WZB – discussion paper Michael Hutter Franz Kasper Krönig Der »Yeah«-Refrain. Zur Wirkung einer großen Sekunde auf die Jugendkultur der 1960er Jahre SP III 2011-401 [email protected] [email protected] ZITIERWEISE/CITATION: Michael Hutter, Franz Kasper Krönig Der »Yeah«»Yeah«-Refrain. Zur Wirkung einer großen Sekunde auf die Jugendkultur der 1960er Jahre Discussion Paper SP III 20112011-401 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Schwerpunkt: Schwerpunkt Research Area: Area Gesellschaft und wirtschaftliche Dynamik Society and Economic Dynamics Abteilung: Abteilung Research Unit: Unit Kulturelle Quellen von Neuheit Cultural Sources of Newness Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, DD-10785 Berlin Telefon: +49 30 2549125491-201, Fax: +49 30 2549125491-209 www.wzb.eu/de/forschung/gesellschaftwww.wzb.eu/de/forschung/gesellschaft-undund-wirtschaftlichewirtschaftliche-dynamik/kulturelle dynamik/kulturelleturelle-quellenquellen-vonvon-neuheit Zusammenfassung Die Studie konzentriert sich auf die vermutete Wirkung einer einzigen musikalischen Besonderheit, nämlich die des Refrain des Songs „She Loves You“, produziert von den Beatles im Jahr 1963. Mit musikanalytischen Mitteln wird die spezifische Materialität einer „Sekundreibung“ in dieser Klangform nachgewiesen. In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass derartige Reibungen in den 1960er Jahren auf vielfältige, kommerziell herstellbare Kommunikationsformen übertragen wurden, in Konsumausgaben umgesetzt wurden und so die Ausdifferenzierung einer eigenständigen, global auftretenden Jugendkultur ermöglichten. Abstract The study focuses on the supposed effect of an exceptional musical singularity, namely that of the chorus of the Beatles song „She Loves You“, produced in 1963. With the tools of musical analysis, the specific materiality of a “grating major second” in this form of sound is demonstrated. In a second step, it is argued that such gratings or frictions were transformed into and used by a variety of commercially producible forms of communication. They generated consumption expenses, and thus the differentiation of an independent, globally emerging youth culture. Inhaltsverzeichnis Einleitung...............................................................................................................................................................................7 1. Der „Yeah“ Refrain als DistinktionsDistinktions-Prototyp ......................................................................................................7 a. Sekundreibung wird die neue blue note ............................................................................................................7 b. Eine musikanalytische Untersuchung.................................................................................................................8 c. Reibung als Konsumgütermerkmal.................................................................................................................... 12 2. Geschmack als Medium des Konsums von Reibungsgütern ....................................................................... 13 a. Geschmack als Medium der Jugendkultur ...................................................................................................... 13 b. Produktion und Konsum von Reibungsgütern ............................................................................................. 16 c. Schlussfolgerungen ................................................................................................................................................... 17 Literatur ................................................................................................................................................................................... 19 Einleitung Im Folgenden geht es um eine musikalische Besonderheit, die 1963 mit der Veröffentlichung des Songs „She Loves You“ von den Beatles erstmals in voller Ausprägung und Wirkung auftrat. Es soll gezeigt werden, dass der darin erstmals bewusst inszenierte und maximierte Effekt von „Sekundreibungen“ zum Merkmal eines Klangstils wurde, der zum generationenspezifischen Ausdruck der eigenen kollektiven Befindlichkeit werden konnte. Es entstand ein neues Kommunikationsmedium des Geschmacks, innerhalb dessen eine feine Differenzierung zwischen dem Song „I Want To Hold Your Hand“ und Wrangler-Jeans, nicht aber zwischen den Kinks und Beethoven oder zwischen Beethoven und Mozart, möglich war. So kam es zur Ausdifferenzierung eines populären Geschmacksmediums, in das sich alle jugendkulturell relevanten Differenzen einschreiben ließen. Als Elemente des Geschmacksmediums dienten sounds, moves, statements, Haltungen und industriell gefertigte Produkte. Miteinander gekoppelt ergaben sie das Medium, mit dem sich Jugendliche der in den 1960er Jahren heranwachsenden Generation ihrer besonderen Gemeinsamkeit versicherten. Der „Yeah-Refrain“, als historisch singuläres Artefakt, so die Folgerung, prägte die neuen Konsumformen der Jugendkultur. 