Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der

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Dietrich Böhler
Vorlesung im Sommersemester 2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der
Geschichte der Philosophie
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Inhalt
I
Philosophie als Metaphysik oder strikt als Dialog und Begründung?
Vorblick auf die drei Paradigmen.
1
Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im Subjekt- ObjektSchema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion……….....……………...06
1.1
Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder:
Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein/Metaphysik – Subjekt / Erkenntniskritik
– Sprache / Diskursreflexion? …...............…………………………….....…………..06
1.2
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik…………………………….…………... 10
1.3
Exkurs: Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende
noch möglich? Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“………...……….17
1.4
Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der Metaphysik,
dessen Fortwirkung im Subjekt-Objekt-Paradigma und Heideggers hermeneutischpragmatischer, aber reflexionsvergessener Ansatz…………...................................…26
1.4.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme:
Heideggers „Sein und Zeit“…………………………………………………………...29
2
Über die drei Paradigmen der Philosophie und die (doppelte) Dialogizität des Denkens
………………………………………………………………………………………...34
2.1
Eine Problemübersicht zum Selbststudium:
Tilman Lücke, „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“, in: H.
Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur
Diskurspragmatik. Festschrift für D. Böhler. Würzburg (Königshausen u. Neumann)
2002, S. 45-68…………………………………………………………………….…..34
2.2
Nach der Lektüre: Fragen an D. Böhler und dessen Antworten……………………...94
2
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
II
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie
3.1
Die drei philosophischen Paradigmen und die widergängerische Rhetorik…………..52
3.2
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und Kern
der moralischen Identität……………………………………………………………...55
3.2.1
Der Logosgrundsatz oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. ……………………………………......56
3.2.2
Vorgriff auf eine Dialogethik im „Thrasymachos“ und „Georgias“………….74
3.2.3
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen………...… ?
3.2.4
Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik.
Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des EtwasDenkens……………………………………………………………………….?
III
Diskurs und Begründung im geschichtlichen Spannungsfeld
von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion.
4
Die klassische Metaphysik
4.1
Platon
4.1.1 Metaphysik, Logos und Ideen
Die Entdeckung des Allgemeinen und Platons Ideenlehre…………………....92
4.1.2 Platons strukturale theoria-Ontologie: Vom Diskurs zur einsamen
Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären
Kosmos-Polis-Mythos………………………………………………………...99
4.1.3 Wann ist eine Norm moralisch verbindlich? Was sich aus Platons
naturalistischen Fehlschlüssen (und seinem metaphysischen Intellektualismus)
lernen läßt……………………………………………………………….…...114
4.2
Aristoteles
4.2.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie………………………...............117
4.2.2 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: Verbindlichkeit aus dem
Diskurs. Aristoteles als Diskurspragmatiker avant la lettre?...........................123
3
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
4.2.3 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie –
Türöffnung für den methodischen Solipsismus………………………..……130
[4.3
Hinweis auf Thomas: Folgenschwere Einordnung der Erkenntnis in das Schema
‚diskursiv versus intuitiv’]
5
Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welten und Emanzipationen
von deren Macht und theoria...................................................................138
5.1
Sprachsensibilität, Bildungsreichtum und tendenzielle Diskursautonomie des
italienischen Humanismus…………………………………………………………...139
5.2
Luthers Reformation versus Humanismus des Cusaners: Verdeutschung der Bibel,
behauptete und verweigerte Gewissensfreiheit – innerreligiöse Toleranz und Idee der
Menschenwürde………………………………………………………………….….141
5.3
Die kopernikanische Revolutionierung des geozentrischen Weltbildes und die Suche
nach einem künstlichen Zentrum…………………………………………………....149
6
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes,
Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität
und praktischer Vernunft
6.1
Metaphysische Hintergrundserfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer
Choc, selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie…………..……....150
6.2
Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation
durch emanzipatorisch gemeinten Solipsismus der
Methode……………………….(153)
6.3
Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch
Reflexion des Erkenntnissubjekts…………………………………………………...156
6.4
Thomas Hobbes oder die politische Hintergrundserfahrung der Neuzeit. Die
konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die
Antwort der zweckrationalistischen Vertragstheorie…………………………….….158
6.5
Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft oder: Einsehbare
Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren
Gesinnungsethik………………………………………………………….………….166
6.5.1 Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit……………………170
6.5.2 Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in
dualistischem Rahmen……………………………………………………….175
4
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
7
‚Kommunikation’. Die pragmatisch-hermeneutische Entdeckung der
Kommunikation als Sinnbasis des Etwas-Denkens: Auf dem Wege zu
einem dritten Paradigma der Philosophie.
7.1
Weichenstellungen zur Pragmatik. Sprachphilosophisch: W. von Humboldt,
semiotisch und naturwissenschaftstheoretisch: Ch. S. Peirce.1……………………?
[7.2
Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische
Diskurspragmatik.2]………………………………………………………………..?
7.3
Welches sind die Sinnbedingungen des Verstehens und Erkennens?
Charakteristische Antworten auf die transzendentalpragmatische Frage: Aristoteles,
Tugendhat und Heidegger I versus W. von Humboldt, Wittgenstein II und
Diskurspragmatik………………………………………………………………….196
IV
Wo bist Du? Hast du etwas unweigerlich in Anspruch genommen und es zu
Recht als verbindlich anerkannt, indem du (anderen gegenüber) etwas geltend
machst? Aufhebung von Metaphysik und Kritik durch Einholung unserer selbst
als Diskurspartner.
1
In der Vorlesung nur angesprochen. Daher empfehle ich zur Lektüre:
D. Böhler, H. Gronke, Artikel „Diskurs“, Hist. Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, Tübingen 1994, S. 794-798. J.
Habermas, „Hermeneutische und Analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der
linguistischen Wende“. In: Ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1999, S. 65-101.
2
Artikel „Diskurs, a.a.O., S. 811-819.
5
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
1
Metaphysik als Seinsschau (Theoria) versus Erkenntniskritik im SubjektObjekt-Schema versus Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion.
1.1
Metaphysik als Studienschwerpunkt und als Zentrum der Philosophiegeschichte oder:
Entwicklungslogik der drei Paradigmen: Sein / Metaphysik – Subjekt /
Erkenntniskritik – Sprache / Diskurs?
Gestatten Sie mir eine kritische Vorbemerkung zum Studienprogramm, die Ihnen gleich
Charakteristisches meiner Denkweise offenlegen soll, insoweit sie diese Vorlesung trägt. Sie
wissen dann, woran sie mit mir sind und was Ihnen im Hintergrund z.T. auch auf der Bühne
dieses Kollegs begegnen wird, und können sich damit auseinandersetzen. Dieses bitte auch in
offenen Diskussionen während der Vorlesungszeit.
Zu meinem nicht geringen Erstaunen, zu meiner befremdeten Verwunderung scheint
Metaphysik wieder Konjunktur zu haben. Und das Institut, dem ich angehöre, hat
„Metaphysik / Ontologie“ als Studienschwerpunkt für den Bachelor-Studiengang festgesetzt.
Zu meinem Befremden! Warum? Ich fragte mich: Mon Dieu, wie will man Metaphysik als
Schwerpunkt eines Studiengangs rechtfertigen? Sollten wir nicht einerseits von den
transzendentalen Subjektphilosophen Immanuel Kant und vor allem Edmund Husserl
andererseits von dem nachkantischen Kommunikationsphilosophen bzw. dialektischem
‚Aufheber‘ der Transzendentalphilosophie Karl-Otto Apel gelernt haben, daß Philosophie
zunächst und immer auch Selbstverantwortung des Denkens bzw. des Denkers für seine
Annahme sein sollte? Genaugenommen Selbstverantwortung im Diskurs der Argumente?
Erstens wissen wir doch, daß Metaphysik einer Spekulation gleichkommt, die sich schwerlich
argumentativ einholen läßt; einer Spekulation, die sich jedenfalls nicht in einer
Argumentation mit Skeptikern begründen läßt, welche keine metaphysischen Vorannahmen,
gleichsam weltanschauliche Glaubensannahmen, akzeptieren. Jedenfalls die klassische
vorkantische Metaphysik – und solche gibt es auch in der Zeit nach Kant, etwa im Werke
Ernst Blochs – ist so etwas wie eine große Weltanschauung auf dem schlüpfrigen Grunde frei
schwebender Vermutungen, mehr oder weniger eine Spekulation über das Ganze, das Sein als
Ganzes, oder, landläufig gesagt, über Gott und die Welt und den möglichen Zusammenhang
beider.
6
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
So war mein erster Einwand ein kritischer Verantwortungsimpuls: Metaphysik, das ist etwas,
worüber sich nicht strikt argumentativ urteilen läßt, weil oder doch sofern sich ihre
Spekulationen nicht ausweisen lassen im Rahmen strenger Vernunft, nicht prüfen lassen im
Rahmen eines streng argumentativen Dialogs. Denn der vorkantische Metaphysiker bezieht
einen Standpunkt, den ‚wir‘ als Teilnehmer eines argumentativen Dialogs, in dem nur jetzt
und hier gleichberechtigt diskutierbare Thesen zugelassen sind, überhaupt nicht einnehmen
können. Der klassische Metaphysiker schließt ‚uns‘ Diskurspartner nämlich insofern aus dem
Diskurs aus, als er methodisch unterstellt, die (von ihm geleistete) Seinserkenntnis stelle
einfach eine Schau auf die Welt von einem Standpunkt außerhalb der Welt dar, den er selber
einnehme. Eigentlich beansprucht er einen Gottesstandpunkt. ‚Wir‘ haben aber einen solchen
privilegierten ‚Sehepunkt‘ nicht, vielmehr verstehen ‚wir‘ alles in einer Lebenswelt und vor
dem Sinnhintergrund von Traditionen‚ Institutionen, Interessen etc. – mithin in einem
Geflecht von Kommunikation und Deutungsperspektiven…
Mein zweiter Einwand: Warum fragt man nicht nach einer Entwicklungslogik in der
Philosophiegeschichte? Ignoriert man, daß auf die unmittelbare, die spekulative, dogmatisch
an Begriffen sich entlang hangelnde Metaphysikbetrachtung des Ganzen, oder des Seienden
im Ganzen, zu Recht die Kritik, insbesondere die Erkenntniskritik Immanuel Kants gefolgt
ist? Die Transzendentalphilosophie? Diese geht aus von der erkenntniskritischen Frage:
Welches
sind
die
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erkenntnis?
Diese
Erkenntnisvoraussetzungen müßten die Philosophen aufdecken und bedenken. Die müßten sie
als Grenzen ihrer spekulativen Vernunft, der reinen Vernunft, anerkennen wie Kant es ihnen
ins
Stammbuch
geschrieben
hat.
Das
war
die
kritische
Fragestellung
seiner
Transzendentalphilosophie, weshalb diese dann von ihren neukantischen Vertretern schlicht
als „die Kritische Philosophie“ bezeichnet worden ist – etwa von den großen Neukantianern
Hermann Cohen in Marburg, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert in Heidelberg.
Über die neukantische Subjektphilosophie hinaus führte in gewisser Weise Ernst
Cassirer, hervorgegangen aus der Marburger Schule. Denn er vollzieht den Übergang zu einer
auf die Kommunikation, auf die Symbolvermitteltheit des Denkens achtenden, dafür sensiblen
Philosophie. Also gab es erstens eine Aufhebung der klassischen Metaphysik durch die
Erkenntniskritik
und,
zweitens,
auch
eine
Selbstaufhebungstendenz
der
bewußtseinsphilosophischen Erkenntniskritik – hin zur Kommunikationsreflexion. Das war
gewissermaßen mein zweiter Einwand. Daran schlossen sich noch manche Einwände an.
Deswegen habe ich mir gesagt: Du liest, zumal wenn es um Philosophiegeschichte geht, nicht
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
bloß
über
Metaphysik.
Das
kommt
nicht
in
Frage.
Du
mußt
gleich
die
transzendentalphilosophische Metaphysik-Kritik in Spiel bringen – und dann auch die
transzendentalpragmatische
Aufhebungsreflexion
der
noch
subjektphilosophisch
eingeschränkten Erkenntniskritik, die nunmehr auf das Denken als Kommunizieren achtet,
das Denken als Kommunizieren rekonstruiert und begreift.
Dann aber meldete sich ein immanenter Einwand – ein Argument, das gewissermaßen
eine gewisse Selbstkorrektur meiner starken Ablehnungstendenz bedeutet, nämlich der Blick
auf Sokrates. Ist es nicht etwas Wunderbares, daß schon zu Anfang der Metaphysik der
Griechen, von der die ganze metaphysische Tradition zehrt, schon eine methodische Kritik
etabliert wird? Und zwar Kritik im Rahmen von Kommunikation und z.T. auch im Blick auf
Kommunikation: Kritik als Funktion des Diskurses i.S. eines argumentativen Dialoges.
Sokrates ist gewissermaßen die Verkörperung eines Denkens, welches – freilich vor einem
metaphysischen Hintergrund, mit spekulativen Kosmosharmonie-Annahmen – und ethisch
eudaimonistischen Obertönen – Kritik etabliert im Blick auf das Sich mit Anderen
Unterreden, im Blick auf eine Diskussion, in der nichts zählt als ein sinnvolles, jetzt im
Diskurs prüfbares Argument.
Sokrates hat die Kritik in seiner Lebenspraxis durchgestanden als Diskurs auf der
Straße bzw. auf der Agora. Er war auch ein Mann der Straße, ein Mann, der auch auf der
Straße die Anderen nötigt, das, was wir heute ihre Geltungsansprüche nennen, durch
intersubjektiv geltungsfähige Gründe, durch Logoi,
zu rechtfertigen. Er zeigt seinen
Gesprächspartnern, daß sie mit ihrer Spruchweisheit, mit vorschnell verallgemeinerten
Exempeln aus ihrer Lebenspraxis keinen Logos zu Stande bringen: kein Argument, welches
verallgemeinerbar ist; kein Argument, welches auch für Andere, die von anderen Situationen
ausgehen als denjenigen, die sie in ihren Beispielen hochstilisieren, nachvollziehbar, prüfbar
und dann als wahr akzeptierbar ist. Darauf zielte Sokrates. Dieses positive Wahrheitsziel ist
es, das ihn seine Gesprächspartner in die Kritik ziehen und in aporetische Situationen
verstricken läßt. Davon geleitet, bringt er sie in die Lage, erkennen zu müssen, daß sie
eigentlich gar nicht wissen, was sie zu wissen vorgeben.
So sind in dem sokratischen Anfang der Metaphysik schon Kritik und Kommunikation
verwoben. Das, meine Damen und Herren, ist es, was aus der bloßen Metaphysik
im
Abendland Philosophie werden läßt: diskursive, streitend dialogisierende Suche nach
Wahrheit und Verbindlichkeit. Bloße, mehr oder weniger unkritisch spekulative Metaphysik
gibt es auf dem Wege von archaischen Mythen zu Religionen und Weltaunschauungen der
frühen Hochkulturen in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“ vielerorts. Doch im
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
klassischen Griechenland, an dieser Wiege Europas, kommt es zur Philosophie, zum
argumentativen Denken. Das lohnt es immer neu zu bedenken. Ohne Philosophie kein
Europa, aber eben auch: ohne Europa keine Philosophie.
Die Entfaltung des Philosophierens durch Verknüpfung von Metaphysik, Kritik und
Kommunikation bei ganz unterschiedlicher Gewichtung dieser drei Elemente zu
rekonstruieren und zu diskutieren, heißt Philosophiegeschichte zu betreiben, beginnend in
Athen. Der erste große systematische Philosoph ist Platon. Er ist der Metaphysiker des
theorein, kein Mann der Straße mehr, der sich mit den Leuten in den Dialog hier und da
konkret einläßt, vielmehr ein Mann höchster Aristokratie, der ganz am Rande, meistens auf
einem Gut außerhalb Athens lebt. In Athen etabliert er seinen Garten Akademos als Lehrort,
die später so genannte Akademie, von der die Athener damals kaum Notiz genommen haben.
Für sie war die Platonschule nur eine Sekte, wie es viele Sekten in Athen gegeben hat; ein
Kreis Eingeweihter, wie es viele Cliquen spekulativer oder mythischer Art gegeben hat.
Platon ist viel auf Reisen; ansonsten existiert er zurückgezogen.
Systematiker, der er ist, über er gleich eine gewisse Kritik an Sokrates. Denn er gibt sich nicht
mehr damit zufrieden, in unmittelbaren, auch zufällig sich ergebenden Dialogen – gleichsam
ad personam, ad hominem, auf den unmittelbaren Gesprächspartner bezogen, auf ihn
zugreifend – seinen Gegenüber zu verunsichern, und ihn auf den Weg des eigenen Denkens
zu bringen. Nein, Platon sucht das, was wir heute, nach der kommunikationsbezogenen
Wende des Denkens, als „intersubjektive Gültigkeit“ bezeichnen würden. Deswegen entfaltet
er Konzepte wie die Ideenlehre und die Anamnesis, den Weg hin zur Erkenntnis von Ideen,
die Annahme, daß man doch schon ein Vorwissen braucht, um überhaupt sinnvoll nach etwas
zu fragen zu können. Und so weiter.
Freilich: So, wie Platon diese Konzepte entfaltet, wird das eine spekulativ
metaphysische Methode im Rahmen einer rational uneinholbaren Kosmos-Spekulation. Und
bei Aristoteles können wir das in gewisser Weise auch sagen: Auch hier der Anspruch, mehr
Rationalität, mehr intersubjektive Gültigkeit, oder – vorsichtiger gesagt: intersubjektive
Geltungsfähigkeit – zu erlangen, um es modern auszudrücken. Und dann doch wieder der
ganz handfeste, spekulative Anspruch, ein für alle Mal die Substanz, die ousía, das Wesen der
Dinge, zu erkennen: gewissermaßen nicht mehr die Idee hinter der Welt zu erkennen, wie bei
Platon, sondern die Idee in der Welt oder in den Dingen, die ousía aneu hўles, das Wesen
ohne Stoff, die Form, die Struktur. – Mitten darin aber plötzlich der Rückgriff auf die
Reflexion à la Sokrates, wenn es um die Kritik von Gegnern geht, die fragen: wie willst du
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
eigentlich deinen eigenen Ansatz, Aristoteles, als Logiker, begründen? Hier greift er auf
kritische sokratische Reflexion zurück: Den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch kann
man nur begründen, sagt er zu seinen relativistischen herakliteischen Gegnern, wenn man
zurückgeht, reflektiert, auf das, was ich, und was du, was wir beide, im Etwas-VerständlichMachen, im Etwas-Sagen, im Für-eine-These-Geltung-Beanspruchen schon vorausgesetzt
haben. Damit unsere These überhaupt verständlich und auch für Andere nachvollziehbar ist,
haben wir schon vorausgesetzt, diese These widerspruchsfrei vorbringen zu können. Damit
haben wir die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch bereits in Anspruch
genommen und diesen als verbindliche Regel implizit anerkannt. So etwa begründet
Aristoteles: Er entdeckt durch Reflexion im Gespräch mit dem Zweifler, daß der
Geltungsanspruch der Verständlichkeit unhintergehbar ist – und daß seinen Implikationen
allgemeine Verbindlichkeit zukommt.
Derart kann man immer wieder zeigen, daß auch innerhalb der Metaphysik so
rationale – will sagen: dialogreflexive – Anstöße da sind. So daß sich aus der Metaphysik der
Weg zur Kritik gleichsam herauswindet, und aus dieser dann der Weg zur Reflexion darauf,
daß auch der Kritiker ein Kommunikator ist, ein Diskursteilnehmer. So kann sich an Kants,
noch klassisch vorkommunikativ konzipierte, transzendentale Kritik die Reflexion darauf
anschließen, was es bedeutet, mit anderen zu kommunizieren. Normativ gewendet: Habe ‚ich’
mich als Diskurspartner eigentlich schon zu etwas – und wozu genau – verpflichtet, wenn
‚ich’ mit Anderen kommuniziere?
Gut. Also das gewissermaßen als nachgeholte Einleitung in diese Vorlesung, als
Fingerzeig, wie sie zu verstehen ist, und wie man sich meines Erachtens auch heute noch
ernsthaft mit Metaphysik beschäftigen kann und sollte.
1.2
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es in der Geistesgeschichte gemeinsame
Leitthemen, Gegenstände und Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der
vorsokratischen und nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen? Ja. Wir begegnen immer
wieder spekulativen Themen, die als solche weder empirisch durch Theorien, Beobachtungen
und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar sind, noch durch
erkenntnis-
und
sinnkritische
Reflexion
auf
interne
und
unvermeidbare,
weil
erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende,
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind, –
Themen, die aber von denkenden Menschen nach den archaisch mythischen
Kulturepochen immer wieder aufgebracht werden. Dazu gehören in erster Linie:
Anlage 2
1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich –
Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten
lassen. Dafür steht seit der griechischen Antike der Kunstausdruck „das Sein“.
Metaphysik ist traditionell die Lehre vom „Seienden, insofern es ist“
(Aristoteles) und von dem „Umgreifenden“ (Jaspers), dem Sein als einen
Ganzen, das mehr sei (Euklid, Laotse), nämlich „ursprünglicher“ (Aristoteles)
als die Summe seiner Teile, d.h. des je einzelnen Seienden. Diese
„ontologische Differenz“ werde, so Heidegger, jedoch von der Metaphysik
vernachlässigt und von den modernen Wissenschaften, die „gesonderte
Gebiete des Seienden“ zum Objekt machen, ganz übergangen, so daß „das
Sein selbst vergessen“ werde.
2) Das Ganze
a) als
Inbegriff
eines
(vermeintlich)
objektiven,
unvordenklich
vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch3 verstehbaren, von
einem Schöpfer gegebenen Sinnzusammenhangs (→ objektiv
teleologisch angesetzte Seins- bzw. Schöpfungstheologie),
b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir
Menschen können unser Verhältnis zum All so verstehen, daß wir
ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen
Metaphysik als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas).
3) Der Begriff eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen:
In
zahlreichen
(mythisch-)metaphysischen
Traditionen
–
Sonderfall
Buddhismus – ist das »Gott«, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den
biblischen Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch
als personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen
Liebe. Verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen Religion, des
Islams.
3
Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht,
deutet man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle
Anlage verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist.
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten
Ausprägungen vom mythischen Denken über die griechische theoria bis in die
gegenwärtige Philosophie – zum Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin
metaphysikkritisch gewordenen Philosophie.
Als Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das
exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band:
Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die
fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem
Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin,
Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München: Piper 1957, Neuauflage
1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem bedeutenden Werk
ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch im
Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der
Möglichkeit der Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß
der Frage nach den Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer
Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische Position ein sinnloser Argument in
einem jetzt zu führenden Dialog?
Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern
zumal metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt, ist das
2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg
Disses, „Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis
Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer Theorien anbelangt, so
plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich
hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die
Kraft zu, das auf naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu
einem einheitlichen Verständnis von Welt zusammenzudenken bzw. von
einem spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts schreitend“ dieses Wissen in
seinen wichtigsten Grundzügen einzuholen (!).
Befremdlicherweise
referiert
Disse
die
Positionen
der
traditionellen
Metaphysik von Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für
die Notwendigkeit einer Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den
Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der linguistischen und der pragmatischhermeneutischen Wende des Philosophierens begründeterweise aufgekommen
ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und unterstellt einfach,
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher auch
aktuell sein können.
Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter,
wiewohl er selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende
nicht nachvollzogen hat und nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber
Anlage 3
er ist konsequent durch Kant hindurchgegangen. Überdies hat er ein
Gespür für das Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des SubjektWelt-Dualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er
zudem selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines
Denkens gerückt hat, ist er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig,
der die metaphysische Tradition durchzieht. Freilich vermißt man eine
sinnkritische Aufarbeitung der metaphysischen Positionen unter der Frage, was
von ihnen noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn die drei
Strukturfehler der Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch
Kants Vernunftkritik noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik
hindurchgegangenen – Metaphysik, beseitigt würden, nämlich
ƒ
das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus,
gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt auf diese
‚schauend‘ – als sei sie (erstens) so etwas wie ein Ding, und als könne
man dieses (zweitens) kommunikations- bzw. sprachunabhängig, also
methodisch
einsam
‚wahrnehmen‘,
statt
sie
traditions-
und
vorverständnisabhängig deuten zu müssen, also hypothetisch, mithin
kritik- und konsensbedürftig;
ƒ
die Unterstellungen eines methodischen Solipsismus, nämlich, daß
einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn und Bedeutung sowie
Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen könne; d. h. ohne
Vermittlung
seiner
Thesen
durch
die
reale
Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu
müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle
Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner
These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden)
unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen;
ƒ
die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung
bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster
dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden.
Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der
Metaphysik genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die
Beschäftigung mit Metaphysik ins Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch
für die Diskussion aller anderen philosophischen Positionen, die sich nicht als
Metaphysik verstehen. Auch sie genau können diese Strukturfehler haben,
schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam
hinterrücks mitgeschleppt.
1.3
Ist Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Ende möglich?
Das Beispiel von Hans Jonas’ „rationalem Mythos“.
Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines
eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von
Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines
Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden
Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus,
über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer
philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen
Gefahrenzivilisation erstreckt.
Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen
bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens –
die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer
Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und
von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht:
Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um eine metaphysische
Vermutung handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität zu
erreichen vermöge. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der naiven
14
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts gleich in
seinem metaphysischen Versuch.
Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine Sinnkritik an Grundgehalten der
jüdischen und christlichen Theologie als dem spekulativen Zentrum europäischer Metaphysik.
Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten
Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden
„in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte
ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral
für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger
kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das
Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung
unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes
und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung
unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus
absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst
unjüdische Vorstellung.“
Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, wir besäßen sein Gebot
und sein Gesetz, und Gott habe durch seine Propheten, wenn auch in dem beschränkenden
Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen gesprochen. Daher sei die Annahme eines
gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein unannehmbarer Begriff. Unannehmbar
aber müßte der Gottesbegriff sein, wenn Gott zusammen mit der Allgüte auch Allmacht
zugeschrieben würde: „nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor
behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem
Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber
Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir
festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es
nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar
und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.4
An diese immanente Kritik einer Kohärenzprüfung schließt Jonas die eigentliche Sinnkritik an
dem Begriff „Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder
Verwendung des Begriffs „Macht“ – als dessen Sinnbedingung – voraussetzen müssen und
umgangssprachlich bzw. lebensweltlich auch tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht
4
Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“. In: Ders.: Philosophische
Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203f.
15
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
auf die Existenz von etwas anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der
Macht ist. Macht sei kein einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein sozial
bezogenes Phänomen, welches Andere als Gegenüber oder Gegenstand voraussetze, worauf
die Macht wirken könne. Eine absolute Alleinmacht wäre leere Macht.
Das aber wäre, so analysiert Jonas, eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist
hier gleich Null [...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges
Verhältnis [...]. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht
hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden;
und Koexistenz ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt
Widerstand und somit gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf
Seiten eines Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.5
Allein aus diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund, daß die Rede
von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht denkbar sei,
müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden.
Wir bemerken also, daß Jonas’ rationaler Mythos eine metaphysikkritische Metaphysik
darstellt, weil sie sowohl Kants Beschränkung des Gültigkeitsstatus aller Spekulationen
hinsichtlich möglicher Erfahrung aufnimmt, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der
Gottesbegriff nach Auschwitz“, als auch den grundlegenden Geltungsanspruch der
Verstehbarkeit der Rede, also des Anspruchs auf sinnvolle Rede, ins Spiel bringt, in dem er
den metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht an diesem Anspruch mißt und daher
das Konzept verwirft.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“6 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rück. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“7 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rücke. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
5
6
7
Ebd., S. 201f.
Ebd., S. 190.
Ebd., S. 190.
16
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der
Zukunftsverantwortung8
Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler
Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen
Auftakt in zwei Teilen ab: »Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus« zunächst,
»Metaphysisch ontologische Wertlehre und 'Prinzip Verantwortung'« sodann.
Aus Ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in
Rudolf Bullmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen
rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch
von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift "Augustin und das paulinische
Freiheitsproblem", Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols "zu sich
kommen könne"; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner
wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem
Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase,
neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie
projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich.
So erklärt Augustinus - wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen Verständnisses von
Freiheit und Moralität - das Dilemma des menschlichen Willens, einerseits moralisch sein zu
wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu folgen, etwa der Selbstliebe,
dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen, mit dem (m.E. unbiblischen)
Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des Willens zurück auf die
vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall.
Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung eines
inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet: rationale
8
Aus: Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R.
Neuberth, Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36.
17
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens bestimmt, und
Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres moralischen
Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von Dogmen und
Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge menschlicher
Selbstverständigung zugänglich.
Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus
Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht
dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des
Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die
spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns
existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche
Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns
verständlich machen, daß aus "den stummen Wirbeln" von Materie Subjektivität
hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen
über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung.
Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und einer
rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen der
Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese Fragen
umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird "durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben" zu
metaphysischen Fragen, "die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher
entlehnte Prinzipien beantwortet werden können" (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo
metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle
Antworten darauf zu versuchen. Erst, wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici
uns
dialogisch
verantwortlich,
weil
wir
unseren
Dialogpartnern
nur
dann
in
Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder
theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen
des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es
damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten?
Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der darf,
so Hans Jonas, im Blick auf "Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge nachdenken".9
9
Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987. S. 9
18
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle Antworten
sucht:
-
Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer
Gültigkeit, von vornherein verzichten,
-
sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch
stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem
Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt.
Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas 'rationalen Mythos'. Dreimal, wenn ich
richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und
entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag "Unsterblichkeit und heutige Existenz", deutsch in
dem 1963 erschienenen Band "Zwischen Nichts und Ewigkeit", 1984 in dem Vortrag bei
Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", und
1988 in der Schrift "Materie, Geist und Schöpfung".
Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner Welterfahrung aus:
von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen Atheismus der
Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, "unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen:
die Welt als sich selbst überlassen zu sehen".10 Dasselbe fordert Ihr Mythos für "Gottes Inder-Welt-Sein": Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den schöpferischen Grund
des Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen, dem Abenteuer der
Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert:
"Im Anfang ... entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der
endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging
in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück ... Vielmehr,
damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; cr entkleidete sich
seiner Gottheit... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr
zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den
Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß
es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der
10
Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenoeck & Ruprecht 1963. S. 56
19
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
'sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals mangeln
sollen."11
In dem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", der ausdrücklich die Brücke zur
kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von
der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann,
geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig
gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen
Sie, "beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch seltsam zu sagen - sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten.
Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Oh sie wahr
ist, können wir von keiner Antwort wissen."12
Ihre Schrift "Materie, Geist und Schöpfung" stellt den Mythos in den Rahmen einer
"Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit
der Sie auf die Kehrseite der großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne
eines "Einerseits ... andererseits" reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon und Paulus,
Augustinus, Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die
Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es
gehe darum, "genug von der dualistischen Einsicht" zu bewahren, "damit die Menschlichkeit
des Menschen (...) erhalten"13 werde. Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder
Ganzheitsanschauung; sei es ein materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das
Geistes- und Seelenleben auf materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein
ökologischer Holismus, der den Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes
Moment einer kosmischen Lebensgemeinschaft oder eines Superökosystems. Eine solche
Ganzheits- und Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede
Theorie, auch eine holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche
gerade überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die
Verhaltensforderungen ökologischer Einheitsdenker nur Sinn machen, wenn eben das
unterschieden wird, was sie zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das
Seiende und vorschreibende Sätze über richtiges Verhalten.
11
12
13
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60.
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48f.
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25.
20
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die "transzendierende Freiheit
des Geistes"14 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien Menschen
im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik, die vielfach
der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum Existentialismus,
von Augustin bis Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form nicht haltbaren, Dualismus
von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder dessen direktes Fortwirken.
Auch bei Heidegger hörte man "nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens:
unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind,
zuunterst durch den Stoffwechsel".15
Ihre Dualismus-Kritik - genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem
griechischen Arztsohn Aristoteles - und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit
brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen
Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus,
sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien "das Ziel einer
Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie" vor Ihren Augen. "Dafür
bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer
Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler"16 - so beschreiben Sie die Vorbereitung
Ihrer philosophischen Biologie "Organismus und Freiheit", die ohne Ihr Studium bei
amerikanischen Biologen und Ihren Dialog mit ihnen nicht möglich gewesen wäre.
Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die besagt: "Die
Materie ist schlafender Geist", alles organische Leben ist wertvoll und daher prinzipiell
schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit aufstufe und weil derart sich entwickele, was höchsten
Wert habe: das "wirkliche Menschentum“17. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit
zur Verpflichtung und Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum
Idealen, alles Endlichen zum Unendlichen18, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß
Faktischen zum Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich
hinzufügen möchte.
Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf Kriegsfuß
oder gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen, Fakten und
14
15
16
17
18
Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988. S. 25ff.
Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. S. 19.
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 21.
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89.
Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25f.
21
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege ich hier
Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß eine
Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet ist von
Ideen, die, wie Sie sagen, "über alles je Gehbare und seine Dimension als solche hinaus“19
sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer "Selbstunterstellung
unter die transzendenten Maßstäbe" des Gewissens und der Verantwortung für das
schutzbedürftige Wertvolle.20
Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen notwendige
Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung der Freiheit verstehen können,
wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und schützenswert
auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des Sollens, logisch
das Erste. Dann aber wäre - ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen - methodisch
gesehen, das "Sollen" vom "Sein" zu unterscheiden.21 Darin sehe ich die Bedingung für eine
Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen Wertlehre und einer
spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen kann, ohne
überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein
leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht,
über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar,
stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte:
Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und
Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für
Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen
Normenbegründung, der rationalen Maßstabe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht
andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre keine
letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält,
haben Sie selbst zu verstehen gegeben: "Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches)
Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren
Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.22
Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel
mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung
19
20
21
22
Ibid., S. 25.
Ibid., S. 28, 29.
Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125.
Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Leipzig:
Insel Verlag 1992. S. 140.
22
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher
Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe
anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen,
um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von
vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der
ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations- Prius zu, während die
Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen
könnten.
Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das "Prinzip Verantwortung"
tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die personale Moralität
beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich kollektive und
personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen Lebensform und
Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung
verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“23, überschreitet
nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den zwischenmenschlichen Nahbereich
sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf.
Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf Pflichten
gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit einzubeziehen, oder
die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des Willens beschränkt - so,
als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien "recht zu handeln", als dürfe man
aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto "Gott anheimstellen"24 Durch das
"Prinzip Verantwortung" wird die normative Ethik schwerpunktmäßig eine Ethik der
einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung.
Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der normativen
Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise genügen.
Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der kantischen
Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl und
gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn dieses
bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen,
Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen
Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden
23
24
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36.
Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl.
Tübingen 1971, S. 551.
23
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl vorstellen; haben wir es hier doch
zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen unserer
hochtechnischen
Lebensgewohnheiten
und
Lebensformen,
Produktionen
und
Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und
riskanten Technologien.
Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich Wissen zu
beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen. Denn die
Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der exakten
bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft zwischen
unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte,
Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt "ein neues ethisches Problem. Anerkennung
der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der
Ethik".25 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine "Heuristik der Furcht", für "eine Furcht
geistiger Art", die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare "Unheil kommender
Geschlechter" vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.26
Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit für
unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für
politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, "der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu
geben ... als der Heilsprophezeiung"27, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der
guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines
Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die
Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum,
in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse
lauten müssen.28
Viertens: Das "Prinzip Verantwortung" enthält also ein zukunftsethisches Prinzip Vorsicht.
Mit
diesem
gehen
das
Werk
und
die
politisch-ethischen
Stellungnahmen
des
Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches
Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe
einer solchen Prüfung anzuwenden ist.
25
26
27
28
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28.
Ibid., S. 64, 65.
Ibid., S. 70.
Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum. In
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff.
24
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der
technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt
uns der Weise: "Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache
gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges
Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter
Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine
Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des
Denkens Pflicht.“29
Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde:
"... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich
den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische
Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger
macht.
Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et ludaica et Germano-Iudaica
effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum ludaicarum
promovendae adiit, opuscula prima publicavit;
Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium
expulsio atque excisio initium sumpserunt;
Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera
universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac
in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur.
Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer
entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen
Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als
Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher
eines
Gottesbegriffs
nach
Auschwitz
und
dem
eindringlichen
Denker
der
Zukunftsverantwortung.
Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die
technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das
Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden.
29
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30.
25
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Maxima cum reverentia Hans Jonas homo ludaeus colendus est nobis, qui cum universitates
Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum
incolumitate atque dignitate contendere constituit.
Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et
tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae
vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum,
quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus.
Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes
in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre
Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für 'die Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden' - im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas.«
Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu
verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich
beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk.“
1.4 Der voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der Metaphysik, dessen
Fortwirkung im Subjekt-Objekt-Paradigma und Heideggers hermeneutisch-pragmatische,
aber reflexionsvergessene Metaphysikkritik.
Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da ist,
nach dem Muster des Etwas Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein geistiges
Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist Platon
Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im naturphilosophischen Dialog
Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c (in der Stephanus-Numerierung);
Tilman Lücke zitiert ihn einleitend in seinem Essay. Oder lesen Sie, wie Platon in der
Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der „dialektischen Wissenschaft“ sagen
kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut aber eine Wissenschaft, oder erkennt
sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.?
Lesen Sie auch, wie Platon im Kommentar zum Höhlengleichnis die höchste Erkenntnis
erläutert, die er zuvor (im Sonnengleichnis) als den Möglichkeitsgrund unseres Etwas
26
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Erkennens und zugleich als dessen Geltungsgrund angenommen hatte (508ff), nämlich als die
Idee des Gute; und beachten Sie dabei, welche kognitive Tätigkeit er dieser höchsten
Erkenntnis, ganz selbstverständlich, zuordnet: das Etwas-Sehen: „Was ich sehe [...], das sehe
ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt
wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich anerkannt wird als die Ursache alles
Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren erzeugt sie gleichsam die Sonne und
damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in der Sphäre des Erkennbaren bringt sie
allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln
will, diese [Idee des Guten] sehen“ (517 b/c).
Die metaphysische Tendenz, sowohl ‚das Ganze‘ bzw. ‚das Sein‘ als auch die
Erkenntnisgrundlage des Seins, bei Platon das Gute als solches, die Idee des Guten nach dem
Muster des Sehens von Dingen, mithin unreflektiert direkt, anzugehen, ist Grund genug für
einen erkenntniskritischen Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts. Hinter dem
Erkennen steht doch das Subjekt der Erkenntnis, welches seine Erkenntnisvermögen ins Spiel
bringen muß. Darauf insistiert die Philosophie der Neuzeit (z. B. Descartes, Kant). Die
optische Unmittelbarkeit der antiken Metaphysik, dieser Ansatz bei einem vermeintlichen
geistigen Sehen des Seins als einem Gegenstand, gab schließlich – in der Moderne – auch den
Grund ab für einen pragmatisch hermeneutischen Neuansatz bei dem verstehenden „In-derWelt-sein“ des Menschen (Heidegger).
Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der Behauptungsakte als Sprachhandlungen
mit Geltungsansprüchen zu thematisieren, betrachten die meisten Metaphysiker seit Platon
und Aristoteles (im Wortsinne der theoretischen bzw. kontemplativen Einstellung des Etwas
Vernehmenden – phänomenologisch und verstehend – oder des Etwas Beobachtenden –
empirisch analytisch und objektivierend) das Thema ihrer Behauptungen, als sei es ein
dinglicher Gegenstand: „das Seiende“ und dessen Ganzheit, „das Sein“. Das ist eine
folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird nämlich sogleich von dem
Vorverständnis, dieses sei nach dem Muster eines dinglichen Gegenstandes zu verstehen,
bestimmt, d. h. aber in einer sprach- und kommunikationsverzerrenden Verdinglichung.
Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Erkenntniskritik, setzt diese
Perspektive fort, ja verschärft sie im Sinne eines Subjekt-Objekt-Dualismus: Von Kant bis zu
seinen modernen Neuentdeckern und Aktualisierern, den Neukantianern, die den Begriff und
die Disziplin „Erkenntnistheorie“ entwickeln, geht es immer um das Verhältnis von
Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand. Und der Vollender, zugleich auch Überwinder
des Neukantianismus, Ernst Cassirer, rekonstruiert in seiner gewaltigen Problemgeschichte
27
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, vier Bände,
das gesamte neuzeitliche Denken als Philosophie der Subjekt-Objekt-Relation. Ebenfalls der
Subjekt-Objekt-Beziehung verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer Klassiker „Der
Gegenstand der Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der praktischen
Vernunft begründen will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der nichtseienden, aber
absoluten „Werte“ nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf wie auf ein Objekt. Die
neukantianische „Erkenntnistheorie“ setzt nach dem Vorbild Descartes’ und Kants voraus,
daß das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände dem Erkenntnissubjekt wie ein Gegenstand
im Großen, abgetrennt vom Erkenntnissubjekt, gegenüberstehe: als „Außenwelt“. In dem
modernen, insonderheit kantianischen Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige
Verdinglichung der Weltbeziehung des nach seinen Erkenntnismöglichkeiten doch fragenden
Menschen, der ja Sprechakte in einem Argumentationszusammenhang vollzieht. Seit Kant
führt sie in die Probleme eines Subjekt-Objekt-Dualismus, die zu einem Gutteil
Scheinprobleme sind: Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an
sich“ unerkannt ist, für das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist sie erkennbar? Ontologisch
gewendet: Ist sie etwas Reales? Oder können ‚wir’ Erkenntnissubjekte nur – oder gar
allenfalls – die Realität unserer selbst annehmen?
Der Kantianismus entsubstanzialisiert die Metaphysik als Weltanschauung, indem er die
Geltung ihrer Aussagen zu Vermutungen herabsetzt; aber er führt und perpetuiert
Anlage 4
insofern zu dem Erkenntnisschema eines Subjekt-Objekt-Dualismus die metaphysische
Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei Grundannahmen (1 und 2), zwei
Ausblendungen (3 und 4) und eine Abschattung (5):
(1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder InnenAußen- bzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz infolge von
Descartes’ dualistischer Ontologie:
res cogitans – res extensa.30
(2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des
Erkenntnissubjekts;31
30
31
Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62.
Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E.
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64.
Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff.
28
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
(3) Das Überspringen der Leiblichkeit des
Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit
in einem organismischen Austauschzusammenhang
mitlebendiger und anorganischer Umwelt;32
(4) Das in (3) mitvollzogene Überspringen der Sinn
und Bedeutung ermöglichenden bzw. vorgebenden
Sprachlichkeit des Menschen;
(5) Die in (4) mitgesetzte Abschattung der Gültigkeit
(bzw. Wahrheits- und Richtigkeitssuche)
ermöglichenden Geltungsansprüche des Denkens
als Miteinander-Argumentierens i.S. von
Diskurs/Dialog.33
1.4.1
Leib- und
Sprachapriori:
geschichtlichpragmatische
Dimension
Reflexionsund Argumentationsapriori:
geltungs- bzw.
dialogpragmatische
Dimension
Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme: der frühe
Heidegger
Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst durch eine
sprachphilosophische (W. v. Humboldt) und eine handlungs- sowie zeichentheoretische
(Charles S. Peirce) Aufmerksamkeit für die ersten beiden Probleme ausgelöst. Anstoß nahm
man zumal an den beiden subjektphilosophischen Suggestionen, der etwas als etwas
Bestimmtes erkennende Mensch, (subjektphilosophisch genauer: der allererst etwas als etwas
erkennen wollende Mensch) befinde sich gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände
bzw. unverständlicher ‚Objekte’, welche ‚draußen’ in einer strikt von ihm abgetrennten
Außenwelt ‚vorhanden’ seien; und es komme nun darauf an, diese Außenweltobjekte allererst
zu entdecken, zu erschließen und sie durch eine Erkenntnisprozedur mit der Innenwelt
Anlage 5
des Erkenntnissubjekts zu vermitteln.
32
33
Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973.
W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie,
Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung, und Teil II, Bd. 2: Teil II „Transformation der
Transzendentalphilosophie“.
29
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und der
Erkenntniskritik bzw.
Erkenntnistheorie seit Kant deckte Heidegger metakritisch 1927 in „Sein und Zeit“ auf,
jedenfalls die Annahmen (1) und (2). Dort lesen wir in dem grundlegenden Paragraphen 13:
„Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich ‚drinnen’
ist, ja überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und psychischen Seienden
hat [ergänze: vielmehr die Seinsart eines starren Betrachtens], umso
voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis und
der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt vorzugehen.“34
In Wahrheit entstehe erst durch diese Vorannahmen das sogenannte
Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses erkennende Subjekt aus
seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und äußere’, wie kann das Erkennen
überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der Gegenstand selbst gedacht werden,
damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“35
Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, können wir sagen:
Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber schon die
antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens im Sinne von theoria
und noein, mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung jeder Rede von Erkenntnis. Denn
es ignoriere, daß Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes
Erkennen
gründe
„vorgängig
in
einem
Schon-sein-bei-der-Welt“,
weil
es
auf
Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des Menschen
aufruhe.36 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung des Menschen mit
seiner Welt geleistet: Der Mensch existiere verstehend, Welt verstehend, und zwar so, daß er
von vorneherein – bei Kant heißt es „a priori“, bei Heidegger „vorgängig“ – Welt und sich in
der Welt verstanden hat.
Dieses
alltagsweltliche
Schon-Verstandenhaben
sieht
Heidegger
als
notwendige
Voraussetzung, als „existenziale“ Bedingung auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis an.
Warum und inwiefern? Weil und insofern nur das vorgängige Welt- und Daseins-Verstehen
„Bedeutsamkeit“ vorgibt: die Bedeutung von Dasein „hinsichtlich seines In-der-Weltseins“37. Und erst vor diesem sprachlich und zugleich praktisch erschlossenem
Sinnhintergrund, erst dank dieses Schon-Verstandenhabens seiner „Lebenswelt“ (Husserl)
kann der Mensch auch wissen, was er wissenschaftlich und philosophisch untersuchen, was er
zum Gegenstand seiner methodischen Erkenntnis machen will. Von eigentlicher Erkenntnis
können wir überhaupt nur reden, weil wir ein vorwissenschafliches Verständnis dessen, was
34
35
36
37
Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag (zit.:SuZ), S. 60.
A.a.O.
SuZ, §§ 15f, 26, 69a, passim.
SuZ, S. 87. Vgl. §§ 18, 31 und 69c.
Anlage 6
30
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
methodisch erkannt werden soll, immer schon mitbringen. Ein Begriff von Erkenntnis, der
nicht die lebensweltlichen Voraussetzungen möglichen Erkennens, dieses „schon-sein-beider-Welt“, berücksichtige, sei sinnlos.
In diesem Sinne stellt Heidegger gegen das dualistische Schema von Subjekt und Objekt oder
Ich und Welt die Perspektive einer vorgängigen Vermittlung beider Seiten, eines
pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Seins. Damit radikalisiert er den Ansatz
seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität des Bewußtseins als der kognitiven
Beziehung, die ein Bewußtsein im Rahmen seiner Lebenswelt zu allen Gegenständen habe,
die es ‚meinen‘ könne. Er geht von dem alltäglichen bzw. lebensweltlichen Verständnis aus,
welches der Mensch, der lebe und sich am Leben erhalten wolle, immer schon im Sinne eines
„apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe immer schon den Kontext
seiner Lebenswelt ‚erkannt’. Denn er befinde sich „immer schon“ in einer Lebenswelt aus
sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie „Zeug“38, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa
bloß „vorhanden“, sondern dem Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind
– und daher apriori verstanden39 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben
deshalb lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes In-derWelt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als betrachtendes
„Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.40
Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin zu einem
dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische dieses Ansatzes ist die Aufdeckung des
interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das wissenschaftliche und
philosophische Erkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit dem Begriff
der Sorge als eines Besorgens aus, welches den Menschen, weil er sich stets im Dasein halten
muß, unablässig begleitet. Die Sorge ist gleichsam der Schatten des Daseins. Das
Hermeneutische dieser Perspektive zeigt sich in der ontologischen Tieferlegung der
Fundamente unseres kognitiven Weltbezuges. Heidegger setzt nicht erst bei dem
Seinsverhältnis eines philosophischen bzw. wissenschaftlichen Theorie-Subjekts zu dessen
Gegenständen an, sondern bei dem „besorgenden“ bzw. interessierten Welt-Verstehen,
welches auch einem methodischen Erkennenwollen zugrundeliege, ja dessen Sinnbasis
darstelle. Dieses alltägliche Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben sei die elementare Form
des Interpretierens von etwas Sinnhaftem: die Vorform jener Tätigkeit, welche seit 2000
38
39
40
SuZ, § 23, §§ 15-18.
SuZ, S. 85ff, S. 109f.s
SuZ, §§ 12-14.
31
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Jahren in Theologie, Jurisprudenz und Literatur zu Methoden und Methodenlehren der
Interpretation hochstilisiert und diszipliniert worden ist. Dafür hat sich der Fachterminus
„Hermeneutik“ eingebürgert. (Das griechische „hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und
„verdolmetschen“. In diesem Zusammenhang steht auch der Name des Götterboten
„Hermes“, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und insofern auslegt.)
Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des Paragraphen 13 von Sein und Zeit das
primäre kognitive Weltverständnis des Menschen folgendermaßen: „Im Sich-richten-auf ...
und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst
verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen’ bei einem
begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“41
Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas und damit der
Philosophie als Lebenswelt- und Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine zureichende
Einsicht, weil sie die dialog-pragmatische Geltungsdimension des Etwas-als-etwasVerstehens links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich ein
impliziter
Sprach-
und
Kommunikationsvorgang.
Dieser
enthält
von
vornherein
Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und als
Teilnehmer einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Denn er setzt solche
Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus – so wie jemand, der etwas versteht,
bereits in Anspruch nimmt, daß man das Gehörte oder Erfahrene (normalerweise) richtig
verstanden hat, oder daß man es doch, in Zweifelsfällen, richtig verstehen kann. In diesem
vorausgesetzten Bezug auf Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch unseres Verstehens, kommt
etwas von dem zum Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant im Sinne der Begriffe
Subjekt,
Urteilsautonomie
und
Kritik
gedacht
worden
ist:
das
Verhältnis
von
Geltungsanspruch und dessen kritischer Prüfung vor dem intersubjektiven Forum der
Vernunft, in dem jeder, insofern er ein sinnvolles Argument vorbringen mag, seine
gleichberechtigte Stimme hat.
Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden ist, und
damit
eine
‚Aufhebung’
subjektvergessen
und
seines
Kernbestandes
sprachgeltungsvergessen,
überspringt
insofern
Heidegger.
Er
denkt
logosvergessen
und
diskursvergessen. Radikal (besser: abstrakt) negiert er also den Kern des zweiten Paradigmas.
Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle Errungenschaften ernst
nähme – als Argumentationspartner im Wahrheitsgespräch eines philosophischen
41
Ebd., S. 62.
32
Anlage 7
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Begründungsdiskurses.
Über
seiner
hermeneutisch-pragmatischen
Entdeckung
des
Elementarphänomens, daß Menschen, auch Philosophen, die die Welt distanzieren und sie nur
beobachten wollen, von vornherein in der Welt sind und diese apriori als ihre Lebenswelt
verstanden haben, vergißt er, daß er selbst diese Entdeckung als Argumentationssubjekt
behauptet, indem er dafür Wahrheit beansprucht.
Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts mit
Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine Behauptungen
zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines Denkens und zur
Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des Begriffs der Vernunft. Es lohnt
sich überaus, diese Tendenz bei der Lektüre von „Sein und Zeit“ im Auge zu behalten, will
man verstehen, wie Heideggers spätere, 1933 praktizierte und seit dem ‚Humanismusbrief’
von 194642 als „Kehre“ des Denkens verklärte, Preisgabe der Vernunft zugunsten eines
‚Andenkens an das Sein’, das sich selbst als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt,
möglich war. Mit anderen Worten: Wie Heidegger seine Philosophie um die Distanz und die
Verantwortung der Kritik hat bringen können.43 So sehr, daß er die Philosophie als ganze
nicht nur blamiert sondern geradezu in „Schande“ und „Bankrott“ getrieben hat, wie Hans
Jonas pointiert: Heidegger erniedrigte sie zur Magd des Nationalsozialismus. Denn er erhob
den Hitler, den „Führer“, zur Manifestation des Seinsgeschicks,44 statt dessen Ansprüche vor
dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, indem er ihnen als autonomes
Diskurssubjekt gegenübergetreten wäre, mithin die Nazimythen entlarvt und sich von deren
Vernunftzerstörung mit impliziter Menschenverachtung zumindest distanziert hätte.
Anlage 8
Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren Fortgang
dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums bitte ich Sie: Studieren Sie den Essay, den mein
früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu meinem doch reichlich kühnen, für alle
Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein,
Kommunikation“ im Wintersemester 2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte
anbetrifft, bietet dieser Text eine gute Übersicht über den paradigmatischen Gang und einige
42
M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt am Main, o.J.
H. Jonas, Heidegger und die Theologie, 1964, zuletzt in: D. Böhler u. J.-P. Brune (Hg.), Orientierung
und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg, 2004, S. 39 –
58, bes. S. 54f.
44
Ebd., S. 44ff.
43
33
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Grundfragen
dieser
Vorlesung,
nämlich
über
die
Entwicklungslogik
der
Philosophiegeschichte als Weg durch drei Paradigmen der Welterkenntnis
2
Über die drei Paradigmen der Philosophie und die doppelte Dialogizität
des Denkens als Kommunikation.
Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem
Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2002, S. 45 ff.
2.1 Eine Problemübersicht zum Selbststudium:
Tilman Lücke: Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte
Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme
wie hochmütige Reden führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei.
Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ –
34
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte
Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“45
Einleitung
„Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“46 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester
2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches
sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen
Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“,
verwiesen, nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘
benennt – „ein ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“47, die
man auch auf die Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen
kann.48
Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“ angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine
bloße historische Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht
Philosophie. Philosophisch wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des
(philosophischen) Standpunktes klar wird, von dem aus diese Rekonstruktion unternommen
wird. Denn man kann „unabhängig von bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren
(...) was Philosophie sei. Man kann deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne
zumindest implizit das Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender
selbst besitzt. Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn
auch das Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“49
Wenn keine kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die
Frage, aus welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher
Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte
klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art
besonders geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am
allgemein Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es
jedenfalls ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.50
So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch
Studierende mit Philosophie beginnen51, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns
Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge
inkommensurabler Paradigmen“52, wie Richard Rorty53 behauptet? Oder handelt es sich eher
45
46
47
48
49
50
51
52
53
Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard.
München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93.
Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt.
Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet
Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen
und vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende)
wie eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“.
So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat.
Schnädelbach 1986, S. 38.
Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562.
Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das
Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001.
Habermas 1999, S. 242.
Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention)
beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua
Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.).
35
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
um einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die
Antwort auf ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen
hat“, bereithält, wie Jürgen Habermas54 meint?
Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um
diesen Kontext gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge
verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden,
analog zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum,
Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende
Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne
Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn
überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen
gewinnen.
So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei
Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis,
das viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf
wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für
beide Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß
schlaglichtartig Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und
zum anderen den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen
Abhängigkeiten und die ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten.
I. Paradigma: Sein
Schöne alte Welt –
die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit
Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres
Durchgangs durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog
‚Timaios‘ herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das
Entstehen der Welt aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und
strukturbezogene Kosmostheologie“55 unter anderem so entfaltet:
„Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick
auf das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen,
er der Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken
und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...).
Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht
sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und
ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da
ihm diese durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft
und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner
Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.“56
54
55
56
Habermas 1999, ebd.
Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.).
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit57 und Abglanz des göttlich-planvollen
Ewigen dargestellt.
Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner
Seele, die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu
nehmen. Die ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und
Erkenntnisgebiet der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge,
mithin die Praxis gilt es zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der
„Philosoph, der mit dem Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber
kosmosgemäß und göttlich“58.
Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher:
das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren
Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von
Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung,
Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so
rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder
kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“59.
Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter,
„damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die
Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen
den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur
naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung
der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem
Abschweifen unterworfenen, danach ordnen möchten.“60
Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben,
zeigt Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt:
Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen
Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat
aber zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der
Vollkommenheit des göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich
selbst zu vervollkommnen, indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung
mittels seines Verstandes und Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“61.
Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der
aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren.
Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten
Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist
zunächst nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir
empfinden heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und
unbeständig. Doch lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden,
57
58
59
60
61
Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf
das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische
Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches
Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.)
So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 47 b f. (S. 169).
Ebd.
Jonas 1999, S. 292.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
daß diese Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist
nämlich in gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen62,
„die die philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines
permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt.
Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden
Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“63 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen
Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen
Hintergrund der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über
Rhetorik mehr und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen
Einführung von Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt64 – nur
„anfangs eine ernste wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel
überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren
Sophisten zu Sprechern aller zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen
Lebens untergruben.“
Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese
Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie
entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich
insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische
Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch.
1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch
dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“65 festhalten, den Platon durch Sokrates
im Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts
anderem von mir gehorche als dem Logos [lógos]66, der sich bei der Untersuchung mir als der
beste zeigt.“67 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder
richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich anhand
wohlbegründeter Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.68 Die
überzeugendsten Argumente stehen miteinander im Widerstreit; und damit ist vom
platonischen Sokrates zugleich notwendigerweise „die Diskursgemeinschaft der sinnvoll
Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung und für das In-Geltung-Setzen von
Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos einer realen NormenGemeinschaft auf die Ethik einer idealen Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“69
Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser
Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle
Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich
selbst oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos
bloß als „Ausfluß von jenem“70. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten;
Denken gilt weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von
62
63
64
65
66
67
68
69
70
Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984,
Bd. I, S. 306 ff.
Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58.
Böhler 2001 c, S. 5.
Schleiermacher übersetzt etwas verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das
Sagen, Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft,
Vernunft“ anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). Vgl. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den
Abschnitt ‚Dritte Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora:
Bildung als Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘
zu lehren und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270.
Platon, Kriton 46 b (S. 38).
Vgl. Böhler 2001 a, S. 47.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339.
Platon, Sophistes 263 e (S. 239).
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Kommunikation und Sprache, vollziehen“71 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie
sprachbewußt wird“,72 kommt ans Licht,73 daß mit der Einsicht in die Rationalität der
unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen
Anderen als das unhintergehbare Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt
werden muß.
2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung:
Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch –
Es kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht74 gelten: A und non-A. „Mangel an
Bildung“75 wirft Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h.
deduktiver) Form für diesen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles
meint damit eigentlich – so könnte man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde
Selbstreflexion. Dies geht aus seiner Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles
einen Beweis nach dem Muster der deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich
heillosen „Fortschritt ins Unendliche“76, also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder
deduktive Beweis ist von Prämissen abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden
müßten, wenn für alles Beweise dieser Art eingefordert würden. Zum anderen kann ein
unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden, indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit
des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit einer sinnvollen Äußerung bestritten
werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel die Äußerung: „Der Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll, muß sie sich auf
etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die Bedeutung
non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein, daß sie
nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.77 Ein Skeptiker, der
die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen
„Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung,
die alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...).
Das Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es
selbst tut), unvermeidlich Voraussetzung.“78 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der
Begründung auf die Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil
seiner Philosophie mit Hilfe dieses Argumenttyps“79 begründet. Die Bedeutung dieser
Argumentationsweise im Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten
Lernfortschritt soll hier betont werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem
Modell ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus
skeptischen Erschütterungen hergebrachter Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die
entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer Argumentation befinden, vorlegen,
lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags?
71
72
73
74
75
76
77
78
79
Böhler 2001 c, S. 5.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342.
Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen
Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt.
Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um
die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als
wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A
gleichzeitig zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde
liegen. Diese Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des
aristotelischen Aufweises messen zu können.
Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271).
Ebd.
Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276.
Kuhlmann 1985, S. 275.
Kuhlmann 1985, S. 268.
39
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen
Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit
genug mit dem reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als
Argumentierender besinnt: „im Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten
Position des Theoretikers vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von
seiner faktischen Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“80. Andererseits geht er zu
weit in der Abwehr sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule
seit Theophrast, der „die pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen
Sprecher/Hörer und Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant
zurückstuft, um die Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu
emanzipieren“81. Der so interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der
Rede, d.h. die Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten,
systematisch aus und konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede.
Dabei läßt sich sein Modell der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die
Sinnlosigkeit von Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere
für praktische Kontexte fruchtbar machen.
