mit hinzugefügten Hälsen und Bögen,
die Dauer jedes einzelnen Notenwertes so sorgfältig fest,
als wollte er damit umso eindringlicher auf die wenigen
Töne hinweisen, die nicht durchklingen sollen, nämlich
Ais und Fis in Takt 47 und His in Takt 48, die einzigen
Sechzehntel, die nicht mit zusätzlichen Hälsen und
Haltebögen versehen sind.
Es ist, als ob Brahms den Pianisten misstraute und sie mit einer derart skrupulösen Schreibweise vor Irrtümern bewahren wollte. Seine Absicht ist klar: Am
Ende jedes Taktes soll ein Turm übereinander gebauter Terzen resultieren. Ais, Fis in
T.47 und His in Takt 48 haben, als Durchgangsnoten, damit nichts zu tun und müssen
ausgefiltert werden. Oft hört man die Takte 47 und 48 mit durchgehaltenem Pedal;
so verwandelt sich Brahms' schönes konturiertes Klangbild in eine Art impressionistischer Suppe.
Bsp.174
T.47
T.48
Bsp.174: Alle Sechzehntel klingen durch, außer Ais, Fis (Takt 47) und His (Takt 48).
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Hätte Franz Schubert das h-moll-Intermezzo komponiert, er hätte nur Sechzehntel
notiert, ohne besondere Hinweise auf tatsächliche Tondauern.
In dem nachstehenden Abschnitt aus dem 4.Satz der c-moll-Sonate, D 958 (Bsp.175)
moduliert Schubert in Takt 253 enharmonisch in den Fis-Dur-Quartsextakkord Takt
254. Ein über den ganzen Takt 253 mitklingendes Eis, z.B. bei ganztaktig getretenem
Pedal, würde die Harmonie unkenntlich machen. Aber das muss hier, bei Schubert,
der Pianist selbst herausfinden, spüren, hören.
Bsp.175
T.253
zu Bsp.175: Die erste Hälfte von Takt 253 nur mit selektivem Fingerpedal spielen. Pedal, als
Legatohilfe zum nächsten Takt, erst gegen Taktende nehmen, wenn das Ohr schon Gelegenheit
hatte, die Harmonie des Septakkordes zu erfassen. Die vom Herausgeber eingetragene Pedalisierung ist dann möglich, wenn der fünfte Finger das D den ganzen Takt über festhält.
Chopin greift relativ häufig, aber seltener und weniger konsequent als Brahms, auf
eine musikalische Notation zurück. Hier ein schönes Beispiel von "Fingerpedal" bei
Chopin, eine Stelle aus dem Largo der h-moll-Sonate (Bsp.176)
Bsp.176
T.59
Zu Bsp.176: Mit sorgfältig ausgeschriebenem Fingerpedal macht Chopin deutlich, welche
Töne als reine Durchgangstöne im Pedalfeld nichts zu suchen haben (z.B. Ais in Takt 59).
Aber, wie gesagt, in den meisten Fällen geben die Komponisten keine so dezidierten
Hinweise, und die Entscheidung, was zusammenklingen soll und was nicht, bleibt
dem Gespür des Interpreten überlassen.
Einige dafür mustergültige Beispiele (Bsp.177 a - e) wähle ich, mit Absicht, aus
Chopins Nocturne Es-Dur, op.55 Nr.2. Dort muss der Interpret ständig, Takt für Takt,
zwischen den Achteln entscheiden, die durchklingen und denen, die ausgefiltert
werden müssen. Chopin bietet keine Hilfestellung.
Von den Nocturnes habe ich auch eine Peters-Ausgabe, gekauft in den 80-er Jahren
in der DDR. Die Druckvorlage stammt aus dem Jahre 1879. Im Jahre 1949, anlässlich
des hundertsten Todesjahres Chopins, wurde die Ausgabe neu redigiert und mit
Fingersätzen versehen. Für die Beispiele verwende ich den Band nicht ungern, denn
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die Fingersätze beweisen, dass ihr Verfasser seinen Kopf nicht mit der Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Tönen belastet hat.
Die einfachsten Übungen sind die zahlreichen Stellen des Nocturne, an denen das
Pedal erst nach der Vorhaltsauflösung genommen wird, ohne dass dabei der ein
Achtel zuvor angeschlagene Bass verloren gehen darf (Bsp.177 a).
Bsp.177 a
T.12
T.11
Bsp.177 a: Bässe bis zum Pedaltritt nach der Vorhaltauflösung festhalten (Takt 11 u. 12)
In Beispiel 177 b darf die stringente, chromatische Basslinie, die über die abgebildete
Zeile hinausgeht, an keiner Stelle abreißen, aber etliche der Achtel, die auf die Bässe
folgen, müssen ausgefiltert werden, z.B. D in Takt14, E in Takt 15 und 16.
Bsp.177 b
ausfiltern!
ausfiltern!
T.14
ausfiltern!
Bsp.177 b: Ein Verbleib der Vorhalt-Achtel im Pedalfeld würde die Harmonie unkenntlich
machen. Deshalb die Bässe festhalten und Pedal erst nach dem übernächsten Achtel nehmen,
also wenn das dazwischen liegende Achtel ausgefiltert ( = losgelassen) worden ist.
Bsp.177 c wiederum zeigt den Zusammenhang zwischen Pedal und "Finger-Pedal"
Bsp.177 c
Takt 25
1
2
3
5
Bsp.177 c: Damit in Takt 25 während der espressiven Girlande das Pedal öfter gelüftet werden
kann, empfiehlt sich gegen Taktende für die linke Hand ein Fingersatz, der, anders als der des
Herausgebers, ermöglicht, die Töne des Dominant-Septakkord mit den Fingern festzuhalten.
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Im Takt 8 des Beispiels 177 d ist das korrespondierende Wechselspiel zwischen
Finger und Fuß schon anspruchsvoller.
Bsp.177 d (Edition Peters von 1879, revidiert 1949)
Takt 8
1
2 1 2 1
Bsp.177 d: In Takt 8 muss beim sechsten Achtel (G) reines, vollständiges g-moll hörbar
werden, denn g-moll ist die Ausgangsharmonie der Modulation zurück nach Es-Dur. Deshalb
darf das Bass-G des Taktanfangs nicht abreißen. Ausführung: Die zu g-moll gehörenden
Achtel, das Bass-G und das D, festhalten, die Tasten der Umspielungs- und Vorhalt-Töne Cis,
Es und Fis, loslassen. Der Fingersatz ist entsprechend zu wählen (kursiv).
Jetzt derselbe Takt 8 des Nocturne (mit Takt 7 davor gesetzt) aus einer Urtextausgabe. Es fällt auf: Chopin setzt für die erste Takthälfte kein Pedalzeichen !
Bsp.177 d, Takt 8 (Urtextausgabe)
3
2
1
ausfiltern!
Takt 8
1 2
festhalten!
1
1
1
2
festhalten!
Bsp.177 d (Urtext): In Takt 8, erste Hälfte, setzt Chopin, offenbar mit Bedacht, kein Pedalzeichen. Das ist eine Hinweis, die Stelle überwiegend mit selektivem Fingerpedal auszuführen.
In Bsp.177 e muss - künstlerisch unverzichtbar! - jeweils auf dem dritten Achtel
der Takte 32 und 33 der neapolitanische Sext-Akkord ungetrübt hervortreten.
Bsp.177 e
Pedaltritt nach der Umspielung der halben Note !
Takt 33
Takt 32
2
?
1
2
1
?
zu Bsp. 177 e: Die Sextakkord-Bässe B (Takt 32) und As (Takt 33) bis zum Pedaltritt nach der
Melodie-Umspielung festhalten. Nur der kursive Fingersatz ermöglicht dieses Festhalten.
