Schuldfähigkeit - Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

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Clinical Medicine
3. Studienjahr Bachelor 2016/17
Behandelnder Arzt
oder
begutachtender Sachverständiger?
Schuldfähigkeit
Prof. Dr. med. Marc Graf
Forensisch Psychiatrische Kliniken
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Art. 182 StPO Voraussetzungen für den
Beizug einer sachverständigen Person
Staatsanwaltschaft und Gerichte ziehen eine oder mehrere
sachverständige Personen bei, wenn sie nicht über die besonderen
Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Feststellung oder
Beurteilung eines Sachverhalts erforderlich sind.
Fragenkatalog für Forensisch-Psychiatrische
Gutachten
1. Zur Frage nach einer psychische Störung
Hat die psychiatrische Untersuchung ergeben, dass die beschuldigte Person zur
Zeit der Tat(en) an einer psychischen Störung gelitten hat? Wenn ja, an welcher und
welchen Ausmasses?
2. Zur Frage der Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 und 2 StGB)
2.1. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen
Störung nicht fähig zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder zum Handeln
gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 1 StGB)?
2.2. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen
Störung nur teilweise fähig
- zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder
- zum Handeln gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 2 StGB)?
Wenn ja, in welchem Grad (leicht, mittel, schwer) schätzen Sie die Verminderung
der Schuldfähigkeit ein?
3. Zur Rückfallgefahr
3.1. Besteht bei der beschuldigten Person die Gefahr, erneut Straftaten zu
begehen?
3.2. Welche Straftaten sind mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten?
3.3. Sofern ein Delikt gemäss Art. 64 in Betracht kommt:
Besteht die Gefahr erneuter solcher Straftaten auf Grund einer anhaltenden oder
lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere, oder besteht die
Gefahr auf Grund von Persönlichkeitsmerkmalen der beschuldigten Person, der
Tatumstände oder seiner gesamten Lebensumstände?
4. Zu einer Massnahme (Art. 59-61 und 63 StGB)
4.1. Besteht die für die Tatzeit festgestellte psychische Störung weiterhin?
Stand(en) die vorgeworfene(n) Tat(en) damit in Zusammenhang?
4.2. Gibt es für die festgestellte psychische Störung eine Behandlung? Lässt sich
durch diese der Gefahr neuerlicher Straftaten begegnen? Wenn ja, wie sollte eine
solche Behandlung aussehen?
4.3. Ist die beschuldigte Person bereit, sich dieser Behandlung zu unterziehen?
Könnte allenfalls auch die gegen den Willen der beschuldigten Person
angeordnete Behandlung erfolgversprechend durchgeführt werden?
4.4. Ist die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von
Art. 59-60 StGB, einer ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 StGB oder
mehrerer Massnahmen im Sinne von Art. 56a StGB zweckmässig? Ist nur eine
stationäre Behandlung geeignet, der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen oder
genügt auch eine ambulante Behandlung? Welche Möglichkeiten der praktischen
Durchführbarkeit der Massnahme gibt es?
4.5. Kann der Art der Behandlung auch bei gleichzeitigem oder vorherigem
Strafvollzug Rechnung getragen werden?
4.6. Sofern die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) noch nicht 25 Jahre alt
war:
4.6.1 Ist die beschuldigte Person in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erheblich
gestört?
4.6.2 Besteht ein Zusammenhang zwischen Tat und Störung der
Persönlichkeitsentwicklung?
4.6.3 Kann die Massnahme für junge Erwachsene im Sinne von Art. 61 StGB die
Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten vermindern? Ist die beschuldigte Person zu
einem Aufenthalt in einer solchen Anstalt bereit? Ist diese Massnahme gegen den
Willen der beschuldigten Person erfolgreich durchführbar? Bedarf es zusätzlich
einer Massnahme nach Art. 59-60 und 63 StGB?
5. Zusätzliche Fragen
6. Haben Sie noch weitere Bemerkungen?
Schuldunfähigkeit und
verminderte Schuldfähigkeit
Art. 19 StGB
•
War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht
seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu
handeln, so ist er nicht strafbar.
• 2 War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht
zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe.
• 3 Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59–
61, 63, 64, 67 und 67b getroffen werden.
• 4 Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die
Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die
in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die
Absätze 1–3 nicht anwendbar.
1
Verhältnis von Schuld zu Strafe
Vergeltung
Prävention
wichtig!
• Die psychiatrische Aufklärung der
Tatmotivation im Sinne einer Erkenntnis,
warum eine Tat begangen wurde
(verstehen) zieht nicht per se eine Deoder Exkulpation nach sich!