In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses
gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von
Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das
Phänomen der Gnosis82 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn
unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und
Glaubensrichtungen zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren
verwegensten Ausdruck und gleichsam ihre radikale Antwort“83: eine „jenseitsbezogene, die
Welt als heillose Entfremdung verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“84. An
Stelle der Auffassung von der einen Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft
wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer nun radikalen Dualismus zwischen Gott und
Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr Wesen ist dem des Universums fremd, das
sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie die vollkommene Antithese bildet: dem
in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht der Kosmos als Reich der
Finsternis gegenüber.“85 Im Zusammenhang mit der Erlösungslehre der Gnosis wird die
Besinnung auf das Innere des Menschen zum entscheidenden Moment, denn Voraussetzung
zur Erlösung ist „das ‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der Seele aus der Welt hinaus
(...). Die unmittelbare Erleuchtung macht das Individuum nicht nur souverän in der Sphäre
des Wissens (daher die grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern bestimmt auch sein
praktisches Verhalten.“86 In unserem Kontext der Betrachtung philosophischer Paradigmen ist
die damit aufkommende individuelle Souveränität oder Autonomie relevant. Mit dem
‚Fluchtimpuls‘ aus der verkommenen Welt geht eine Herausforderung für die
Erkenntnisleistung des Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt somit „praktisch eine
Vorstufe zu einem autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen und Sinn letztlich
nicht in der Welt vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst erkennen
muß.“87
80
81
82
83
84
85
86
87
A.a.O., S. 275 f.
Böhler 2001 c, S. 6.
Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652.
Jonas 1999, S. 55.
Böhler 2001 c, S. 9.
Jonas 1999, S. 69.
Jonas 1999, S. 72 f.
Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis
und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr
unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a.
40
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
II. Paradigma: Selbst
Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes
Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner
Jugend dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing.
Seine Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen
Augustinus zu „einem Urheber des modernen Denkens“ werden88. Seine Suche nach einem
sicheren Fundament für die Philosophie läßt ihn fündig werden im
„Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit
ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt
hat. Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich
und fast unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren
Wirklichkeit in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der
physischen Begriffe waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“89
Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet.
Seele bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der
Philosophie Augustins.
„Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen
ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen
Paradigmas an – nach ‚innen‘.“90
Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst
im Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“91 hat
hier einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und
Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein
Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet92, und durch seine selbst in Anspruch
genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.93
Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René
Descartes’ angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche
Auseinandersetzung um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen
Bedeutung der Gattungsbegriffe“94 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der
Auseinandersetzung weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem
Spielarten des Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment,
welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“95,
festzustellen ist. Zugleich macht sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt
bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen
Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘ zuerkennen will“96. Inwiefern der
88
89
90
91
92
93
94
95
96
die Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus,
Existentialismus und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400).
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 284.
Böhler 2001 c, S. 9.
Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten
Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u.
Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232.
A.a.O., S. 292.
Ebd.
41
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Subjektivismus an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an Wilhelm von Occams spätem
nominalistischem Modell ablesen (wie es in Windelbands Philosophiegeschichte beschrieben
ist): „Die Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species
intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die ‚natürlichen‘ Zeichen für
jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche
Ähnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten
Gegenstands nötig ist.“97 Der Zusammenhang mit dem hier schon angedeuteten – und
spätestens mit Descartes vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma, dem der
Subjektphilosophie, läßt sich mit Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen:
„Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens
beraubt und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes
erklärt. Seitdem fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der
begrifflichen Verfassung des Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit
der Natur konnte nicht mehr als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der
Logik spiegelten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit.“98
Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es
René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm,
Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar
[zu] machen“99. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn der
‚ersten‘ Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der
Philosophie‘ über ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von
vorne angefangen und den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“100.
Voraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.101
Da die Vorstellung einer untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und
Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen
Fundament für gesicherte Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten
Natur die Maßstäbe der Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv
erschlossenen Subjektivität selbst schöpfen.“102 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich
auf jegliche Maßstäbe gesicherter Erkenntnis103 verzichtet werden soll. Denn Descartes
verfolgt mit seinem ‚De omnibus dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen
Skeptizismus;
„es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen
Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom
Denken anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen
Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel
das Resultat.“104
Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen
äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das
Bewußtsein als Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu
97
98
99
100
101
102
103
104
A.a.O., S. 293.
Habermas 1999, S. 242.
Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff.
Hegel 1986, S. 123.
Habermas 1999, S. 242.
Ebd.
Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“
deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...)
zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.).
Hegel 1986, S. 127.
42
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
widersprechen. Skeptiker, die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes –
durchaus in augustinischer Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und
auf die Gewißheit, die sie darin finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich
zweifle, weiß ich, daß ich, der Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die
wertvolle Wahrheit von der Realität des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen
irren sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muß ich sein.“105 Oder, wie es
dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht zum
Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“106 Die
Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen Skeptikers, der meint, den Satz
vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen, ist unübersehbar: Die
Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die ihm nachweist,
mit seinem Bestreitungsversuch zugleich Voraussetzungen zu machen – und diese
Voraussetzungen muß er reflektierend sofort einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit
seines Bestreitungsversuchs. Die unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar –
mindestens mit dieser Erwägung geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische
(in gnostischen Lehren angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen
Dämon mit Absicht verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon
eingepflanzte Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der
da getäuscht wird.
Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit ist von Vertretern des dritten,
kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als
‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden – mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen
konnten, als sei mit der einmaligen Begründung von Gewißheiten dieser Art die
Reflexionsarbeit ein für alle Mal ‚erledigt‘ und deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch
anerkannt werden (was Vertretern des Paradigmas den Vorwurf latenten
Fundamentalismus’107 eingebracht hat); gemeint ist aber Unhintergehbarkeit im Sinne von
jeweils in der aktuellen Auseinandersetzung als unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen,
widerspruchsfreien Argumenten bezweifelbar – anerkennungswürdiger Grundlage dieser
Argumentation. In diesem Sinne ist Wolfgang Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß
es sich bei der cartesischen Verwendungsweise der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein
Letztbegründungsargument handelt, ein Argument, mit dem selbst der äußerste Skeptizismus,
derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch
zu bezwingen ist.“108
Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend
gegenüber Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im
Mittelpunkt seiner Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt.
Descartes macht das reflexive Argument
„zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum
Zentrum und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen
Philosophie in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem
Argument. Zum Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die
105
106
107
108
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72
f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f.
Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244.
Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen
Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und
Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf
Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“
in Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff.
Kuhlmann 1985, S. 290.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
cartesische Philosophie im engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur
Philosophie in der intentio obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur
Reflexion auf das erkennende Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument
vollkommen den Charakter eines sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen
Versatzstückes aus dem Arsenal der nur halb ernst gemeinten
Skeptikerdiskussionen.“109
Grenzen der Subjektphilosophie –
‚Metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant
Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die
aus der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus
hatte zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog
der Seele mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“110. Der Bewußtseinsphilosoph
Descartes übersieht hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den
Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Zweifelns gehören“111. Die Folge sind interne
Inkonsequenzen: Denn ohne Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die
cartesische Gewißheit strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische
Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also
sprachfähigem, also auf Andere bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem
Kommunikations-Lebewesen etc. – muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen
können“112. Doch dies genügt Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische
Funktion mit seinem „psychologischen und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer
individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) zu erweisen.“113 Damit verstößt
Descartes gegen seine eigene Programmatik, derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts
anzuerkennen, was sich mit gutem Grund bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf
die Voraussetzungen seiner Argumentation zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische
Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er sich nur bis zum Erweis des cogito leiten
– wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung:
die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt
werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist,
was er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen
Bestimmung: ‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen
Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch
bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“114.
Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus
erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger
Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch
genommen werden“115 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese
Defizite verantwortlich ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch,
daß philosophische Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen
109
110
111
112
113
114
115
A.a.O., S. 291.
Böhler/Gronke 1994, S. 775.
Böhler 2001 c, S. 13.
A.a.O., S. 14.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 297.
A.a.O., S. 291.
44
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
haben, womit „Descartes die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen
Philosophie entdeckt“ hat – „wie sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und
damit den wirklichen Anfang verfehlt hat“.116
Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer
Weise Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der
Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant
verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch
Begrenzung ihrer Ansprüche“117 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner
Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen
unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen
[sind, T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit
Recht tun kann“118. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der
transzendentalen Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten
Argumentationsstrategie – derjenigen,
„daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei
es einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B.
eines ‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch
erwiesen werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive
Gültigkeit‘ dieses x, kann es Erfahrung nicht geben.“119
Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“120. Denn er bemüht
sich nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also
dadurch, daß er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und
(...) nach dem Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven
mit dem Objektiven von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung
(adaequatio) in den fraglichen Punkten“121 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine
solche Übereinstimmung niemals unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis
vielmehr aus der Position des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“122: von der Frage ausgehend,
was die Sinnbedingungen dafür sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt
haben kann.“123 Diese Methode ist auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen
Skeptizismus von Hume zu verstehen. Insofern macht die kantische Vernunftkritik im
Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament „Schluß mit unkritischer Ontologie /
Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“124.
Doch dieser Bruch wird innerhalb der kantischen Philosophie nicht vollendet. Es ist
nämlich ein „metaphysischer Rest“125 festzustellen unter dem Aspekt der
Erkenntnisorientierung Immanuel Kants. Denn die Erkenntnis richtet sich seinem Modell
zufolge jeweils auf das hinter dem Gegenstand der Erfahrung (der Erscheinung) liegende
‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so wie sie an sich selbst
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf
Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37.
Böhler 2001 b, S. 16.
Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9.
Kuhlmann 1985, S. 300.
A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff.
Ebd.
Ebd.
Gronke 1999, S. 39.
Böhler 2001 c, S. 21.
Ebd.
45
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
sind‘ (reines Wesen)“126. In diesem reinen ‚An-sich-Sein‘ bleiben sie jedoch für uns – „im
Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt anschauenden Verstand“127 – letzten Endes
unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch Erfahrungsvermittlung notwendigerweise
angewiesen. Der Skeptiker kann Kant nun zeigen, daß diese Vorstellung inkonsistent ist.
Denn dieses Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas letzten Endes Unerkennbares
stützt, ist in sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“128. Dies wird deutlich, wenn wir Kant
selbst mit den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit benötigt, um uns gegenüber
diese Theorie zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns prinzipiell unerkennbaren
‚Ding-an-sich‘ im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses: „daß es sich um ein
‚unerkennbares Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu haben“;129 und dies,
während er das Ziel verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach ihrem eigenen
Verständnis Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren beschränkt“130.
Für diese Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche Auffassung“
natürlich fatal;131 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines unerkennbaren
Dinges an sich nicht einmal denken“132. So läßt sich dem kantischen Projekt entgegenhalten,
daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach einer
Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“133. Wie kommt es zu diesem
metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen der
Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion
ausschließlich der theoretischen Reflexion bedient“134. Kant reflektiert zwar auf die
Bedingungen der Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender
Reflexion von außen“ 135; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt
auszugehen, thematisiert er eigentlich „den Physiker“136 als exemplarisches Reflexionsobjekt.
Die skeptische Frage: „Welche Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als
Transzendentalphilosoph
beachten?“137,
mithin
die
quaestio
iuris
der
138
Transzendentalphilosophie , bleibt ungestellt.
Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes
Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als
‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen
„Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden
Beleg dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als
vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht
sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren
Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in
den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert
dies auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.)
Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem
Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“
(Kuhlmann 1985, S. 306).
Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
Kuhlmann 1985, S. 306.
A.a.O., S. 308.
Ebd.
Ebd.
A.a.O., S. 42 f.
Vgl. Böhler 2001 c, S. 18.
46
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
leistenden, geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen
wesentlichen Denkfortschritt markiert.“139
III. Paradigma: Sprache
Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik
Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung
schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden.
Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen
Paradigmenwechsel einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel
zwischen klassischer Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im
ausgehenden Mittelalter zur Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19.
Jahrhundert die Kritik an Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der
subjektiven Vernunft beigetragen.“140 Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven
Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die Suche nach unhintergehbaren Fundamenten
philosophischer Argumentation – die Suche nach ‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also –
fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst. Ihre Thematisierung als
gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft markiert den
Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma.
„Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem
Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich
die Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom
erkennenden Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich
selber schöpft, auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über. Bis
dahin ergab sich eine intersubjektive Geltung von Meinungen aus einer
nachträglichen Konvergenz von Gedanken und Vorstellungen (...). Aber nach der
linguistischen Wende gehen alle Erklärungen vom Primat einer gemeinsamen
Sprache aus.“141
Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Des-cartes’
und Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“142 zu überwinden.
Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach
hinnimmt? Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des
„skeptischen Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der
Philosophie und einer rationalen Vernunftkritik bestreitet“143, zu eigen machen? Man würde
also – von den bisherigen Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen
Aufspüren ‚metaphysischer Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare
Wahrheit im Grunde genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur
Prüfung wollen wir kurz aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß
diese Argumentationsweise sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht
widerspruchsfrei äußern, ja nicht einmal denken läßt. Dietrich Böhler legt – wie viele seiner
139
140
141
142
143
Gronke 1999, S. 42 f.
Habermas 1999, S. 243 f.
Ebd.
Gronke 1999, S. 52.
A.a.O., S. 70.
47
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Mitstreiter auch in diesem Band – überzeugend dar, warum es nicht möglich ist, diese
Position in einem aktuellen Dialog mit sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann dem so
auftretenden Skeptiker anhand seiner eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung
äußernd oder denkend – befindet, gezeigt werden. In Dietrich Böhlers Beitrag zum
Sammelband ‚Zwischen Universalismus und Relativismus‘144 von 1998 heißt es:
„Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist
unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare MetaPraxis des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder
antizipiert, erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant)
und damit zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und
Richtigen.“145
Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis begleitet eben auch das Tun und Lassen des
Skeptikers – erst recht, wenn er versucht, irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische)
zu vertreten. Und dies kann dem Skeptiker gezeigt werden, in dem er „in einen
dialogreflexiven Test verwickelt“146 wird. Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle
Dialogsituation hingewiesen (...), in die er – sich selbst und uns gegenüber – bereits
eingetreten ist (...)“; dann wird zweitens „diese Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen
Aussagen, konfrontiert“; und drittens wird „geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der
Rolle argumentativer Dialogpartner, jetzt als Dialogbeitrag ernst genommen und
dementsprechend mit einer begründbaren Rede (einem sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet
werden könnten.“ Daß Dietrich Böhler im Zusammenhang mit diesem Modell der
Skeptikerwiderlegung147 auf Kant verweist, hat trotz der oben gemachten Kritik an Kants
theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein Ansatz, der für die Frage nach
Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich
sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in überzeugender Weise schon die
Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der Konsensbildung in der
‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“148 ersetzt die kantische theoria-Einstellung und zugleich
den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte Gewißheit des
Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft (...)
als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“149. Wahrheit ist das, worüber in
dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form herstellen“150 ließe. An die
Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt „semantische
Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch Zeichen, die nach
Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen entschieden wird.“151
144
145
146
147
148
149
150
151
Böhler 1998.
Böhler 1998, S. 136.
Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51.
In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele
bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der
Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und
bei Brune 1995, S. 69-73.
Apel 1973 Bd. I, S. 12.
Ebd.
Ebd.
Apel 1973 Bd. II, S. 169.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Transformation Kants am Anfang der ‚Transformation der Philosophie‘
Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen
Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich
genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of
investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet; denn der Kritiker muß, um Kritik an ihm
vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber müßte die
Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die Möglichkeit
offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte Gemeinschaft der
Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation Kants152 bedarf damit
höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet:
Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der
Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen
Bewährung der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt
dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die
zugleich die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“153
Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Dingan-sich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritischrealistischen Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen
als dem prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch
Erkannten andererseits“154.
Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit
etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der
„kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer
(transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und
wahrheitsfähigen Argumentierens“155. Diese Transformation der Philosophie verändert die
Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße
Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell
dialogbezogen-sinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen
Dialogs“156. Vollendet werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität
von Sprache überhaupt, wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann
auch an „Wilhelm von Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht:
Sprechen als miteinander Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw.
dialogförmigen Struktur der Sprache“157. Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist
Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“158; und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die
eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur vorbringen kann, weil er immer schon in
Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der Anderen redet“159.
152
153
154
155
156
157
158
159
Vgl. A.a.O., S. 173.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 25.
Böhler 2001 c, S. 25.
Ebd.
Ebd.
Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd.
VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168.
Böhler 2001 b, S. 168.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sprachanalyse als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic turn‘
Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als der „Durchbruch der sprachanalytischen
Philosophie zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“160
beschreiben. Das Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen
Seite wird abgelöst: Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt
sich nun als gar nicht absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern
zeigt sich als realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und
Sinnzusammenhang von vornherein einbezogen ist“161. Die Beschäftigung mit diesen
Kommunikationsprozessen wird zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als
Ausdruck dieses Zusammenhanges rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was
dazu führt,
„daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer –
Gegenstand der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle
einer entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit
zunächst nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die
Analyse es nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache
zu tun, was sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz
wesentlich erleichtert.“162
Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und
der syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und
Morris163) die Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus
resultiert die Rede von der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt
etwas, das erst im Gebrauch durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive
Verhältnis des Sprechers zur Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es,
einer Regel zu folgen‘ oder ‚How to do Things with Words‘.“164
Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ hat am nachhaltigsten Ludwig
Wittgenstein aufgebracht. Doch seine Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist
insgesamt ambivalent. Denn in seinen frühen Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit
Sprache, allerdings ganz und gar in theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer
Kritik schwächt: „Der frühe Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung
einer Sprachkritik, welche ganz ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine
kritischen Aktivitäten keinen legitimen Platz vorsieht.“165 Leitfaden des frühen Wittgenstein
ist nämlich sein methodisch-solipsistisches Verständnis von Sprache166 – Wittgenstein ist
dabei nicht klar geworden, daß er selbst ja als Kritiker und Argumentierender über Sprache
als Regelfolgen zu uns, seinen Lesern spricht und somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache
in Anspruch genommen hat. Doch beim späten Wittgenstein wird dieser ‚logische
Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem der „neue Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein:
160
161
162
163
164
165
166
Kuhlmann 1985, S. 16.
Böhler 1985, S. 65.
Kuhlmann 1985, S. 16 f. Daher ist es vielleicht eher zu verschmerzen, wenn das Folgende tendenziell wie eine
historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas wirkt und zuweilen weniger wie eine
gründlich-kritische Würdigung.
Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17.
A.a.O., S. 18.
A.a.O., S. 17.
Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst
wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der
Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71)
50
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der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser gesagt: der ‚Sprachspiele‘“167aufkommt. Dieses
Modell ist leistungsfähig zur Illustration der logischen Verbindung von „Handlungssinn und
sozialem Handlungskontext“168: Der Sinn einer konkreten Handlung läßt sich nur dann
verstehen, wenn auch die Lebenspraxis, auf die die Handlung bezogen ist, bereits –
mindestens teilweise – mitverstanden wird.
„Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so
daß er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise
auskennt, wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer
sozialen Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“169
Wittgenstein überwindet aber niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit
festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle
des Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer
bleibt oder nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“170
Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung
und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität
Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer
auf den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist
Wittgenstein dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen
lassen sich die von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit
seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die
Sprachlogik beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die
Wörter der Sprache ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß
die Wörter ‚Namen‘ für ‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“171. Wittgenstein
verabschiedet nun diese Vorstellung ebenso nachhaltig wie das augustinische Modell, Kinder
würden sprechen lernen, indem sie die durch die Eltern vorgesagten Bezeichnungen für
Gegenstände (auf die diese dabei hinweisen) nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich
übersehen, „daß ein Kind, das zum erstenmal die Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen
noch gar nicht verstehen kann, da es weder über eine strukturelle Artikulation der Welt schon
verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch einen Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder
Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion des zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine
Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende Erklärung von Namen versteht nach
W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr anzufangen weiß‘ (...).“172 Wittgenstein
macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des eingeschränkten
Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als „‚defizienten
Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der Erlernung ihrer
Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes
Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“173. Und da ohne diese
fundierenden Bezüge zu bestimmter Lebensform und -praxis kein Erlernen von Sprache
167
168
169
170
171
172
173
Apel 1973 Bd. II, S. 71.
Böhler 1985, S. 202.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 25.
Apel 1973 Bd. I, S. 253.
A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31.
A.a.O., S. 262.
51
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
denkbar ist, kommt so die Kritik an Augustins174 „apragmatischer, nämlich
instrumentalistisch
gegenstandstheoretischer
und
methodisch
solipsistischer
Sprachauffassung“175 zum vorläufigen Abschluß.
Die Reichweite dieses Sprachverständnisses auch beim späten Wittgenstein erweist sich
indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten Irreflexivität als begrenzt. Dieses
Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das Sprachspielmodell nicht geeignet ist,
um das Ganze einer Sprache abzubilden. Øfsti ergänzt damit Erkenntnisse der
sprachanalytischen Philosophie. Diese zeigt die „Doppelstruktur der Rede“176 aus
performativem und propositionalem Teil als denknotwendig: Aussagen können nur
verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon und unvermeidlich in eine
performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung beanspruchen. So hat jeder,
der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet, weil seine
Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die Aussage
unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung gegenüber –
hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des argumentativen Dialogs
betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich genommen.“177 Øfstis
Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser
Doppelstruktur stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese
Doppelstruktur noch einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch
richtiger, so Øfsti, von einer doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze
einer Sprache ausdrücken zu können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und
Kommunikationskompetenz ist die doppelte Reflexivität der performativ-propositionalen
Äußerung und des Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“178 Nun ist nach dieser
Präzisierung noch einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer
Äußerung zugrunde legen, zu erinnern.
Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von
Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als
gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler
vor, „diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der
Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“179.
So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die
„betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt
dessen die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“180 durchgeführt
wird. Die zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als
Differenzierungen der Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen
einhergehen. Um zu prüfen, ob sie skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem
sinnkritischen Test unterziehen: Lassen sich sinnvolle Argumente finden – also Argumente,
die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die
Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender anerkennen muß –, die die
vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen verworfen werden. Zeigt sich
174
175
176
177
178
179
180
Z.B. in Confessiones I, Kap. 8.
Böhler 2001 c, S. 26.
Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991.
Böhler 1998, S. 134 f.
Böhler 2001 c, S. 26 a.
Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und
Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181.
Böhler 2001 c, S. 27.
52
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine sinnvoll gedacht werden
können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die Thesen als bestätigt gelten.181
Dieser sinnkritische Test kann auch Anwendung beispielsweise für diesen Durchgang
durch die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen, welche
Erkenntnisse der einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als
entscheidende (und zu bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen
Gültigkeit beanspruchen können. So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser
paradigmatischen Entwicklungen erreicht werden, die mehr und anderes als ihre historische
Rekonstruktion182 zu leisten vermag. Analog lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen
Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘183 – aufdecken, wie Dietrich Böhler es formuliert:
„Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein
transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich
allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank KarlOtto Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der
Philosophie‘
überwundene,
próton
pseūdos
der
abendländischen
Bildungstradition, ihren elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die
abendländische Philosophie für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die
Begründung des kritischen, Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der
freien, selbständig urteilsfähigen Person, hat entrichten müssen.“184
Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik
aufweisen, deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in
Dietrich Böhlers Seminarpraxis erlernen kann.
Literatur
Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie. Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik,
Hermeneutik; Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Dialoge. 2 Bde. Frankfurt a. M.
Ders.; Böhler, Dietrich; Rebel, Karl-Heinz (Hg.) (1984): Funk-Kolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Studientexte. 3 Bde. Weinheim.
Ders.; Burckhart, Holger (Hg.) (2001): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und
Pädagogik. Würzburg (zit.: Prinzip Mitverantwortung).
Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur
Kommunikationsreflexion. Frankfurt a. M.
Ders. (1998): Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung? In: Horst Steinmann,
Andreas Georg Scherer (Hg.): Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische
Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements. Frankfurt a. M., S. 126-178.
181
182
183
184
Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme
gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who
counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292.
Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und
Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend
primär einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger
Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser
Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters
als besonderer wertvoll gewürdigt.
Vgl. Böhler 2001 c, S. 1.
Böhler 2001 b, S. 154.
53
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Ders. (1999): Gnosis. Existentialismus und Hermeneutik der Entmythologisierung. Interdisziplinäres
Seminar zu Hans Jonas [Seminarprogramm Institut für Philosophie der Freien Universität
Berlin]. Typoskript.
Ders. (2001 a): Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und
Mitverantwortung. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 15-67.
Ders. (2001 b): Bildung zur dialogbezogenen Mitverantwortung. Zweckrationales und dialogethisches
‚Lernen des Lernens‘. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 147-176.
Ders. (2001 c): Leitfaden zum Proseminar 16015 ‚Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation.
Grundkurs klassische Texte und Probleme der Philosophiegeschichte.‘ Institut für Philosophie der
Freien Universität Berlin. Typoskript.
Ders.; Gronke, Horst (1994): Diskurs. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
Tübingen. Bd. II, Sp. 1256-1298.
Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen
legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der
Marktwirtschaft ( = Ethik und Wirtschaft im Dialog VIII). Münster, S. 1-114.
Gronke, Horst: (1999): Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls
Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg.
Ders. (2001): Was können wir im philosophischen Diskurs lernen? Elemente einer sokratischen
Pädagogik. In: Prinzip Mitverantwortung. S. 203-226.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In:
Ders.: Werke in 20 Bänden, Bd. XX. Frankfurt.
Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M.
Ders. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Philosophie. Frankfurt a. M.
Ders. (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende. In: Ders.:
Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M., S. 230-270.
Jonas, Hans (1999): Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. von Christian Wiese. Frankfurt a.
M./Leipzig.
Kant, Immanuel (1959): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hg.
v. Jens Timmermann. Hamburg.
Kuhlmann,
Wolfgang
(1985):
Reflexive
Letztbegründung.
Untersuchungen
zur
Transzendentalpragmatik. Freiburg/München.
Kuhn, Thomas (1962/1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Chicago/Frankfurt a. M.
Menge, Hermann (221953): Langenscheidts Taschenwörterbuch der griechischen und der deutschen
Sprache. Berlin.
Platon: Kriton. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Platon. Sämtliche Werke Bd. I. Hg.
von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg 1959, S. 33-47.
Ders.: Sophistes. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. IV., S. 183244.
Ders.: Timaios. Nach der Übersetzung von F. Schleiermacher. In: Sämtliche Werke Bd. V., S. 141-213.
Religion in Geschichte und Gegenwart (=RGG). Handwörterbuch für Theologie und
Religionswissenschaft (31957). Hg. von Kurt Galling in Gem. mit Hans Frhr. v. Campenhausen;
Erich Dinkler, Gerhard Gloege, Knut Løgstrup. Tübingen.
Rorty, Richard (1981): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a. M.
Schnädelbach, Herbert (1985): Philosophie. In: Ekkehard Martens, Herbert Schnädelbach (Hg.):
Philosophie. Ein Grundkurs. Reinbek.
Windelband, Wilhelm; Heimsoeth, Heinz (151957): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie.
Tübingen.
2.2 Nach der Lektüre: Fragen an D. Böhler und dessen Antworten.
54
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Die drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage
können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen
und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige,
argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als
Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen
können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß.
In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden.
Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre
Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den
Grundlagen der kommunikativen Praxis des Diskurses.
Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar
als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und
differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen
Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie
selbst.
Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine
Rekonstruktionsaufgabe
und
dann
die
Sache
einer
selbstkritischen
Prüfung
der
Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die
Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie
selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als
Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die
Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein
Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw.
Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden
erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch
56
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen:
das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des
gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit.
Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche
einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so
daß sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische
Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als
Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden.
Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen
Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst
aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die
Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und
demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu
zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen
Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als
Ziel verpflichtet ist.
So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die
Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen
des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je
besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können
wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens
zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression,
oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern
einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des
Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische
Urteilsbildung.
Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des
Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein
Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der Geistesspiegel Diskurs ist für alle
möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Argumenten streiten läßt. Die Idee
dieses friedlichen Streits, die Auseinandersetzung allein mit Argumenten, hat im Athen des
fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue Kultur des
Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der Sokratische
57
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates
sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und
führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch.
Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in dem die
Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“185 – eine
ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv
behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner
Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist der Sokratische Dialog über sich hinaus auf
ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen
und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung.
Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch
ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die
dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind
– schon und noch. Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische
Verdeckung, ja Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer
gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den
argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die
theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“
und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine
dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den
Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen
einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte
er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen
konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren
Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative
Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten
Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines
spekulativen Intellektualismus?
Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage
stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können?
Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und
185
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f.
58
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist
keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage
fruchtbare
Gedankenexperimente
eröffnen,
die
uns
über
unsere
eigenen
Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine
aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung
stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich,
daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und
das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses
konfrontieren.
Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen
Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik,
welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner
Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit
und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese
der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in
der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee
konsequenterweise entwickelt hätte.
3.2
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners: Sinnkriterium für Diskursbeiträge und
Kern der moralischen Identität.
In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der
Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses
berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man
kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die
Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit
Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I)
es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede,
Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."186
186
Platon, Kriton, 46 b.
59
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
3.2.1 Der Logosgrundsatz oder:
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Sokrates’
Vorwegnahme
und
Verfehlung
der
Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers
jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins
Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein
individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte
vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende,
argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich freilich ausdrücklich auf das
Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht.
In der Tat, geltungslogisch und diskurspragmatisch betrachtet, nimmt Platons Text bzw. die
Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen Elenchos zwei Rollen in Anspruch:
die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), und die DiskursRolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II).
Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch er im Abendland und in Europa
zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser beiden Rollen. Im „Gorgias“
spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an, was sein Gesprächspartner,
der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als philosophische Verrücktheit.
Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete,
ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der
ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir [scil: , der ich der Philosophie
obliege,] widersprechen sollte.“187
Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis
des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von
Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht?
Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen
Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht,
dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu
werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)?
In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide
Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in
187
Platon, Gorgias, 482 b/c.
60
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Einklang bringt, indem er in der Praxis (Ich I) sich an das zu halten bemüht, was er im
Diskurs (Ich II) als richtig erkennt.188 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des
Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch
eine Kohärenz von ‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da
Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu
verkörpert, konnte er, wie mir scheint, durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild
anerkannt werden. Was ist es, das Sokrates, mit Karl Jaspers gesprochen, mit Recht zu einem
„maßgebenden Menschen“ gemacht hat,189 wenn nicht die Permanenz dieses Strebens?
Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die
ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis
einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der
Diskursbegriff,
verliert
seinen
Verpflichtungsgehalt
und
damit
seine
ethische
Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf,
die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den
bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw.
für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche
Konsequenz.190 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als
Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt.
Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein
durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen
rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen
Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog –
passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in
Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu
gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt
der „Diskurspragmatik“. So nenne ich die Selbstbegründung der Philosophie, weil die
Philosophie in erster Linie ein Diskurs ist, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Das
Philosophieren spielt sich zuallererst als Argumentieren und als Rechenschaftslegung über
eine jeweils geleistete Argumentation ab und schließlich als Besinnung auf die
unverzichtbaren Grundlagen bzw. notwendigen Bedingungen des Argumentierens überhaupt.
188
189
190
Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D.
Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51.
K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127.
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff.
61
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dieser faktisch oder natürlicherweise zuletzt getane Diskursschritt hat den ersten Rang, weil
er die Voraussetzungen ans Licht bringt, von denen alles Philosophieren getragen wird: die
logischen Regeln des Argumentierens, dessen dialog-ethische Normen.
Diese aufzudecken, zu rekonstruieren, und alsdann die einzelnen Resultate der
Rekonstruktion, und zwar jedes für sich („X ist eine Sinnbedingung des Argumentierens“), in
einem reflexiven Dialog als nicht sinnvoll bezweifelbar zu erweisen – darin besteht das
Geschäft der Diskurspragmatik. Sie ist eine zweistufig verfahrende Selbstbegründung der
Philosophie:
Eine
Selbsteinholung
ihre
und
tragenden
eine
Bedingungen
kritische,
durch
aufdeckende
den
Zweifel
bzw.
an
explizierende
den
eigenen
Rekonstruktionsannahmen hindurchgehende, Selbstverantwortung. Sie versucht zunächst, die
eigenen Sinn- und Geltungsvoraussetzungen durch deren, allerdings fehlbare, Rekonstruktion
einzuholen. Sodann verantwortet sie diesen Einholungsversuch in Form eines reflexiven
Dialogs mit dem Skeptiker, der an der Gültigkeit eines jeweiligen Rekonstrukts zweifelt: im
Dialog der Argumente wird getestet, ob der Zweifel daran sich halten läßt oder aber, hält man
ihn aufrecht, den Diskurs zerstört und die Glaubwürdigkeit des Zweiflers als unseres
Argumentationspartners zunichte macht.
Im Lichte der Diskurspragmatik ergibt sich für uns nun zunächst eine Rekonstruktionsfrage:
Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten
Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich
beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann:
Nehmen wir sie so als fehle ihr nichts und als sei sie unmißverständlich – im Sinne von
Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“191.
Was tun wir, wenn wir dermaßen zuvorkommend mit einem Geschriebenen oder auch einem
Gesagten umgehen? Wir befolgen dann keine pure Höflichkeitskonvention, sondern ziehen
die interpretationsmethodische Konsequenz aus einer formalen, und zwar normativ
geladenen, „Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist,
was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt.“ Den Blick auf die Auslegung
geschichtlich überlieferter Texte richtend, erläutert Gadamer: “So machen wir denn diese
Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese
191
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41979
(zit.: Wahrheit und Methode), S. 277 f.
62
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln
wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist.“192
Eines textkritischen Erratens, der philologischen Kunst der Konjektur, bedarf es nicht, wenn
wir den Sokratischen Logos-Satz als Maxime für Diskursteilnehmer würdigen wollen. Nötig
ist aber, daß wir über zwei logische Schwächen hinwegsehen. Denn erstens scheint Sokrates
seine persönliche Einschätzung, seine subjektive Evidenz, zum Maßstab für „den besten
Logos“ zu machen, wenn er ihn mit jenem Logos gleichsetzt, „der sich mir bei der
Untersuchung als der beste zeigt“. Denn damit fällt er hinter die Gültigkeitsansprüche der
Wahrheit und Richtigkeit zurück, weil diese eben auf Intersubjektivität statt auf Subjektivität
zielen. Eine zweite geltungslogische Schwäche ist die fehlende logische Unterscheidung: Das
faktische Ergebnis einer Diskursveranstaltung, welches fehlerhaft sein kann, weil diese von
allerlei Zufälligkeiten und Dürftigkeiten, etwa von partikularen Interessen, Vorurteilen und
Stimmungen, auch von Zeitknappheit etc. beeinträchtigt sein kann, wird in dem Logos-Satz
nicht abgehoben von dem Ergebnis eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten
Argumentationspartnern, die alle relevanten Argumente zur Situation hinlänglich
berücksichtigt hätten. Was hier fehlt, ist die regulative Idee eines rein argumentativen
Diskurses in einer idealen Argumentationsgemeinschaft.
Das können wir allein sagen, wenn und weil wir ausdrücklich die Rolle eines
Argumentationspartners einnehmen, der sich auf deren logische und ethische
Voraussetzungen besinnt. Wir stellen das als Diskurspragmatiker fest, indem wir die Sinnund Geltungsbedingungen der Diskurspartnerrolle zu rekonstruieren suchen. Und dabei setzen
wir die Begriffs- und Problemerörterung seit der Ideenlehre Platons fort. Nachplatonisch
unterscheiden wir zwischen zufälligen empirischen Gegebenheiten (Erscheinungen) und
logisch notwendigen Kriterien bzw. Normen (Ideen). Nachkantisch erkennen wir, daß
Geltungskriterien nicht das Wesen der Wirklichkeit sind – wohl aber Maßstäbe und
Zielbestimmungen, die für unsere Orientierung in der Welt unverzichtbar, höchst fruchtbar
und kritisch vorausweisend sind: Sie haben eine „regulative“ Funktion, transzendieren die
Faktizitäten unseres Tuns und Lebens, also auch unsere Diskussionsveranstaltungen, unsere
Wissenschaftseinrichtungen und sämtlichen Diskurs-Institutionen bzw. realen
Argumentationsgemeinschaften. Aber als regulative Ideen tragen sie die Ansprüche auf
192
Op. cit., S. 278.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Geltung, dank derer menschliche Äußerungen überhaupt nur ernstgenommen und begründet,
diskutiert und ggfs. (als gültig) anerkannt werden können.193
Kurz und gut; nehmen wir einen idealen Rollentausch mit Sokrates vor,194 indem wir ihm die
Rolle eines konsequent verfahrenden (pragmatisch und semantisch konsistenten)
Argumentationspartners zuschreiben – wie sie dem ‚vervollkommneten’ Logosgrundsatz
entspräche. Das heißt, wir nehmen die Position eines Sokrates ein, der sich nicht allein auf
einen faktischen Diskurs (mit all dessen Einschränkungen und Fehlerquellen) bezöge, sondern
in diesem kritisch auf den kontrafaktischen Diskurs einer idealen
Argumentationsgemeinschaft. Unser Sokrates würde sich demzufolge an einem Logossatz
ohne jene beiden geltungslogischen Defizite orientieren – etwa an der Maxime: ‚Ich will es
immer so halten, daß ich nichts anderem gehorche, als dem Argument, das sich in einem
faktischen Diskurs als das beste zeigt und das auch in einer idealen
Argumentationsgemeinschaft (in der alle relevanten Informationen und alle sinnvollen
Argumente im Blick auf alle Beteiligten/Betroffenen berücksichtigt würden) Zustimmung
fände.’
Wenn Sokrates bzw. wir an seiner Statt den Logos-Satz in diesem Sinne vervollkommnet
hätten, dann gäbe unser Grundsatz schon auf den ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für
die Verbindlichkeit einer Aufforderung an die Hand: Die für das Sich-Verständigen und für
das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im Dialog
der Argumente so mitzuarbeiten, daß
(1) ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der des besten Arguments folge
und daß
(2) ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll Argumentierenden als die entscheidende
Instanz für die Prüfung und Anerkennung von vorgeschlagenen Normen bzw. von
behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont unserer faktischen Gemeinschaft
selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente zur Sache und alle involvierten
Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu prüfen.
Jedenfalls wenn wir Sokrates in diesem Sinne explizieren, bringt der Sokratische Dialog
Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt
werden, sondern unhintergehbar sind. Genauer gesagt: Sie sind durch keinen sinnvollen
193
194
Auf den Begriff der regulativen Ideen kommen wir zurück. S. u. ??????
Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 305 f. und 358 f.
Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hrsg. v. H. Joas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 408 ff.
K.-O. Apel, „Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen
des moralischen Bewußtseins“, in: Apel u.a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 61-63. Th.
Bausch: Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin: Duncker & Humblot 1993, S. 186 ff. und 204 f., vgl. 61 f.
64
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Diskursbeitrag mehr hintergehbar, weil die Prüfbarkeit eines Diskursbeitrags, also seine
Diskutierbarkeit, voraussetzt, daß der Diskursteilnehmer nur solche Behauptungen macht
bzw. Zweifel vorbringt, die ihren Selbstverpflichtungen entsprechen.
Doch hier werden Sie, meine Leser, mit Recht nachfragen, warum diese
Selbstverpflichtungen eigentlich logisch gültig und prinzipiell verbindlich, insofern
unhintergehbar also, sein sollen. Sie sind es, weil sie an jener Kommunikationsrolle haften,
die man schon übernommen hat, indem man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen
Gedanken, ein Gefühl, ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und
indem man diesen Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung
(sich und anderen gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines
Diskursteilnehmers, der als solcher die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern?
Nun, diese Rolle wird getragen von generellen dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle
im Diskurs der Argumente haben. Sie sind allgemeingültig, weil sie zu den Sinnbedingungen
jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen Klärung gehören, mit der wir zu
unseren Annahmen wie zu denen Dritter Stellung nehmen können. Es sind diskurstragende
normative Voraussetzungen. Ohne deren diskurspraktische Anerkennung, ohne ihre
Berücksichtigung in dem, was ‚ich’ mir und anderen sage, würde mein Argument sinnlos; es
wäre eine unverständliche Argumentationshandlung, so daß andere Diskursteilnehmer nicht
wissen könnten, woran sie mit meinem Diskursbeitrag und mit mir als Argumentationspartner
sind.
Warum? Die Argumentations- und Dialogerwartungen anderer Argumentationsteilnehmer
beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ nicht allein zuhören sondern sich mit ‚mir’ auf die Suche
nach Wahrheit und Richtigkeit gemacht haben, erwarten kraft dieser Diskursrolle von ‚mir’,
meine Rede werde die konstitutiven Diskursbedingungen erfüllen, so daß sie mit ‚mir’ als
ihrem Diskurspartner kooperieren können. Aus diesem dialogethischen Wechselverhältnis
zieht der sokratische Dialog seine Geltungs- und Orientierungskraft. Dermaßen expliziert,
würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche
Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die
in rein kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie die begründete
65
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Zustimmung aller verdient.195 Und das beste praktische Argument, sagten wir, ist dasjenige,
welches sich sowohl durch Verständigungsgegenseitigkeit als auch durch
Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe
6 gerecht wird.
Lassen Sie uns jetzt diese Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten
vergleichen, die der Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und
berücksichtigen wir zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal
seiner Frau und Kinder, geltend gemacht werden können! Fragen wir uns: Wie würden wir,
wenn wir konsequent und umsichtig die Rolle von Argumentationspartnern einnehmen, an
Sokrates’ Stelle argumentieren?
Lassen Sie uns also den idealen Rollentausch vornehmen, ohne den ein Vorgriff der
Vollkommenheit zur Würdigung einer philosophischen Aussage nicht gelingen kann. Es
ergibt sich dabei freilich – darauf werden wir gestoßen – die kritische Frage: Argumentiert
Sokrates eher im Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als ‚Ich I’ oder strikt als Partner in
einem rein argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht,
mithin als Ich II?
Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt Sokrates
vor allem sechs Gründe vor.
(I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist
eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch, den besten Logos über das
Gut-Leben (ευ ζην, eu zen) darzulegen, daß dieses nämlich „mit dem ehrenhaft und gerecht
leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu berücksichtigen: nicht die Meinung
„der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und Sachverständige hinsichtlich des Gerechten
und Ungerechten „sagen wird, und das, was die Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7).
Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der
Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns
klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten,
uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste
Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern
195
Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in:
Funkkolleg Studientexte (1984), II, S. 313-355, hier 339. Ders., HIER EINEN
NEUEREN TEXT D.B.s ZUM LOGOS-SATZ ANFÜHREN!
66
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel
bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung
erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten
Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz
zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder
idealen Argumentationsgemeinschaft.
Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch
weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein
Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun,
und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation
unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern, sondern auch eine Sinnbedingung der
Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural
von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren
Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).196 Er nähert sich der
Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie
ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der
hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die
sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von
Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen…
Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der
einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des
Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie
plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim
Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der
Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b 48 a 1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird,
was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich
das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich
meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden
auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur
196
H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa),
S. 14 f., 164 ff., und 214 ff.
67
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit
dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich
eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten
Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die
berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte
tut.“197
Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird,
kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte
moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen
darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht,
als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Die berühmte Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf
keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen
ist, nicht wieder Unrecht tun darf (49 a 5 - b 6).
(II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein
erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen
Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die
Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch
zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien
noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen
gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere,
etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte
Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch
eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann
Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht?
(III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den
Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch
befehlen mögen198. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten,
197
198
W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967, S. 32.
Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den
Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen
(δίκαια, dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien.
68
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!]
wir befehlen.“199
Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law
and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des
metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung
der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen
freiwilliger Übereinkünfte ein. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal
gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden
– allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des
Prinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben
geschlossener Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja
illegitime Verbindlichkeiten einschließen.
(IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische
Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus
der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn
de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.200 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die
Suche nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft,
welche dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt.
Auch ein Vergleich des Arguments (III) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für
Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die
Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum
Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde.
(V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des
Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu
müssen.201 Doch nehmen die Freunde dieses Risiko offenbar im Sinne einer
verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf
Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich
wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird
der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde
kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U.
199
200
201
Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“.
Ebd., 51 a 2 - c 5.
Ebd., 53 a 8 - b 3.
69
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für
seine Freunde.
(VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein
gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden
angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht.
Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als
Rechtsverächter ansehen könnte.202 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle
Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der
Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In
Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch
selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“
distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine
Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit…
Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit,
daß
es
abschließend
mit
dem
Hinweis
auf
den
Glaubwürdigkeitsverlust
des
Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze
entzogen hätte203 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen
könne, weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.204 Auf der reinen
Geltungs-
und
Prinzipienebene
wäre
das
Glaubwürdigkeitsargument
allein
dann
durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der
realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den
Diskurspartner (Sokrates II) zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer
bezöge, die nach dem besten Logos suchen.
Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente,
verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den
besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen
Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall.
Verantwortungsethische Überlegung
Aber könnten wir Sokrates nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe
kommen, indem wir für ihn eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine
202
203
204
Ebd., 53 b 3 - c 8.
Ebd., 53 c 5ff.
Ebd., 53 d 1ff.
70
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
dritte, in der „Apologie“ vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den
Menschen ist, täglich sich über die Tugend zu unterreden“205, „zu philosophieren […] und
sich selbst sowie andere zu prüfen“206, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu
geben.207 Wenn aber schon die Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien,
dessen philosophisch kritische Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig
akzeptieren. Also müßte Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der
anderen vertauschen“.208
Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir
berücksichtigen jetzt freilich –wie es auch Sokrates selbst tut - ’ eigene Argumentation – bloß
das Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als
Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.)
Nun hängt die Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet,
offenbar von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist
nun einmal eine ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf
Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten
Gesetze (Stufe 4). Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen
Verbesserung mit der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit
prozeduraler Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit
vorzuziehen.
Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild
dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also
die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen
hatte.209 Daß aber Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die
moralische Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens
in eine menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also
lohnt es das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst - vor der
Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis als auch seine Freunde später - die Ziele
einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten,
sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten
wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die
205
206
207
208
209
Platon, Apologie, 38 a 2.
Ebd., 28 e.
Ebd., 39 c 7.
Ebd., 37 c 7 - d 6.
Ebd., 37 c 4 - 38 a 8.
71
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Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch
kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der
Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz
entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur
Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt.
Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“210
Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischen Situationsstrategie gleich, von der gölte,
daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische
Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens.
So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und
Verantwortungsethik
argumentieren.
Verantwortlichkeiten für Sokrates’
Allerdings
nur
dann,
wenn
auch
die
Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden
könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die
Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem
als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist
also alles andere als leicht zu nehmen.
Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen
wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische
Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative
– Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu
schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates’ Aussagen und
Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische
Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn
verantwortungsethisch hoch zu interpretieren?
Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder
und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates
überhaupt
nicht.
Die
zu
berücksichtigenden
Ansprüche,
Tugenden
und
Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung
‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt
es nicht einmal. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht
mitnehmen, und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu
210
Ebd., 39 c 3 - d 2.
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machen, und weil die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen
werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...211
Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht
auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine
Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende,
jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier
präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und
Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat
allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit
sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von
Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch
irgend etwas anderes höher als das Recht.“212 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die
Argumentationsgemeinschaft,
der
Realathener
(Sokrates
I)
überwältigt
den
Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische
Regression.
Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der
Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“213 – fordert zur Diskussion heraus. Man
berücksichtige zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50 a bis 52 e,
doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer wir
[die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale
Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines
Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen
Gesetze und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll. Sokrates hingegen führt kein
solches Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen
rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der
athenischen
Gesetze
und
Verfahren.
Das
bedeutet
die
Vermeidung
einer
Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen
Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ –
gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist
211
212
213
Ebd., 54 a - b 1.
Ebd., 54 b 2 - 4.
L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view, in: N.F. Sizer & T.R. Sizer
(Hg.), Moral education. Five lectures, Cambridge 1970, S. 57-83. Dazu D. Garz, Kohlberg (1996), S. 119f,
vgl. 116ff und 60f.
73
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten
Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht
entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins
Sakrosankte erhebt.
Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Impetus der Idee des
Sozialvertrags diametral entgegen. Dessen Orientierungsfunktion kann Kohlberg zwar als
„legalistische Orientierung“ beschreiben; eine solche hat jedoch – eben das unterscheidet die
„postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-and-Order-Stufe 4 – das
gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten argumentativ
geführten praktischen Willensbildungsdiskurs, zur geltungsstiftenden Voraussetzung.
Anderenfalls
könnte
Kohlberg
den
Sozialvertragsgedanken
nicht
zu
Recht
als
postkonventionelles (logisch: metakonventionelles prinzipien- und gültigkeitsbezogenes)
Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser
Urteilsstufe individuelle Rechte als vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert
werden können. Eben das hat er getan – nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische
„Declaration of Independence“ als „Dokument der Stufe fünf“ würdigte.214
Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt, ist doch der
Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der
den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger
verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua
Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“
ausgestatteten Menschen. Und es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde,
der aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische
Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint.215
Von hier aus können wir zum Hauptargument des Kriton-Dialogs zurückkehren, der
Vorhaltung, des Vertragsbruchs, den die ‚Gesetze’ Sokrates machen - und damit die
Diskussion
mit
Frau
Kinne
fortsetzen.
Es
fragt
sich
hier
nämlich,
ob
das
Sozialvertragsargument Platons, so wie es im ‚Kriton’ vorgebracht wird, einen
214
215
L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American
education, in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11.
Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen
Zentralbegriff“ erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I
shall principally take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen
Unabhängigkeitsbewegung eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit,
Göttingen 1962, S. 140ff.
74
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
naturalistischen Fehlschluß darstellt. Was ist ein naturalistischer Fehlschluß im
differenzierbaren Sinne?
Es handelt sich um Schluß von einer bloßen (sei es einer natürlichen, sei es einer sozialeninstitutionellen oder einer handlungsmäßigen) Tatsache und deren Beschreibung: „Sein“ auf
eine moralisch gültige, verbindliche Pflicht: „Sollen“.
Im „Kriton“ läßt Platon ‚die Gesetze’ der Polis schließen:
Du
hast
den
Sozialvertrag
durch
dein
faktisches
Verhalten
geschlossen
(->
situationsbezogener Diskurs in Athen) d. h. uns als deine geltenden Gesetze anerkannt,
also
ist es deine moralische Pflicht, unseren normativen Implikationen in allem zu folgen.
Prämissen:
1) Fallibilität situationsbezogener Diskurse gibt es nicht / ist nicht zu berücksichtigen
[Verstoß gegen vorgängiges Dialogversprechen b5) ]
2) Das bloße Faktum einer Anerkennung verschafft dessen Gegenstand unbedingte
moralische Gültigkeit im Sinne von Verbindlichkeit.
D. h. Die Anerkennungswürdigkeit des faktisch Anerkannten müsse nicht geprüft werden.
Dieser Begriff und Maßstab entfällt. So suggeriert es, wenngleich in kritischer Absicht, die
Spruchweisheit „Mitgegangen, mitgefangen, (zu Recht?!) mitgehangen.“ Diese Annahme
verstößt freilich gegen normative Sinnvoraussetzungen einer Argumentation, insbesondere
gegen zwei Geltungsansprüche und Diskursversprechen. Es sind dies die Geltungsansprüche
der Legitimität aus Gründen (a4) sowie der Wahrheit (a3) und die vorgängigen
Dialogversprechen,
- das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren
Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) zu
berücksichtigen (b2)
- mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in
Zukunft (b4) ]
Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs zum „Kriton“, dem es nicht um
eine historisch hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates,
sondern um deren Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form
75
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Stand: 14.04.2009
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
folgender Tabelle bringen. Horizontal stellt sie Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines
argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der
Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die
Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution
„Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen
Diskurs
der
Argumente.
76
Vorlesung im Wintersemester 2006/2007, Prof. Dr. D. Böhler
77
Metaphysik, Kritik, Kommunikation
Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e
Kriterien,
Bezugspunkte
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (S.)
Person
(Ich I)
Anspruch auf
Wahrheit,
Gültigkeit
qua
Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit
Gerechtigkeit
Frau
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Unberücksichtigt:
Situationsanalyse fehlt,
keine Verständigung
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung (auch nicht
advokatorisch)
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung
Ja, in der
Verteidigung
seiner selbst vor
Gericht
[Argument V]
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung, daher
keine Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung,
daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Argument II
Argument I
Antizipation von
Stufe (5) mit
Regression auf
Stufe (4)
Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht
metakonventionell, sondern
konventionell (regressiv) gehandhabt
Diskurspartner
(Ich II)
[Argument V]
Bedeutet die Flucht den
Verlust der Diskursglaubwürdigkeit?
- Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6)
- [Märtyrertum als
moral. Strategie (7) →
Wahrung von
Rechtsloyalität u. –
sicherheit (4 u. 5)?]
Argument I
Ein moral. Gehalt des
Logos-Grundsatzes (6),
aber gesinnungsethisch
verabsolutiert, mithin
eher als Stufe 4-Norm
denn als autonom
anzuwendendes,
metakonventionelles
Moralkriterium angesetzt
Siehe Spalte Sokrates
Argument III
faktizistischer
Fehlschluß von
Sokrates’
Bürgerverhalten
(3) auf
Legitimität der
Gesetze (4)
77
Vorlesung im Wintersemester 2006/2007, Prof. Dr. D. Böhler
78
Metaphysik, Kritik, Kommunikation
Kriterien,
Bezugspunkte
Leben
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (I + II)
Frau
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Argument V
Argument VI
Argument VI
Argument IV
Sokrates scheint sich in
der Egoperspektive Stufe
(1) auf persönliches
Glück zu berufen und auf
die faktische Akzeptanz
durch eine Gruppe (Stufe
3)
S. delegiert seine
Fürsorgeverantwortung
undialogisch und ohne das
moralische Prinzip der
Zumutbarkeit zu klären
In Übereinstimmung mit
seiner lebensweltlichen
Rolle (3) übt Sokrates
Fürsorgeverantwortung für
seine Kinder, aber
Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner
Asymmetrische
Fürsorgeverantwortung
(Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner,
solipsistisch verkürzende
Antizipation von (7))
Unbe-rücksichtigt
bleibt und muß
die Frage bleiben,
ob ein Staat das
Recht auf
Todesstrafe
beanspruchen
darf, da die Idee
der Menschenwürde fehlt
Es fehlt die Frage: Ist ein Sozialvertrag
überhaupt legitim, der einem Staat die
Todesstrafe zuspricht (Prinzip der
Menschenwürde als Rechtskonstituens)
bei Ausblendung von
Verantwortungspflichten des
Familienoberhaupts (3);
aber in „Apologie“ mit
verantwortungs-ethischer
Perspektive:
Wirkungsmöglichkeit für
kritische Philosophie
wahren (Stufe 7)!
Menschen
würde
__________
__________
__________
__________
_______
Menschenwürdegrundsatz unvereinbar
mit Todesstrafe
→ Legitimation der Flucht
78
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
3.2.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen.
Wie enttäuschend Platons Argumente am Schluß des Kritondialogs und auch dessen
monologischer Charakter für uns als Diskurspartner auch sind, wie tief sie auch unter das
Urteilsniveau
des
Logosgrundsatzes,
geschweige
des
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit, zurückfallen, so bahnbrechend und im Kern allgemeingültig ist die
Logosmaxime selbst und der Kontext, in dem sie entdeckt wird, nämlich Sokrates’ Suche
nach einer dialogförmigen Prüfung von Geltungsansprüchen, dem Elenchos. Das sind zwei im
Diskursuniversum unverlierbare, für die Argumentationsgemeinschaft unverzichtbare
sokratische Errungenschaften: Sie gehören zum eisernen Bestand der Diskurspartnerrolle.
Jede Person kann sie sich als Ich II aneignen, wie sehr sie auch die geschichtlichen
Kontextbedingungen, Konventionen und partikularen Ansichten eines Ich I – hier die des
antiken Atheners Sokrates bzw. seines Schülers Platon – überholen und kritisch distanzieren
mögen.
Das Verfahren und der Begriff des élenchos bzw. der έλεγξις sind oft weich und können teils
moralische, teils juridische Nuancen haben. Beim frühen Platon mündet der Elenchos in eine
Kritik des vermeintlichen Wissens, in ein Wissen des Nicht-Wissens. Dieses negative Wissen
besagt jedenfalls, daß die naiv behaupteten Meinungen und deren naiver Anspruch, sie
präsentierten hinreichendes Sachwissen, dann nicht mehr Bestand haben, wenn sich ihre
Vertreter auf das dialegesthai als logízesthai einlassen, auf die strenge Suche nach dem
zureichenden
Argument.
Die
naiven,
vor-argumentativen
und
vor-dialogischen
Wissensansprüche können nicht mehr bestehen, wenn man heraustritt aus der Arena der
alltäglichen Selbstbehauptung und eintritt in den dialogisch-logischen Raum des Erhebens
und Prüfens der eigenen Ansprüche als Geltungsansprüche; d.h. als dialogischer Angebote,
welche mit Gründen zu versehen sind und anhand von Gründen geprüft werden müssen –
gemeinsam im Argumentieren. Was bedeutet es, wenn man sich auf jene Suche begibt? Man
läßt die unphilosophische Praxis des puren Fürwahrhaltens seiner jeweiligen Meinung und
des Durchsetzenwollens seiner Orientierungen bzw. normativen Vorstellungen hinter sich,
distanziert sich insofern ein ganzes Stück von sich selbst und eröffnet die philosophierende
Praxis von Argumentationspartnern in einer Gemeinschaft strikten Argumentierens. Das ist
der kritische Eröffnungszug des Philosophierens als Diskurs: Durch die Distanzierung der
Alltagsnaivität und der bloßen Selbstbehauptung setzt man sein bisheriges, vermeintliches
Wissen skeptisch in Klammern, man betrachtet es als ein Nicht-Wissen und sucht nunmehr
79
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
nach begründbarem Wissen, das sich nicht bloß auf ein Meinen und Wollen, sondern auf den
einsehbaren Logos soll stützen können.
Legen wir den sokratischen Ansatz in dieser Weise aus, dann lassen sich auch die Ironie des
Sokrates, ja zum Teil sogar Platons rabulistisches Dreinschlagen,216 als strategische
Diskursmittel
würdigen
–
eine
harte
Schule,
die
es
mit
der
bornierten
Selbstbehauptungspraxis des alltäglichen Etwas-Meinens und Etwas-Wollens zu tun hat und
dieser eine Erziehung sowohl zur Autonomie als auch zum Miteinanderargumentieren
entgegen setzt. Sicher bleibt, wie Gottfried Martin betont, auch die Ironie des Sokrates zum
Teil, wie so vieles an ihm, rätselhaft. Doch dürfte sie des öfteren zur Autonomie provoziert
haben, als wolle er bzw. der junge Platon zu verstehen geben: ‚Nein, ich gebe dir keine
positive Antwort, die du als fertige Münze einstreichen könntest; denke gefälligst selbst. Eher
verstelle ich mich oder ziehe dich belustigt auf, als daß ich dir eine fertige Antwort serviere –
lieber erscheine ich euch allen als ein Zitterrochen, der anderen gern elektrische Schläge
versetzt.217 Will ich euch doch aus dem bloßen Etwas Meinen und Nachreden von
Sprichworten herausschlagen, auf daß ihr ernsthaft zu denken euch bemüht.‘ Offenbar
verfährt der kritische, teils ironische, teils strikt aporetische Sokrates nach der Maxime: Ohne
schmerzhafte Einsicht in das Nichtwissen des alltäglichen Durchsetzenwollens von
Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen ist der Weg zur Erkenntnis des Wahren und
Richtigen im vorhinein verstellt.
Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei
dem frühen Platon auch den Beschluß: hier münden die Dialoge in eine Aporie, die
Erkenntnis einer Ausweglosigkeit218 oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der
Lebensweise übereinstimmt.219 Doch erschließt diese praktische Einsicht eben jene ‚positive‘
Orientierung, die Sokrates im „Kriton“ als seinen Grundsatz formuliert: die Orientierung an
der Vereinbarkeit von Verhalten und Sagen, von Handlungsweise und Logos – eben des
diskursiv geprüften Logos. Denn als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die
Verträglichkeit von Lebenspraxis und diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegels emphatische
Kritik der Sokratischen Negativität muß daher zugestehen, daß sich in der Gestalt des
216
217
218
219
Dazu: J. Hirschberger, Die Phronesis in der Lehre Platons vor dem „Staate“, Leipzig 1932 (Philologus
Suppl. 25,1), S. 90. Vgl. auch K. Bormann, „Platon: Die Idee“, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der
großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1978, S. 47 f.