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Zum Abschluss des Abschnitts noch ein Beispiel, das nicht direkt etwas mit der Frage
"durchklingen oder nicht" zu tun hat, dafür aber erneut verdeutlicht, wie sehr eine
gute Pedalisierung auch vom Fingersatz abhängt (Bsp.178, Brahms, Variationen DDur, op.21 Nr.1).
Bsp.178: Der gedruckte Fingersatz macht im zweiten und dritten Takt des Beispiels gute
Pedalwechsel unmöglich, weil der zweite Finger die Töne, auf denen gewechselt werden
muss, nicht anfassen sondern nur flüchtig antippen kann. (Es sei denn, Sie gehören zu den
wenigen, die eine Oktave mit 2 - 5 bequem greifen können)
Nur der kursive Fingersatz erlaubt eine saubere Pedalisierung.
Bsp.178
2 1
2
1
2
1
1
Unterschiedliche Artikulation in beiden Händen,
meist: links Staccato - rechts Legato
Die Aufgabe links Staccato - rechts Legato gehört, im weiteren Sinne, zum Thema
dieses Kapitels, geht es doch auch hier um die tatsächliche Klingdauer von Tönen
und - oft - um die verschieden lange Klingdauer gleicher Notenwerte.
Immer dann, wenn die Musik eine kleine Orchester-Besetzung nahe legt, kann es sehr
reizvoll sein, unter einer Legatostimme die Staccato-Begleitung wörtlich (= real kurz
klingend) und konsequent beizubehalten.
Viele haben damit Schwierigkeiten, und setzen das Pedal zur Unterstützung der
Legato-Stimme in einer Weise ein, die das Staccato links aufweicht.
Ein ideales Lehrstück, um das Nebeneinander von Legato und Staccato zu lernen und
zu üben, ist das dritte der sechs Moments Musicaux, D 780, von Franz Schubert
(Bsp.179).
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Während der ersten vier Takte des Beispiels - kleine Orchesterbesetzung - klingt
es sehr hübsch, das Staccato der Begleitung konsequent durchzuhalten, in den Takten
15 und 16 aber - hinzugetretene Instrumente, größere Orchesterbesetzung - ist ein
üppigerer Pedaleinsatz nötig, der auch die Begleitung erfasst und die erweiterte
orchestrale Besetzung imaginiert.
Bsp.179
Takt 15
zu Bsp.179: Pedal jeweils nach dem Loslassen der
Begleitakkorde rasch treten. Derart lässt sich, über
alle vier Takte hinweg, ein wörtliches Staccato
aufrechterhalten und, gleichzeitig, rechts ein
geschlossenes Legato erzielen.
Diese Takte verlangen einen etwas
reicheren Pedalgebrauch, der die
Begleitung mit einbezieht: Zusätzliche Instrumente haben eingesetzt,
die Orchester-Besetzung ist größer
geworden.
Auch der Beginn des zweiten Satzes von Beethovens Sonate op.28 (Bsp.180) lässt an
eine zunächst kleine Orchesterbesetzung denken. Diese instrumentale Idee findet
ihren Niederschlag am besten in einem konsequenten Orchester-Pizzicato, das nicht
durch einen zu flächigen Pedaleinsatz aufgeweicht ist. Die Wirkung ist überzeugend.
Besonders in dem Abschnitt um Takt 3 ist es reizvoll, das "sempre staccato" der tappenden
Oktaven-Gänge ganz wörtlich-instrumental hörbar werden zu lassen. Meist gelangen die
oberen Töne der Oktaven mit in das für die Akkorde der rechten Hand bestimmte Legato-Pedal.
Bsp.180
Takt 3
zu Bsp.180: Für das Legato rechts das Pedal spät und präzise treten, sobald ein StaccatoSechzehntel losgelassen wurde. Derart lässt sich ein geschlossenes Legato rechts und,
gleichzeitig, links durchgehend ein wörtliches Staccato hervorbringen. Die Aufgabe ist etwas
schwieriger als in Bsp.179 und bedarf einiger Übung, ist aber ohne weiteres zu bewältigen.
Obwohl damit vorgreifend, darf hier der Hinweis auf
eine sinnvolle Alternative nicht fehlen: Die Aufgabe
"rechts Legato - links Staccato" während der Eingangstakte dieses Beethoven-Satzes kann auch sehr
gut mit Hilfe des Tonhaltepedals gelöst werden.
Allerdings eignet es sich nicht für alle Takte dieses
Satzbeginns. Ungeeignet für den Einsatz des Tonhaltepedals ist z.B. der dritte Takt (siehe Bsp.180); denn
Tonhaltepedal zwischen den
ersten beiden Staccato-Bässen
treten!
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dabei müsste, den Auftakt mitgerechnet, das dritte Pedal fünf Mal kurz hintereinander
genommen bzw. gewechselt werden. Das Risiko, dass ein Staccato-Bass ungewollt
doch vom dritten Pedal erfasst wird, ist dann hoch. Ein vom mittleren Pedal erfasster
Ton aber erklingt immer in seiner vollen Lautstärke, während ein etwas verfrühtes
Nachfassen mit dem rechten Pedal nur zu starke Tonreste des gerade losgelassenen
Basses hervorruft. Ein versehentlich von mittleren Pedal erfasster Ton erzeugt
eine auffälligere Störung als ein zu hastiges Nachfassen des rechten Pedals.
In Takt 7, hier links, jedoch ist
das Tonhaltepedal von Vorteil,
Takt 7
der darin besteht, dass man die
Akkorde rechts eher loslassen
und die Position des nächsten
Akkords eher einnehmen
Tonhaltepedal zwischen die Staccato-Bässe!
kann, nicht erst ganz knapp
vor dem Anschlag; das aber ist der Fall, wenn man mit dem rechten Pedal operiert;
denn der Pedaltritt, der rechts das Legato ermöglicht, kann ebenfalls erst ganz kurz
vor dem Akkord erfolgen, andernfalls das Sechzehntel-Staccato unmittelbar vor dem
Akkord vom Pedal mit eingefangen würde. Tatsächlich hört man am Satzbeginn
meistens das letzte Staccato-Sechzehntel jeder Vierergruppe vom Pedal verlängert.
Auch in den Takten 7 bzw.165 der Beispiele 181 a und 181 b (Schubert, Sonate ADur, D 959, Andantino) überzeugt ein ganz wörtlich aufgefasstes, getupftes Staccato
der Bass-Schritte. Über einem sparsamen Untergrund gezupfter Bässe entfaltet sich
das traurige Legato von Alt und Sopran eindringlicher als über selbstzufriedener
Pedalfülle. Ein in viel Pedal getauchter Wohlklang ist der Verlorenheit und Wehmut
dieser Musik nicht angemessen. "Der Klang", um noch einmal Jürgen Uhde zu
zitieren, "ist nicht satt, sondern bedürftig".
Takt 7
Bsp.181 a
T.7: Pedaltritt zwischen den Bässen für das Legato der Oberstimme
Takt 165
Bsp.181 b
T.165: Vermeiden Sie, dass, links, die drei Cis vom Legatopedal der Oberstimmen erfasst
werden. Dies erfordert etwas mehr Konzentration als in Bsp.181 a, weil die pizzicati nunmehr
in Sechzehnteln auftreten. Dem Fuß bleibt etwas weniger Zeit zum Nachfassen.
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Pedallose Bässe wie die in T.7 und T.165 aber sind die Ausnahme, denn natürlich
brauchen die Bässe Pedal, weil sie nicht nur ein Pizzicato insinuieren, sondern
gleichzeitig harmonische Basis sind, die nicht wegbrechen darf. Das Pedal sollte,
wenigstens während des ersten Teils des Andantino, nicht unbekümmert und verschwenderisch eingesetzt werden, darf die Staccato-Bässe nicht voll erfassen.