1. Der „Yeah“„Yeah“-Refrain als DistinktionsDistinktions-Prototyp a. Sekundreibung wird die neue blue note Als die Beatles mit ihrem Produzenten George Martin am 1. Juli 1963 den Song „She Loves You“ aufnahmen, glückte ihnen ihre erfolgreichste Single1. Darüber hinaus schufen sie ein signalartiges Markenzeichen, das für die gesamte Rockmusik und sogar die gesamte Jugendkultur stehen konnte. „Yeah, yeah, yeah“ wurde als “mindlessly extroverted expression“ deklariert (Mooney 1969: 19); die Franzosen bezeichnetet ihre französischsprachige Beatmusik pauschal als „Yéyé“, die deutsche Fassung des Beatles-Films „A Hard Day’s Night“ (1964) wurde mit „Yeah, Yeah, Yeah“ übersetzt und selbst Walter Ulbricht sprach von der Beatmusik als „Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt“2. Die Bedeutung der Beatles ist in der sozialhistorischen Literatur, sowohl der der Popmusik als auch der der Jugendkultur, unbestritten (Gleason 1969: 62, Rorem 1969, Frith 1992: 44, Wicke 1987: 9). Auch die musikalische Besonderheit der „Yeah-Yeah-Yeah“-Phrase von „She Loves You“ ist längst hervorgehoben worden. Schon Wicke (1993: 79) wies darauf hin: „Daß es genau diese Phrase ist, die den Song in den kulturellen Gebrauchszusammenhängen Jugendlicher damals verankert hat ... Das jugendliche Publikum reagiert wie auf Stichwort an diesen Stellen jedesmal völlig überwältigt“ (Wicke 1993: 79). 1 http://www.stourbridgenews.co.uk/uk_national_entertainment/4573063.She_Loves_You_is_ Beatles_top_seller/ (04.08.2010). 2 Walter Ulbricht 1965 auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED. Originalton abrufbar unter http://www.rhebs.de/mauer/yeahyeah.wav (01.01.2010). 7 Wicke geht in seiner Analyse genauer auf die musikalische Struktur der Phrase ein: „Das Besondere ... liegt in der wie nachträglich aufgesetzt wirkenden Phrase am Anfang, in der Mitte und am Ende des Songs. ... (das musikalische Material) besteht aus einer zweitaktigen melodischen Figur, die mit ihrer auf- und abwärts führenden Stufenbewegung im Tonraum der Terz des Grundakkords eine schon im Rock ’n’ Roll bekannte und immer wieder benutzte ... eintaktige Spielfloskel aufgreift. Das Besondere an diesem Song sind die harmonische Farbe, die sich aus der Verschiebung in eine Molltonart ergibt ..., die Dehnung über zwei Takte und die Verlagerung dieser Spielfloskel ... in den Gesang.“ Wicke kommt zu dem Schluss: „Das »yeah, yeah, yeah« der Beatles, das in ihrem She Loves You zum erstenmal zu hören war, lieferte eingebettet in das musikalische Material der so markant hervorgehobenen achttaktigen Phrase eine musikalische Erfahrung, die in dem skizzierten Zusammenhang jugendlicher Freizeitaktivitäten nicht nur einen hohen Symbolwert besaß, sondern in ihrem Charakter so etwas wie die Essenz jenes kulturellen Stereotyps von Jugend verkörperte ... Der Song verstieß in diesen acht Takten so ungefähr gegen alle Regeln, die Popmusik, den Rock ’n’ Roll eingeschlossen, damals ausmachten. ... Dass diese acht Takte alles andere als ein dilettantisches Zufallsprodukt sind, belegt die für damalige Verhältnisse auffällig lange Studiozeit, die die Produktion dieses Songs in Anspruch nahm“ (Wicke 1993: 81). Wir verfolgen die von Wicke gelegte Spur noch ein Stück weiter, um die von ihm ebenfalls bereits angedeutete Verknüpfung mit der Jugendkonsumkultur genauer rekonstruieren zu können. Eine besondere Rolle spielt hierbei der Schlussklang, d.h. das letzte „Yeah“. Wickes Befunde zeigen, dass dieser Yeah-Refrain in seiner Binnenstruktur und in seiner Wirkung herausragend war. Er war nicht irgendeine der Auffälligkeiten, mit denen sich ehrgeizige BeatBands voneinander zu unterscheiden versuchten, sondern eben die Besonderheit, die als Merkmal des neuen Musikstils wahrgenommen wurde. Bei der Aufnahme-Session hatten die Beatles alle Mühe, sich gegen ihren Produzenten George Martin durchzusetzen, der insbesondere lieber auf den Schlussklang, der schon am Songanfang vorgestellt wird, verzichtet hätte. Er interpretierte ihn als „jazzy major 6th chord“, der ihm als „corny“ (Fricke 1981: 26), d.h. abgeschmackt erschien. Im 1963 schon lange aus der Mode gekommenen Swing-Jazz waren Sextakkorde tatsächlich verbreitet. Bei manchen Interpreten, z.B. bei Django Reinhardt, war der Sextakkord als Schlussklang fast schon ein Manierismus.3 Auch im Rock ’n’ Roll wurden Songs gerne auf der Tonika mit hinzugefügter Sexte beendet. Allein unter den Stücken, die die Beatles nachspielten, gibt es mehrere solcher Beispiele.4 Warum aber ist der Schlussklang von „She Loves You“ so eigenartig, warum ist er nicht nur als „a ‚decorated triad’“ (Everett 2001: 180) zu interpretieren, wie die Schlussklänge der Rock ’n’ Roll- oder Swingkompositionen? b. Eine musikanalytische Untersuchung Die funktionsharmonische Analyse des Refrains (Mollparallele – Doppeldominante – Subdominante – Tonika mit Sexte) gibt noch keine Hinweise auf eine außergewöhnliche Wirkung der 3 4 8 Sextakkorde liegen auf der Gitarre grifftechnisch sehr günstig, was deren Verbreitung unter den nicht ganz so virtuosen Rock’n’Roll-Gitarristen förderte. „Matchbox“ (Carl Perkins); „Honey Don’t“ (Carl Perkins); „Rock And Roll Music“ (Chuck Berry); „Everybody’s Trying To Be My Baby“ (Carl Perkins); „Long Tall Sally“ (Little Richard). „Yeah“-Phrase: Die verwendeten Akkorde sind weder