Menon 80 a. Zur Ironie: G. Martin, Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei
Hamburg 1967, S. 127 ff.
Zur Aporie: Menon 80a-86c; Charmides 169c-d; Theaitetos 149e. Dazu B. Waldenfels, Das sokratische
Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, Meisenheim a. Glan, 1961.
Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit
(1969)), bes. S. 91 ff, vgl. S. 87-107.
80
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sokrates das metakonventionelle Prinzip der Subjektivität mit dem des Logos verbindet –
genaugenommen mit dem Prinzip eines in gegenseitiger Achtung zu führenden Dialogs.220
Eben daraus ergibt sich implizit eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige
Tugend der dialogischen Praxis, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich
hochachtet, und des Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus
Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit erwachsen. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der
Logos als Resultat eines argumentativen Dialogprozesses verstanden, mithin auf
kommunikative Weise nach Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der
Tugenden: Glaubwürdigkeit in Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, von
Meinungs- bzw. Interessensubjekt und Dialogpartner.
So stellt Platon in der Rede des Feldherrn Laches den Sokrates als Menschen vor, der die
Tugend verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe.221 Sein
Leben sei harmonisch gestimmt: „zusammenklingend mit den Worten die Werke“.222 Wie
aber bringt er es zu diesem Einklang? Nicht anders, als daß er jeweils kritisch danach sucht.
Nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in dem ein Rechtsanspruch geprüft wird, läßt er
sich auf eine Prüfung der üblicherweise mitgebrachten Wissensansprüche ein. Dabei kommt
er – klassisch in der „Apologie“ – zu dem Eingeständnis, diese nicht einlösen zu können: „ich
bin Mitwisser, des Tatbestands, daß ich nichts weiß“, bekennt er vor Gericht223.
Um dieser paradoxen Aussage einen haltbaren Sinn abgewinnen zu können, sind erneut die
Explikationsfragen zu stellen, wer denn jene erste Person sei, die ein – wie immer kritisches –
Wissen von sich zum Ausdruck bringt, und wer sich hinter dem Ich verbirgt, über das sie das
kritische Urteil fällt, es wisse nichts. Letzteres, von dem behauptet wird, es habe kein Wissen
von der gerade verhandelten Sache, ist das naive, seine Meinungen und Annahmen schlicht
behauptende Alltags-Ich, das Meinungssubjekt (I). Das andere ‚Ich’ hingegen, welches als
kritischer Zeuge auftritt, der das Zu-wissen-Meinen des Selbstbehaupters als Nichtwissen
entlarvt, ist der Logos-Sucher ‚Ich’ (II). Dieses zweite Ich agiert als Partner eines Diskurses,
in dem nicht Meinungen zählen, sondern einzig gute Gründe, die für oder gegen eine
Annahme sprechen.
220
221
222
223
„Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens
entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der
Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.“ So G.W.F.
Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke (1971), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471,
497 und 514f.
Platon, Laches, 188 c - 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: ders., Wahrheit (1969), S. 87107, bes. S. 88ff.
Platon, Laches, 188 d.
Platon, Apologie, 22 c.
81
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
So können wir zusammenfassen: Als Elenktiker lebt Sokrates von einer Zwei-RollenDialektik. Denn der Sokratische Elenchos ist so angelegt, daß die unmittelbare Rolle dessen,
der schlicht etwas meint und es naiv zu wissen behauptet (I), konfrontiert wird mit der
reflektierten Rolle dessen, der sich in einem argumentativen Diskurs weiß und nun als
Diskurspartner (II) zu einer bestimmten Meinung – hier zu einer, die er selbst (als I) vertritt –
Stellung bezieht. Die paradox anmutende Selbstaussage in der Apologie entspringt keiner
skeptizistischen Attitüde. Sokrates tritt weniger als Skeptiker denn als tendenziell
diskursbewußter Dialektiker auf. Auch wenn er z.T. dahinter zurückfällt, so gilt doch: er hat
das dialogreflexive Argumentationsniveau markiert.
Als Dialektiker kann Sokrates die naiven Ansprüche des Sachwissens einklammern, ja ein
Nichtwissen der Sache konzedieren, weil er ein Wissen vom argumentativen Dialog hat.
Aufgrund
eines,
wenngleich
nicht
näher
bestimmten
geschweige
denn
reflexiv
ausgewiesenen, sondern unterstellten dialogpragmatischen Vorwissens kann er sich selbst und
andere auf das Verfahren des Elenchos, die kritische dialogische Prüfung, verweisen – mithin
auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz. Daraus bezieht der Typos
Sokrates seine eigentümliche Glaubwürdigkeit, die au fond kritische Tugend der
Diskursglaubwürdigkeit.
Nun läßt sich Diskursglaubwürdigkeit nicht als eine Tugend verstehen, die man haben kann,
wie man einen Besitz oder eine Eigenschaft hat, wohl aber als Bereitschaft zu einer
permanenten Aufgabe. Diese Aufgabe hat etwas von einer „regulativen Idee“ (à la Kant,
Peirce und Apel) an sich, weil ‚wir‘, auch wenn wir im Diskurs Geltungsansprüche erheben
und prüfen, gewiß keine reinen Vernunftsubjekte, sondern leibhafte Menschen sind: endliche
und leibliche, affektbeladene und interessengeleitete, auf fallible Informationen und
Interpretationen angewiesene Wesen. Doch als reale Diskurspartner wissen wir implizite, in
der Weise eines tacit knowledge (Polanyi), zweierlei zugleich: daß wir nach Gültigkeit, nach
Wahrem und Richtigem, suchen, und daß wir uns täuschen können.
Worin können wir uns prinzipiell täuschen? Vor allem in der Erkenntnis von Sachverhalten
und der Einschätzung von Situationen der Welt. In der semantischen Relation der
Gegenstandserkenntnis, genauer gesagt, in der Erkenntnis von Dingen der sogenannten
Außenwelt, können wir uns so gut wie immer irren. Denn hier sind wir, wenn es um
objektivierbare Sachverhalte geht, auf Vermutungen bzw. Hypothesen vor dem Hintergrund
einer Theorie angewiesen oder aber, wenn wir Sinnzusammenhänge erschließen wollen, auf
Vorverständnisse und Vorgriffe mit dem Hintergrund eines Interpretationsrahmens.
82
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Hypothesen und Theorien sind fallibel, Vorverständnisse und Interpretationsrahmen können
unangemessen sein. Vorsicht ist am Platze und kritische Prüfung unverzichtbar.
Von einer solchen elementaren Kritikwürdigkeit und Kritikangewiesenheit will freilich die
natürliche Selbstbehauptungsperspektive wenig wissen – sie behauptet viel lieber: ‚ich weiß!’.
Dagegen setzen der Dialektiker Sokrates und erkenntniskritische Aufklärer wie Lessing und
Kant den selbstkritischen, unabschließbaren Erkenntnisprozeß. Das selbstkritisch suchende
Denken mit fallibilistischem Vorbehalt bei der Erkenntnis dialogexterner Dinge ist es,
welches den Typos Sokrates so lebensvoll macht. Aufgrund dessen erscheint er, im
Unterschied zu vielen seiner festgewurzelten und eingefahrenen Gesprächspartner, überaus
lebendig – aufgeschlossen und offen für Kritik, für begriffliche Horizonterweiterung und
Präzisierung der Rede. Hannah Arendt konnte daher pointieren: „Der Sinn von Sokrates’ Tun
lag in diesem selbst. Oder anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, und
daraus folgt, daß das Denken immer wieder neu anfangen muß.“224
Doch kann jene kritische Lebendigkeit nicht bedeuten, daß die Tugend des Denkens bzw. des
argumentativen Diskurses im puren Offensein bestünde, als ob ihr keine festen, wißbaren
logischen Regeln und dialogischen Verpflichtungen innewohnten. Nein, als Wachheit des
Geistes speist sich diese kritische Lebendigkeit aus der infalliblen Einsicht in die
Verbindlichkeit vorgängiger Dialogversprechen, die Sokrates dadurch abgegeben hat, daß er
nach dem besten Logos sucht und die er in dem Logosgrundsatz auf eine Formel gebracht hat.
Es sind zunächst die Versprechen, nichts als das beste Argument gelten zu lassen und die
Gesprächspartner als Argumentationspartner zu nehmen sowie zu achten. Insofern ist der
Sokratische Rückgang auf den kritischen Dialog auch der „erste Versuch einer Sprachethik
(besser: Dialogethik)“. Vittorio Hösle belegt diese Interpretationsthese vor allem mit dem
Thrasymachos- und dem Gorgias-Dialog.225 Zu Recht. Denn dort finden sich, wie auch im
„Kriton“ und der „Apologie“, Vorgriffe auf eine diskurspragmatische Begründung der Ethik
durch Rückgang auf die dialogische Praxis. Wird dieser Rückgang reflexiv und konsequent
vollzogen, dann erschließt er das dialogische Anerkennungsverhältnis zwischen denen, die ein
Problem lösen, eine Erkenntnis erwerben wollen: die moralisch geladene Gegenseitigkeit
zwischen Diskurspartnern.
Nun wird aber der Sokratische Anstoß zur Besinnung auf die diskurspragmatischen
Dimensionen des Gemeinschaftsbezugs und des Wahrheits- bzw. Gültigkeitsbezugs von
224
225
H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S.
178; vgl. 166ff.
V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334f,
vgl. 314-359.
83
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Platon alsbald ontologisch neutralisiert und kosmostheoretisch konterkariert. Wenn wir die
Tragweite dieses Richtungsstoßes würdigen und in die diskurspragmatische Besinnung
eintreten wollen, empfiehlt es sich daher, mit Sokrates über Sokrates hinauszudenken und
seinen Dialogansatz ebenso aus der Metaphysik Platons wie aus dessen instrumentalistischer
Sprachphilosophie herauszulösen. Zuerst wende ich mich seiner Sprachtheorie zu.
Erstaunlicherweise scheinen nämlich einige ihrer Elemente selbst heute – nach dem linguistic
turn bzw. pragmatic turn der Gegenwartsphilosophie – noch wirksam zu sein, obwohl sie sich
sprachpragmatisch nicht halten lassen. So werfe ich zunächst einen Blick auf Platons
sprachphilosophischen Dialog „Kratylos“, um vor dieser Folie nach den pragmatischen
Dimensionen des Etwas-Denkens zu fragen.
3.2.3 Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik. Die seit
Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens
Im „Kratylos“ nimmt Platon expressis verbis die Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis
an und stellt das methodologische Postulat auf, man solle die Dinge besser ohne Worte,
nämlich durch verwandte Dinge, oder durch sie selbst erkennen (438 e - 439 b). Was in dem,
kurze Zeit darauf entstandenen, „Phaidon“ schon als „abgedroschen“ gilt, die Erkennbarkeit
der Ideen ohne Worte (100 b), wird im „Kratylos“ entwickelt. Hier sucht Platon nach einem
„Paradigma“ für die richtige Benennung und Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche
führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie
hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg zur „Idee“ der Dinge, welcher vermittels
Worten als den „Werkzeugen“ der Benennung zu beschreiten sei. Dieser Weg führe von
einem, in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein
und dieselbe „Idee des Wortes“, also den (idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das
Wesen, die Urgestalt der Dinge selbst als dem „bestimmten Sinn“ der Wortidee. Diese reine
Dinggestalt sei die sprachunabhängige Idee.226
Das
ist
die
ideentheoretische
Ausklammerung
des
sprachphilosophischen
Bedeutungsproblems. Sie trennt die Konstitution der Wortbedeutungen von dem realen
geschichtlichen Sprachgebrauch ab und deren Geltung von einem möglichen dialogischen
Konsensus. Wie konnte es dazu kommen?
226
Platon, Kratylos, 389 a-390 a; vgl. 422 d-424 e, 428 c-428 d/e und 438 a-439 b. Dazu J. Derbolav, Platons
Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58f, 89 und 95ff.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Platon hat die Tendenz, Sprache als System von Worten, primär von Dingworten, zu
betrachten; und er verbindet diese Sprachauffassung mit einer instrumentalistischen
Perspektive. So erklärt er die Wortbildung mithilfe eines Werkzeugmodells: Wie ein
Werkzeugmacher, etwa der Tischler, beim Verfertigen eines Weberschiffchens auf das
Musterbild seines Werkzeugs (είδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ίδέα
(idea) und gebe sie wieder (389 b 8 - 390 a 7).
Doch wer sind die Wortbildner, wenn nicht die realen Sprecher als aktive Teilhaber einer
Sprachgemeinschaft
und
sprachmodifizierende
Fortsetzer
ihrer
Sinn-
und
Ausdrucksgeschichte? Platons Werkzeugmodell enthebt uns, die geschichtlichen Wortbildner,
einer Verständigung über den Sinn eines fraglichen sprachlichen Ausdrucks und seiner
Abgrenzung von anderen Ausdrücken. Seine instrumentalistische und verdinglichende
Wortsemantik setzt zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung,
prinzipiell einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß
Sprachschöpfung (bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung) nach dem
akommunikativen Modell des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht
werden kann – also in einer bloßen Subjekt-Objekt-Relation.
Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des
Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, einsam und für sich
allein, ein Objekt produziere –, schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus.
Es ist dieser ganz und gar subjekt-objekttheoretische und herstellungstechnische
Zusammenhang, in dem Platon „als erster das Wort ‚Idee’ als ein Schlüsselwort
philosophischen Denkens einführte“. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff
zum philosophischen Terminus erhob, der „ursprünglich im Herstellen erfahren war“.227
Ganz konsequent löst Platon im „Phaidon“ und „Phaidros“ auch den anamnetischen Weg des
Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen
wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung
eingeleitet228 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: die
Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen229, auf deren Erkenntnis der
Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne230. Daß die Sprache die
Sinnbasis auch für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat
Platon, wirkmächtig bis heute, verdrängt.
227
228
229
230
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München o.J. (zit.: Vita activa), S. 220, vgl. S. 129.
Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3ff.
A.a.O., 74 d 6-75.
Platon, Phaidros, 249 b 6-249 c 3 und 265 d 3-265 d 5.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten
Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm
entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene
Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun: Zuallererst gilt natürlich, daß
Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens.
Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige
Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen
Einsichten. Anderenfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit
einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits.
Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es
damit die Bewandtnis eines „Zwar – aber“: Auf der einen Seite steht die Dominanz der
kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur,
was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen?
Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im „Sophistes“ und im
„Theaitetos“, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise,
entstanden sein dürften. In dem späteren „Sophistes“ setzt der Fremde aus Elea zunächst
Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich
selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne.231 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe
sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines
kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der
Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Worten bediene: „Der Ausfluß von jenem
[dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).“232
Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοέισθαι, in dem wohl
nach 365 verfaßten „Theaitetos“ als „eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über
dasjenige durchführt, was sie erforschen will“, und zwar indem sie mit sich selbst rede
(διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und verneinend.233 An dieser
Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als
Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen.
Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, Dietrich Böhler, diese Erörterung
verfasse, ein Selbstgespräch nach Platons Definition? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem
Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch zu? ‚Ich’
231
232
233
Platon, Sophistes, 263 c 3.
A.a.O., 263 e 8f.
Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 - 190 a 2.
86
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
frage doch nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst. Außerdem treffe ich nicht
allein Ja- und Nein-Stellungnahmen.
Freilich wird das Etwas-Denken noch heute häufig auf Ja- und Nein-Stellungnahmen
reduziert: So spricht Ernst Tugendhat davon, daß die „Grundmodi“ des Sprachhandelns
„wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen“ seien.234 Habermas und Knut Erik Tranøy lassen
hingegen drei Grundmodi gelten. So konstatiert Habermas: „Die zulässigen Reaktionen [auf
eine Äußerung mit Geltungsanspruch] sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“235
Auch Tranøys Pragmatik der Forschung hebt diese drei konstitutiven Akte hervor: „die Akte
des Verwerfens, Annehmens und der Urteilsenthaltung bezüglich einer Aussage“.236
Diese traditionelle Triade übersieht eine vierte Gruppe von zulässigen Reaktionen, die
Rückfragen nach Sinn und Geltung des Gesagten. Harmlos stellt sich hier zunächst die
semantische Frage nach der Bedeutung des Gemeinten. Kritisch legt sich die Frage nach der
Validität der Begründung nahe. Radikal kritisch können Diskursteilnehmer schließlich die
Prüfbarkeit und Zulässigkeit einer Meinungsäußerung als Diskursbeitrag in Frage stellen: ist
sie überhaupt ernsthaft diskutierbar?
Die letztgenannte Frage ist eine diskurspragmatisch sinnkritische Reaktion. Sie drückt den
Zweifel aus, ob das Gesagte überhaupt als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als
prüfbarer Diskursbeitrag verständlich ist, so daß es von Anderen geprüft und diskutiert
werden kann. Wer so fragt, fährt gleichsam scharfes Geschütz auf. Er eröffnet eine
sinnkritische Argumentation, die zu begründen hätte, daß die Rede pragmatisch nicht
verstehbar ist. Was müßte eine solche Begründung leisten?
Sie muß zeigen, daß die möglichen Adressaten sich zu dieser Rede nicht als
Argumentationspartner verhalten können und daß, vice versa, der Sprecher diese seine Rede
seinerseits nicht als Argumentationspartner entfalten und in einem Diskurs, worin nur
prüfbare Diskursbeiträge statthaft sind, durchhalten kann, sondern durch seine Aussage in
Widerspruch zu den Geltungsansprüchen und Anerkennungsverbindlichkeiten seiner
Diskurspartnerrolle
gerät.
Aus
der
Adressatenperspektive
wäre
der
pragmatische
Sinnlosigkeitsverdacht also so zu erhärten, daß man dem Sprecher zeigt: aus seiner Rede
könne ein Adressat gar nicht entnehmen, als was das Gesagte eigentlich zu nehmen sei; als
Diskurspartner werde man von dieser Rede düpiert statt ernstgenommen, weil sie einem die
Möglichkeit verstelle, ihren argumentativen Gehalt zu erfassen, zu prüfen und begründet
234
235
236
E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 518, vgl. 76f, 242f, passim.
J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns, I (1981), S.65.
K.E. Tranøy, Pragmatik der Forschung, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), S. 3654, hier: S. 40f.
87
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Stellung zu beziehen. Kurz: das Gesagte sei kein Diskursbeitrag; der Sprecher springe damit
aus dem Dialog der Argumente heraus – insofern disqualifiziere er sich und mißachte die
Diskurspartner-Rechte. Eine derartige Begründung zieht ihre sinnkritischen Argumente aus
dem Diskurs, verstanden als Sinnzusammenhang von Geltungsansprüchen und Gründen zu
deren Einlösung – mithin zugleich als Anerkennungszusammenhang von Partnern; denn
allesamt haben sie die Diskursrolle eingenommen und dadurch die diskurstragenden
Verbindlichkeiten
auf
sich
genommen.
Die
Begründung
des
pragmatischen
Sinnlosigkeitsverdachts ist eine praktische Begründung aus dem Dialog der Argumente.
So begründbar, ist das Geltendmachen eines Sinnlosigkeitsverdachts völlig legitim, ja zur
Rettung des Diskurses erforderlich. Es wäre geradezu riskant und gefährdete die Dialog- und
Denkkultur, wenn man diese u.U. ganz legitime sinnkritische Reaktionsmöglichkeit übergeht,
weil man, wie etwa Habermas, nicht nachfragt, ob eine Urteilsenthaltung wirklich immer
zulässig ist bzw. wann sie unzulässig wird. Ist letzteres nicht zumindest dann der Fall, wenn
sich hinter der Enthaltung die Weigerung verbirgt, auf das Verhältnis von Geltungsanspruch
und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren? Denn das käme der
Verweigerung gleich, Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte
überhaupt mit der selbst beanspruchten Rolle eines Partners im argumentativen Dialog
vereinbaren läßt. Dann läge eine Selbstimmunisierung gegen dialogische Sinnkritik vor: der
Diskursteilnehmer zeigte, daß er nicht bereit ist, seine Verpflichtungen als Diskurspartner ins
Auge zu fassen und sie zu befolgen.
Sowohl Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch wie auch Tugendhats
satzsemantische Verengung der Grundmodi des Sprachhandelns auf Ja- und Nein-Sätze und
Tranøys bzw. Habermas’ Anerkennung von nur drei zulässigen Stellungnahmen verkürzen
die zum Teil moralisch geladene, weil mit Diskurspartner-Pflichten verwobene,
kommunikative Geltungsdimension der Pragmatik, welche der sachbezogene Sprecher zwar
im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber getragen wird. Im puren Sachbezug
konzentriert sich ein Sprecher auf die satzsemantischen und pragmatisch semantischen
Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den (assertorischen) Satz als
Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält, „bipolar“ sind.237 Nur im
Zuge einer Ausblendung der Pragmatik kann man überhaupt annehmen, daß unser
Sprachhandeln wesentlich aus Ja- und Nein-Stellungnahmen bestehe.
Fassen wir zusammen:
237
L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1960, S. 188.
88
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Hinsichtlich des Sachbezugs der Rede ist der Blick auf das (Zu-sich-selber-)Ja-oder-NeinSagen zu erweitern durch eine Berücksichtigung der schon erwähnten beiden anderen
Redeweisen. Einmal können Sprecher im Dialog auch mit einer Urteilsenthaltung reagieren.
Dann lassen sie die Wahrheit oder normative Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein238: als
unentschieden oder moratorisch oder gar als unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das
Denken als argumentativen Dialog sind freilich die Verständigungs- und Begründungsfragen.
Deren Spektrum reicht von der einfachen Erläuterungsbitte, wie das Gesagte zu verstehen sei,
über die Forderung nach Angabe von Gründen für eine Behauptung bis zum sinnkritischen
Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Rede als eines prüfbaren Diskursbeitrags.
Es ist der letztgenannte, der pragmatisch kritische Fragetyp, der tief im Sokratischen Elenchos
angelegt ist, praktiziert er doch ein sinnkritisches Rückfragen, das den Proponenten bei seiner
Rolle als Diskurspartner packt – und letztlich die Vereinbarkeit seiner aktuellen These mit
dieser Rolle in Zweifel zieht.
Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten geht, sondern als trans- und
intersubjektives Erheben und Prüfen von Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen
Diskurs eröffnend oder fortsetzend, eignet ihm die eigentümlich reflexive und
horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon hat schon Sokrates schon einen
gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: wenn ein Elenchos zur Selbstaufhebung einer
These führt, indem er zeigt, daß sich eine Position nicht als Diskursbeitrag verstehen und
durchhalten läßt, dann handelt es sich um eine dialogpragmatische Sinnkritik. Diese radikal
kritische Option steht jedem Diskurspartner offen. Da jeder, der über etwas nachdenkt, den
dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur durchführen kann, indem er sich an den
Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die
Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er
mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken gegenüber Anderen und sich selbst hinsichtlich
seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation nachdenkt, provoziert er auch Fragen zweiter
Ordnung: sinnkritische Fragen, die sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer
dialogischen Handlung zur Einlösung der charakteristischen Geltungsansprüche beziehen.
Zum Beispiel kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage
auslösen, wie das Gesagte denn genau gemeint sei; und ‚mein’ Gegenüber kann ‚mir’
entgegnen: „diese Aussage(n) habe ich nicht verstanden“. Und die eigentlichen
Gültigkeitsansprüche auf Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der
implizierten Normen können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: „diese deine Behauptung
238
Vgl. K.E. Tranøy, in: D. Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986).
89
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
kann ich gar nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt
Geltungsansprüchen zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann
sie nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen
Dialog sinnlos ist.“
Solche typischen Diskursakte sind eben weder Ja-oder-Nein-Stellungnahmen noch
Urteilsenthaltungen, sondern fragende Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden
Ansprüchen seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung
des Opponenten über die Sache ins Spiel; vielmehr erinnern sie den Proponenten an seine
diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein
Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs
übernommen hat. Fragen dieser Art setzen den sozialen und daher normativ geladenen
Anerkennungs- und Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher und dessen These
in sein Recht. Uno actu machen sie – durch den normativen Basisgehalt der gemeinsamen
Institution Diskurs legitimiert und mandatiert – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher
geltend.
Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und
normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-undNein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer
zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe
‚ich’ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z.B. der Autor dieses Buches auf
Platon, Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen
Sie, meine Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen,
das meine Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte.
Inwiefern und warum? ‚Ich’ kann, wenn ‚ich’ etwas denke (oder ‚du’ etwas denkst), mich gar
nicht anders verhalten als so, daß ‚ich’ (resp. ‚du’) sowohl die Verstehbarkeit als auch die
mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche –
gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ‚ich’ rede, aber auch allen
möglichen Anderen gegenüber.
Wenn wir uns auf einen sinnkritischen sokratischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der
das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur
eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose
Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als
Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer
Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: ohne Verstehbarkeitsanspruch
90
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne
Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere
Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu
kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche
könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst.
Wir wüßten nicht, worüber wir mit wem diskutieren könnten. Eine Diskussion könnte es nicht
geben.
Nun müßten wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die
‚wir’ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und
warum ‚wir’ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen – auf alle möglichen
Argumentationssubjekte und deren Argumente müssen beziehen sollen.
Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen
gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch
damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich
ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß
du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer
teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch
mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also
beziehst
du
dich
implizit
auf
eine
empirisch
kaum
begrenzbare
reale
Kommunikationsgemeinschaft, z.B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch
gesprochen haben.
Dieser reale Traditions- und Gemeinschaftsbezug bildet die Sinn vermittelnde geschichtlich
pragmatische Dimension, die die Rede immer schon im Rücken hat: Etwas als etwas
Bestimmtes meinend bzw. sagend, zehren wir von dem lebensweltlichen Hintergrund
tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns.239 Als Mitglieder einer umgangsund bildungssprachlichen, real geschichtlichen Kommunikationsgemeinschaft oder mehrerer
Sprachgemeinschaften, schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das die Sprecher
ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit ihnen sind wir unausdrücklich
verbunden; sie begleiten uns als unsere impliziten Mitsprecher, wenn wir laut oder leise
reden, in Gespräch oder Selbstgespräch, vom Assoziieren bis zum Argumentieren.
So
ergibt
sich
schon
aus
diesem
Grund,
nämlich
aus
der
geschichtlichen
Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und Etwas-Denkens, auf die der
rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer,
239
D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S.360ff.
91
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Apel) aufmerksam machen, daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer
Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit
Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt:
Auch wenn unsere Gedanken überhaupt nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind
sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart
bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich
mit Apel als „das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“240 einer intersubjektiven
Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als
„das Prinzip der Wirkungsgeschichte“241.
Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem
„apriorischen Perfekt“ (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß
ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung
begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses
Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu
suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die
nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt
veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei
von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die
syntaktische
240
241
und
die
umgreifende
pragmatische,
weiter
differenziert.
Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 338ff, 397-435, 178-219 und Transf. d. Philos., I (1973),
S. 22-76.
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1965), S. 250-290, 324-395.
92
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-Etwas-Redens bzw. Etwas-Denkens
dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u.
Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“
S2, 3, ...
referentiell-semantische Dimension:
Situations- bzw. Sachbezug
pragmatisch-semantische Dimension:
Wortgebrauch
Z
Z
SxÆ∞
Z
Syntaktische
Dim.∗
Sit
Z
S1
Z
Sn, n 1, n 2, ...
geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlich-kulturellen
Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“
Erläuterungen:
Sit
Z
S1
Situation bzw. Sache
Sprachzeichen
Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug
darauf handelndes) Subjekt
faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft,
auf die sich S1 bezieht
S1 _____________ Z
pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendung eines
Sprechers/Denkenden
dialogisch-pragmatische Dimension der Voraussetzung bzw. Erhebung
S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞
und Prüfung von Geltungsansprüchen im Diskurs
S2, 3, ...
Z .............................. Sn, Sn1, n2 ...
geschichtlich-pragmatische Dimension der Traditionsvermittlung und
Institutionalisierung von Sinn
Sn, Sn1, n2 ...
lebensweltliche Sprach- und Kulturgemeinschaft, von der jeder schon
Sinn und Bedeutung übernommen hat
∗
Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher
Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) nur in Bezug auf andere verständlich ist.
93
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
S xÆ ∞
kontrafaktische Argumentationsund Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ...
94
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele
ist die, in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der „geschichtlich-pragmatischen SinnDimension“ von der „dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension“ von besonderer
Bedeutung. Denn beide Begriffe verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen
Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der sich jedoch auf den anderen Aspekt intern
bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende bzw. als Diskursteilnehmer Geltung
beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne den Kontext einer realen
Sprach- und Traditionsgemeinschaft, aus der sie erst den sprachlichen Sinn und die
Wortbedeutung
beziehen.
Umgekehrt
müßte
die
sprachgemäße
Wortverwendung,
Sinnübernahme und Sinnschöpfung in Sprechakten blind und rechtfertigungsunfähig, also
bloß willkürlich oder gänzlich heteronom bleiben, wären sie nicht verknüpft mit tragenden
Geltungsansprüchen, hinsichtlich derer die Behauptungen (und die als sinnvoll etc.
behaupteten Fragen), überprüft werden könnten.
Den von einer Rede nicht abzuziehenden Geltungssinn, der den Mitdenkenden, darunter dem
Sprecher selbst, erst das Mandat der Kritik vermittelt, hat Platon zweifellos gedacht – so im
Begriff des richtigen Logos (ορθός λόγος, orthos logos) und im Begriff der Idee. Nicht zuletzt
damit hat er dem europäischen Denken einen kritischen Impetus, ja eine kritische Gesinnung
übermittelt. Doch siedelt er diese, die Denkenden zur Kritik seines Etwas-Meinens und Sagens anhaltenden Begriffe einfach in der Beziehung des Denksubjekts auf den gedachten,
und zwar intelligiblen Gegenstand an – übertragen auf unser semiotisches Schema: in der
metaphysisch überhöhten referenzsemantischen Dimension der reinen Strukturen und Muster
bzw. „Paradigmen“. Damit verdeckt er „das eigene Wesen der Sprache“ (Gadamer)
gründlich.242 Wieso? Er ignoriert den zweifachen Gemeinschaftsbezug der Sprache als Rede,
genauer: das zwiefache soziale, dialogische, daher mehrstellige Verhältnis zwischen einem
Denk- bzw. Redesubjekt und anderen solchen Subjekten. Es ist eingelagert in den Sachbezug
des Denkens/Redens, und es trägt diesen, indem es sowohl Bedeutung als auch Geltung
ermöglicht.