Der Pedalgebrauch, der dem Charakter des Andantino am besten
gerecht wird, ist der, der das Staccato spürbar werden lässt, aber von
den Bässen noch so viele Tonreste
einfängt, dass der Klang seine
harmonische Basis nicht verliert.
Durch schnelles Nachtreten nach dem
Schon in den Beispielen 15 und 16 des
Anschlag bzw. mit schnellen, partiellen
Pedalwechseln Tonreste der Staccatoersten Kapitels war es darum gegangen,
Bässe einfangen.
Tonreste von Bässen durch rasches
Nachtreten des Pedals oder mit bewusst
flüchtigen Pedalwechseln einzufangen. Dort, in den Beispielen 15 und 16, waren es
kräftig gespielte Bässe, aber auch bei piano angeschlagenen Bässen lassen sich auf
die beschriebene Weise so viele Tonreste retten, wie zur Wahrung der harmonischen
Vollständigkeit nötig sind. An Bsp.181 lässt sich das gut erproben.
Ich erlaube mir, eine Übung zu empfehlen für diejenigen, die mit einer konsequent
unterschiedlichen Artikulation der Hände wenig Erfahrung haben und darin eine
selbstverständliche Geschicklichkeit erwerben wollen.
Nehmen Sie den ersten Takt des Beispiels 179. Die Übung
besteht darin, diesen Takt nach Art eines Perpetuum mobile so
oft zu wiederholen, bis, über den Staccato-Achteln der linken
Hand hinweg, das C rechts in einer ununterbrochenen und
mühelosen Legato-Bindung durchklingt.
Ablauf der Übung:
1) Pedal treten, 2) Die ersten beiden Töne, links As (= kurz), rechts C (bleibt liegen),
anschlagen und mit dem Anschlag das Pedal wegnehmen, 3) Das zweite Achtel
(Akkord) anschlagen und gleich loslassen, 4) Pedal treten, 5) Jetzt auch rechts die
Taste loslassen, 6) Hörend innehalten! Wurde die Übung richtig ausgeführt, darf
jetzt nur das C rechts zu hören sein. Die Übung beginnt nun wieder mit Punkt 2) ...
Sie können dann den Anspruch erhöhen und den Takt 3 des Beispiels 180 auf die
gleiche Weise üben. Die Übungsschritte sind hier: Das Pedal mit dem Anschlag der
Akkorde wegnehmen - das Pedal nach dem Loslassen des zwischen den Akkorden
gespielten Sechzehntels wieder treten - jetzt auch die rechte Hand von den Tasten
nehmen und hörend innehalten. Wurde die Übung richtig ausgeführt, dürfen jetzt nur
die soeben losgelassenen Akkord-Töne der rechten Hand zu hören sein.
- 179 -
... und wenn die Töne, die nach einem Pedalwechsel weiterklingen
sollen, manuell nicht festgehalten werden können ?
Oft ist es nicht möglich, die Töne, die nach einem Pedalwechsel weiterklingen sollen,
festzuhalten.
Wenn solche Töne im Bass liegen, die Töne aber, die gelöscht werden sollen, in
höherer Lage, dann kann das übliche Verfahren mit schnellen, flüchtigen Pedalwechseln. Dieses Verfahren heißt bekanntlich Halb- bzw. Viertelpedal. Damit werden
hohe Töne gelöscht, von den tiefen bleiben die erwünschten Tonreste übrig.
Ein Bass-Ton verträgt, je nach Lautstärke, viele flüchtige Pedalwechsel, bevor er
wirklich verlischt.
Auch darf noch einmal daran erinnert werden, dass Vorhalte, Durchgangsnoten ecc.
um so weniger stören in je höherer Lage sie sind. Nur in tiefer oder in der Mittellage
haben dissonierende Töne die Kraft, Harmonien zu verfremden oder unkenntlich zu
machen.
An anderen Stellen kann das Tonhaltepedal helfen, Töne über Pedalwechsel hinweg
zu erhalten. Die Anwendung ist begrenzt, unter anderem deshalb, weil beim Einsatz
des mittleren Pedals das rechte nicht getreten sein darf.
Über das mittlere Pedal wird in einem eigenen Kapitel gesprochen werden.
Das bedeutendste Mittel für die Fälle, die kein selektives Fingerpedal erlauben, ist
Tasten stumm zu drücken. Damit ist das stumme Greifen bzw. Nachgreifen von
Tönen gemeint, die soeben losgelassen wurden, oder (!) das stumme Greifen von
Tönen, die zu den losgelassenen Tönen in einem günstigen Obertonverhältnis stehen.
Dazu ein Versuch. Die Aufgabe sei: Nach einem Pedalwechsel sollen alle vier Töne
des hier abgebildeten Arpeggio weiterklingen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Die
erste ist die, dass man schon angeschlagene Töne stumm nachgreift und dann Pedal
wechselt; dabei ist zwischen zwei Varianten zu unterscheiden: Variante a) ist das
stumme Nachfassen nur der unteren Quinte, Variante b) das stumme Nachgreifen der
unteren drei Arpeggio-Töne. Das obere Es,
zweimal Daumen, nicht überschlagen !
dass nicht mehr gegriffen werden kann, klingt
ja immerhin als starker Oberton des unteren
Es mit. Das Ergebnis nach dem Pedalwechsel
ist bei Variante b) so, dass der Grundton As
dröhnend hervorsticht, die Quinte Es ist ganz
zurückgedrängt. Schöner ist das Ergebnis nach
Variante a) ( = nur die untere Quint stumm
nachfassen): Der Klang ist besser ausbalanciert, beide Töne, As und Es, sind gut zu hören, wenn auch die untere Quint sehr
prävalent ist. Variante a) ist eine gute, zufrieden stellende Lösung der Aufgabe.
Die zweite Möglichkeit aber ist viel schöner, sinnlicher, phantasiereicher:
- 180 -
Drücken Sie keine der gerade gespielten Töne, sondern die noch eine Oktave darunter
liegende Quinte As - Es. Führen Sie den Pedalwechsel danach schnell und flüchtig
aus, damit genug Tonreste übrig bleiben. Sie hören dann, als klangliches Ergebnis,
die vier Arpeggio-Töne einmal als starke Obertöne der tiefen Quint und als Tonreste
des unvollständigen Pedalwechsels. Aber es sind nicht nur die vier Töne gut zu
hören: Es tut sich eine große Weite auf, es ist, als öffnete sich unversehens, inmitten
des Klanges, die Tür zu einem großen Saal.
Die soeben beschriebene Manipulation mit der linken Hand ist ein herausgegriffenes
Detail; es erhält seinen Sinn, wenn es in die Literaturstelle eingefügt ist, zu der es
gehört (Bsp.182, Brahms, Sonate f-moll, op.5, 1.Satz). Erst dort, im Zusammenklang
aller Stimmen, entfaltet der Kunstgriff mit dem stummen Drücken der tiefen Quinte
seine suggestive Wirkung, genauer: Schönheit und Weite breiten sich mit dem
Pedalwechsel auf der dritten Zählzeit von Takt 55 aus. Die bis dahin bedeutungsschwer lastende Musik erfährt mit dem Pedalwechsel einen plötzlichen Wandel ins
Schwerelose.
Doch der atmosphärische Reiz will ausgekostet werden; er wirkt nur, wenn der
Interpret dem Klang, wie in einer Fermate, wirklich lange nachhorcht. Ähnlich der
Pupille hat auch das Ohr ein Trägheitsmoment, braucht, bis es eine plötzliche
"Licht"-Veränderung wahrnimmt, eine gewisse Zeit der Anpassung. Das "gestohlene"
Tempo wird mit dem folgenden un poco accelerando zurückgegeben.
Quasi Fermate: dem Klang lange nachlauschen !