als solche noch in ihrer Relation zueinander besonders auffällig. „She Loves You“ beginnt nicht mit der Tonika, d.h. dem harmonischen Bezugspunkt, aber das ist für Beatles-Songs auch in dieser frühen Phase nichts Besonderes. Das hängt auch damit zusammen, dass der Song nicht mit der Strophe, sondern mit einer refrainartigen Phrase beginnt. Refrains am Anfang des Songs sind bei frühen Beatles-Songs nicht selten5. Die „Yeah“-Phrase ist also mit den Mitteln der Formenlehre in der Tat nicht einfach zu beschreiben (Keine Strophe, kein Refrain, kein Interlude, kein Intro, keine Bridge). Am ehesten könnte man von einem „introductory chorus“ (Everett 2001: 175) sprechen. Solche Einleitungen werden in der Popmusik als hook bezeichnet und gerne schon zu Beginn präsentiert. Hooks entlasten den Refrain von der Aufgabe, Wiedererkennung alleine zu leisten.6 Hat also die exklamatorische, signalartige und aufsehenerregende Wirkung der „Yeah“-Phrase einen tieferen musikalischen Grund? Spürt man der Phrase phänomenologisch nach, dann entdeckt man ein ungewöhnliches Spiel mit Dissonanzen zwischen Gesang und Gitarre. Insbesondere wollen wir die Aufmerksamkeit auf das dreitönige absteigende Motiv „Yeah, Yeah, Yeah“ lenken, das drei Mal identisch wiederholt wird und seine Dissonanzwirkung in Relation zu dem zugrunde liegenden Akkord verändert. Es ist jeweils das zweite „Yeah“, das das Fis intoniert und so die Dreiklänge um einen weiteren Ton bereichert. Im ersten Fall wird das E-Moll zu einem E-Moll mit None7 (Emad9); der folgende A-Dur-Septakkord (A7) erhält eine zusätzliche Sexte8 (A7ad6 – im Jazz: 7/13) und das C-Dur wird 5 6 7 8 Zum Beispiel: „I’m Happy Just To Dance With You“ beginnt genau wie „It Won’t Be Long“ mit einem Refrain in der Mollparallelen und im Falle von „Can’t Buy Me Love“ mit der Subdominantparallelen. Andere Beispiele für dieses Verfahren aus der frühen Beatles-Phase – allesamt vor „She Loves You“ – sind „Baby It’s You“ (David/Bacharach/Williams), „Misery“ (Lennon/McCartney), „Please Mr. Postman“6 (Garrett/Bateman/Dobbins/Holland/Gorman), und „Please Please Me“ (Lennon/McCartney). Bei der None handelt es sich um den Tonabstand von einer Sekunde und einer Oktave. Die Dissonanz der Sekunde wird hierbei durch den zusätzlichen Oktavabstand deutlich abgemildert. Eine Sexte (Abstand von sechs Tonleitertönen) ist ein konsonantes Intervall. Hier handelt es sich allerdings um eine Sexte, die nicht den darunter liegenden Akkordton (Quinte) ersetzt, sondern zu diesem eine Sekunddissonanz erzeugt. 9 um den Tritonus9 zu einem Cad#11 erweitert.10 Während man hier von einer aufsteigenden Dissonanzkurve sprechen kann, kommt diese Entwicklung mit dem abschließenden G-Dur-Sext akkord (Gad6) zur Ruhe11, der zwar nur etwa so dissonant ist wie der Ausgangspunkt Emad9 der Dissonanzentwicklung, dafür aber wesentlich länger klingt – was das Dissonanzempfinden verstärkt. Der Schlussakkord ist also nicht eine eigene kompositorische Idee, sondern vielmehr die Konsequenz einer sich fortspinnenden Dissonanzentwicklung. Das Cad#11 kann zwar nicht überboten werden, doch das Spannungsniveau kann gehalten werden, wenn auf der schwächeren abschließenden Dissonanz sehr lange insistiert wird. Die besondere Wirkung des Schlussklangs liegt nicht nur an seiner Länge, sondern vor allem daran, dass der Sextakkord so gelegt ist, dass die Sexte eine Sekundreibung zur Quinte erzeugt. Durch den Zusammenklang zweier Töne, die sich in ihrer Frequenz verhältnismäßig nahe sind, entsteht nicht nur eine Dissonanz, sondern auch ein besonderer Klangeffekt, den man in der Akustik als Rauhigkeit bezeichnet (v. Helmholtz 1968). Dieses Sekundintervall, das von den gleich lauten Gesangsstimmen erzeugt wird, sorgt für den herausgehobenen klanglichen Effekt, der die vorausgehenden stärkeren Dissonanzen von Gesang zu Gitarre überbietet. Dabei wandelten die Beatles die Gitarrengriffe von der üblichen Spielweise so ab, dass zu den Sexten, Nonen, Tritoni und Tredezimen der „Yeah“-Phrase noch eine weitere Art von Dissonanz hinzutritt.12 Dadurch kommt es zu kleinen bzw. großen Sekunden, die einen starken Reibungs- oder Rauhigkeitseffekt erzielen. Dieses Spiel mit Sekunddissonanzen ist das zentrale musikalische Motiv der gesamten „Yeah“-Phrase. Hier ist zu sehen, dass das Auffällige und Durchgängige weniger die Nonen, Sexten und Tritoni sind, die der Gesang zum Grundton des jeweiligen Akkords bildet, sondern vielmehr die kleinen Sekunden zwischen Gesang und Gitarre und die abschließende große Sekunde zwischen Gesang und Gesang. Während optionale Töne wie Sexten und Nonen einen Akkord um eine Farbe bereichern, bzw. je nach Verwendung auch ein melodiöses Element in Akkordfolgen hineintragen, hat das dargestellte Spiel mit Sekunden eine gänzlich andere Funktion. Es erzeugt eine irritierende Rei- 9 10 11 12 10 Der Tritonus als Abstand von drei Ganztönen ist das dissonanteste Intervall überhaupt und kommt in der populären Musik sehr selten, im Jazz hingegen oft vor. Wenn am Ende des Songs die Phrase teilweise anders harmonisiert wird, verändert sich dadurch die hier beschriebene Dissonanzstruktur nicht. Vor dem Hintergrund des Dissonanzlevels des Songs ist der