Sein Modell ist nicht die Teilnahme an einer Gemeinschaft und deren Diskurs, es ist das je
einsame Schauen eines Bildes bzw. eines Musters oder der Gestalt eines herzustellenden
Dinges, so wie er es im X. Buch der „Politeia“ am Handwerkermodell erläutert.243 Geleitet
und verführt vom Schein der theoria-Metapher, die das Etwas-Denken nicht als
Verständigung über Sinn und als Kooperation über Geltung (Wahrheit und Richtigkeit),
242
243
So H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 385.
Platon, Politeia, 595 c 7 - 597.
95
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
sondern als einsam mögliches Erschauen unterstellt, verharrt Platon in einer Subjekt-ObjektRelation, die als solche bloß zweistellig ist.
Infolgedessen überspringt Platon neben der Sinnbeziehung des Gesagten auf eine reale
geschichtliche Kommunikationsgemeinschaft auch die Geltungsansprüche eines Gedankens
als Diskursbeitrag, also die Geltungsbeziehung einer Rede auf das ideale Diskursuniversum.
Dieses ist freilich ein regulatives Prinzip: Inbegriff eines Diskussionsforums, auf dem einzig
sinnvolle Diskursbeiträge zählen würden und wo alle, samt und sonders alle, sinnvollen
Argumente zur Sache die gehörige Berücksichtigung fänden. Wer an die ewigen Seins-Ideen
glaubt und vermeintlich den Zugang zu ihnen besitzt, bedarf einer solchen regulativen, daher
zur Selbstkritik auffordernden Geltungsinstanz nicht. Er ist sich des Wahrheitsbesitzes sicher.
96
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
III
Diskurs und Begründung im Spannungsfeld von Seinsschau, SelbstBewußtsein und Kommunikationsreflexion.
4
Die klassische Metaphysik
Hinter Platons handwerklichem Produktions- bzw. Poiesismodell verbirgt sich seine
Metaphysik
des
geistigen
Sehens
der Ideen,
der
Bauformen
der
Dinge.
Sein
Handwerkermodell ist gewissermaßen die technisch handfeste Außenseite seiner spekulativen
Kosmostheoria. Seine monologistische, ja methodisch solipsistische Deutung der technischen
Tätigkeit und der Erkenntnistätigkeit führt ihn dazu, die einsame theoria an die Stelle des
kommunikativen Diskurses zu setzen – oder den philosophischen Diskurs als einsam geistige
Schau zu denken.
4.1
Platon
Über einen Zeitraum von weit mehr als zwei Jahrtausenden hat Platons Entscheidung für
einsame Theorie gegen kommunikative Argumentation und damit auch für eine Reflexion in
theoretischer Einstellung anstelle einer Besinnung auf Diskursvoraussetzungen in dem je
geführten Dialog das abendländisch mittelmeerische Denken, die europäische und über diese
auch die moderne Philosophie in der Welt geprägt. Sie tat dies direkt und indirekt, nämlich in
Nachvollzug, aber auch in der Kritik. Der tiefen Wirkung dieser Grundentscheidung können
wir vielerorts begegnen, naturgemäß innerhalb des ontologisch metaphysischen Paradigmas,
aber auch im bewußtseinsphilosophischen Paradigma und in der widergängerischen Rhetorik,
ja sogar – wir haben es schon bemerkt – inmitten des kommunikationsbezogenen Paradigmas.
4.1.1
Metaphysik, Logos und Ideen
Die Entdeckung des Allgemeinen und Platons Ideenlehre
Was in der Metaphysik (als geistig-abendländischer Spekulation über das ‚Ganze’, den
Inbegriff des Wirklichen und Erkennbaren, die in der Einstellung eines ,geistigen Sehens’ und
tendenziell auf einem Gottesstandpunkt vorgenommen wird) weist hinaus über diesen
spekulativen Horizont mit sinnlosen, argumentativ nicht einholbaren Annahmen?
Die Entdeckung des Logos als des begrifflichen und des transzendental erfragten Allgemeinen
(a) und
(b) des Dialogs und der argumentativ dialogischen Methode, seit Platon meist „Dialektik“
genannt, als dem Weg der Untersuchung bzw.
97
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
[µέθ/οδος -> Weg, Gang, Fortgang,
µετά : in, zwischen, durch, gemäß]
der Verfahrensweise, den richtigen Logos zu finden und zu erkunden.
Die Was-ist-Frage als Anfang von Erkenntnis und Wissenschaft.
Das Allgemeine und Geltungsbezogene in der Metaphysik oder: metaphysica generals als
Suche nach dem Logoshaften, das dem wahrgenommenen mal besprochenen bzw. benannten
Vielen und Besonderen gemeinsam ist; und zwar so, dass es uns die Möglichkeit gibt, jenes
Viele als ein Eines zu Verstehen, indem wir einen Begriff dafür verwenden: die vielen
Erscheinungen als etwas zu bestimmen, das von ein und derselben Art ist, so dass wir in dem
Vielen Eines erkennen.
Eben danach fragen Sokrates und Platon mit der Was-ist-Frage, z. B.
Was ist die Tapferkeit?
(Laches)
Was ist die Besonnenheit?
(Charmides)
Was ist die Frömmigkeit?
(Euthypron)
Was ist die Tugend?
(Menon)
Was ist die Episteme?
Theaitetos
Was ist das Sein?
Sophistes
Der beste Logos gilt Sokrates als Resultat eines argumentativen Dialogs, Platon hingegen als
Ausdruck einer Idee, d. h. als Resultat einer Dialektik, deren Erkenntnisweise als geistiges
Sehen bestimmt wird.
Die Antwort auf die Was-ist-Frage besteht in einem Logos. Diesen bestimmt Sokrates als das
beste Argument, das sich ihm beim Logizesthai oder Dialegesthai als der am besten
begründete herausstellt (z. B. Kriton, 46b).
Platon bestimmt ihn als Wiedergabe einer Erkenntnis, die im Sinne eines geistigen Sehens die
Idee (Aussehen, Gestalt, reine Form, Struktur) eines Seienden, z. B. die geometrisch
definierbare und konstruierbare Schau als Bewegungsform des Kosmos, zum Gegenstand hat
– oder das Paradigma (Muster, Vorbild) eines Verhaltens bzw. Handelns der Vernünftigen.
98
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Die Dialektik als Umkehrungstechnik und ihr kosmostheologischer Hintergrund
Wenn wir den Hintergrund der Ideenlehre und der Dialektik näher betrachten, bemerken wir,
daß es nicht
einfach ein ontologischer, sondern zugleich ein kosmostheologischer
Hintergrund ist. Martin Heidegger hat von der Ontotheologie Platons gesprochen.7 Etwa in
diesem Sinne reden wir von Platons Vernunft als einer Kosmosvernunft, das heißt von dem
nous als innerem Auge der Seele, das nicht das Vergängliche, Leibhafte und SinnlichErscheinende wahrnimmt, sondern das Immer-Seiende, Göttliche und als Kosmos Sichtbare:
die vollkommene, weil autarke, das heißt selbstgenügsame und in sich ruhende
Bewegungsform des Kreises und dadurch die ewig selbige, göttliche Wohlordnung des
wahren Seins. Der menschliche nous ist aber nur ein unvollkommenes Abbild des göttlichen
nous: von diesem sagten schon Homer und Hesiod, er sei das alles zugleich sehende Auge
des Zeus; der Sänger und Dichter Xenophanes - der als Begründer der „Eleatischen Schule"
gilt, die über Parmenides erheblichen Einfluß auf Platon ausgeübt hat - lehrt von Gott: „Er ist
als ein Ganzer nous."8 Dieser göttliche nous durchwaltet das All und verleiht ihm die ewige
Kreisform, so daß es eine Wohlordnung, ein unwandelbarer Kosmos ist.
Zwar hatte, wie wir andeuteten, diese Kosmostheologie seiner Zeit schon Tradition.
Auch ist die Kosmosfrömmigkeit im klassischen wie noch im späten Griechentum
(Stoa!) tief verwurzelt. Aber ein spekulatives Denken in diesem Rahmen, das ein für
das menschliche Auge unsichtbares, ewiges Wesen des Seienden annimmt, steht völlig
quer zum griechischen Gemeinsinn. Deshalb fordert Platon wie schon Parmenides eine
radikale Umkehrung des normalen Bewußtseins. Denn diese sei die Eingangsbedingung
des Philosophierens. Er charakterisiert die Dialektik sogar als die Kunst (téchnē) der
Umwendung (periagogē) des Bewußtseins von der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren
zur Welt der Ideen; denn der philosophisch ungebildete Mensch nehme bloß die sinnlichen
Erscheinungen wahr, weil er eng an die Leibhaftigkeit und den Horizont der
Sinneswahrnehmung gebunden sei.
Diese Lage drückt Platon im „Staat" durch das Bild einer unterirdischen
Höhlenexistenz aus: Die natürlichen, ungebildeten Menschen lebten gleichsam
gefesselt in einer Höhle, in der ein Feuer brennt. Sie seien nur fähig, die Schatten der
Geräte und Bildsäulen, die hinter ihrem Rücken im Feuerschein vorübergetragen
würden, wahrzunehmen. Diese ihnen vertrauten Schattenbilder hielten sie „für das
Wahre" (514a-515c).
7
8
M. Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen 1957, S. 35 ff., bes. S. 55.
Homer: Ilias 16, 688; Hesiod: Theogonie 267; Xenophanes: Fragment B 24. In: H: Diels: Die
Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 19.
99
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Man müsse sie erst entfesseln und dazu zwingen, „aufzustehen, den Hals
herumzudrehen, hinauszugehen und gegen das Licht zu sehen". Das aber bereite ihnen
wegen des flimmernden Glanzes Schmerzen und würde sie ganz verwirren, so daß man
sie nur „mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang" schleppen
könne, bis sie „an das Licht der Sonne gebracht" wären, wo sie aber zunächst nur
geblendet seien und nur Schatten erkennen könnten. Erst durch Gewöhnung kämen sie
dazu, die Dinge selbst und zu allerletzt die Sonne zu sehen. So könnten sie schließlich
begreifen, „daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft, und alles ordnet in dem
sichtbaren Raume, die gewissermaßen auch die Ursache dessen ist, was sie darin
sehen" (515c-516c). Die Sonne aber, die sie zuletzt und nur mit Mühe erblickten, sei
die Idee der Ideen, nämlich die Idee des Guten. Platon bestimmt sie zweifach: als
Ursache des wahren Seienden sowie als Quelle der Wahrheit und der besonnenen
Praxis (517 b und c).
Mit der Annahme der Ideen und der Idee des Guten macht Platon eine zweifache
Unterscheidung, die zugleich ontologisch und erkenntnislogisch ist, also zugleich die
Seinslehre (Ontologie) und die Erkenntnislehre betrifft:
-
zwischen dem leibhaft zeitlichen Sein der sinnlich erfahrbaren Welt und dem
göttlich ewigen Sein der geistig erschaubaren Ideen,
-
zwischen dem Sein überhaupt und der Idee des Guten, die jenseits des Seienden ist:
sowohl als der Ursprung der Existenz wie auch als Grund für die Erkennbarkeit des
Seins.
Die Unterscheidung von Ideenwelt und Sinnenwelt
PLATON unterscheidet die Sinnendinge, die wir durch sinnliche Wahrnehmung
erfahren, von den Ideen, die wir durch intuitive Vernunft (nous), durch eine Art
geistigen Sehens oder intellektueller Anschauung erfassen. Er geht also davon aus, daß
zwei verschiedene kognitive Leistungen - die er freilich beide nach dem Modell des
„Sehens“ versteht - zwei verschiedene Wirklichkeiten erschließen: das Reale und das
Ideale. Zwischen beiden Wirklichkeitsbereichen bzw. Seinsarten verläuft eine scharfe
Trennung. Man hat oft von der Zwei-Welten-Theorie Platon gesprochen. Aber eine
radikale dualistische Deutung dürfte verfehlt sein; denn er geht von der Vermittlung
des Real-Seienden mit den Ideen aus. Seine Ideenlehre behauptet nämlich, daß alles
100
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Real-Seiende an den Ideen teilhat und daß erst diese Teilhabe der Grund dafür sei, daß
etwas ist und zugleich, warum etwas so ist, wie es ist.
Diese Lehre von der Teilhabe (méthexis) führt Platon dann im „Phaidon“ und im
„Timaios“ dazu, die Ideen als den eigentlichen Grund des Seienden bzw. als die
eigentliche Ursache des Seienden zu charakterisieren. Freilich betont er, das sinnlich
wahrnehmbare Real-Seiende habe nur abbildhaft an den Ideen teil. Die Ideen seien die
Urbilder (Paradigmen) des Real-Seienden und damit auch das eigentlich Seiende.
Schema 1: Die altgriechischen onto-theologischen Unterscheidungen Homers und
Hesiods
Menschen
Gott bzw. Götter
Unterscheidungsebenen
Zeitlich seiend
eingespannt zwischen Vergangenheit
und Zukunft
immer seiend
wahres Sein in ewiger
Gegenwart
onto-theologisch
Wissen bloß vom Hörensagen und
durch sinnliche Wahrnehmung
(Scheinwissen)
alles sehend,
alles wissend
epistemologisch
(erkenntnistheoretisch)
Leib,
Seele u.
menschlicher nous
reiner, absoluter
nous
epistemologisch und
psychologisch
Die Unterscheidung zwischen dem wahren Sein (Ideen) und der Idee des Guten
Wie können nun das sinnlich nicht wahrnehmbare Wesen des Welthaft-Seienden (die Ideen)
und die - in der menschlichen Handlungswirklichkeit ebenfalls nicht erscheinenden Vorbilder der Tugenden erkannt werden?
Das Sonnengleichnis der „Politeia" gibt darauf die Antwort: Wie das Sonnenlicht die
beschienenen Dinge für das menschliche Auge sichtbar macht, so mache die Idee des Guten
das unsichtbare Wesen und damit die verborgene Wahrheit des Seienden offenbar. Aber
damit ist die Sonnen-Analogie noch nicht ausgeschöpft. Platon zieht auch die Wirkung der
Sonne auf die Natur heran. Die Sonne verleihe „dem Sichtbaren nicht nur die Möglichkeit,
gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung". Ebenso könne
man sagen, daß das Gute nicht nur Erkenntnis ermögliche, sondern auch „das Sein und das
Wesen" bewirke. Die Idee des Guten ist also sowohl der letzte Grund für die Erkennbarkeit
wie auch die erste Ursache für das eigentliche Sein, für die Form und den Bestand. Eben
101
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
deshalb nennt PLATON die Idee des Guten „Göttlich"; denn sie ermöglicht die Erkenntnis
der für das bloße Auge unsichtbaren Strukturen, die dem welthaft Seienden Bestand
verleihen, und die Erkenntnis der idealen Vorbilder (Paradigmen), durch die erst ein
heilsamer und nützlicher Gebrauch der Normen, Werte und Tugenden möglich wird.
Die praktisch-philosophische These der Ideenlehre lautet also:
Erst die Idee des Guten, also die Einsicht in das wahrhaft und an und für sich Gute, das nicht
etwa als Mittel für anderes, sondern um seiner selbst willen erstrebenswert ist, ermöglicht die
richtige Beurteilung und den heilsamen Gebrauch von Normen, Tugenden, Werten und
Lebensgütern.
Wir haben soeben Grundzüge der Ideenlehre rekonstruiert, die eindeutig spekulativ
metaphysisch
sind,
aber
hinausweisen
und
in
wirkungsgeschichtlich über diesen spekulativen Rahmen
den
Paradigmen
der
Erkenntniskritik
wie
auch
der
Kommunikationsphilosophie – darauf stößt man allenthalben – eine grundbegriffliche
Bedeutung erlangen konnten. Zur Abrundung einer Interpretation der Ideenlehre aus dem
Höhlengleichnis möchte ich Sie mit Walter Bröckers immanent ansetzendem Kommentar
bekanntmachen:
„Wir Menschen leben wie in einer Höhle. Das, womit wir alltäglich umgehen und was wir
ganz selbstverständlich das Seiende nennen, ist in Wahrheit nur ein Schatten und gar noch ein
Schatten von Nachbildungen der Dinge. Der Alltagsverstand will sich nur schwer einreden
lassen, dass diese ihm so vertraute Welt nicht die wahre Welt sei, sondern dass es etwa in
Wahrheit nur die Atome und das Leere gäbe, wie Demokrit lehrt, nach dessen Meinung das
für gewöhnlich für das Seiende Gehaltene nur geltungsweise (νόµω) ist, d. h. nur als Seiendes
gilt, ohne es doch zu sein. Entsprechendes gilt auch für die pythagoreische Astronomie. Die
Bewegungen der Planeten, die wir unmittelbar am Himmel beobachten, sind nicht ihre
wahren Bewegungen, sondern eine durch den Standort des Menschen bedingte Perspektive,
von der her wir erst auf die wahren Bewegungen zurückschließen müssen.
Bei dem Versuch, das zu tun, wurden schon die Griechen bis zum heliozentrischen
System geführt, und Kopernikus kannte seine Vorgänger. Aber in einer Hinsicht ist die Lage
heute anders als damals. Damals erschien die Wahrheit der Wissenschaft höchst
unglaubwürdig gegenüber der ungeheuren Autorität der davon abweichenden Alltagswelt.
Heute dagegen hat die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, eine solche Macht
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
über unser Leben und eine solche Autorität gewonnen, daß wir geneigt sind, unsere
Alltagswelt für nichts anderes zu halten als für das Weltbild einer etwas zurückgebliebenen
und noch sehr unvollkommenen Wissenschaft.
Daß sie das nicht ist, sondern etwas Ursprüngliches und Reiches, aus dem die Welt der
Wissenschaft ein höchst künstliches Abstraktionsprodukt ist, haben wir erst neuerdings,
besonders seit Heidegger, zu bedenken gelernt.
Daß aber die von den Griechen neu gefundene Welt der Wissenschaft, die für sie eine
Errungenschaft war und etwas, worauf sie stolz waren, doch noch nicht das wahrhaft Seiende
sei, daß man noch über sie hinausgehen müsse zu dem, was Plato die Ideen nennt, dass erst
dieser Übergang die wirkliche Befreiung bedeutet, das drückt das Gleichnis aus.
Nachdem Sokrates das Gleichnis von der Höhle erzählt hat, gibt er selbst die Deutung:
die Welt der Schatten in der Höhle ist die sinnliche Welt, der Aufstieg nach oben aber ist der
Weg der Seele in den intelligiblen Raum (τόπος). Die Idee des Guten ist das, was in diesem
Bereich zuletzt und nur mit Mühe gesehen wird. Wer sie aber sieht, der muß auch schließen,
daß sie für alles die Ursache des Richtigen und Schönen ist, daß sie im Bereich des Sichtbaren
die Helligkeit und ihren Herrn, die Sonne, erzeugt hat, im intelligiblen Bereich aber selbst als
Herrin Wahrheit und Vernunft gewährt, daß diese also sehen muß, wer in privaten oder
öffentlichen Angelegenheiten einsichtig handeln will (517c.)
Wenn nun (so erklärt Sokrates weiter) der Seele der Aufstieg zu der höchsten Höhe
der Idee des Guten gelingt, dann ist es kein Wunder, daß diejenigen, die bis dahin gelangt
sind, keine Neigung haben, sich wider mit den menschlichen Angelegenheiten abzugeben,
sondern mit der Seele immer dort oben verweilen möchten. Wenn sie sich aber doch
zurückwenden, dann werden sie eine ebenso schlechte Figur machen wie im Höhlengleichnis
die Befreiten, die in die Höhle zurückkehren. Sie, die die Idee der Gerechtigkeit geschaut
haben, sollen jetzt streiten über ihre Schattenbilder, und dazu mit solchen, die die Idee nie
gesehen haben (517d).
Aus dem Gesagten folgt, daß die gängige Vorstellung über die Paideia falsch ist. Man
meint nämlich, man könne jemand, in dessen Seele kein Wissen ist, das Wissen einsetzen, als
könnte man blinden Augen das Sehvermögen einsetzen. Vielmehr ist schon in jeder Seele ein
der Sehkraft des Auges entsprechendes Vermögen vorhanden; wie man, damit einer sehe, der
die Sehkraft besitzt, das Auge mitsamt dem ganzen Leibe aus dem Dunkel in den hellen
Raum bringen muß, so muß entsprechend das Denvermögen zugleich mit der ganzen Seele
aus dem Raum der metaphysischen Dunkelheit, d. h. der Region des Werdens, herausgeführt
103
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
werden, bis er beim Seienden und beim Glänzendsten darunter auszuhalten gelernt hat, dem
Guten nämlich. Solches leistet die Kunst der Umwendung (περιαγωγή 518d). Die periagogē
zielt darauf ab, die Denkkraft „so umzuwenden, daß sie vom Sinnlichen abgewendet wird. Es
ist nach Plato dieselbe Denkkraft, mit der wir erkennen, daß Sokrates gerecht ist, und mit der
wir das Wesen der Gerechtigkeit selbst und als solches erblicken. Aber nur im letzteren Falle
betätigt sie sich im Raum der metaphysischen Helligkeit und bringt daher wirkliches Wissen
hervor, im anderen Falle aber tappt sie im metaphysisch dunklen Raum des Werdens und
bringt nur Meinung hervor.“244
Erstaunlicherweise kommt der späte Platon nicht mehr auf seine anfängliche Begründung der
Ideenlehre zurück, auf sein fast transzendentalphilosophisch anmutendes Konzept der
Ideenerkenntnis durch eine methodisch angeleitete Wiedererinnerung, die in der
Philosophiegeschichte,
insonderheit
im
Paradigma
der
transzendental
fragenden
Erkenntniskritik, große Karriere gemacht hat.
4.1.2 Platons strukturale theoria-Ontologie oder: Vom Diskurs zur einsamen Ideenschau,
vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären Kosmos-Polis-Mythos.
Seit dem mittleren Platon – klassisch im „Menon“ – entwickelt Platon eine spekulative
Dialektik. Sie soll kognitive und moralische Intuitionen zu Bewußtsein bringen und in ein
begriffliches Wissen transformieren. Ihr Kernstück ist die Erinnerungslehre der Seele.
Geleitet von einer Dialektik als Technik des Fragens (nach dem wahren, ewigen Seienden)
und des Antwortens (als Formulieren von Ideen), könne der vernunftbegabte Teil der Seele
sein implizites Vorwissen wieder erinnern (Anamnesis), es dabei explizieren und in Besitz
nehmen, indem er es in die Form des Logos bringt, also dessen Gehalt auf Allgemeinbegriffe
bringt, genauer: auf Begriffe mit Kriterienfunktion.245 Im „Phaidon“ begründet Platon die
Anamnesis-Lehre ausdrücklich. Er verweist auf die Wiedererinnerung der von der Seele vor
der Geburt eines leibhaften Individuums geschauten Urgestalten des Seienden. Durch eine
Reflexion auf notwendige Idealisierungen in einer faktischen Erkenntnis will er zeigen: wir
wissen immer schon mehr, als wir in der Sache und ausdrücklich wissen. Denn wer z. B.
gleiche Holzstücke sehe, der wisse im Grunde auch, daß diese nur annähernd, nicht aber
vollkommen gleich sind. Wie aber könnte man das in der Erfahrung Gegebene als defizient
244
W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967, S. 283-285.
245
Vgl. G. Martin, Einleitung in die allgemeine Metaphysik, Stuttgart 1974.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
gleich, gut, seiend usw. erkennen, besäße man nicht ein „Vorwissen“ (προειδέναι, proeidenai)
von dem, was vollkommen und an sich gleich, gut, seiend usw. ist. Dieses Wissen vom
Vollkommenen könne nicht aus der sinnlichen Erfahrung stammen, vielmehr liege es ihr
zugrunde – als ein Maßstab-Wissen a priori.246
Allein mit Bezug auf die Ideen, gewissermaßen im Vergleich mit den Ideen, könne das
sinnlich Gegebene als defizient gleich, als defizient gut oder groß oder gerecht erkannt
werden. In dieser These steckt die erste Gruppe von Prämissen der Ideen- und AnamnesisLehre. Genaugenommen macht Platon hier drei Voraussetzungen: Einmal die eidetische
Gleichsetzung von Erkennen und Sehen, von Etwas Erkennen mit dem Sehen einer Gestalt
bzw. Firn demgemäß die Gleichsetzung begrifflichen Wissens und Kriterien-Wissens (bzw.
Vorwissens) mit dem Gesehenhaben einer Form, Proportion oder Gestalt. Damit verwebt er
ganz unausdrücklich und vermutlich auch unbewußt naiv die vorkommunikative
Unterstellung, daß einer für sich alleine ein kriteriales Wissen haben könne. Diesem
methodischen
Erkenntnis-Solipsismus
liegt
ein
ebensolcher
Solipsismus
des
Verstehenkönnens bzw. Regelfolgens zugrunde. Es ist das die – dritte – Voraussetzung: einer
könne überhaupt prinzipiell alleine – eben aus der je eigenen Seele – Sinn und Bedeutung
besitzen, ohne daß darüber eine Verständigung in einer realen Gemeinschaft (als Bedingung
der
Möglichkeit
solipsistischen
intersubjektiver
Unterstellungen
Beziehungen)
sind
typisch
erforderlich
für
die
sei.
Diese
klassische
eidetisch-
Sprach-
und
Erkenntnisauffassung: den Sinn der Rede versteht sie gegenstandstheoretisch, die Funktion
der Sprache sieht sie in der Beziehung von Dingen, und den Erkenntnisvorgang deutet sie
nach dem Muster des – wiederum vorsemiotisch, ganz unmittelbar genommenen – Sehens
von Dingen. Diese Annahmen haben sich tief ins abendländische Denken eingesenkt und
werden uns immer wieder begegnen.
Fragt man nun, wie Menschen ein Wissen der Ideen erhalten haben können, so antwortet
Platon darauf mit einem Mythos, einer spekulativen Erzählung, die eine (für hellenische
Kosmosfromme) plausible Vorstellung vermittelt. Das leistet der Mythos von der Präexistenz
der Seele vor ihrer Einkörperung in den Menschen. Die Voraussetzung dieses Mythos
entzieht sich freilich einer Prüfung im Diskurs. Es sind die Glaubensannahmen, daß ein
Dualismus von Seele und Leib bestehe und daß die Existenz der Seele nicht an die des Leibes
gebunden sei. Diese Seelenmetaphysik bildet den Kern der zweiten Prämisse, aufgrund derer
Platon das Problem zu lösen versucht:
246
Vgl. L. Oeing-Hanhoff, Art. „Anamnesis“, in HWPh, Bd. 1 (1971), S. 263.
105
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Wie ist ein kriteriales begriffliches Wissen, ein Wissen von Ideen möglich?
1. Prämisse: Das kriteriale eigentliche Wissen ist ein Erinnern an die Schau der Urgestalten /
Strukturen des Seienden.
2. Prämisse: Der Ort jenes Wissens ist die Seele als unabhängig vom Leib.
Conclusio: Das Ideenwissen kann der Mensch nicht aus seiner jetzigen und sinnlichen
Erfahrung gewinnen, sondern nur dadurch, daß er ein Vorwissen als „Zuvorgesehenhaben“
der Ideen hat, und zwar vor seiner Geburt: dank seiner Seele, die die Ideen bereits geschaut
hat. Daran muß er sich nur wieder erinnern. Wenn man z. B. das Bild des Simmias sehe, dann
-
erinnere man sich an den wirklichen Simmias247,
-
zugleich bemerke man, daß das Bild in der Ähnlichkeit hinter der wirklichen Gestalt
des Simmias zurückbleibe248,
-
und dieses Vergleichen des Abbilds mit dem Original sei nur möglich, weil die Seele
„das Gleiche“, „das Vollkommene“ bzw. „das Eigentliche“ schon einmal gesehen
habe, denn ein solches Struktur-, Urgestalt- bzw. Ideen-Wissen könne sie nicht aus der
sinnlichen Erfahrung – z.B. der Anschauung des Bildes ‚Simmias vor dem Haus bei
der Begrüßung von…’ – haben, doch benötige sie es dazu.249
Mit diesem Schluß, der Platon selbst nicht recht zu befriedigen scheint, springt er in einen
Mythos – den einer Präexistenz der Seele. Er nimmt einfach an, die Seele habe jeweils vor der
Geburt eines Menschen (d.h. vor ihrer Einwohnung in einen Leib) jene Erkenntnis von „dem
Gleichen“ etc. empfangen. Und so hätten wir auch „schon vor und bei dem Akte der Geburt
[erkannt] sowohl das ‚Gleiche’ und das ‚Größere’ und das ‚Kleinere’ als auch die ganze Fülle
solcher Wesenheiten.“
An der zitierten Stelle erweitert Platon die Reihe der vorgewußten Begriffe mit
Kriterienfunktion zugleich auf die Gebiete der Ästhetik und der Ethik, die er (als
Kosmostheologe) nicht nur nicht trennt, sondern die er (als Pythagoräer) auch nicht von der
Mathematik und Geometrie scheidet, weil er diese als Wissenschaft von den Proportionen des
Kosmos versteht. So fährt er fort: „Nunmehr steht bei unserem Gespräch genau so wie das
‚An-sich-Gleiche’ im Vordergrunde auch das ‚An-sich-Schöne’, das ‚An-sich-Gute’ und das
‚Gerechte’ und das ‚Fromme’ und, wie ich meine, alles, dem wir das Siegel des ‚an-sich’
247
248
249
Platon, Phaidon, 73 e 6 - 10.
Ebd., 74 a 5 - 7.
Ebd., 75 c 4 - d 5.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
aufprägen bei der Bewegung de Gedanken, in der Red und Antwort stehen. So ist der Schluß
notwendig, daß wir von alledem ein Wissen bereits vor der Geburt empfangen haben“.250
Platon kann dem, als „Idee“ bestimmten, richtigen Logos zugleich den ontologischen Rang
einer Seinsstruktur und den transzendentalen Stellenwert einer internen Erkenntnisbedingung
zumessen. Denkt er etwa ontologisch und transzendentalphilosophisch in einem? Jedenfalls
hat Kant mit Blick auf das Problem der synthetischen Erkenntnis a priori Platon gewürdigt,251
wenngleich er dessen „mystische Deduktion der Ideen“ als ontische Hypostasierung
verwarf.252 Ihm dem kritischen Transzendentalphilosophen, der nach den Bedingungen der
Möglichkeiten der Erkenntnis im Erkenntnis-Subjekt
fragte und als solche die reinen
Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und die regulativen Vernunftideen rekonstruierte,
mußte Platon ontologisches Ideenkonzept als schwärmerisch und dogmatisch erscheinen.