Bsp.182
Takt 55
8vb
Ausführung Takt 55: 1) Arpeggio auf
der Zeit ansetzen, 2) die tiefe Quint
darunter stumm drücken, 3) auf der dritten
Zählzeit einen raschen (!) Pedalwechsel
ausführen, 4) lange aushorchen.
Nehmen Sie - bitte! - den herrlichen
Klang aus T.55 mit hinüber in das
piano-dolce. Nicht Pedal wechseln! Das
lange Pedalfeld geht danach bis hinein
in den Takt 58 (nicht mehr abgebildet)
Dieselbe Stelle aus der f-moll-Sonate trat in diesem Buch schon in einem anderen
Zusammenhang auf, als Bsp.89 im Kapitel "Weite Griffe". Die Sonate ist ein unerschöpflicher Fundus für alle Fragen der Pedalisierung.
Die klanglichen Wirkungen, die das Operieren mit stumm gedrückten Tasten ermöglicht, sind vielfältig, phantastisch, sie sind, darüber hinaus, künstlerisch bisweilen
unverzichtbar, um dem Willen des Komponisten gerecht zu werden. Ein Grund für
diese Notwendigkeit ist das Resonanzverhalten heutiger Flügel gegenüber denen des
19.Jahrhunderts. Viele Pedalangaben können nicht wörtlich übernommen werden.
Man braucht nur an die langen, kühnen Pedale in Beethovens Appassionata (Schluss
erster Satz) und Waldstein-Sonate (Anfang dritter Satz) zu denken.
- 181 -
Nicht zwingend notwendig, jedoch sehr wünschenswert ist das stumme Drücken von
Tasten in Bsp.183 (Chopin, Nocturne op.27 Nr.1), das ich dem Buch "Der Weg zum
künstlerischen Klavierspiel"
Bsp.183
von Josef Dichler entnehme.
Dr.Dichler schreibt: "Das
mit Pfeil bezeichnete Fis ist
als wichtige Dissonanz stark
anzuschlagen und soll sich
zum E-is auflösen. Daher ist
ein Pedalwechsel auf Eis
nötig. Andererseits ist ein
Durchklingen des tiefen Cis schön und erwünscht. Aus diesem Dilemma hilft nur die
angezeigte Spielweise." Ich darf ergänzen: Auf dem zweiten Cis des Bassaufganges,
dort wo die crescendo-Gabel ihre Spitze hat, empfiehlt sich ein zusätzlicher, flüchtiger Pedalwechsel, um dem Kontra-Cis etwas von seiner Wucht zu nehmen und so
auszuschließen, dass es bei der Auflösung in das Eis noch zu mächtig dröhnt.
In Bsp.183 kann das weit gespannte Cis-Dur einen unaufgelösten Fis-Vorhalt
notfalls verkraften, stummes Greifen ist deshalb, wie gesagt, nicht zwingend notwendig, unverzichtbar ist es dagegen in Bsp.184 (Leŏs Janáček, "Im Nebel", 2.Satz,
Adagio) dort, wo ab T.17 das Thema, zu 32-teln verkürzt, wie in Nebelfetzen vorbeihuscht. Der Takt 17 ist noch mit durchgehendem Pedal möglich, in Takt 18 schon
wäre damit die Themen-Gestalt nur noch ein gestaltloser Brei.
Das As kann, natürlich, auch mit dem Tonhaltepedal arretiert werden; der Nachteil
ist, dass dann das hier unerlässliche sordino-Pedal nicht mehr zur Verfügung steht.
Die Lösung mit dem stummen Nachfassen ist ungleich atmosphärischer, weil ich
damit, neben dem losgelassenen As, zusätzliche Töne stumm nehmen kann, die die
Obertonresonanz fördern und den Raum während der Fermaten vibrierend erfüllen.
Bsp.184
Gleich nach der 32-tel-Figur die stummen Tasten greifen - Pedal wechseln - der Klangwirkung lange zuhören - das mit der Fermate versehene As spielen.
2 1
3
2 3 1
2
4
Man kann auch andere als die hier empfohlenen Tasten stumm greifen. Ausprobieren!
- 182 -
Töne, die ich zusätzlich zu den losgelassenen stumm greife, finde ich durch Ausprobieren und wähle sie nach der Obertonwirkung, die mir am besten gefällt.
Die meisten Pianisten arbeiten nie mit stumm gedrückten Tasten, genauer: Sie
kommen gar nicht auf die Idee, sie sind, würde ich sagen, nicht neugierig.
Tatsächlich gibt es diesbezüglich von Seiten der Komponisten in der klassischen und
romantischen Literatur keine expliziten Hinweise, es stehe ja davon nichts in den
Noten, heißt es. Ha ! Was steht schon in den Noten ! Eine Beethoven-Sonate kann
perfekt exekutiert werden und dennoch stumm bleiben. Die Musik ist nicht in den
Noten. Sie ist hinter den Noten. Es ist der alte Streit zwischen Buchstabe und Geist.
Phantasie, als eine der elementaren Bedingungen für Künstlertum, beinhaltet auch
den Drang, alles herauszufinden, was man einem Instrument an Klängen entlocken
kann. Es ist auch dieser Wunsch, zu entdecken, der den Künstler vom tüchtigen
Klavierspieler unterscheidet.
Über die Obertöne sollte ein Pianist nicht nur in Theorie, sondern auch in der praktischer Anwendung Bescheid wissen. Ich bin fasziniert von Obertönen, dem Changieren des Klanges. Es verzaubert mich zu hören, wenn gute Sänger oder Geiger auf nur
einem langen Ton Farbe und Ausdruck in vielfältigster Weise wechseln. Im Internet,
über YouTube, können Sie Obertonsingen hören. Sehr schön, sehr eindrucksvoll.
Bei den Werken der klassisch-romantischen Literatur ist es Sache des Interpreten, zu
entscheiden, wann es nötig ist, Tasten stumm zu greifen. Der Text gibt dazu keine
Hinweise, in der zeitgenössischen Klaviermusik aber finden sich diese Hinweise sehr
wohl. Unter den bekannten Komponisten war, meines Wissens, Bartok der erste, der
stummes Greifen als Spielvorschrift notiert hat, von den (jetzt, 2013) lebenden nenne
ich Wolfgang Rihm, George Crumb, Dieter Schnebel ecc. die in schöpferischer
Phantasie alle nur denkbaren Klangwirkungen als konkrete Spielanweisungen niedergelegt haben: Obertöne, Flageolett-Töne, aus dem Nichts entstehende Klänge,
Tonverfremdungen ecc.
Allein deshalb lohnt es sich, zeitgenössische Klaviermusik zu spielen. Wer neugierig
ist, bekommt so alle Effekte, sozusagen, gratis geliefert und gelehrt, ohne sich selbst
um ihre Entdeckung bemühen zu müssen. Empfehlenswert in diesem Sinne sind z.B.
Dieter Schnebels "Auguri" (Schott-Verlag).
Die andere Seite von Effekten ist ihre Anwendung. Pianisten müssen alle klanglichen
Tricks kennen, aber wann und ob diese eingesetzt werden, ist eine künstlerische
Entscheidung. Die Gefahr ist groß, einen Effekt nur deshalb anzubringen, weil er
möglich ist, z.B. aus Freude darüber, ihn entdeckt zu haben.
Es gibt die verständliche Angst, stumm gegriffene Töne könnten ungewollt ansprechen. Tatsächlich muss ja die Prozedur: stumm greifen und Pedal wechseln oft sehr
schnell ablaufen.
Dennoch ist die Angst unbegründet. Sie verschwindet nach einiger Übung rasch,
sobald man die Erfahrung gemacht hat, dass die Tasten keineswegs bis ganz nach
unten gedrückt werden müssen; es genügt, sie nur halb, bis zum Auslösepunkt zu
drücken.