Schluss weder konsonant noch dissonant. Everett (2001) hört die Sexte sogar als imperfekte Konsonanz, obwohl sie doch hier mit einer Sekunddissonanz zur Quinte einhergeht: „In keeping this affect, the added sixth does not seem to require resolution, but rather sustains alongside the fifth as an imperfect consonance“ (179). Everett betont die „substantial variety of dissonance treatment“ in „She Loves You“ (2001: 174). Bei den ersten drei Griffen wird unüblicherweise der Ton G auf der hohen E-Saite mitgegriffen. bung, die zumindest im Kontext populärer Musik keine harmonische oder melodische Bedeutung hat – es gibt entsprechend auch keine Bezeichnung für den Unterschied zwischen Dissonanzen verstärkender und abschwächender Griffweise. Die Reibung liegt im rein klanglichen – im Sinne von stofflichen – Bereich der Musik und ist abhängig von der Qualität der beteiligten Klänge. Das Intervall der kleinen Sekunde wird weniger als ein Zweiklang zweier nahe aneinander liegender Töne gehört, sondern mehr als ein besonderer klanglicher Effekt. Während diese Klänge beispielsweise auf einem Vibraphon oder einem Klavier sphärisch klingen und bei Violinen enervierend, wirken sie bei der Kombination Gitarre und Gesang kraftvoll und aufregend. Dazu kommen die bei Gitarre13 und Gesang unvermeidbaren Intonationsschwankungen, die den klanglichen Effekt weiter steigern. Dieser Klang war in seiner Verbindung von tonaler und stofflicher Reibung in der populären Musik neu. Er markierte einen eigenen Stil mit rein musikalischen Mitteln. Mit der „Sekundreibung“ war ein funktionales Äquivalent zur blue note der schwarzen Musik gefunden.14 Den Beatles gelang es durch die Verbindung der tonalen Dissonanz mit der Sekundreibung, ihre Musik von den traditionellen Ton- und Melodiemustern abzusetzen, aus denen sie ihr musikalisches Material gewannen. Sie konnten mit der Sekundreibung die Differenz zur traditionellen Musik signalartig hörbar machen, ohne auf Mittel der schwarzen Musik zurückzugreifen.15 Konsequent setzten die Beatles ihre Erfindung in den darauf folgenden Erfolgen, etwa in „I Want To Hold Your Hand“16 (1963), „I’m Happy Just To Dance With You“ (1964)17, „Tell Me Why“18 (1964), „Ticket To Ride“19 (1965) und „Paperback Writer“20 (1966) ein. Erst dieser vielfach variierte 13 14 15 16 17 18 19 20 Selbst wenn eine Gitarre perfekt gestimmt und bundrein ist, kommt es beim Anschlagen der Saite zu einer unharmonischen Tonerhöhung. Bei der blue note sind nicht nur tonale Dissonanzen im Spiel, sondern die betreffenden Töne werden zudem charakteristisch „labil“ (Wicke/Ziegenrücker 2007: 93) intoniert, so dass der für den Blues kennzeichnende Klang entsteht. In der Terminologie der Epoche wurde davon gesprochen, dass die Beatles “the original primitive Negro sound” transformiert hätten (Peyser 1969: 127), und dass “the new electronic music by the Beatles and others (…) exists somewhere else from and independent from the Negro” (Gleason 1969: 68). Auch heutige Autoren teilen diese Einschätzung (Wald 2009). Weiße Musiker konnten schwarze Musik nutzen, ohne große Teile der weißen Jugend abzuschrecken. Die Qualität weißer Sänger wie Elvis Presley, Carl Perkins oder Buddy Holly lag in ihrer Performance, die der Beatles im musikalischen Material. Hier setzen die Beatles Sekundreibungen des Gesangs zur Gitarre auf Viertellänge ein. Die erste dieser Reibungen vertont das zweite Wort des Songs: „Yeah“. Die letzten beiden Silben des Strophenmotivs intonieren große Sekunden. Auch wenn „Tell Me Why“ kein einschlagender Erfolg war, so sind die strukturellen Parallelen zu „She Loves You“ doch bemerkenswert. Der Song beginnt mit dem Hook, bzw. Introductory Chorus und präsentiert ein Spiel mit Sekundreibungen (kleine und große) zwischen Gitarre und Gesang, wobei auch hier die Gitarrengriffweise die Reibungen unterstützt. Bei „Ticket To Ride“ haben wir nicht nur Septimen und unaufgelöste Quartvorhalte in der Strophe, sondern bei der Stelle „The girl that’s driving me mad“ Septimen in der ersten zu darunter liegenden Nonen in der zweiten Stimme. Der Effekt ist wieder eine eigenartige Reibung, die sich mehr auf den Sound auswirkt als dass eine dissonante Stimmführung gehört wird. In „Paperback Writer“ werden im einführenden Hook Sekundreibungen der Gesangsstimmen auf eine „She Loves You“ vergleichbare Weise prominent vorgeführt. 11 Einsatz des einmal gefundenen Konstrukts machte den Yeah-Refrain zum Protoptyp eines neuen Stilmerkmals. Die Beatles konnten die spezifische Rauhigkeit sogar ohne Sekundreibung herstellen. Die scheinbar „braven“ Stimmführungen in Terzen, die die Beatles ständig einsetzen, klingen anders als bei anderen Gruppen, die ebenso auf mehrstimmigen Gesang setzten, wie zum Beispiel die Beach Boys. Während die Gesänge der Beach Boys glatt und sauber klingen, scheinen die Beatles eine eigene Art und Weise der Intonation inkorporiert zu haben, die auch konsonante Klänge wie Terzen anrauht. Beispiele hierfür sind „Hold Me Tight“ (1963/1964), „If I Fell“ (1964) und „All I’ve Got To Do “ (1963/1964). Bei „I Should Have Known Better“ (1964) sind die beiden gleichberechtigten Stimmen, die die gleichen Töne singen, so fein gegeneinander