Doch konzediert er, daß die überschwenglich hypostasierende Sprache Platons „einer
milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist“.253
Eine solche rettende Auslegung gibt der Begründer der Transzendentalpragmatik, Karl-Otto
Apel, in metaethischer Hinsicht: „Die Ideen des Guten, Schönen, Gerechten, der Tugend usw.
sind
nach
Platon
[…]
das
‚wahrhaft
Seiende’,
im
Unterschied
zu
den
Erfahrungsgegenständen, die immer nur vorübergehend und in einer bestimmten Hinsicht gut,
schön, gerecht, tugendhaft usw. sein können. Eben durch diese ontologische Unterscheidung
hat Platon jedoch erstmals die gedankliche Voraussetzung auch für die Unterscheidung
zwischen den Normen und beschreibbaren Tatsachen des menschlichen Handelns geschaffen.
Die modernen – nicht mehr metaphysisch-ontologischen – Unterscheidungen zwischen
Fakten und Normen, zwischen (erfahrbarem) Sein und (aufgegebenem) Sollen, zwischen
Realität und Ideal und die wichtige Einsicht, daß das eine nicht auf das andere zurückgeführt
zu
werden
vermag,
können
und
müssen
als
Abwandlungen
der
Platonischen
Grundunterscheidung zwischen der sinnlich erfahrenen Realität und den Ideen begriffen
werden. Kurz: ohne den Platonischen Begriff der ‚Ideen’ ist auch der moderne Begriff der
‚Normen’ nicht zu verstehen. Darin liegt die bleibende Bedeutung des Platonischen
Idealismus gerade für ein Denken, das sich ethischen Idealen als ‚regulative Prinzipien’
(Kant) unterstellt. […] Die bleibende Bedeutung des Platonischen Idealismus wird jedesmal
dann besonders deutlich, wenn Philosophen im Namen eines Naturalismus oder
Materialismus
250
251
252
253
den
Anspruch
einer
ethisch
engagierten
Kritik
an
bestehenden
Platon, Phaidon, 75 c 7 - d 5; nach der Übersetzung von Franz Dirlmeier.
I. Kant, KrV, B 370f.
I. Kant, KrV, B 371, Anm.
Ebd.
107
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Gesellschaftsordnungen erheben. Denn, wie recht sie auch immer mit ihrer Entlarvung der
materiellen, z. B. ökonomisch bestimmten >Interessen als Ursachen realer gesellschaftlicher
Zustände haben mögen: ihre eigene Kritik an diesen Zuständen und ihr Engagement im Sinne
einer Veränderung der bestehenden Zustände haben gar keinen Sinn, wenn sie nicht auch
Ideen, regulative Prinzipien oder Normen voraussetzen, die die vorfindbare Realität
überschreiten. Denn allein aus den feststellbaren Tatsachen dieser Realität, aus den Tatsachen
dessen, was ist, kann niemals eine Norm, die besagt, was sein soll, abgeleitet werden. Wie
leicht aber wird dieser Fehlschluß [… ein naturalistischer Fehlschluß] immer wieder
begangen!“254 In der Tat: Wie oft wird in Publikationen und Diskussionen die von Platon
nahegelegte Unterscheidung zwischen Norm und Tatsache übersprungen.
In Kantischer Perspektive haben die Neukantianer Wilhelm Windelband und Paul Natorp die
Ideenlehre gewürdigt. 255 Vittorio Hösle charakterisiert die Anamnesis-Lehre als „mythische
Verkleidung der Entdeckung synthetischer Erkenntnis a priori“.256 Zweifellos hat Platon
damit den Reflexionserrungenschaften der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie, dem
Zentrum der „Kritik der reinen Vernunft“, vorgearbeitet. Freilich decken weder Hösle noch
die Neukantianer auf, daß der reife Platon kommunikationsvergessen, mithin eigentlich
undialogisch denkt, wenngleich er in Dialogform schreibt. Im Rahmen seiner maieutischen
Dialektik inszeniert der Ideen- und Anamnesistheoretiker den elenktischen Diskurs als ein
von Sokrates, dem ‚Hebammenkünstler’ („Maieutiker“), angeleitetes Zwiegespräch der Seele
mit sich selbst. Der Elenchos wird zum angeleiteten Seelenmonolog. Zugeschärft wird diese
Entdialogisierung des Sokratischen Dialogs, weil Platon tendenziell sprachwidrig denkt –in
semantischer wie in pragmatischer Hinsicht. Semantisch konzipiert Platon den Sachbezug im
Sinne eines geistigen Sehens, so daß er die Sachverhalte, besser: die Strukturen der Dinge,
buchstäblich vorstellt. Darauf zielt die sprachanalytische Kritik der formalen Semantik von
Tugendhat.257 In pragmatischer Hinsicht geht Platon gegen den kommunikativen Sinn der
Sprache an, indem er die Tätigkeit des Denkenden nicht kommunikativ und intersubjektiv
versteht, sondern als ein virtuell einsames Sehen. Die Erkenntnisrelation begreift er daher
nicht zugleich als dialogisches Verhältnis, vielmehr unterstellt er sie als eine bloße SubjektObjekt-Beziehung. Hier setzt die transzendentalpragmatische Kritik an.258
254
255
256
257
258
K.-O. Apel, Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II), in: Funkkolleg
Studientexte (1984), I, S. 90f.
P. W. Windelband, Lehrbuch ( 151975), S. 83-102. P. Natorp, Platos Ideenlehre, Leipzig 21922.
V. Hösle, Wahrh. u. Gesch. (1984), S. 360ff.
E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 18ff, vgl. 36ff, passim.
K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 334ff; D. Böhler, Wittgenstein und Augustinus, in: A.
Eschbach, J. Trabant (Hg.), Foundations of Semiotics 7: History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia
1983, S. 343-369 (zit.: Wittgenstein u. Augustinus (1983)), S. 352ff.
108
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Je länger, desto stärker ordnet Platon den Sokratischen Diskursansatz der θεωρία (theoria) als
Schau der ewigen Strukturen bzw. Ideen des Kosmos unter und führt so das Paradigma einer
(im Grunde) einsamen Erkenntnis ein: Erkenntnis als geistige Schau der göttlichen und daher
ewigen, unwandelbaren, immer selbigen Strukturen.
Allein die kosmosmythischen Gottesprädikate von Parmenides – ewig, unwandelbar, immer
selbig etc. – scheinen ihm eine wahre Erkenntnis zu ermöglichen. Er sucht eine im
kosmosmetaphysischen Sinne wahre Erkenntnis – als Schau des Wahren. Dieses Wahre sei
eben das unwandelbare Sein hinter den wandelbaren Erscheinungen, wie es die
Parmenideischen Gottesprädikate charakterisieren, und das heißt: so, wie es der göttliche νούς
(nous), das geistige Auge Gottes, erschaue. Platons Wahrheitskriterium ist es, daß die
Methode, dank derer der Philosoph zu seinen Aussagen über das, was ist, gelange, jenem
göttlichen Schauen entspreche. Eine solche Entsprechung bewerkstellige die anamnetische
Dialektik. Sie zielt darauf, das unstete zeitlich Seiende, die Gegenstände der sinnlichen
Wahrnehmung und des Meinens (δόξα, doxa), durchschauen, um die Ideen, die ewigen
Seinsstrukturen, auszusprechen259. Der Dialektiker soll die ewige Gegenwart des wahren
Seins zu einer intellektualen Anschauung bringen.
Den philosophischen Diskurs legt Platon bis in die Neuzeit auf metaphysische
Grundunterscheidungen fest – zunächst auf eine ontologische und eine epistemische bzw.
erkenntnistheoretische. Dabei ergibt sich diese aus jener, weil er von der Ontologie ausgeht,
genauer: von der ontotheologischen Differenz zwischen dem zeitlich Seienden, das der
vorphilosophischen doxa als das Wahre erscheine, und den immer selbigen Strukturen bzw.
Ideen und Paradigmen, weil daran das wahre und eigentlich göttliche Sein hafte.
Platons Erkenntnisproblem ist: wenn es bloß das zeitlich Seiende gäbe, welches entsteht, sich
wandelt und vergeht, würde daraus folgen, daß sich alle Dinge permanent veränderten. Als
theoria-Ontologe schließt er daraus, daß es dann unmöglich wäre, überhaupt etwas
Bestimmtes zu erschauen und diese eindeutige Sicht der Dinge in eine Feststellung zu
bringen, einen Logos, der das Wahre buchstäblich festhalten könnte. Dieser zugleich optischtheoretische und ontologische Fehlschluß von der Beschaffenheit der Dinge als Gegenständen
einer geistigen Schau auf den Geltungssinn von Aussagen und Behauptungen ist das
metaphysische Erkenntnisproblem. Seit Heraklit hat es die griechischen Seinsdenker
beunruhigt. Dieser eigentümliche Fehlschluß ist für die sprach- und diskurswidrige
Denkweise der theoria-Ontologie charakteristisch. Platons Lösung dieses ‚Problems’ ist der
Versuch, sich und die Polis in absolute Sicherheit zu bringen vor der Bedrohung durch das
259
Vgl. G. Picht, Wahrheit (1969), S. 36-87, bes. 76ff, ferner S. 112-131.
109
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Bewegliche und Unstete, die Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit. Nichts scheint freilich
die gesuchte totale Sicherheit zu gewährleisten als die ewige Gleichförmigkeit des Kosmos
und das unwandelbare Insichstehen der Ideen, der reinen Formen. Diese Welt-, Geschichtsund Praxisflucht ist von erkenntnisphilosophischer und politischer Bedeutung. Ihre politische
Konsequenz ist sein ordnungsfunktionalistisches Gerechtigkeitsverständnis260 und sein
totalitäres Eintrachtsmodell der Polis.
Platon wollte sich und Athen retten vor der Geschichtlichkeit, der Wandelbarkeit, von der er
das Zusammenleben bedroht sah. Am liebsten ein für alle mal wollte er die krisengeschüttelte,
eine Demokratie suchende Stadtkultur Athens ordnungsaristokratisch nach dem Vorbild des
harmonischen Regelkreises „Kosmos“ formieren.261 Dieser Formierungswille führt ihn in der
„Politeia“ zu zwei, auf unterschiedliche Weise von der Natur als Bewertungsgrundlage
ausgehenden, Untersuchungen über Gerechtigkeit, verstanden als Tugend der Polis. Schon in
dem ersten, kürzeren „Weg“, der die Lehre von der Philosophenherrschaft und damit auch die
Ideenlehre noch ausklammert, setzt er – wie auch im „Gorgias“ – voraus, daß bloße
Vereinbarungen über Normen (θέσει, thesei) nicht moralisch verbindlich sein könnten, wohl
aber das, was „von Natur aus“ (φύσει, physei) für die Menschen gut sei. Und da die
Menschen nicht etwa, wie Gott, autark, sondern bedürftig und zur Bedürfnisbefriedigung auf
eine funktionsfähige Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen seien,262 sucht Platon
nach einer Gesellschaft, die so geschlossen und einträchtig wie möglich geordnet sei,263 damit
dort alle Klassen ihre Aufgaben zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse optimal
ausführen. Die gesuchte reibungslos funktionierende und absolut stabile Polis soll, wie ein
Individuum, möglichst eine Ganzheit sein.264 Diese Funktionsganzheit versteht Platon, in
Analogie zu der eines gesunden organischen Körpers, als die naturgemäße „Gerechtigkeit“
einer Polis.265
Daß
diese
Einführung
Verbindlichkeitsfrage
von
verfehlt,
Gerechtigkeit
ist
klar.
bzw.
Karl-Heinz
politischer
Ilting,
Gerechtigkeit
dessen
Analyse
die
des
Gerechtigkeitsmodells nach Platons erstem, leichteren Weg (in den Büchern II bis IV) ich
gerade skizziert habe, schließt zu Recht: „Wenn dieser ganze Staat rein nach
260
261
262
263
264
265
Dazu K.-H. Ilting, Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik, (1978), in: ders., Grundfragen der
praktischen Philosophie. Hg. v. P. Becchi u. H. Hoppe, Frankfurt a. M. 1994 (zit.: Grundfragen (1994)), S.
296-325, bes. S. 304-318.
Platon, Politeia, 500 c/d und Timaios, 47 a-c.
Kritisch dazu: H.P. Schmidt, Frieden, Stuttgart/Berlin 1969 (zit.: Frieden (1969)), S. 37-57, bes. 48ff. Ders.,
Die Erfahrung des Bösen, in: Funkkolleg Studientexte (1984), III, S. 677-731, bes. 691-695.
Platon, Politeia, 369 b 5 - c 11.
Ebd., 422 a 8 und e 8, 423 b 10, 433 a 5, 462 b 1-2 u. ö.
Ebd., 462 c 7-10, 464 b 1.
Ebd., 444 c 1-7.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Zweckmäßigkeitserwägungen konstruiert ist, so sind alle seine Gesetze nichts als Ratschläge
der Klugheit, denen jeder, wenn er vernünftig ist, nur soweit folgt, als dies im Interesse seines
wohlverstandenen Eigenwohls liegt. Moralisch verbindliche Normen sind sie durchaus nicht,
da Platon ja keinerlei über den Gesichtspunkt des Eigeninteresses hinausweisende Gründe
ihrer Verbindlichkeit namhaft zu machen versucht hatte.“ Er scheine nicht einmal gesehen zu
haben, „daß auch nach seiner Konstruktion eines Idealstaats die Frage noch immer offen ist,
wieso denn eigentlich die in seinem Staatsmodell vorgesehenen spezifischen Aufgaben für die
Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindliche Pflichten und Rechte sind. […] Daß
Platon auf dem von ihm verfolgten Wege das Problem einer Begründung der Ethik verfehlen
muß, zeigt sich womöglich noch klarer, wenn man prüft, wie er anschließend (434 d 2 – 444 a
9) auch die Gerechtigkeit eines menschlichen Individuums, analog zur Gesundheit eines
organischen Körpers als Funktionsgerechtigkeit seiner ‚Seele’ und ‚Seelenteile’ zu
interpretieren versucht. Indem er das menschliche Individuum bzw. dessen ‚Seele’ als eine
Art Mikrostaat auffaßt, verzichtet er von vornherein darauf, die Anerkennung und Befolgung
von Normen und die moralischen und rechtlichen Beziehungen zwischen Individuen als das
Kernproblem der Gerechtigkeit zu erörtern. ‚Gerecht’ ist nach dieser Deutung ein Individuum
nicht im Hinblick auf verbindliche Normen und auf seine Mitmenschen, sondern primär in
bezug auf sich selbst: wenn nämlich seine ‚Seele’ gesund ist (443 c 9-d 1). Platon unterstellt
zwar, wenn auch ohne große Plausibilität, daß solche ‚Gesundheit der Seele’ die beste
Garantie gerechten Handelns ist. Aber ein anderes Interesse an der Gerechtigkeit als das des
wohlverstandenen Eigenwohls kann er auch hier nicht geltend machen.“266
Erst in dem zweiten, dem „längeren Weg“267 der „Politeia“, in den Büchern V bis VII, kommt
mit dem Postulat der Philosophenherrschaft die Ideenlehre zum Zuge. Sie ist Platons Antwort
auf die herakliteische Beunruhigung. Karl Raimund Popper hat sie gewissermaßen
erkenntnispsychologisch rekonstruiert.268 Seine Hauptquelle ist Aristoteles. Dieser berichtet in
der „Metaphysik“, Platon habe es für unmöglich gehalten, „daß es eine allgemeine Definition
für ein Sinnesding gebe, weil die Sinnesdinge in dauernder Veränderung begriffen seien.“
Hingegen habe er die intelligiblen Dinge, die Strukturdinge bzw. reinen Formen, auf die sich
die Definitionen bezögen, Ideen genannt und die These entwickelt, daß die veränderlichen
266
267
268
K.-H. Ilting, Grundfragen (1994), S. 309f.
Platon, Politeia, 504 b 2.
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons, Bern 1957 (zit.: Die offene
Gesellschaft (1957)), S. 56ff.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sinnesdinge nur dank einer ‚Teilhabe’ (µέθεξις, methexis) an jenen Ideen und Urbildern
bestünden.269
Aristoteles’ Bericht zeigt, daß Platon die ontologische Differenz der Metaphysik: ‚zeitlich
Seiendes versus ewige Seinsformen’ mit der epistemischen Unterscheidung ‚sinnliche
Wahrnehmung
versus
intellektuelle
Anschauung
bzw.
intuitive
Vernunfteinsicht’
zusammendenkt. Die epistemische Differenz ergänzt Platon durch die methodologische
Differenzierung zweier Erkenntnisweisen, welche auf akommunikativen Voraussetzungen
beruhen und insofern einen methodischen Solipsismus unterstellen.270 Er unterscheidet eine
schauende, intuitive Vernunfteinsicht von einer analytischen und konstruktiven διάνοια
(dianoia) als diskursiver Verstandeserkenntnis. Die Vernunft (νούς, nous), verstanden als das
Auge des Geistes, bezieht Platon auf das, was von dem wahren göttlichen Sein sichtbar ist,
auf den Kosmos. Gemäß parmenideischer Tradition und mit pythagoreischen Obertönen
verkündet er „den Kosmos-Mythos [...] in geläuterter Gestalt“ (Hans P. Schmidt)271: von dem
göttlichen nous durchwaltet, habe der Kosmos die schlechthin vollkommene Gestalt der
Kugel, und alles in ihm, auch die Zeit, schwinge in der Harmonieform des Kreises, befinde
sich mitten in einer ewigen Stetigkeit. Neben dem VI. Buch der „Politeia“ ist der
kosmologische Dialog „Timaios“ die wichtigste Quelle für diesen Ansatz einer intuitiven
Kosmos-Vernunft. Der „Timaios“, den sich die römische Welt durch eine Teilübersetzung
Ciceros, die christliche durch die kommentierte Edition des Neuplatonikers Chalcidius (um
400 n. Chr.) aneignete, konnte bis in die Neuzeit als Platons Hauptwerk gelten. Er hat noch
Kant ein physikotheologisches Hintergrundsverständnis für seine methodologische Ethik
vermittelt. In dem Dialog „Timaios“ bestimmt Platon das Verhältnis von göttlichem nous,
Kosmos und menschlichem Denken (der hier unspezifisch gebrauchten διάνοια), indem er das
Vermögen des Sehens als das höchste menschliche Gut auszeichnet:
„Nun aber hat der Anblick von Tag und Nacht, vom Umlauf der Monate und Jahre, von Tagund Nachtgleiche und den Sonnenwenden die Zahl ans Licht gebracht und uns die Erkenntnis
der Zeit und die Suche nach der Natur des Alls gespendet. Hieraus haben wir die Herkunft der
Philosophie gewonnen, und ein höheres Gut ist nie gekommen noch wird jemals kommen
zum sterblichen Geschlecht als Gabe der Götter [...]. Gott hat die Sehkraft für uns erfunden
269
270
271
Dazu Aristoteles, Metaphysik, 987 b 7ff; vgl. 1078 b 10-1079 a 4. Die von Aristoteles (Metaphysik 987 a
30-b 18) rekonstruierten Gedankenschritte auf dem Weg zur Ideenlehre spürt Popper vor allem im
„Phaidon“ (65 a-66 a, 70 e, 74 a f und 99 f), im „Kratylos“ (439 c ff), in der „Politeia“ (485 a/b, 508 b ff,
509 c-511 e und 523 a-527 c), im „Sophistes“, im „Theaitetos“ (174 b und 175 c) und im „Timaios“ (28 a29 d und 48 e-55 c) auf.
Vgl. D. Böhler, Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II, S. 343369.
H.P. Schmidt, Frieden (1969), S. 52.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
und uns damit begabt, damit wir die Umläufe des göttlichen Geistes [des nous] am Himmel
erblicken und sie als Vorbild für die Umläufe unseres eigenen Denkens [dianoia] gebrauchen,
welche jenen verwandt sind – den Unverwirrbaren die Verwirrten. Wenn wir sie aber gelernt
und uns die der Natur entsprechende Richtigkeit ihrer Berechnungen angeeignet haben, dann
sollen wir die ganz und gar unablenkbaren Umläufe des Gottes nachahmen und so die
schweifenden Umläufe [des Denkens] in uns selbst ordnen.
Von der Stimme und dem Gehör gilt wieder dasselbe, daß dieses Geschenk eben deshalb und
zu demselben Zwecke uns von den Göttern verliehen sei; denn die Rede [logos] hat den
selben Zweck und trägt das meiste zu dessen Erreichung bei. Soviel aber von der Musik der
Stimme nützlich ist, so wurde es dem Gehör zum Zwecke der Harmonie geschenkt. Die
Harmonie aber, welche verwandte Bewegungen hat wie die Umläufe der Seele in uns selbst,
ist dem, der sich den Musen hingibt gemäß der Vernunft [nous], nicht zum Genuß einer
irrationalen Lust, so wie man es heute meint, gegeben; vielmehr ist sie uns von den Musen als
Beistand verliehen worden gegen die in uns aufgekommenen unharmonischen Umläufe der
Seele, um sie zur Ordnung und mit sich selbst in Einklang [συµφωνία, symphonia] zu
bringen“272.
Das menschliche Denken, sofern es auf den Kosmos schaue, und die menschliche Seele,
sofern sie auf die Harmonie der kosmischen Sphärenmusik höre, würden in eine Mimesis
dieser Wohlordnung hineingezogen und so aus der Unordnung der Affekte herausgebracht.
Das Denken bezieht Platon mimetisch auf den göttlichen nous als das Urbild allen Denkens.
Eine ungeheuer folgenträchtige Bezugnahme: bis zu Kant und Hegel, ja bis zu Husserl wird
die reine Kontemplation des (ursprünglich göttlichen) nous als Archetyp der Vernunft
gelten...
Georg Picht, an dessen Übersetzung ich mich soeben angelehnt habe, kommentiert unsere
Stelle: „Im Hintergrund steht die pythagoreische Lehre, daß die Bewegungen der Gestirne
und die Bewegungen der Musik identisch sind, weil sie der gleichen Mathematik gehorchen.
Wie Damon gelehrt hat, daß sich die Haltung des Menschen durch die Gewöhnung den
geordneten Bewegungsabläufen der Musik angleicht, so kann der Mensch auch durch die
Betrachtung der Sterne die Bewegungen seiner Seele dem Kosmos angleichen und so seine
ursprüngliche Verwandtschaft mit dem die Sterne bewegenden νούς entdecken. Dies ist der
geschichtliche Boden von Kants berühmtem Wort aus dem Beschluß der Kritik der
praktischen Vernunft: ‚Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt:
272
Platon, Timaios, 47 a 5 - 47 d 6.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.’ Der Begriff ‚Kosmos’, der
bei Platon den Gedanken trägt, bezeichnet die Ordnung in der Bewegung. Deshalb kann der
gleiche Begriff auf die Bewegung der Sterne und Gezeiten und auf die Bewegung der Musik
bezogen werden. Diese Bewegungslehre bildet, wie wir aus dem ‚Timaios’ erfahren, jene
Brücke zwischen Musik und Astronomie, die es Platon im ‚Staat’ erlaubt, die Lehre des
Damon auf die Betrachtung des Kosmos zu übertragen.“273
Im VI. Buch der „Politeia“ spricht er die kosmosmimetische Funktion ausdrücklich der
Philosophie zu. Von daher bestimmt er die philosophische Begründung des rechten
Verhaltens als Rückgang auf die göttlich-natürliche Ordnung des Alls. Das ist Platons
eigentümlich kosmologisch-naturalistischer Fehlschluß. Naturtheologisch suggestiv, hat er
spekulativen Konsens erzeugt und Metaphysikgeschichte gemacht. Ist es doch die weithin
einflußreiche Stoa, die Platon hierin folgen und – über Cicero – auch der Rhetorik eine
naturalistische Hintergrundsmetaphysik vermitteln wird. Nicht weniger wirkungsträchtig ist
der Bildungsbegriff, den Platon an die ethische Kosmos-Mimesis anschließt. Die ethische und
politische Orientierungsaufgabe des Philosophen bestimmt er als Hineinbildung der
Besonnenheit und der Gerechtigkeit in die Sitten und in die Polis: „Der Philosoph also, der
mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten umgeht, wird auch wohlgeordnet [κόσµιος] und
göttlich, soweit es dem Menschen möglich ist. […] Ihm entsteht eine Notwendigkeit, Sorge
zu tragen, wie er das, was er dort sieht, auch in die Sitten der Menschen, der persönlichen und
der öffentlichen, ein-bilden könne, und nicht allein sich selbst zu bilden.“274
Die Bildungsziele, welche die Kosmosmimesis mit sich bringt, sind „das der Natur nach
(physei) Gerechte, Schöne, Besonnene und alles dergleichen“.275 Die nach diesem „göttlichen
Paradigma“ zu bildende Polis und keine andere könne „glücklich“ sein.276 Nicht also die
moralische Verbindlichkeit, die Anerkennungswürdigkeit von Normen, ist das letzte
politisch-ethische Ziel des, der Kosmos- und Ideenschau hingegebenen und zur Fürsorge um
die Polis genötigten, Philosophen, vielmehr ist es die gott- und naturgemäße Beglückung der
Polis und durch dieses Kollektiv auch der Menschen als Poliszugehörige.
Ein naturtheologisch geheiligter Eudaimonismus hat das letzte Wort. Die Philosophie öffnet
dann weder Raum für eine öffentliche Verständigung über das, was die Bürger wollen und
273
274
275
276
G. Picht, Wahrheit (1969), S. 120.
Platon, Politeia, Buch VI, 500 c 9 bis d 1, vgl. 500 d 3 - d 6. κόσµιος ist, wie Georg Picht betont, „ein im
Griechischen geläufiges Wort zur Bezeichnung der Menschen, die sich in Zucht zu halten wissen. Aber in
unserem Zusammenhang gewinnt es, wie wir sehen, einen anderen Sinn. Es wird damit gespielt, daß
κόσµιος auch heißen könnte: dem Kosmos ähnlich, ein Abbild des Kosmos. Dieser Gedanke wird dann im
‚Timaios’ ausgebaut. Hier ist der Ursprung des Gedankens vom Menschen als einem Mikrokosmos.“ (G.
Picht, Wahrheit (1969), S. 121.)
Platon, Politeia, 501 b.
Ebd., 420 b 7f, 420 c 1-4, 421 b 6f, 472 c 9.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
worin sie politische Bedingungen ihres – das heißt aber: ihres individuellen – Glückes bzw.
ihrer Werte sehen, noch ist sie selbst ein Diskurs zur Rechtfertigung von Normen mit dem
Ziel ihrer begründeten, freien Anerkennung durch die Normadressaten. Sie hat überhaupt
keinen Platz für einen öffentlichen Diskurs. Sie anerkennt daher auch keineswegs eine
autonome Einsicht von Diskurspartnern in das, was sie den Bürgern normativ vorgibt, also
das, was sie jeweils praktisch und politisch sollen – den konkreten normativen Gehalt von
Gerechtigkeit, Schönheit und Besonnenheit. Sind Diskursteilnehmer, geschweige denn
Diskurspartner, dann überhaupt noch am Platze?
Nötig und vorgesehen ist allein der Philosoph, und zwar zuerst als Auge und Mund des die
Naturordnung schauenden sowie vermittelnden Geistes, sodann als Hineinbildner der
geschauten Naturordnung in die menschliche Welt. Ein gigantischer Fehlschluß von dem, was
das natürliche Sein in Wahrheit sei, auf das, was die Polis glücklich mache und was die
Menschen, man höre, daher als ihre Pflichten bzw. Rechte in der Polis praktizieren sollen.
Auch das, was Platon auf dem „längeren Weg“ der Politeia vorbringt, ist kein moralisches
Verbindlichkeits-, sondern ein eudaimonistisches Klugheitsargument von der Form eines
problematisch-hypothetischen Imperativs. Diese Klugheitsregel versieht er mit apodiktischer,
weil kosmostheologischer Autorität: einer naturtheologisch entliehenen, logisch freilich
erschlichenen Verbindlichkeit. Sie geriert sich, als sei sie ein kategorischer Imperativ, da die
Handlungsweise des kosmotheoretischen Polisbildners von ihr „als an sich gut vorgestellt“
wird. Eben das zeichnet Kant als Merkmal eines Kategorischen Imperativs aus.277 Platon
suggeriert, was er begründen müßte, aber glücksethisch und kosmosspekulativ erschleicht:
moralische Verbindlichkeit. Die tiefgreifenden Folgen sind: Verdrängung eines möglichen
praktischen
Diskurses
zur
Rechtfertigung
von
Normen,
Entmenschlichung
und
Entgeschichtlichung der Lebenswelt zugunsten der „besten Polisordnung“, die ihm „das
wahrhaft Göttliche ist“, während „alles andere bloß menschlich“ sei.278
Platon beschreibt die politisch-ethische Bildungsaufgabe des Philosophen nach dem Muster
eines Malers, der in seinem Gemälde ein göttliches Urbild darstellen will. Um das zu
bewerkstelligen, müsse der Maler die Polis und die Sitten der Menschen wie eine Wachstafel
reinigen, um dann das Göttliche in sie einprägen zu können.279 Die kosmosgemäße und
277
278
279
I. Kant, GMS, S. 414. Was sich aus der Perspektive des Platonlesers als ein problematisch-hypothetischer
Imperativ aufgrund einer möglichen, ihm angesonnenen Absicht darstellt, ist für Platons Philosophen, den
die Kosmosschau zur Bildung der Einheitsordnung einer idealen, kosmosgemäßen Polis nötigt, ein
assertorisch-hypothetischer Imperativ. Dieses assertorische Moment wird von Platon freilich mit einem
kategorischen Vernunft-Schein versehen, indem er sich auf die göttliche Kosmosvernunft beruft.
Platon, Politeia, 497 b/c. Im Lichte der kosmosmetaphysischen „theoria” kann „das menschliche Leben“
ohnehin nicht „als etwas Großes“ gelten: 486 a 8ff.