Hauptsache die Saite liegt frei, wie weit der Dämpfer von ihr entfernt ist, ist egal.
- 183 -
Vom Auslösepunkt aus kann man dann, wenn Zeit dafür ist, die Tasten noch weiter
bis zum Tastengrund herunterdrücken, ohne dass sie ansprechen. Vom Auslösepunkt
aus sprechen Töne nur an, wenn die Taste sehr schnell gedrückt wird; das eröffnet nebenbei bemerkt - die manchmal nützliche Möglichkeit, mit einem vom Auslösepunkt aus gespielten forte -Anschlag ein zartes pp zu erzeugen: Taste bis zur Hälfte
herunterdrücken Taste forte ( = schnell) ganz herunter drücken = pp -Ton.
Machen Sie von der losgelassenen zu der stumm zu drückenden Taste keine Bogenbewegung, gehen Sie vielmehr in einer waagrechten und sehr schnellen Bewegung
knapp über die Tastatur hinweg zu dem Ton, der stumm gegriffen werden soll.
Üben Sie schnelles stummes Greifen von Tönen mit dem hier abgebildeten Versuch.
Dabei erfahren Sie auch, dass man auf diese Weise auf dem Klavier ein beinahe
perfektes fp hervorbringen kann. Das fp ist beinahe perfekt, ganz perfekt ist es
deshalb nicht, weil beim Weiterklingen der Oktave nach dem Pedalwechsel das
untere G gegenüber dem oberen G etwas hervortritt.
Überdies wird bei dem Pedalwechsel, der auf das stumme Greifen folgt, ein kurzes "Absauggeräusch" hörbar.
Das aber fällt im Konzert überhaupt nicht auf.
Ausführung: Sich von der Oktave hin zum darunter liegenden G
abstoßen - G stumm drücken - rasch ("schlampig") Pedal
wechseln
die forte angeschlagene Oktave klingt piano weiter.
Die forte-piano-Wirkung nur mit dem Fuß, mit einem Pedalecho, hervorbringen zu
wollen, ist sehr riskant. Ich rate davon ab; denn selbst wenn Sie nach dem Anschlag
sehr schnell Pedal wechseln, ist es fast unvermeidlich, dass das Ergebnis zu wenig
Substanz hat und allenfalls wie ein angewehtes, schwaches Echo wirkt. Zudem
reagiert die Dämpfung von Flügel zu Flügel nie ganz gleich, und die geschickteste
Fußbewegung kann es nicht mit der Feinmotorik der Hand aufnehmen. Stummes
Greifen ist verlässlicher. Ich halte die gewünschte Resonanz lieber sicher in Händen.
Der Versuch ist mit zwei b-Vorzeichen versehen, denn die G-Oktave gehört zu einem
B-Dur-Werk, zu Schuberts großer Sonate D 960, wo, im vierten Satz, der fpSignalstoß das Thema nicht weniger als acht Mal zum Einsatz auffordert (Bsp.185).
Bsp.185
Wer weiterhin Angst hat, das stumm genommene G könnte ungewollt ansprechen, kann die
fp-Oktaven auch rechts spielen. Das stumme Greifen wird so für die linke Hand leichter.
Bevor ich diese Seite schrieb, habe ich, am Pfingstsonntag, 19.Mai 2013, mit dem
Komponisten Dieter Schnebel telephoniert und mit ihm über indirekte Klangwirkungen und andere Effekte am Flügel gesprochen.
- 184 -
Von sich aus die fp-Oktave ansprechend, sagte Dieter Schnebel, wie sehr es ihn
wundere, dass, bei den vielen Einspielungen der Sonate, offenbar noch kein Pianist
darauf gekommen sei, mit Hilfe der Obertonwirkung tatsächlich ein f-p zu produzieren. Und dieses f-p, das sei doch wichtig, weil die G-Oktave am Satzende (Takt 490)
nicht mehr als aufschreckender Impuls auftrete, sondern nur noch piano, matt,
resigniert, um dann in den folgenden Takten chromatisch nach unten gleichsam
kraftlos abzurutschen (in Takt 496, nach Ges und, in Takt 502, nach F).
Auf meiner Einspielung der B-Dur-Sonate aus dem Jahre 1998 klingt das forte-piano
in der gewünschten Weise, so wie oben in dem Versuch beschrieben, und ich habe
mich gefreut, dies Herrn Schnebel mitteilen zu können. Ich habe jedoch, um Schematismus zu vermeiden, die forte-piano-Wirkung nicht jedes Mal gemacht, wenn die GOktave auftritt, im Ganzen acht Mal (wenn ich mich nicht verzählt habe).
Im Takt 88 des nächsten Beispiels aber (Bsp.186, Beethoven, Sonate Es-Dur, op.7,
2.Satz) lässt sich die forte-piano-Wirkung ohne großes Risiko allein mit dem Fuß
hervorbringen. Die mächtige Bass-Oktave bietet eine gewisse Gewähr, dass nach
einem raschen Pedalwechsel noch genügend Tonreste für ein sonores piano übrig
bleiben. Aber natürlich geht es auch hier nicht ohne stummes Greifen, in diesem Fall
ohne stummes Nachfassen, damit die Fis-Oktave beim nächsten nötigen Pedalwechsel, dem Wechsel auf dem zweiten Viertel (D) von Takt 89, nicht verloren geht.
Bsp.186
Takt 88
Takt 88:
- Bass-Oktave Fis mit dem Anschlag loslassen
- rasch ("schlampig") Pedal wechseln
- losgelassene Fis-Oktave stumm nachfassen
An etlichen Stellen der Literatur ist das stumme Greifen bzw. stumme Nachfassen
eine Hilfe für kleine Hände, damit ein weiter Griff trotz eines nachfolgenden Pedalwechsels noch vollständig bleibt. Aber probieren Sie das auch hier, um die Wirkung
kennen zu lernen, erst einmal nur mit der linken Hand aus.
f
mp
mp
Lösung für kleine Hände, die den Dezimengriff nicht
spannen können: Nach dem Arpeggio das D festhalten, das
H stumm greifen und das Bass-G stumm nachfassen, Pedal
wechseln
Alle drei Arpeggio-Töne sind gut hörbar.
Hinweis: Für eine gute Obertonwirkung die beiden unteren Töne leise,
den oberen Arpeggio-Ton H aber kräftig anschlagen
- 185 -
Hier das zum Detail gehörende Beispiel (Bsp.187), ebenfalls aus dem Adagio der
Sonate Es-Dur, op.7. Nach dem Pedalwechsel auf der zweiten Zählzeit in Takt 10 ist
ein Pedalwechsel nötig, weil der untere Ton des Doppelschlags, Cis, im G-Dur-Klang
stören würde. Die beschriebene Maßnahme stellt sicher, das auch bei kleinen Händen
der Dezimenklang nach dem Pedalwechsel vollständig bleibt.
Vor Jahren, 1997, habe ich mich gefreut, als meine phänomenale Schülerin Ji-Young
Yoon von selbst auf diese geschickte Lösung gekommen war.
Bsp.187
Auch in den Beispielen 188 und 189, erneut aus Brahms' Sonate op.5, ist stummes
Nachfassen künstlerisch notwendig. Die Triller in den Takten 26 und 30 des langsamen Satzes sollen sehr leise und reich, also nicht nur sparsam als Doppelschlag
ausgeführt werden. Dieses Anforderung ist nicht zu erfüllen, wenn die rechte Hand
dabei auch noch die ebenfalls pp auszuführende Altstimme spielen muss. Deshalb
übernimmt die linke Hand während des Trillers einige Sechzehntel der Altstimme,
das Pedal bleibt dabei liegen, die losgelassene Bass-Oktave wird vor dem nächsten
Pedalwechsel stumm nachgefasst. Die kleinen Trübungen, die sich zwischen den
beiden Pedalwechseln in den Takten 26 bzw. 30 ergeben, stören überhaupt nicht.