intoniert, dass auch hier ein entsprechender Effekt gelingt. c. Reibung als Konsumgütermerkmal Der Yeah-Refrain, dem hier eine so auffällige Wirkung zugeschrieben wird, kam demnach als ein Cluster von Reibungsvariationen bei den Hörern an. Der kommerzielle Erfolg der BeatlesTitel von „She Loves You“ bis „Paperback Writer“ brachte die Klangreibungen in Familiensituationen, in denen derlei Klangmuster gänzlich unbekannt waren. Sicherlich war die Yeah-Reibung im Kontext der Liverpooler Beat-Szene nur eine originelle Idee unter vielen. Aber sie war diejenige, die sich durchsetzte, innerhalb der Beatles-Produktion, innerhalb der Club-Szene zwischen Liverpool und Hamburg, und schließlich innerhalb des weltweit verteilten Marktes für Trägerscheiben, mit denen Schallprodukte verkauft wurden. Der Yeah-Refrain, anfangs nur einer von vielen Versuchen sich klanglich zu unterscheiden und abzugrenzen, wurde so – auch rekursiv – ausgebaut zum Merkmal der Yeah-Reibung. Hier setzt nun die Vermutung an, dass sich der durchdringende Erfolg der neuen Klangform auf die Selbstdarstellung in der Jugendkultur auswirkte. Die Klangform bot eine qualitativ neue Strategie, um sich von der eigenen Familienkultur, gleichgültig welcher Provenienz, abzugrenzen. Die Reibungsvarianten sind dabei nicht auf die musikalische Ebene beschränkt. Ist erst einmal das Prinzip verstanden, dann lassen sich Reibungen durch Differenzen in jedem beliebigen stofflichen Medium erzeugen. Die Reibungsform muss nur abstrakt genug sein, um nicht mit lokalen und regionalen Bedeutungszuschreibungen rechnen zu müssen. Wenn sich solche Reibungsformen, ähnlich wie bei den industriell gefertigten Schallplatten, in Konsumgüter einbauen lassen, dann folgt daraus eine Erklärung für das – weltweit verteilt – rasch steigende Konsumvolumen von Jugendlichen. Damit beschäftigt sich der zweite Abschnitt.21 21 Die unmittelbare Wirkung der spezifischen „She Loves You“-Erfindung hat vermutlich nur wenige Jahre angehalten. Inwieweit dieser Irritationstyp dann in den kanonischen Reibungsformen der Rockmusik, des Punk oder späterer Musikstile eine Fortsetzung findet, wäre einer weiteren Untersuchung wert. 12 2. Geschmack als Medium des Konsums von Reibungsgütern a. Geschmack als Medium der Jugendkultur Reibungsvarianten sind nicht auf die musikalische Ebene beschränkt – auf dieser Beobachtung beruht unsere Vermutung, dass die Form der Yeah-Reibung prägend war für das Konsumverhalten in der Jugendkultur der 1960er Jahre. Das Auftauchen einer eigenständigen, weltweit verstreuten kulturellen Konfiguration, die als „Jugendkultur“ interpretiert wird, gehört zu den gesicherten sozialen Fakten der 1960er Jahre: „Im Lauf der sechziger Jahre wurde Jugendkultur zur notwendigen Durchgangsphase für Jugendliche aller Klassen. Das Ergebnis war sicher keine Einebnung der Unterschiede von Herkunft, Alter, Geschlecht. Aber Differenzierung und Distinktion fanden nun auf neuer, gemeinsamer Basis statt, ausgedrückt in übereinstimmendem Material und homologen Praktiken. Popmusik, Mode und sonstiges Outfit, Körperpräsentation – diese Medien artikulierten die Erfahrung von Generationsgemeinsamkeit und dienten gleichzeitig als Mittel einer bis zum Krieg der Stile reichenden Unterscheidung“ (Maase 2000: 182). Der neue Stil der Beatmusik als erste Erscheinungsform des Rockstils, der gekennzeichnet ist durch die geschilderte Ausdifferenzierung gegen schwarze und traditionelle Musik, brachte auch eine neue Rezeptionshaltung mit sich. Die Musik der Beatles wurde nicht einfach zur Unterhaltung gehört oder als Tanzmusik genutzt. Vielmehr ist der Zugang zu Rockmusik mit Kennerschaft verbunden, die harte Differenzen zwischen Songs und Bands zieht: Während sich, von „außen“ betrachtet, die Songs der Beatles von denen der Kinks, der Rolling Stones, der Lords oder der Beach Boys kaum unterscheiden, zeigt sich für Insider ein fein gewobenes Netz von Unterschieden. Diese Unterschiede koppelten sich in einem neuen Medium des Geschmacks, der sich nicht nur auf Musik bezog, sondern gleichermaßen auf Jackets mit Stehkragen, Pilzfrisuren und Wrangler-Jeans. Die feine Binnendifferenzierung des neuen Geschmacksmediums setzte Ausgrenzung voraus. Erst als klar war, welche Materialien das nötige Maß an irritierender Reibung aufweisen, konnte sich ein Geschmack ausbilden, der das, was noch übrig blieb – als „Beatmusik“ – extrem scharf stellen konnte. Geschmack als Medium der Jugendkultur bildet die Brücke von der Besonderheit eines BeatlesSongs zur Entwicklung einer neuen Konsumgüterbranche.22 Geschmack hält als Medium eine unüberschaubare Vielzahl von lose gekoppelten Elementen bereit (vgl. Heider 1959). Die Elemente ermöglichen in ihrer Kopplung Formenbildungen im Sinne von Entscheidungen, die mit Geschmack begründet werden. So gewinnt Geschmack Bedeutung und wird zum Kommunikationsmedium. Der hier verwendete Begriff des „Heider-Mediums“ ist derart generell, dass er sich auf physikalische Medien genauso anwenden lässt wie auf Kommunikationsmedien und die spezifische Medialität der Kunst (vgl. Luhmann 2001). Luft, Sand, eine Tafel, eine Sprache, ein künstlerischer Stil haben gemeinsam, dass sie kontingente Formenbildungen (ein Geräusch, ein Fußabdruck, eine Zeichnung, eine Phrase, ein Bild) erlauben, die aus vielen Elementen bestehen, die relativ frei koppelbar sind, so dass jede aktuelle Kopplung als mögliche Selektion erscheint. Die Elemente der Medien sind nicht etwa kleine Partikel, sondern Unter22 Populärer Geschmack bezieht sich in gleicher Weise auf jedes Element der Lebenswelt (Hebdige 1990, Hennion 2010). 