• Verstehen ≠ Entschuldigen
Quantifizierung verminderter
Schuldfähigkeit
• biologisch-psychologische Methode
• psychopathologisches Referenzsystem
• zweistufig-normatives Verfahren
biologisch-psychologische
Methode
biologisch
Diagnose
+
psychologisch
lebenspraktische
Auswirkung
Verminderung der
Schuldfähgikeit
„Psychologie“
k ognitiv
Gedächtnis
Sozialisation
Wahrnehmung
Interpretation
Reflexion
Handlungsentwurf
Verhalten
voluntativ
Schuldfähigkeit
erhalten
Einschränkung
psychopathologischer
Kompetenzen
aufgehoben
verbleibende
psychopathologische
Kompetenzen
psychopathologisches
Referenzsystem
(Sass)
gedachtes
Norm-Ideal
psychotische
Störung
zweistufig normatives Verfahren
psychiatrische Diagnose?
nein ⇒ entfällt
ja
Verminderung der Einsichtsfähigkeit?
ja ⇒ Quantifizierung
nein
Verminderung der Steuerungsfähigkeit?
nein
schuldfähig
ja ⇒ Quantifizierung
Quantifizierung verminderter
Schuldfähigkeit
•
•
•
•
•
erhalten
leichtgradig vermindert
mittelgradig vermindert
in schwerem Grade vermindert
aufgehoben
Psychische Störungen die
häufiger zu verminderter
Schuldfähigkeit führen
• Hirnorganische Störungen
– Hirnverletzungen
– Demenzen
• Störungen durch Konsum psychotroper Substanzen
• Schizophrene Störungen
– Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen
• Schwerwiegende affektive Störungen
– Wahnhafte Depression, psychotische Dekompensation bei Manie oder
bipolarer Störung
• Sehr schwerwiegend ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen
– Borderline PS, schizoide und schizotype PS
• Minderintelligenz
• Kombinationen
„Promille-Rechtssprechung“
Nach der Rechtsprechung ist verminderte Zurechnungsfähigkeit im Sinne
von Art. 11 StGB grundsätzlich ab 2 Promille in Betracht zu ziehen. Im
Bereich zwischen 2 und 3 Promille besteht eine Vermutung für eine
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit (BGE 122 IV 49 E. 1b). Ein
unmittelbarer Rückschluss von einer gemessenen
Blutalkoholkonzentration (BAK) auf den psychischen Zustand des Täters
im Tatzeitpunkt ist aber nicht möglich. Es besteht eine erhebliche
Variabilität, die von der konkreten Situation, der Alkoholgewöhnung und
weiteren Umständen abhängt. Bei psychotropen Substanzen wird in der
Literatur für eine verminderte Schuldfähigkeit ein mittelgradiger
Rauschzustand mitdeutlicher Bewusstseinstrübung und deutlichen
weiteren Auswirkungen vorausgesetzt (Felix Bommer/Volker Dittmann,
Basler Kommentar,Strafgesetzbuch, Band I, Art. 11 N. 9 f. und 13).
Beurteilung unter Einfluss
psychotroper Substanzen
begangener Taten I
• systematisches Vorgehen
• psychische und physische Grundverfassung:
–
–
–
–
Grundpersönlichkeit
Suchtmittelanamnese
Abhängigkeit, Toleranz
körperliche Erkrankungen
• hirnorganische Störungen
• Leberschädigung
• rapid metabolizer
– Medikamente
Beurteilung unter Einfluss
psychotroper Substanzen
begangener Taten II
• konsumierte Substanzen:
– subj. Angaben
– obj. Nachweis der Substanz(en):
• Blastest, Urin, Blut, Speichel, Haare...
– Konsummuster:
• Beginn, Verlauf, Ende
– Wirkungsspektrum der Substanz(en)
Beurteilung unter Einfluss
psychotroper Substanzen
begangener Taten III
• situative Faktoren
• konkretes Tatverhalten:
– Psychopathologie unmittelbar nach Tat
• Exploration durch Gutachter
• Rechtsmediziner, Sanität
• Polizei, UR (deskriptiv)
–
–
–
–
subj. Schilderung
Opfer- / Zeugenaussagen
kriminaltechnische Erkenntnisse
Tatrekonstruktion
Problemfelder
• Intoxikation:
–
–
–
–
Quantifizierung
Wechselwirkung
pathologischer Rausch
Amnesie
• Betäubungsmittelhandel zur Finanzierung des
Eigenkonsums?
• Amnesie:
– tatsächliche Amnesie > zu Grunde liegende Störung?
– legitime Verteidigungsstrategie?
– Schutzbehauptung?
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