Wie in Bsp.184 rate ich auch hier davon ab, die Bass-Oktaven ins dritte Pedal zu
nehmen; damit entfiele die Benützung des sordino-Pedals, das besonders bei den
Trillern unverzichtbar ist.
13131234
Bsp.188
Takt 25
1
3 1
nachfassen !
Takt 29
Das Sechzehntel vor der Rückgabe der Altstimme an die rechte Hand mit diskreter RubatoDehnung, damit das stumme Nachfassen ohne Hast geschehen kann (B in Takt 26, Des in T.30).
- 186 -
Später in diesem langsamen Satz bringen einen die Takte 139 bis 143 ins Grübeln
(Bsp.189). Brahms schreibt ein ideales Notenbild, von dem er natürlich selbst wusste,
dass es nicht buchstabengetreu erklingen kann. Es geht, erneut, um den Unterschied
zwischen dem, was geschrieben, und dem, was gemeint ist, und es gilt die Ausführung zu finden, die dem Sinn der Stelle gerecht wird.
Im Sinne der Stelle ist es ganz sicher, dass, links, das As die Funktion eines Orgelpunktes hat; andererseits sind da die unruhigen Trochäen G - As - G - As ... , die mit
ihren gegen den Takt gerichteten Betonungen schwer-leicht-schwer-leicht ein inneres
Nachzittern zum Ausdruck bringen, bevor sie sich in Takt 143 beruhigen.
Ein durchgehaltenes Pedal, jeweils bis zum letzten Takt-Achtel, würde die nervöse
Kontur der Trochäen beschädigen, welche zur Verdeutlichung der kurzatmigen,
kleinen Bögen nach einem immer wieder gelüfteten Pedal verlangen; die unbetonte
Note As muss manchmal geradezu unruhig abgerissen (= real kurz) klingen.
Aber welche der loszulassenden Arpeggio-Töne sollen dann geopfert werden? Für
die Sonorität und harmonische Vollständigkeit sind die tieferen Akkord-Stimmen viel
bedeutsamer als die Oberstimme; sehr bedauerlich ist z.B., wenn die Töne Fes in der
Unterstimme der Takte 140 und 142 abbrechen; dadurch verliert die Harmonie einen
wichtigen, ausdrucksstarken Ton und damit ihre Vollständigkeit (siehe Kommentar).
Kommentar zu Bsp.189: Die Spitzen-Töne der Arpeggien sind imaginäre Töne. Imaginär, weil
wir diese Töne auch dann als durchgehalten empfinden, wenn sie real abbrechen oder in der
Fülle anderer Stimmen unhörbar werden. Wird die Arpeggio-Spitze am Taktanfang stark
markiert, dann erlebt das Ohr, am Taktende, das letzte Takt-Achtel als ihre natürliche
Fortsetzung, obwohl sie, die Arpeggio-Spitze, in Wirklichkeit lange vor ihrer Ankunft am
Taktende von den kleinen Pedalwechseln gelöscht wurde.
Jedoch verstummen die losgelassenen Spitzentöne keineswegs ganz: Sie wirken weiter als
starke Obertöne der vielen Töne, die darunter, links und rechts, gespielt und gehalten werden.
Die Arpeggio-Spitzen stark markieren - die Akkord-Töne darunter
stumm nachfassen - mit den kleinen Pedalwechseln beginnen.
Bsp.189
T.140
5 1 1 1 1 1 1 1 1 ... sempre
T.142
5
Das eingangs stumm genommene (oder leise mit angeschlagene) Kontra-As wird über die fünf
Takte hinweg festgehalten. So ist eine durchgehende Orgelpunkt-Wirkung über die zusätzlich
nötigen, kleinen Pedalwechsel hinweg gewährleistet.
- 187 -
Im Kommentar zum Beispiel 189 war die Rede von imaginären Tönen. Solche
imaginären Töne sind in der Klavierliteratur häufig. Es handelt fast immer um
Diskant-Töne, die keine große Tragfähigkeit mehr besitzen.
Viele Diskant-Töne gehen als tatsächlich hörbare Töne gleich nach dem Anschlag
verloren, z.B. wegen der Fülle der sie umgebenden Stimmen. Als lange und fortwirkend empfinden wir diese Töne nur deshalb, weil sie stark markiert wurden.
Die starke Hervorhebung verankert den Ton, über seine tatsächliche Dauer
hinaus, im Gehirn.
In Var.XI von Brahms' "Elf Variationen über ein eigenes Thema", D-Dur, op.21 Nr.1
(Bsp.190) findet sich eine große Zahl solcher Töne, deren wahrgenommene Tragfähigkeit nichts mit ihrer tatsächlichen Hörbarkeit zu tun hat.
Imaginäre Töne, die schnell verlöschen,
aber als fortwirkend wahrgenommen werden.
Bsp.190
Stoff zum Nachdenken gibt auch die Wiederkehr des Themas im zweiten Satz von
Schuberts Sonate D 960 (Bsp.191). Der Bass ist, wie in Bsp.189, Orgelpunkt, jedoch
müssen die Bass-Staccati erkennbar bleiben. Gerade die Sechzehntel entfalten dann
eine eindringliche Wirkung, wenn sie ohne Pedal, als Orchester-Pizzicati erklingen,
weich getupft zwar, aber eben doch wörtlich kurz, das Pochen nicht vom Pedal
aufgeweicht. Damit dabei der Orgelpunkt nicht abreißt, bietet sich die nachstehende,
zugegeben sehr ausgetüftelte Lösung an.
stumm während der Generalpause Takt 89
Bsp.191
4
1
3
2
3
2
1
1
3
2
2
1
4-5 4 3
2
1 2
1
1
T. 90
8 vb
3
2
8 vb 1 1
1
1
1
4
2
3
1
1
8 vb
1
1 1 1
1
8 vb
8 vb
Ausführung Bsp.191: Pedal mit dem Anschlag des Staccato-Basses auf der Eins wegnehmen Pedal wieder treten und stumme Taste loslassen (weil der Daumen zum nächst höheren Cis
hinauf muss) - Kontra-Cis im Pedalfeld, das jeweils am ersten Staccato-Sechzehntel endet,
wieder stumm nehmen - Legato-Pedal am Taktende knapp, erst nach dem His nehmen.
Die hier beschriebene Ausführung ist, selbstverständlich, nicht die künstlerisch allein
- 188 -
angemessene. Auf vielen schönen Aufnahmen hört man die Staccati der linken Hand
geschickt in sparsames Pedal getaucht, und für viele ist meine Lösung sicherlich zu
gesucht. Beharrliches Suchen nach der perfekten Lösung aber speist sich immer aus
dem Wunsch, das makellose Ideal zu finden und hervorzubringen.
1
Im Konzert habe ich auf die Manipulationen verzichtet. Vor Publikum waren sie mir
zu riskant und erschienen mir, angesichts der traurig und ziellos hinwankenden
Musik, als ein Zuviel an "tricky" Aktion.
Für meine CD-Einspielung 1998 aber habe ich die ausgeklügelte Ausführung verwendet, und das Ergebnis überzeugt mich bis heute. Mit einer CD versucht man ja
immer, ein ideales Muster vorzulegen.
In einer Pedalabhandlung dürfen die Takte 233 bis 238 des ersten Satzes aus Beethovens "Appassionata" nicht fehlen (Bsp.192).
An etlichen Stellen seiner Sonaten wünscht Beethoven ein verschleiertes Pedal. Wie
ich schon zu Beginn des ersten Kapitels gesagt hatte: Gleichsam klinisch rein voneinander abgesetzte Harmonien sind einer leidenschaftlichen Aufgewühltheit oft nicht
angemessen. Beethoven will, der Dramatik des Geschehens angemessen, an dieser
Stelle der Appassionata den Pulverdampf des Gefechts, die im Nebel schwankenden
Gestalten, will die bewusste Trübung.