13 schiede im Raum (Druckluftschwankungen, Anordnung der Sandkörner) oder Sinndifferenzen (konkret bezeichnete Bedeutungsunterschiede). Für jede Art von Unterschied gilt, dass er nur informativ werden kann, wenn ein zugrundeliegendes Medium unterstellt wird. Das gilt für ein Wort, das nur als Wort einer bestimmten Sprache, eine barocke Fuge, die nur als polyphone Komposition verstanden werden kann und selbst für den Fußabdruck, der nur als solcher verstanden werden kann, wenn unterstellt wird, dass Sand unter gewissen Umständen die Folgen von Krafteinwirkungen bestimmter Größenordnung wahrnehmbar konserviert. Je spezifischer Sinn werden soll, desto ausdifferenzierter muss das zugrundeliegende Medium sein. Die Kennerschaft in Bezug auf Beat- und Rockmusik in den 1960er Jahren scheidet sich an einer Generationengrenze. Der Generation der Eltern, geboren zwischen 1920 und 1935, fehlte jede Orientierung in einem Medium, das sie als solches nicht einmal erkannten; sie kannten die Sprache nicht, aus der die Wörter stammten. Was waren die Elemente des neuen Geschmacksmediums, und wie unterschied sich dieses Medium vom traditionellen Musikgeschmack? Die lose gekoppelten Elemente waren nicht nur musikalische Einheiten, worunter alles verstanden werden kann, was musikalisch kommunizierbar ist, etwa Motive und Wendungen, Songs, Konzerte oder sogenannte „Albums“.23 Sprachliche Kommunikationen wie Songtexte oder Albumtitel gehörten auch dazu. Alle begleitenden Kommunikationsformen, etwa die Gestaltung der Papp-Hüllen der Tonträger, gehörten zu den Elementen des Geschmacksmediums. Die Eigenart dieses Geschmacksmediums bestand allerdings darin, dass materiell sehr unterschiedliche Elemente zum gleichen Medium gehören konnten. Kleidung und Frisuren, also Erscheinungsbilder, spielten in den 1960er Jahren eine wichtige Rolle. Das galt nicht nur für die Szene der Beat-Musik, sondern auch für andere Szenen, etwa die der Folk-Musik: „When Bob Dylan sang recently at the Masonic Memorial Auditorium in San Francisco, at intermission there were a few very young people in the corridor backstage. One of them was a long-haired, poncho-wearing girl of about thirteen. Dylan’s road manager, a slender, long-haired, ‘Bonnie Prince Charlie’ youth, wearing black jeans and Beatle boots, came out of the dressing room and said, ‘You kids have to leave. You can’t be backstage here.’ ‘Who are you?’ the long-haired girl asked. ‘I’m a cop,’ Dylan’s road manager said aggressively. The girl looked at him for a long moment and then drawled, ‘Whaaaat? With those boots?’ (…) I submit that was an important incident, something that could never have happened a year before, something that implies a great deal about the effect of the new style, which has quietly (or not so quietly, depending on your view of electric guitars) insinuated itself into manners and customs” (Gleason 1969: 65). Die Elemente konnten extrem heterogen sein, weil die Art der Differenz, die die Irritation erzeugt, ausschlaggebend ist. Eine Frisur ist nicht als solche in einem Medium vorhanden, sondern die Unterschiede zwischen Frisuren werden in dem Medium korrelierbar zu andern Unterschieden. Wenn im obigen Beispiel die Stiefelform mit der Rolle der Person in Verbindung gebracht wurde, war das in diesem Medium keine Kopplung heterogener Elemente. Differenzen zwischen Schuhen wurden ganz leicht korrelierbar zu Differenzen zwischen Gitarrensounds, Textzeilen oder Lieblingsalben. Die Geschmacksentscheidungen, ob George oder Paul süßer ist, ob Rubber Soul besser ist als Revolver, ob Dylan’s Texte überschätzt werden, welche 23 The term was invented for the practice of collecting shellack discs with single tracks in boxes which were called „album“. It was then transferred to long-playing vinyl discs that could store multiple tracks. 14 Haarlänge beim Nachbarjungen gut aussähe und, übertragen auf westdeutsche Verhältnisse, ob ein Geha- oder ein Pelikan-füller besser ist24, all das sind Formfragen im Sinne von Aktuali sierungen kontingenter Geschmacksentscheidungen.25 Wer, auch heute noch, im jugendkulturellen Geschmacksmedium operiert, verhält sich zu Schuhmarken in gleicher Weise wie zu Bands. Es kommt zu irritierenden Kopplungsparadoxien, wenn etwa die Frisur nicht zum Musikgeschmack passt. Während innerhalb des Mediums feinste Unterschiede korrelierbar und informativ werden, sind andere Unterschiede, z.B. die des „alten“ Kunstgeschmacks nicht aktualisierbar. Man kann zwar sehr genau sehen, ob ein Auftritt oder eine Aufnahme „rockt“, aber nicht, wie sich die harmonische Komplexität zur Musikgeschichte verhält. Die Unterschiede im Medium werden nicht bloß wahrgenommen, sondern in einem kommunikativen Sinn verstanden. Eine Frisur wird als statement verstanden in einer ähnlichen