Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Grundlagen der Begutachtung Beurteilung der Schuldfähigkeit Basel, 27. März 2013 Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Was ist ein Gutachten? • • • • • die Beurteilung eines Sachverhaltes auf der Basis besonderer Fachkenntnisse für einen konkreten Auftraggeber zu einer von diesem festgelegten Fragestellung durch eine(n) auf dem Gebiet ausgewiesene(n) ExpertIn 1 Was ist ein Gutachten ? • der/die objektiv und unabhängig • unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Lehre • und der juristischen Rahmenbedingungen • zu den beantwortbaren Fragen eindeutig Stellung nimmt . Qualitätsstandards forensischpsychiatrischer Gutachten oberflächliche Ebene • schnell • kurz • preiswert • den Erwartungen entsprechend 2 Qualitätsstandards forensischpsychiatrischer Gutachten etwas differenzierter • am Sinn und Zweck des Strafverfahrens orientiert • Sachverständiger als Gehilfe des Gerichtes • Ziel: gerechtes Urteil Fragestellung • Fragenkatalog der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz und der SGFP • Ausschliesslich medizinische Fragen beantworten, nie Güterabwägungen! • Bei Zweifel: Rücksprache mit dem Auftraggeber 3 Fragenkatalog für Forensisch-Psychiatrische Gutachten 1. Zur Frage nach einer psychische Störung Hat die psychiatrische Untersuchung ergeben, dass die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) an einer psychischen Störung gelitten hat? Wenn ja, an welcher und welchen Ausmasses? 2. Zur Frage der Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 und 2 StGB) 2.1. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen Störung nicht fähig zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder zum Handeln gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 1 StGB)? 2.2. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen Störung nur teilweise fähig - zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder - zum Handeln gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 2 StGB)? Wenn ja, in welchem Grad (leicht, mittel, schwer) schätzen Sie die Verminderung der Schuldfähigkeit ein? 3. Zur Rückfallgefahr 3.1. Besteht bei der beschuldigten Person die Gefahr, erneut Straftaten zu begehen? 3.2. Welche Straftaten sind mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten? 3.3. Sofern ein Delikt gemäss Art. 64 in Betracht kommt: Besteht die Gefahr erneuter solcher Straftaten auf Grund einer anhaltenden oder lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere, oder besteht die Gefahr auf Grund von Persönlichkeitsmerkmalen der beschuldigten Person, der Tatumstände oder seiner gesamten Lebensumstände? 4 4. Zu einer Massnahme (Art. 59-61 und 63 StGB) 4.1. Besteht die für die Tatzeit festgestellte psychische Störung weiterhin? Stand(en) die vorgeworfene(n) Tat(en) damit in Zusammenhang? 4.2. Gibt es für die festgestellte psychische Störung eine Behandlung? Lässt sich durch diese der Gefahr neuerlicher Straftaten begegnen? Wenn ja, wie sollte eine solche Behandlung aussehen? 4.3. Ist die beschuldigte Person bereit, sich dieser Behandlung zu unterziehen? Könnte allenfalls auch die gegen den Willen der beschuldigten Person angeordnete Behandlung erfolgversprechend durchgeführt werden? 4.4. Ist die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59-60 StGB, einer ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 StGB oder mehrerer Massnahmen im Sinne von Art. 56a StGB zweckmässig? Ist nur eine stationäre Behandlung geeignet, der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen oder genügt auch eine ambulante Behandlung? Welche Möglichkeiten der praktischen Durchführbarkeit der Massnahme gibt es? 4.5. Kann der Art der Behandlung auch bei gleichzeitigem oder vorherigem Strafvollzug Rechnung getragen werden? 4.6. Sofern die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) noch nicht 25 Jahre alt war: 4.6.1 Ist die beschuldigte Person in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört? 4.6.2 Besteht ein Zusammenhang zwischen Tat und Störung der Persönlichkeitsentwicklung? 