Beethoven wollte die Trübung, aber mit Sicherheit wollte er nicht, dass das pianoKlopfmotiv Des-Des-Des-C (Takt 235) in einer übermächtigen Pedalwolke gleichsam unhörbar wird. Genau das aber passiert, wenn man seine Pedalangabe, ein langes
Pedal von T.233 bis 237, wörtlich auf einen Konzertflügel unserer Zeit überträgt.
- Die Passage verlangt wenigstens einen partiellen Pedalwechsel: den beim Einsatz
des Des in Takt 235.
- Zudem muss der vorausgehende Dominantseptakkord auf C ausgelichtet werden.
Mit dem partiellen Pedalwechsel allein ist das nicht möglich; das Risiko ist zu groß,
denn selbst ein nur sehr flüchtiger Pedalwechsel würde den Klang zu sehr ausdünnen.
Es bleibt nur, Töne des Septakkordes festzuhalten bzw. stumm zu greifen.
Viele, so J.Banowetz und J.Dichler, regen an, die unteren vier Töne, C-E-G-B, von
Takt 234 festzuhalten. Für das Festhalten dieser vier Töne empfiehlt Banowetz
überdies den etwas gespreizten Fingersatz 5 - 4 - 3 - 2, damit der Daumen für das
Des in Takt 235 frei bleibt.
Die vier Töne festzuhalten, sind eine mögliche Lösung. Sicher aber nicht die beste.
Ich würde Sie darum bitten wollen, den Unterschied auszuprobieren:
- Wenn Sie den Takt 234 sehr laut spielen, dann die unteren vier Töne, C-E-G-B,
festhalten oder, je nach Handaufteilung, stumm nachfassen und rasch das Pedal
wechseln, hören Sie als Ergebnis einen reduzierten Klang mit vielen Tönen. Die vier
festgehaltenen sind dabei, verständlicherweise, so prävalent, dass sie die anderen
Töne erdrücken.
- Wenn Sie den Takt 234 erneut spielen, jetzt aber die vier Töne stumm drücken, die
noch eine Oktave unter den vorher festgehaltenen liegen, erhalten Sie einen weiten,
phantastischen Klang: Alle zuvor gespielten Töne des Septakkordes klingen gleich-
- 189 -
mäßig und in ausreichender Fülle weiter, auch der oberste Ton des Taktes, die
Septime B, schwingt schön und deutlich hörbar mit. Genau dies ist der Klang, der das
geduckt pochende Des in Takt 235 umhüllen muss !
Bsp.192
T.234
T.233
8 vb
mit rechter Hand spielen !
T.238
T.235
partieller Pedalwechsel
- vollständiger Pedalwechsel
Die zwischen T.235 und T.235 stumm gegriffenen Kontra-Töne C-E-G-B bis T.238 festhalten !
Kommentar zu Bsp.192: Die Obertonresonanz des stumm gedrückten Akkords lässt bei dem
Pedalwechsel in T.235 alle zuvor gespielten Töne gleichmäßig und in ausreichender Fülle
weiterklingen, gleichzeitig wird dabei der Klang so weit ausgelichtet, dass das unterschwellig
pochende Motiv Des-Des-Des-C nicht in einem übermächtigen Nachhall untergeht.
Berühmt für Beethovens lange, kühne Pedalfelder ist das Rezitativ aus dem ersten
Satz der Sturm-Sonate op.31 Nr.2 (Bsp.193).
Der erste Stollen des Rezitativs, Takt 147 bis 152, kann ein einziges durchgehaltenes
Pedal gut vertragen, so wie es Beethoven notiert hat. Voraussetzung dabei ist, dass
das Rezitativ wirklich sehr langsam gespielt wird, damit die dissonierenden Töne
nicht zu eng aufeinander folgen.
Bsp.193 a
T.147
T.152
- 190 -
Heikler ist ein einziges Pedal für den zweiten Stollen, die Takte 157 bis 162. Zumindest auf dem C in Takt 160, dort, wo das Rezitativ in die sonore Mittellage hinabsteigt, ist ein Pedalwechsel erforderlich.
Bsp.193 b
bbb
T.157
Cluster hier drücken !
Pedalwechsel "schleichend",
nicht abrupt.
Bsp.193 b: Damit durch den Pedalwechsel die Atmosphäre einer "Verlorenheit im weiten
Raum" nicht unterbrochen wird, empfiehlt es sich, während der Fermate mit der Handfläche
einen Cluster mit den tiefsten Tönen der Tastatur stumm zu drücken. Wird der Cluster festgehalten, können zusätzliche Pedalwechsel erfolgen. Man kann auch andere tiefe Töne stumm
drücken, z.B. solche mit einem tonalen Bezug zum Rezitativ. Meine Schülerin Lioba Pott
entschied sich z.B. für die Töne (von unten aufsteigend) : (Kontra-) F - G - As - C - F - G - As
Liszts großartig erhabene Transkription des Schubert-Liedes "Meeres Stille" (Goethe)
stellt höchste Anforderungen an das Wechselspiel zwischen Hand und Fuß
(Bsp.194): Molto lento angoscioso - Sehr langsam und von Angst erfüllt.
Bsp.194
den jeweils letzten Ton eines Taktes überhalten, damit die Melodie nicht abbricht.
- 191 -
- 192 -
Die Erkenntnis aus dieser Liedtranskription ist: Zwar müssen, selbstverständlich, alle
Töne der anrollenden Arpeggien gespielt werden, in kaum einem Takt aber können
alle diese Töne bis zum Taktende in einem Pedal verbleiben (die ganztaktige Pedalisierung ist von Emil von Sauer und daher ohne Bedeutung).
Dabei spreche ich noch gar nicht von den chromatischen Gängen in der zweiten
Hälfte des Liedes, ich meine durchaus solche Takte, in denen alle Arpeggio-Töne zur
Harmonie gehören, z.B. zu einem Septakkord.
Aber Terzen oder Septimen können, wenn sie in sehr tiefer Lage sind, mit ihren
Obertönen die Harmonie so verfremden, dass diese oft kaum noch erkennbar bleibt.
Es sind daher in beinahe jedem Takt zusätzliche Pedalwechsel erforderlich, wobei
stets die Entscheidung zu treffen ist, welche Töne danach weiterklingen sollen. Das
geschieht entweder durch selektives Fingerpedal oder stummes Nachfassen.
Greifen wir zunächst einige Takte heraus, in denen die erwünschten Töne durch
selektives Fingerpedal bewahrt werden.
Das C-Dur der Takte 1, 2 und 4 (Bsp.194 a 1) ist mit drei Terzen, den E, überbesetzt.
Zwar können alle Töne in einem Pedal bleiben, viel schöner aber schwingt der Klang
aus, wenn man die tiefe Terz, das E, herausnimmt, dessen starke Obertöne H und Gis
die Schönheit des C-Dur-Dreiklanges beeinträchtigen.
Bsp.194 a 1
loslassen !
loslassen !
loslassen !
Takt 2
Takt 3
Bsp.194 a 1): In den Takten 1, 2 und 4 alle Töne festhalten, nur das tiefe E loslassen. Mit dem
Pedalwechsel, irgendwo in der Taktmitte, schält sich, wunderbar, das gereinigte C-Dur heraus.
- 193 -
Wegen Takt 3 bilde ich die erste Liedzeile noch einmal ab (Bsp.194 a 2). Wenn alle
Arpeggio-Töne des Taktes im Pedal bleiben, klingt der Quint-Sext-Akkord verzerrt.
Bsp.194 a 2
loslassen !
1
Takt 3
Bsp.194 a 2): In Takt 3 die tiefen Töne D und F loslassen und den gereinigten Klang
verzögert mit dem Pedalwechsel zwischen den beiden Melodie-Noten G frei geben.