Weise wie die Textzeile eines Songs. Es handelt sich um Kommunikation, die jede Art von Wahrnehmungen als Symbol interpretiert und diese Symbole zum Gegenstand von Geschmacksentscheidungen macht: „Die Symbole der Teenager und Twens sind allgegenwärtig. Sie materialisieren sich im Konsum von Kleidung, Kosmetik, Schallplatten, Magazinen, Posters, Beat, Sportveranstaltungen, Jugendreisen, den begehrten Autos – alles Vermittler von fun und popularity“ (Baacke 1968: 24). Wie bei der Musik, so ist es auch beim Konsum im populären Geschmacksmedium: Man hat es nicht nur mit einer bestimmten Art von Inhalt zu tun, sondern immer auch mit einer Sinnlichkeit, die diesem Inhalt entspricht. Kaufen und Tragen von Kleidung hat in diesem Medium einen sinnlichen Erfahrungscharakter. Auch hier werden Reibungen möglich und inszenierbar, die von gleicher Art sind wie die dargestellten Dissonanzen in „She Loves You“ und anderen Beatles-Songs. Die Übertragung der musikalischen Reibungen in z.B. Reibungen im Bereich der Mode wurde zu einer anspruchsvollen Aufgabe für die Jugend der Zeit, die insbesondere auch im Umfeld der Beatles nach Hinweisen hierfür suchte26: „In der zweiten Phase von 1960 bis 1970 werden Jeans zur modischen Bekleidung breiterer Teile der Gesellschaft, ungeachtet des Alters oder der sozialen Stellung. Das Interesse der Jugend orientiert sich nun nach England, der Heimat der Beatles, und die Londoner Carnaby Street wird zum europäischen Modezentrum für junge Leute. Jetzt akzeptiert die Jugend Jeans als Schulbekleidung …“ (Daxelmüller 1985: 33). Für manche Jugendliche die erste „Markenkrise“ (vgl. Parr 2008) am Anfang der 1960er Jahre. Im studentischen Online-Forum „Unicum“ gibt es auch noch im Jahr 2009 die in dieser Hinsicht bestätigend suggestive Umfrage: „Welchen Füller hattet ihr in der Schule? Wie hat euch die Wahl eures Füllers geprägt?“ http://www.unicum.de/community/uniforum/hauptforum/32107-geha-pelikan-oderlamy.html) 25 Die Kultursoziologie operiert inzwischen mit dem Konzept des „attachment“, um die Wirkung der emotionalen Bindung an triviale Objekte beobachtbar zu machen. Vgl. Hennion (2010). 26 London wurde zu dieser Zeit zum „Zentrum jugendlicher Mode“ und „es kann ... nicht bezweifelt werden, dass sich Pop-Musik und poppige Textilausstattung gut ergänzten – im Verkauf wie im Konsum“ (Könenkamp 1985: 133). 24 15 Die schon genannte Wrangler-Jeans hat hierbei nicht eine Rauhigkeit im Sinne von bestimmten objektiven Materialeigenschaften. Die Jeans im Laden oder im Kleiderschrank erzeugt keine Reibung und ist auch nicht Teil der Jugend- oder Populärkultur. Der Kauf und das öffentliche Tragen einer Jeans werden genau dann zu symbolischen Vollzügen der Jugendkultur, wenn sie als (ein wenig) provokante, d.h. normativ leicht abweichende Kauf- und Modeentscheidung beobachtet werden und auf der Seite der Selbstwahrnehmung von Trägern bzw. Käufern damit korrespondierende Empfindungen auslösen. Die Hose wird mit Stolz getragen, als statement, als Bekenntnis zur Jugendkultur und Zeichen der Zugehörigkeit. Innerhalb der Jugendkultur werden diese symbolischen Handlungen verstanden und das damit einhergehende Gefühl empathisch nachempfunden. Soweit zur mental-kognitiven Seite, die aber mit der materialen Dimension der Symbole verknüpft ist. Lange Haare haben immer eine gewisse ikonische Bedeutung und legen ihre symbolische Verwendung im Sinne einer leichten Provokation nahe.27 Jeans haben feste Konnotationen zur working class (Könenkamp 1985) und begünstigen durch ihre Langlebigkeit den unscharfen und wiederum provokanten und rauen Übergang von „anständig“ zu „verwahrlost“, innerhalb dessen das gesuchte Maß an Reibung liegt. Auch wenn Dissonanz und Reibung im heterogenen Feld der industriell hergestellten Konsumgüter nur mit hohem interpretativen Aufwand ermittelt werden können, ist die Kommensurabilität der Reibungsintensitäten innerhalb bestimmter jugendkultureller Sparten augenfällig. Der aufregende ästhetische Erfahrungscharakter konstituiert sich innerhalb des Geschmacksmediums und bleibt außenstehenden Beobachtern fremd. Die Schulung des Blicks darauf, d.h. die Entwicklung eines „feelings“ dafür, welche Kleidung und welche Frisur zum neuen Album der Rolling Stones passen, ermöglicht erst den jugendkulturellen Konsumismus. Die Argumentation dieses Abschnitts verfährt nicht empirisch. Sie beschränkt sich auf die theoretische Plausibilität der Transformation einer bestimmten, durch mannigfache Faktoren selektierten Klangform in eine Vielfalt von materiell herstellbaren Distinktionsformen, die mit ähnlichen Reibungen den gewünschten Grad der Abgrenzung und Eingrenzung in bestimmte Subkulturen zu leisten versprechen. Die „Yeah“-Reibung, initiiert in „She Loves You“, diente dabei als ein Prototyp, der an sich selbst vorführte, wie Reibung inszeniert wird. Die jugendkulturelle Suche nach der up-to-dateReibungsintensität begann erst, als eine Symbolform diese Reibung nicht qua Referenz auf andere Reibungen, sondern intrinsisch, an sich selbst, vorführte. Musik war hierbei das geeignetste Medium, da in ihr eine Reibung innerhalb eines selbstgeschaffenen zweiminütigen Kontextes erzeugt werden konnte, und da sie mechanisch vervielfältigt werden konnte. Diese Eigenschaften erleichterten die Integration in die vorhandenen Praktiken und Institutionen einer Unterhaltungsgüterbranche. b. Produktion und Konsum von Reibungsgütern Die besondere Beziehung der Jugendkultur der 1960er Jahre zum Konsum ist von zahlreichen Autoren bemerkt und kommentiert worden. Zunächst wird von diesen Autoren darauf hingewiesen, dass die Jugend der 1960er Jahre zum ersten Mal über eine den Konsum erlaubende Menge finanzieller Mittel verfügte. So sah Groß27 Deutlicher ist die Provokation allerdings bei den Langhaarfrisuren, wie Könenkamp (1985) klarstellt: „... hier allein wirkt sich die Beat-Welle aus Liverpool initiierend aus“ (136). 