4.6.3 Kann die Massnahme für junge Erwachsene im Sinne von Art. 61 StGB die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten vermindern? Ist die beschuldigte Person zu einem Aufenthalt in einer solchen Anstalt bereit? Ist diese Massnahme gegen den Willen der beschuldigten Person erfolgreich durchführbar? Bedarf es zusätzlich einer Massnahme nach Art. 59-60 und 63 StGB? 5. Zusätzliche Fragen 6. Haben Sie noch weitere Bemerkungen? 5 6 Auswertung der Akten und Vorberichte 1 • Darstellung der Akten: – Quellen der Beurteilungsgrundlage müssen ersichtlich sein – Gutachten in sich schlüssig und nachvollziehbar – Auseinandersetzung des Gutachters mit den Akten – Herleiten komplexer diagnostischer und prognostischer Fakten – Falls keine Anklageschrift vorhanden ist, muss aus den Akten eine Tathypothese hergeleitet werden (oder mehrere) Auswertung der Akten und Vorberichte 2 • • • • Angemessener Umfang wörtlich zitieren nur wo dringend notwendig ansonsten verdichten einheitliche Handhabung der Zeiten und des Konjunktivs • medizinische Begriffe erläutern (Diagnosen, Laborbefunde, Medikamente etc.), jeweils klar kennzeichnen, was vom Gutachter eingefügt ist 7 Auswertung der Akten und Vorberichte 3 • Vorgutachten wertfrei zusammenfassen • ausgewogene Darstellung der Akten, nicht zielorientiert! • Übersichten herstellen (z.B. bei vielen Hospitalisationen) • Vollständigkeit und Aktualität der Akten? • Cave: Berufliche Verschwiegenheitspflicht bei der Einholung der Akten! Im Zweifelsfall via Auftraggeber Auswertung der Akten und Vorberichte 4 • Gerichtsurteile: – Keine Interpretation durch Gutachter! – Auch verjährte Urteile oder Verfahren müssen durch den Gutachter, sofern bekannt, verwendet werden! – Problem der physischen Löschung im Strafregister 8 Eigene Untersuchungen • Ort, Umstände und Dauer der Untersuchungen • Probandenaufklärung – – – – – • Aufgehobene berufliche Verschwiegenheitspflicht Kein therapeutisches Verhältnis Sachverhalt Fragestellung Schweigerecht des Probanden Untersuchungsmethoden, deren Erkenntnismöglichkeiten und Grenzen Anamneseerhebung • Biographie ausreichend erhoben? • Tat- und diagnosenrelevante Bereiche exploriert? • Wenn notwendig und möglich, Fremdauskünfte berücksichtigt? 9 Psychischer Befund • systematische Erhebung der Psychopathologie? • angemessene Untersuchungsdauer? Zusatzuntersuchungen 1 • Standard: – Somatostatus inkl. Einfacher neurolog. Status – einfaches Labor • In Abhängigkeit von Fragestellung, Alter, Vorbefunden etc.: – – – – – – EKG EEG, neurologisches Konsil ausführliches Labor Bildgebung Testpsychologie … 10 Zusatzuntersuchungen 2 • Testpsychologie: – nur wenn angezeigt – Relevanz? – ausschliesslich Verfahren, deren Reliabilität und Validität hinsichtlich der Fragestellung erfüllt sind – Keine Diagnosen durch Testpsychologie! – Cave: Abbildung sozial erwünschten Verhaltens bei Persönlichkeitsverfahren (Cluster B) und Fragebogen zur Sexualität (Multiphasic Sex Inventory) – Zusammenfassung der Befunde und Resultate im Gutachten, Testpsychologisches Gutachten beilegen Zusatzuntersuchungen 3 • Prognoseinstrumente: – PCL, PCL-SV, FOTRES, HCR-20+3, SVR, VRAG etc. – inhaltlich siehe ausführlicher Teil Prognose – falls verwendet: • Rating-Bogen (oder eigene Tabelle) beilegen • Problem der fehlenden Perzentilen für vergleichbare Stichproben 11 Darstellung der Diagnose 1 • Anerkannte Diagnosesysteme (ICD-10, ev. DSM-IV), entsprechende Codierung • Transparente, kriterienorientierte Diagnostik • Orientierung an objektiven Befunden • Differentialdiagnosen • vollständige Diagnosen, auch somatische • Unterscheidung Untersuchungs- und Tatzeitpunkt • Diagnosen erläutern, insbesondere hinsichtlich kriminologischer Relevanz Darstellung der Diagnose 2 • • • • Wichtig: Lebenspraktische Auswirkungen Schweregrad der Störung(en) diagnostische Unsicherheiten darstellen Abweichungen von früheren Beurteilungen begründen 12 13 Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit Art. 19 StGB • • • • 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. 2 War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. 