Entsprechendes gilt für den Takt 7 (Bsp.194 b), wo das tiefe Dis (Terz) und das tiefe
A (als Septime genügt das obere A) den ausschwingenden Klang empfindlich stören.
Bsp.194 b
'rausnehmen
Takt 7
Bsp.194 b, Takt 7: Probieren Sie bitte den Unterschied aus: Zunächst das ganze Arpeggio
einschließlich des Melodie-Dis spielen und alles im Pedal lassen. Dann die tiefen Tasten Dis
und A loslassen und Pedal wechseln. Der Gewinn an klanglicher Schönheit ist bemerkenswert.
Ab Takt 17 (Bsp.194 c) holen die anbrandenden Arpeggien weiter aus. Nur die
bebende Ossia-Version ist der Aufgewühltheit der Musik angemessen. Töne, die
weiterklingen sollen, müssen nun durch stummes Nachfassen erhalten werden.
Bsp.194 c
b
Takt 17
Takt 18
Takt 19
8 vb
0
21
5 3 2 1 4
5
1-5
3
2
10
5
5 32 1
1
42
0
Allenfalls der Takt 18 verträgt ein ganztaktiges Pedal, in Takt 17 und 19 aber würde dadurch die
Harmonie unkenntlich. Angezeigte Tasten stumm nachfassen und, später im Takt, Pedal wechseln.
- 194 -
Von Takt 17 bis 21 schreiten die Bässe in einer stringenten, chromatischen Linie
abwärts, F (T.17) - E (T.18) - Es (T.19) - D (T.20) - Cis. Nach einer enharmonischen
Modulation (T.20 - 21) endet die Entwicklung in Takt 21 mit dem Quartsext-Akkord
fis-moll (Bsp.194 d).
Die Operation stumm Nachfassen und anschließend Pedal wechseln darf die Funktion
der Harmonien, so wie sie Schubert niedergelegt hat, nicht verändern, muss diese
vielmehr erhalten, ja hervorheben, das heißt: Auch nach dem zusätzlichen Pedalwechsel muss der tiefste klingende Ton in Takt 17 ein F sein, in Takt 18 ein E, in
Takt 19 ein Es, in Takt 20 ein D.
Fingersätze und Haltebögen des Herausgebers bei den Ossia-Stellen gehen über diese
harmonisch eindeutigen Vorgaben Schuberts hinweg.
Besonders schön zeigt sich die Verwandlung vom gestaltlosen, rauhen in einen edlen
Klang an Takt 20 (Bsp.194 d). Belassen Sie bitte, um den Unterschied bewusst zu
hören, zunächst wieder den ganzen Takt mit den Ossia-Arpeggien in einem Pedal:
Das Ergebnis ist mehr als herb, beinahe schon hässlich. Das liegt hauptsächlich an
der Überfrachtung mit drei Terzen (Fis), darunter einer sehr tief gelegenen.
Bsp.194 d
db
T.20
Bsp.194 d, Takt 20: Große Hände können einen idealen Griff, den weiten Dezimenklang,
stumm nehmen, aber auch die Lösung für weniger große Hände (Klammer) zeitigt ein
schönes Ergebnis. Wiederum gilt: nach dem stummen Nachfassen nicht sofort wechseln,
sondern den gereinigten Klang erst verzögert auf dem letzten Melodie-Ton A frei geben.
Bei allen der letzten Beispiele bleibt für das stumme Greifen genug Zeit, da die
Arpeggien nie auf, sondern durchwegs vor der Zählzeit angesetzt werden.
Das Entscheidende der Beispiele aus "Meeresstille" ist: Der reinigende Pedalwechsel
sollte nicht zu früh erfolgen, beim selektiven Fingerpedal nicht sofort mit der Ankunft auf dem oberen, dem Melodieton, beim stummen Nachfassen nicht sofort,
nachdem es ausgeführt ist.
Erst der verzögerte Pedalwechsel lässt den Hörer miterleben, wie sich der Klang
verwandelt, vom herben in den reinen Klang.
Besonders schön zeigt sich das in Takt 7 (Bsp.194 b) oder eben in Takt 20 des gerade
besprochenen Beispiels 194 d: Wenn die weiten Arpeggien ausgeführt sind, erscheint
- 195 -
der Klang zunächst opak, fast wie mit Schlacken belegt. Lassen Sie ihn dennoch,
auch nach dem stummen Nachfassen, noch für eine Weile so stehen. Die verspätete
Freigabe, in der zweiten Takthälfte oder am Taktende, ist dann umso suggestiver. Es
ist, als würde das Halbdunkel einer diesigen Theater-Szene unversehens in warmes
Licht getaucht.
Der zweite Teil der Liedtranskription wird uns noch beschäftigen, später und unter
einem anderen Thema.
Die aus den Beispielen 194 a - d zu ziehenden Erkenntnisse sind: Harmonien, die
lange ausschwingen sollen und aus vielen, vorzugsweise tiefen Tönen bestehen,
müssen ausgelichtet werden und bedürfen deshalb der wenigstens partiellen Selektion
bestimmter Töne, insbesondere dann, wenn eine sonore Lautstärke erwünscht ist.
Schon die Experimente im vorherigen Kapitel ("Überflüssige Pedalwechsel und
Pedalwechsel an der falschen Stelle") hatten gezeigt, dass jeder kräftig angeschlagene
Akkord seinen Charakter zum Klareren, Deutlicheren hin verändert, sobald, nach
einem kurzen Moment des Verklingens, das Pedal noch einmal gewechselt wird.
Zum Abschluss des Kapitels aber möchte ich noch zeigen, dass nicht nur Akkorde,
sondern auch Unisono-Klänge, Oktaven zum Beispiel, im Ausklingen bisweilen
gereinigt werden müssen. Das betrifft, natürlich, in erster Linie sehr tiefe Töne, die
bei einem kräftigen Anschlag ein großes Spektrum stark mitklingender Obertöne
erzeugen, darunter natürlich auch solcher, die stören.
Die Introduktion in Isaac Albeniz' Bravour-Phantasie "Navarra" endet mit einem
mächtigen Schlag der Bass-B-Oktave in tiefster Kontra-Lage (Bsp.195).
Ich machte anfangs, leider auch bei einer Rundfunkeinspielung, den Fehler, während
der langen Fermate das Pedal durchgehend getreten zu halten.
Die Oktave diminuiert dabei nur langsam und bleibt, irgendwie, undefiniert und
"schmutzig".
Bsp.195
b
8 vb
Nehmen Sie nach dem Anschlag der Bass-Oktave das Pedal weg und lassen Sie die Oktave
zunächst ohne Pedal weiterklingen. Nach drei Sekunden werden Sie bemerken, wie die Oktave
im diminuendo "sauber" wird. Öffnen Sie danach wieder das Pedal, um, nach ca. einer
weiteren Sekunde, dorthinein den Aufgang (grand et emphatique) zum Haupt-Thema zu legen.
- 196 -
Mächtigen tiefen Oktaven, siehe Bsp.195, ist eine gewisse Unbestimmbarkeit eigen.
Darin ähneln sie großen Gong-Becken oder tiefen Glocken. Der Kern des Tons einer
tiefen Glocke ist nicht so leicht zu lokalisieren, schwieriger jedenfalls als der anderer
Instrumente. Das liegt daran, dass Obertöne von Glocken besonders laut mitschwingen, in der Lautstärke mit dem eigenen Grundton gleichsam wetteifern.
In diesem Kapitel ging es, vor allem gegen Ende, um verzögerte Pedalwechsel.
Daraus ergibt sich ein fließender Übergang zum nächsten Kapitel "Das übergehaltene
bzw. überlappende Pedal". (20.7.2013)
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