16 britannien „in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren ein noch nie dagewesenes Ausmaß an politischer Stabilität und allgemeinem Wohlstand“ (Birchall 1969: 97). Nach einer jüngeren Schätzung gaben dort Jugendliche jährlich 800 Millionen Pfund für ihre eigenen Bedürfnisse aus (Donnelly 2005: 35). In der Kommunikation über musikalische Präferenzen wird ein „peer-group training in the appropriate expression of consumer preferences“ (Riesman 1990: 12) gesehen, das Jugendliche aufgrund ihrer noch geringen Lebenserfahrung nötig haben. Konsum ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Wunsch nach Selbstentfaltung, bzw. Selbstdefinition in konkretes Handeln umzusetzen (Donnelly 2005: 29). Generell wird Konsum häufig als eine Form der Gruppenkommunikation unter Jugendlichen gesehen (Miles 2003: 184). Schon Wicke stellt fest: „Konsumverhalten ist ... ein durchaus aktives, nämlich selektives und ästhetisch wertendes Verfahren, das Lust und Vergnügen bereitet, den konsumierten Gegenständen symbolische Bedeutung verleiht und sich eben dadurch von einem rein funktionalistischen Gebrauchsverhalten unterscheidet“ (Wicke 1993: 9). Die Rolle der Rockmusik bei der „Befreiung“ des Jugendkonsums ist schon früh belegt worden. Dem Rockstar wird die Schlüsselrolle zugewiesen, da er mit seiner hergestellten Persönlichkeit die Verknüpfung von Stil, Mode und Produktdesign kontrollierbar und verwertbar macht (Buxton 1990: 436). c. Schlussfolgerungen Die aus der vorliegenden Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse erhellen einen breiteren, strukturellen Zusammenhang. Die Entstehung eines Geschmacksmediums aufgrund einer musikalischen Neuerung ermöglichte nicht nur intragenerationelle Universalität, sie erzwang auch eine Haltung der Jugendlichen zu dem innerhalb des Mediums entstandenen Reichtum an Differenzen. Die zentrale Stellung des Popgeschmacksmediums in der Jugendkultur der 1960er Jahre schuf für den Einzelnen einen Zwang zur Wahl (Völker 2008: 104ff). Aufgrund der feinen Binnendifferenzierung des Mediums wird jedes Verhalten in dem Medium – und das heißt: jede Inklusion in die Jugendkultur – zu einer Wahl, in der sich das Individuum bestimmt und seine Selbstbestimmung mitteilbar macht. Weitaus differenzierter, informativer und ungehemmter als durch Sprache28 wird die Wahl einer Hose, einer Frisur und eines Musikalbums zur Kompaktkommunikation, die gerade in der Kopplung der einzelnen Elemente die individualisierende Differenz innerhalb einer kollektivierenden Indifferenz schafft (Wildt 1997: 321). So wird die gesamte Lebenswelt in ihrer Wählbarkeit sichtbar. Jeder Gegenstand bekommt unzählige Geschmacksalternativen zur Seite gestellt. An der „Yeah“-Reibung wurde vorgeführt, wie feinste materielle Unterschiede zu Trägern sozial relevanter symbolischer Bedeutung werden können. Das gelang, weil die Rauhigkeit der Klangdissonanz gerade bei Jugendlichen auf ein Kognitionsvermögen („feeling“) traf, das in der 28 „Because of its high emotional content, teenage culture is essentially nonverbal. It is more naturally expressed in music, in dancing, in dress, in certain habits of walking and standing, in certain facial expressions and ‘looks’, or in idiomatic slang” (Hall/Whannel 1990: 32). 17 Lage war, derartige Dissonanzen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch deren Entsprechungen in anderen Materialkonstellationen herzustellen und zu erkennen. Mit dem „Yeah“-Refrain aus „She Loves You“ hatten die Beatles eine Irritationsform geschaffen, die die spezifische Sinnlichkeit jugendkultureller Symbole im populären Medium hochdosiert vorführte. Die eigenartige Reibung, die Dissonanz, die sich selbst so inszenierte und arrangierte, dass sie nicht mehr nach Auflösung verlangte, war der Fluchtpunkt des Konsums der Jugendkultur der 1960er Jahre. 18 Literatur Baacke, Dieter (1968): Beat. Die Sprachlose Opposition. München: Juventa. Birchall, Ian (1969): „The decline and fall of British rhythm & blues.“ In: Jonathan Eisen (Hrsg.): The age of rock. Sounds of the American cultural revolution. New York: Vintage, 94-102. Buxton, David (1990): „Rock music, the star system, and the rise of consumerism.“ In: Simon Frith and Andrew Goodwin (Hrsg.): On Record. Rock, Pop and the written word. London: Routledge, 427-440. Daxelmüller, Christoph (1985): „Jeans, Jeans und noch einmal Jeans.“ In: Hermann Bausinger et al. (Hrsg.): Jeans. 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