3 Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59– 61, 63, 64, 67 und 67b getroffen werden. 4 Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1–3 nicht anwendbar. Verhältnis von Schuld zu Strafe Vergeltung Prävention 14 wichtig! • Die psychiatrische Aufklärung der Tatmotivation im Sinne einer Erkenntnis, warum eine Tat begangen wurde (verstehen) zieht nicht per se eine Deoder Exkulpation nach sich! • Verstehen ≠ Entschuldigen Quantifizierung verminderter Schuldfähigkeit • biologisch-psychologische Methode • psychopathologisches Referenzsystem • zweistufig-normatives Verfahren 15 biologisch-psychologische Methode biologisch Diagnose Verminderung der Schuldfähgikeit psychologisch + lebenspraktische Auswirkung „Psychologie“ kognitiv Gedächtnis Sozialisation Wahrnehmung Interpretation Reflexion Handlungsentwurf Verhalten voluntativ 16 Schuldfähigkeit erhalten Einschränkung psychopathologischer Kompetenzen aufgehoben verbleibende psychopathologische Kompetenzen psychopathologisches Referenzsystem (Sass) gedachtes Norm-Ideal psychotische Störung 17 zweistufig normatives Verfahren psychiatrische Diagnose? nein ⇒ entfällt ja Verminderung der Einsichtsfähigkeit? ja ⇒ Quantifizierung nein Verminderung der Steuerungsfähigkeit? ja ⇒ Quantifizierung nein schuldfähig Quantifizierung verminderter Schuldfähigkeit • • • • • erhalten leichtgradig vermindert mittelgradig vermindert in schwerem Grade vermindert aufgehoben 18 Psychische Störungen die häufiger zu verminderter Schuldfähigkeit führen • Hirnorganische Störungen – Hirnverletzungen – Demenzen • • Störungen durch Konsum psychotroper Substanzen Schizophrene Störungen – Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen • Schwerwiegende affektive Störungen – Wahnhafte Depression, psychotische Dekompensation bei Manie oder bipolarer Störung • Sehr schwerwiegend ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen – Borderline PS, schizoide und schizotype PS • • Minderintelligenz Kombinationen „Promille-Rechtssprechung“ Nach der Rechtsprechung ist verminderte Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB grundsätzlich ab 2 Promille in Betracht zu ziehen. Im Bereich zwischen 2 und 3 Promille besteht eine Vermutung für eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit (BGE 122 IV 49 E. 1b). Ein unmittelbarer Rückschluss von einer gemessenen Blutalkoholkonzentration (BAK) auf den psychischen Zustand des Täters im Tatzeitpunkt ist aber nicht möglich. Es besteht eine erhebliche Variabilität, die von der konkreten Situation, der Alkoholgewöhnung und weiteren Umständen abhängt. Bei psychotropen Substanzen wird in der Literatur für eine verminderte Schuldfähigkeit ein mittelgradiger Rauschzustand mitdeutlicher Bewusstseinstrübung und deutlichen weiteren Auswirkungen vorausgesetzt (Felix Bommer/Volker Dittmann, Basler Kommentar,Strafgesetzbuch, Band I, Art. 11 N. 9 f. und 13). 19 Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten I • systematisches Vorgehen • psychische und physische Grundverfassung: – – – – Grundpersönlichkeit Suchtmittelanamnese Abhängigkeit, Toleranz körperliche Erkrankungen • hirnorganische Störungen • Leberschädigung • rapid metabolizer – Medikamente Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten II • konsumierte Substanzen: – subj. Angaben – obj. Nachweis der Substanz(en): • Blastest, Urin, Blut, Speichel, Haare... – Konsummuster: • Beginn, Verlauf, Ende – Wirkungsspektrum der Substanz(en) 20 Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten III • situative Faktoren • konkretes Tatverhalten: – Psychopathologie unmittelbar nach Tat • Exploration durch Gutachter • Rechtsmediziner, Sanität • Polizei, UR (deskriptiv) – – – – subj. Schilderung Opfer- / Zeugenaussagen kriminaltechnische Erkenntnisse Tatrekonstruktion Problemfelder • Intoxikation: – – – – Quantifizierung Wechselwirkung pathologischer Rausch Amnesie • Betäubungsmittelhandel zur Finanzierung des Eigenkonsums? • Amnesie: – tatsächliche Amnesie > zu Grunde liegende Störung? – legitime Verteidigungsstrategie? – Schutzbehauptung? 21