Ebd., 501 a 2 - c 2.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
gottgefällige Bildung bestimmt Platon also nicht etwa, wie es der christliche Neuplatonismus
seit Nikolaus von Kues tun wird, als Bildung zur Idee des Menschen – eine solche gibt es bei
Platon im Ernst nicht. Vielmehr geht es ihm um das Ein-Bilden des Göttlichen in das bloß
Menschliche. Dessen geschichtliche und plurale Natur sei radikal zu verändern: durch
‚Bildung’ als „Technik der Umkehrung“280 (περιαγωγή, periagoge) und durch eine
Bildungspolitik, die im Sinne einer ποίησις (poiesis), d.h. nach dem Muster einer
zweckgemäßen Herstellung gedacht ist. Alle erfolgsführenden Mittel scheinen dann recht zu
sein. So ersteht eine kosmostheologisch gerechtfertigte, insofern bedenkenlose Poiesis des
Politischen, deren Zweck der ordo-Idealstaat ist und zu deren notwendigen Mitteln die
Überwindung des unstet Geschichtlichen, mithin die Beherrschung der Pluralität gehört. Doch
Pluralität ist die Bedingung menschlicher Existenz – auch in dem emphatischen Sinne eines
menschenwürdigen Daseins.
Hannah Arendt, die die Pluralität als conditio humana des Politischen entwickelt hat, urteilt
scharfsichtig, wenn sie Platons idealpolitische Utopie als au fond tyrannische Spielart einer
‚monarchischen’ Politik kritisiert. Inwiefern? Der Versuch, der Pluralität, mithin der
Individualität und Verschiedenartigkeit, „Herr zu werden“, sei „immer gleichbedeutend mit
dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen“.281 Wie weit Platon von diesem
Problembewußtsein und von dem moralisch rechtspolitischen Prinzip der Öffentlichkeit, ja
auch nur von deren Wertschätzung als einem Gut entfernt ist, demonstriert er auch durch
seine Theorie der Tyrannis. Mit ihr reagierte er auf die Anarchie, von der er behauptet, sie
ergebe sich in der Demokratie zwangsläufig. Demokratie sei eben der Überschuß an „Freiheit
der Menge“, der in der Gleichstellung von Hintersassen, ja sogar von Sklaven mit den
Polisbürgern gipfeln könne und daher zur Anarchie führe. Diese nötige dann die Tyrannis
herbei.282
Den systematischen Grund für Platons Abgleiten in die Tyrannis sieht Hannah Arendt darin,
daß sein Modell einer Philosophenherrschaft „die Schwierigkeiten des Handelns“ so lösen
und auflösen soll, „als handele es sich um Erkenntnisprobleme“.283 Genauer gesagt: Platon
vertritt einen Primat der kosmos-metaphysischen theoria und will daher die moralischen
Fragen behandeln, als seien es metaphysische Erkenntnisaufgaben, welche durch spekulative
Schau, von göttlichem Standpunkt und Sehepunkt her, gelöst werden könnten. Öffentlichkeit,
Dialog, kommunikative Auseinandersetzung ergeben unter diesem Primat keinen Sinn. Auch
280
281
282
283
Ebd., 518 d 3f.
H. Arendt, Vita activa, § 31, S. 215.
Platon, Politeia, 562 f, bes. 563 a 1f und 563 b 3-6.
H. Arendt, a.a.O.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
eine freie Anerkennung der den Bewohnern seiner utopischen Polis auferlegten Pflichten und
der den Wächtern sowie den Philosophenherrschern zugeschriebenen Rechte ist unter diesem
Primat kein Thema mehr. Ebensowenig bedarf es einer Verständigung über den Sinn des
Glücks, dessen die Polis teilhaftig werden soll, indem sie der funktionalen Gerechtigkeit
zugeführt wird, so daß jede Klasse das Ihrige und jeder „das Seinige tue“, „wozu nämlich
seine Natur [sic!] sich am geschicktesten eignet.“284
Platons utopische Bildungspolitik ist im Ansatz inhuman, gewalttätig und totalitär; gilt es ihr
doch als ausgemacht, daß die menschliche Natur „von Kindheit an gehörig beschnitten und
das ihrer Abstammung Verwandte (ihrer Genese Zugehörige) ausgeschnitten werden [muß],
das sich nämlich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten
anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet“.285 Für das Hineinbilden des
Göttlichen vermittels Herausschneidens des Menschlichen sollen die Herrscher des
Idealstaates – „zum Wohle der Beherrschten“ – nicht nur zu Lüge, Täuschung und Betrug
greifen.286 Sie sollen sogar, insgeheim, staatlichen Kindermord praktizieren, damit
sichergestellt sei, daß ausschließlich jene Sprößlinge der Herrscherklasse aufgezogen werden,
die sich als die tüchtigsten erwiesen haben: Politeia 459 d - 460 c und 461 c 4f. Eingeschoben
wird die rassehygienische Behauptung, das Geschlecht der Wächter müsse eben „rein“
sein.287
Wem stockt bei dieser Lektüre nicht der Atem? Einer solchen ‚politischen Bildung’ ist
offenbar – kosmostheologisch – fast alles erlaubt. Sie kennt nicht die, in dem andersgearteten
Geist der Bibel angelegte, Norm der Menschenwürde. Ebenso ist sie unberührt von dem
normativen Begriff eines rein kommunikativen Handelns, der den zwischenmenschlichen
Umgang jesuanisch bzw. mosaisch und prophetisch an das Gebot der Nächstenliebe bindet288
oder ihn (letztlich) an den Normen mißt, die ‚wir’ als Partner eines gewaltfreien,
argumentativen Dialogs bereits in Anspruch genommen haben und auch anerkennen sollten,
weil wir sie ohne Selbstwiderspruch nicht in Zweifel ziehen können.
Zwar suchte Platon, wie Hans Jonas sagt, „nach einem Staat, in dem Sokrates nicht zu sterben
braucht“289, doch läßt sein idealstaatlicher Entwurf keinen Raum mehr, um den Sokratischen
284
285
286
287
288
289
Platon, Politeia, 433 a 6-9.
Platon, Politeia, 519 a 8 - b 4.
Ebd., 459 c-d.
Ebd., 460 c 6, vgl. 459 e 1f.
Darauf kommen wir im Zusammenhang mit Augustinus zurück.
H. Jonas, Prinzip Verantwortung (1979).Befremdlicherweise übt Hans Jonas an Platons Utopie nicht eine
anthropologische Sinnkritik, wie er sie in aller Schärfe Ernst Bloch gegenüber vorträgt, obgleich auch von
ihr gilt, daß sie kein sinnvolles „Wunschbild menschlichen Glücks“ bietet, weil sie unvereinbar ist mit „der
117
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Logosgrundsatz als Diskursgrundsatz zu vertreten, also im Blick auf verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit und damit auch auf zu achtende Menschenwürde. Gemessen an einer
Kohlbergschen Entwicklungslogik des moralischen Urteils, läuft Platon mit der Idee des
Guten zwar auf die moralische Prinzipienstufe 6 vor, wenngleich nur in eudaimonistischer,
verbindlichkeitsunfähiger Perspektive. Doch entzieht er ihr sowohl die Gewissensfreiheit als
auch die dialogbezogene Anerkennung der Anderen und des Individuellen. Infolgedessen fällt
er von der metakonventionellen Moralebene zurück auf ein Rollen-Tugend-Ethos der Stufe 3
und ein rigides Ordnungs-Institutionen-Ethos im Sinne von Stufe 4, das aber von
rechtsstaatlichen Grundsätzen wie dem der Gleichheit der Rechtspersonen weltenweit entfernt
ist – getrennt durch den Abstand zur biblischen Normenwelt der Menschenwürde als
Gottesebenbildlichkeit ebenso wie durch die Kluft zur metakonventionellen Autonomie- und
Prinzipienorientierung jener Aufklärung, die mit Kants Kritiken der Vernunft den logischen
und ethischen Universalismus erreichen wird.
Karl Raimund Popper, der die „Politeia“ in seinem Exil, auf der Flucht vor dem
Nationalsozialismus und angesichts des kommunistischen Totalitarismus gelesen hatte,
wertete Platons Anwendung der Ideenlehre auf das gesellschaftliche Leben als
paradigmatischen, Geschichte machenden Angriff auf „die offene Gesellschaft“290,
wenngleich deren Idee, ein Kind der Aufklärung und eines normativen Liberalismus à la
Kant, durch die Wirkungsgeschichte der Platonischen Politik eher verzögert und dann erst
konterkariert worden ist. In der Tat lassen sich Platons idealstaatliche Überlegungen und
deren unmenschliche Folgerungen nicht als Überzeichnung resp. Übertreibung oder gar als
Ironie bagatellisieren. Vielmehr sind es die Konsequenzen aus seinem Ansatz: zumal aus
seinem durch und durch akommunikativen Vernunftbegriff, der nicht den Dialog und die
argumentative Berücksichtigung bzw. Geltungsprüfung realer Ansprüche zum Prinzip macht,
sondern die Schau einer vorgeblich göttlichen Einheits-, Ruhe- und Ewigkeitsordnung des
Kosmos. Die ist freilich ein spekulativer Ordnungsmythos und mündet in eine „totalitäre
Gerechtigkeit“291, die die Maximen „Bringt die politischen Veränderungen zum Stillstand!“
und „Ersetzt die Pluralität durch Eintracht!“ aus einer Kosmostheoria abzuleiten versucht.
290
291
Permanenz echten“, d.h. seiner Würde, Freiheit und ‚Gebürtigkeit’ i. S. Hannah Arendts entsprechenden,
„menschlichen Lebens“ (vgl. ebd., S. 378).
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft, I (1957).
Zur Unvereinbarkeit von Platons kosmostheologischem Idealismus und dem christlich humanistischen
Neuplatonismus, der die Idee der Menschenwürde vorbereitet, vgl. D. Böhler, Ethische Motive der
humanistischen Neuzeit, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studienbegleitbrief 0, hrsg. vom
Deutschen Institut für Fernstudien, Weinheim/Basel 1980 (zit.: Ethische Motive (1980)), S. 108-118, bes.
110-113.
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft, I (1957)., S. 126 und das gesamte Kapitel „Totalitäre Gerechtigkeit“,
S. 126-168.
118
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
4.1.3 Wann ist eine Norm moralisch verbindlich? Was sich aus Platons
naturalistischen Fehlschlüssen (und seinem metaphysischen Intellektualismus)
lernen läßt.
Sowohl Kommunikation mit möglichen Betroffenen über ihre Werte, Interessen und
Ansprüche, also eine Sinnverständigung, ist ausgeschlossen, wie auch ein kommunikativer
Diskurs über deren Berechtigung, im Sinne der Geltungsgegenseitigkeit, wenn man wie
Platon denkt: als metaphysischer Intellektualist, der eine theoria auf den natürlichen Kosmos
richtet und dann aus dessen spekulativ erschlossene Strukturen Normen für das politische
Leben ableitet. Darin sehe ich die eigentümlich Platonische Spielart des naturalistischen
Fehlschlusses, die den Mittelteil der „Politeia“ durchherrscht.292 Karl-Heinz Ilting hat das in
unerbittlicher Schärfe herausgearbeitet: Was immer Platon „zweckmäßig zu sein oder seinen
eigenen Wertvorstellungen zu entsprechen schien, nannte er ‚natürlich’. Daher erklärte er sein
Modell eines Idealstaates und die dort vorgesehene Herrschaftsordnung ganz unbefangen für
naturgemäß und glaubte sich damit jeder weiteren Frage nach rationaler Begründung
enthoben. Daß Normen und Werturteile sich im übrigen prinzipiell nicht aus
Tatsachenfeststellungen
und
Naturbeschreibungen
ableiten
lassen,
war
ihm
dabei
ebensowenig klar wie irgendeinem anderen Autor vor Hume.
Einen besonderen Grund hatte diese Unklarheit bei Platon in seiner Neigung, die vermeintlich
naturgemäßen Normen und Ordnungen mit Hilfe seiner Ideenlehre als etwas unveränderlich
Seiendes zu deuten, das in Akten intellektueller Anschauung unmittelbar erfaßbar sei. Ohne
sich viel um den fundamentalen Unterschied zwischen seiner teleologischen Naturauffassung
bzw. Güterlehre und seiner Lehre von den erfahrungsunabhängig erkennbaren Ideen zu
kümmern, faßte er vielmehr beide Konzeptionen im Mittelteil der ‚Politeia’ unbedenklich in
einer Lehre von der teleologischen Idee des Guten zusammen. ‚Natur’ und ‚Idee’ wurden für
ihn dadurch zu miteinander vertauschbaren Ausdrücken.“293
Im Mittelteil der „Politeia“ kosmologisch ansetzend schließt Platon von der Natur des
Kosmos, deren Ordnung sich dem Ideenblick des Philosophen zeigt, auf die Ordnung, die sich
die Menschen geben sollen. Weil dieses Sollen, dieser normative Orientierungsgehalt, damit
er gelten kann, Anerkennungs- und Zustimmungswürdigkeit seitens der Menschen
292
293
Auch Hans P. Schmidt, Frieden (1969), S. 49ff.
Vor allem: Politeia 507 a 7-519 c 7.
K.-H. Ilting, K.-H. Ilting, Artikel „Naturrecht“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. 4, Stuttgart
1978, S. 245-313, hier: S. 252 (zit.: „Naturrecht“).
119
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
voraussetzt, Platon diese aber nicht aufzeigt, bleiben seine Sollenszumutungen ohne
zureichenden Grund. Die Verbindlichkeitsfragen, warum man seine Seele unbedingt in jene
Harmonie bringen solle, und weshalb diese Seelenordnung auch das normative Fundament für
die Pflichten und Rechte der Menschen als Polisbürger sei, bleiben ohne Antwort. Ja, sie
werden nicht einmal gestellt.
Wenn ein Sollen allein aus natürlichen Gegebenheiten oder anderen Fakten abgeleitet wird –
also ohne Gründe für die einsehbare, aus freien Stücken anerkennungswürdige
Verbindlichkeit einer Orientierung an den hervorgehobenen Gegebenheiten, dann ist der
Schluß ungültig: ein naturalistischer oder faktizistischer Fehlschluß eben. Dasjenige, was sich
metaethisch, wenngleich ex negativo aus der „Politeia“ lernen läßt, und zwar insgesamt: aus
ihrem Eudaimonismus, ihrer Ideenlehre und ihrer (unbestimmten) Idee des Guten, worin
beide gipfeln, ist vor allem dreierlei.
(1) Keine Ethik kann das Verbindlichkeitsproblem umgehen, wenn anders sie dem
naturalistischen Fehlschluß ausgeliefert ist und daher ihre Glaubwürdigkeit im Diskurs
einbüßen kann; sie ließe sich dann in einem argumentativen Diskurs nicht glaubwürdig
vertreten.
(2) Die Verbindlichkeit moralischer Normen setzt freie Anerkennung der Normadressaten
voraus, wie etwa Popper und Ilting betonen. Aber das Faktum einer freiwilligen
Anerkennung, die zu einer Übereinkunft bzw. einem Vertrag führt, ist nur eine notwendige,
keine hinreichende Bedingung für dessen Verbindlichkeit.
(3) Wer annehmen wollte, die freie Anerkennung einer Norm sei hinreichend, deren
Verbindlichkeit
zu
begründen,
wie
es
der
Dezisionismus,
Liberalismus
und
Konventionalismus unterstellen, der beginge einen neuerlichen naturalistischen Fehlschluß
und müßte sich selbst als Diskurspartner widersprechen.294 Denn diese, von jedem, der etwas
denkt und geltend macht, im vorhinein eingenommene kritische Rolle hängt zur Gänze davon
ab, daß ihre Grundunterscheidungen, nämlich ‚faktische Anerkennung versus hinreichend
begründete Anerkennung’ und ‚faktische, begrenzte Kommunikationsgemeinschaft versus
reine, unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft’ im Denken und Diskutieren berücksichtigt
werden. Daraus ergibt sich: Die bloße Tatsache, daß eine Norm von einer Gruppe anerkannt
worden ist, kann noch nicht der hinreichende Grund ihrer Verbindlichkeit sein; vielmehr ist
deren Anerkennungswürdigkeit aus universalisierbaren Gründen anzustreben. Praktisch
294
Vgl. K.-O. Apels Auseinandersetzung mit K.-H. Ilting: „Faktische Anerkennung oder einsehbar
notwendige Anerkennung?“, in: Auseinandersetzungen (1998), S. 221-280.
120
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
verlangt das einen argumentativen Diskursprozeß, der sich der regulativen Gültigkeitsidee
einer reinen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft unterstellt.
Wo Platon unterminologisch von dianoia als menschlichem Erkenntnisvermögen spricht,
kann er dieses Vermögen in den Dienst der intuitiven Vernunft als Kosmos- und Ideenschau
stellen. Wo er hingegen die höhere Erkenntnisweise der Vernunftschau abgrenzt von den
unteren Erkenntnisweisen der reinen Wissenschaften, und zwar nach dem Paradigma der
Geometrie, spricht er terminologisch von dianoia (im engen Sinne). Damit meint er eine
Verstandeserkenntnis,
welche
durch
lückenlose
Schußfolgerungen,
unterstützt
von
anschaulichen Zeichnungen, „direkt zu einer Lösung, einem ‚quod erat demonstrandum’ der
vorgelegten Aufgabe“ führt.295 Diese Unterscheidung trifft und erläutert er im
Liniengleichnis. Die Geometrie gilt ihm deshalb als Muster der dianoia, weil ihr Verfahren
Hilfsmittel der sinnlichen Anschauung verwende, und auf unbewiesenen Hypothesen aufbaue.
Obwohl es ihr um Ideen wie die des Geraden und Ungeraden der geometrischen Formen und
Winkel gehe, arbeite sie – zeichnend – stets mit Abbildern als Hilfsmitteln der sinnlichen
Anschauung. Hingegen sei die noesis eine rein geistige Anschauung, die über einen großen
Umweg nach einem unbedingten Grund suche, dem Prinzip des Ganzen (αρχή του παντός,
arche tou pantos).296
Platon versteht die dianoia nach dem Muster der Geometrie und diese wiederum allein
hinsichtlich ihres Bezugs auf ideale Gegenstände (Zahlen und Formen), geht aber nicht darauf
ein, daß auch dieser Gegenstandsbezug und die geometrischen Konstruktions- sowie
Beweisverfahren der Interpretation in einer Sprachgemeinschaft bedürfen. Aus diesem Grund,
und zumal weil er deren Verfahren zugleich im Blick auf die intellektuale Anschauung der
noesis als deren defizienten Modus erläutert, sperrt er das Selbstverständnis des Denkens ab
von dessen intersubjektiver Kommunikationsfunktion. Daher würdigt er den Logos nicht als
ein Ergebnis eines argumentativen Dialogs. Vielmehr gelangt er zu einer „radikalen
Unterscheidung des Denkens von der Sprache als bloß sekundärem Ausdruck oder Werkzeug
(όργανον, organon) der Gedanken“, wie Apel zuspitzt.297
Platons Selbstverständnis zufolge liegt der Geltungsgrund der sokratischen Dialoge nicht in
der dialogischen Argumentation, sondern in der geschauten Idee. Die dialogische Kompetenz
gilt ihm daher bloß als maieutische. So muß er versuchen, seine Definition des Denkens in
295
296
297
E.A. Wyller, Der späte Platon. Tübinger Vorlesungen 1965, Hamburg 1970, S. 20.
Platon, Politeia, 509 d - 511, bes. 510 b 4 - 512 d 6.
K.-O. Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache, in: ders., Transf. d. Philos., II, (1973),
S. 335.
121
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
geltungslogischer Hinsicht durch den Mythos einer Präexistenz der Seele und die Annahme
einer reinen Ideen-Intuition zu retten. Wenn diese Prämissen jedoch als nicht tragfähig
erkannt werden, bleibt nur der transzendentalpragmatische Schritt zur Idee der
Argumentationsgemeinschaft und damit zu der transzendentalpragmatischen These: Geltung
beanspruchen kann ein Denken allein im Bezug auf mögliche Dialoge und auf einen Konsens,
der selbst in einer unbegrenzten und noch dazu idealen, weil nichts als sinnvolle Argumente
zulassenden Gemeinschaft standhielte. Den sokratischen Weg des Geistes in die
Dialoggemeinschaft hat Platon nachhaltig blockiert, indem er den Logos (Rede und Sprache)
von
der
Erkenntnis
und
dem
Denken
als
einem,
im
Grunde
sprach-
und
gemeinschaftsunabhängigen, intuitiven Selbstgespräch der Seele ablöste.
Nach Denkweise und Wirkung ist Platon der erste große Ambivalente im philosophischen
Diskurs. Sowohl seine Unterordnung der Kommunikation unter das (als einsame
Erkenntnisfähigkeit
durch
Ideenschau
verstandene)
Denken,
andererseits
seine
dialogbezogene Kritik des vermeintlichen Wissens und seine Rekonstruktion des impliziten
Wissens haben die abendländische Philosophiegeschichte zutiefst geprägt. Durch beides hat
Platon den philosophischen Diskurs in Stil, Logik und in einem zwar erkenntniskritischen,
aber
akommunikativen
Selbstverständnis
vorgeformt.
Seine
Amalgamierung
von
sokratischem Dialog und undialogischer theoria hat eine einzigartige Wirkung entfaltet, so
daß sich die abendländische Metaphysikgeschichte in der Tat, nach Alfred N. Whiteheads
Bonmot, als „eine Serie von Fußnoten zu Platon“ lesen läßt.298
Auf den Krisenschwellen der Philosophie ist jedoch auch Platons Sokrates, wenngleich in
ganz unterschiedlichen Formen, anverwandelt worden: Augustinus, Nikolaus von Kues,
teilweise auch der Humanismus und Galilei, dann Montaigne und Descartes, Kants kritischtranszendentalphilosophischer Ansatz bei der quaestio juris und Habermasens bzw. Apels
sprachpragmatische Reformulierung des Diskursbegriffs geben charakteristische Beispiele.
4.2
Aristoteles
4.2.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie
Platons mit Abstand bedeutendster, doch eigenwillig kritischer Schüler und innerhalb der
theoria-Ontologie bald sein Widerpart, war der makedonische Arztsohn Aristoteles (384-347
v. Chr.). Mit gefächertem Interesse für Phänomene, Strukturen und Logik macht er sich
einerseits daran, Phänomene zu beschreiben und zu klassifizieren – der erste interdisziplinäre
298
A. N. Whitehead, Process and Reality, New York 1929, S. 63. (Dt.: Prozeß und Realität. Entwurf einer
Kosmologie, Frankfurt a. M. 31987, S. 91.)
122
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Phänomenologe großen Stils; andererseits richtet er, und darin Schüler Platons, einen theoriaBlick auf das „Sein“, der in der Vielfalt und im dynamischen Prozeß des „Seienden“ eine
Einheit des „Wesens“ (ουσία, ousia, Substanz) sucht. Mit besonderer Aufmerksamkeit für das
Leben, die Lebewesen und ihre Entwicklung, versucht er diese dynamische Vielfalt
verstehend zu strukturieren: alles Seiende strebe wie das Lebendige nach einer, in ihm
keimhaft angelegten, Gestalt und Seinsform; diese sei der jeweilige Endzweck (τέλος, telos)
seiner Dynamik bzw. seiner naturgemäßen Entwicklung.
Es ist ein zweckgerichtetes, teleologisches Verstehen, mit dem Aristoteles an die Natur –
freilich an die gesamte, nicht nur die organische Natur – und zugleich an die menschliche
Sozialwelt herangeht. In dieser Perspektive entwickelt er sowohl den Kern seiner Seinslehre,
der Ontologie, als auch seine Lehre von den viererlei Ursprüngen eines Seienden. Die
Wirklichkeit sieht er als einen zielgerichteten Prozeß, in dem sich – ich folge der
Zusammenfassung Günther Patzigs – drei Momente unterscheiden ließen: ein Wesen bzw.
eine „Substanz (ουσία), an der er sich vollzieht, eine Form (ειδος), auf die er zustrebt, und die
dieser entgegengesetzte ‚Beraubung’ (στέρησις), von der er ausgeht. Das Seiende ist Stoff
(υλη), sofern es (in der ‚Beraubung’) die Möglichkeit (δύναµις) höherer Formung an sich hat;
es ist Form, sofern es die Verwirklichung (ενεργεια, εντελεχεια) einer Form ist. Form und
Stoff, Möglichkeit und Wirklichkeit sind korrelative Begriffe: jeder Stoff hat schon eine
bestimmte Form, jede Form ist nur an ihrem bestimmten Stoff möglich. Die ungeformte
Urmaterie (πρώτη υλη) ist nur ein Grenzbegriff, dem keine Realität zukommt. Erste
Annäherung an die Urmaterie sind die Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde), geformt von den
Gegensatzpaaren Warm-Kalt, Trocken-Feucht. Stofflose Form hingegen existiert: der
unbewegte Beweger, göttlicher Ursprung und Gipfelpunkt zugleich jener Hierarchie, die sich
im kontinuierlichen Aufstieg von niederer zu höherer Form verwirklicht.
Neben die Lehre von den drei Momenten in allem Werden tritt die Theorie von den vier
Ursachen: causa materialis, efficiens, formalis und finalis. Wenn ein Haus entstehen soll,
müssen Steine und Holz bereitliegen (Materialursache), muß ein Baumeister mit Hilfe eines
Bauplans die Materie organisieren (Wirkursache), muß das Endprodukt das Wesen ‚Haus’
verkörpern (Formalursache); und brauchte man nicht ‚schützende Hüllen für Menschen und
deren Besitz’, baute man kein Haus (Endursache). Entsprechend bei Lebewesen: der Vater
teilt als Wirkursache der vom mütterlichen Organismus vorgeformten Materie das ειδος mit;
der embryonale Prozeß wird von dem Ziel (τέλος) gesteuert, ein neues Exemplar der Spezies,
dem Vater gleich, hervorzubringen. Wirk-, Formal- und Endursache fallen im ειδος
123
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
zusammen. Nur ‚ein Mensch kann einen Menschen zeugen’, das fertige Bild des Hauses ‚in
der Seele des Baumeisters’ bringt ein Haus hervor. […] Endursachen regieren die Welt.
Die Welt im ganzen ist ewig, denn alles Werden setzt schon ein Substrat voraus. Die reine
Form des ‚ersten Bewegers’ muß also der Welt eine ewige Bewegung mitteilen. Nun können
in endlichem Raum nur Kreisbewegungen unaufhörlich fortgehen: unmittelbare Wirkung des
Göttlichen νους ist daher das Kreisen des Fixsternhimmels. Gott ist stofflos und kann also
nicht mechanisch wirken: er bewegt, selbst ruhend, die Welt, so ‚wie das Geliebte’ (Met. Λ,
7), selbst unbewegt, den Liebenden anzieht. Der Fixsternhimmel ahmt durch ewiges Kreisen
die Ewigkeit Gottes auf seine Weise nach. Dass A[ristoteles] das reine Wesen, die stofflose
Form Gottes als ‚Denken’ bestimmt, entspricht seiner Gleichsetzung des Begriffs mit dem
Wesen, der Wahrheit mit dem Sein. Nicht, daß er Denken und Sein identifizierte; er läßt sie in
einer naiven, zugleich tiefsinnigen Weise undifferenziert.“299
Deutlich von Platon und dessen Kosmostheologie beeinflußt, umspannt die Aristotelische
Metaphysik Ontologie, Physik und Theologie als Suche nach den allen Dingen
innewohnenden Zwecken und Formen, auf die sie gleichsam programmiert seien. Der in
jedem Seienden angelegte Endzustand ist für Aristoteles gleichbedeutend mit dessen Natur.
Er hat einen strikt teleologischen Entwicklungsbegriff von „Natur“, demzufolge „die Natur
nichts sinn- und zwecklos tue“.300 Natur definiert er als „das, was aufgrund eines immanenten
Prinzips in kontinuierlicher Bewegung einem Zweck entgegeneilt“301, womit er sich der
quantitativ mechanistischen Atomtheorie Demokrits entgegenstellt, die Natur mit den
„Atomen, die im Raum umhergeschleudert werden“, gleichsetzt.
Aristoteles sieht ein Seiendes stets im Blick auf seine Anlage und damit auf seine
Entwicklung hin zu dem jeweiligen Soll- bzw. Endzustand. Der vorprogrammierte
Endzustand zeige sich in dem fertigen, wirklichen Einzelding als dem konkreten Wesen
(ουσία, Substanz); und zwar an dessen Form (ειδος) bzw. Gestalt (µορφή). Daher falle der
Zweck (das Worum Willen, το ου ένεκα) zusammen mit der einprogrammierten Form eines
Dinges. So bringt Aristoteles drei der unterschiedenen Ursprünge – seit der Scholastik auch
causae, also ‚Ursachen’ genannt – in seiner Theorie der bewegten, dynamischen Wirklichkeit
aufs engste zusammen, den Zweckursprung (causa finalis) mit der Wirkursache (causa
efficiens) und diese mit dem Formursprung (causa formalis). Die Form, das Eidos, hebt er als
das Wesen hervor, sie sei die ουσία ανευ υλης,, das Wesen ohne Materie.
299
300
301
G. Patzig, Artikel „Aristoteles“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (zit.: RGG), 3. Auflage, Bd. 1,
Tübingen 1957, S. 597-602, hier: S. 599f.
Aristoteles, De coelo B, 11; 291 b 13.
Ders., Physik B, 8; 199 b 15. Empfehlenswert dazu: J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. I,
Frankfurt a.M. o.J., bes. S. 198ff.
124
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Die spekulative Annahme von Naturzwecken, nach denen die Dinge streben, führte zu einem
teleologischen Naturverstehen, insbesondere einem Verstehen organischer Prozesse:
Aristoteles betrachtet die Natur verstehend, das heißt, er verfährt analog zum Verstehen
intentionaler Handlungsabläufe und zum Sinnverstehen eines Textes. So konnte sich die
aristotelische Naturbetrachtung mit dem Topos vom ‚Buch der Natur’ bzw. liber naturae
verbinden. Es ist dieser Topos, woran sich die Naturerkenntnis und die natürliche Theologie,
die Lehre von der Gotteserkenntnis aus der zweckvoll eingerichteten Natur orientiert hat –
und das bis in die Neuzeit.302
Eine solche qualitative, sinn- und zweckverstehende Sichtweise ist unvereinbar mit der
modernen objektivierenden Außenansicht, die nach den kausalen Bedingungen fragt, welche
ein bestimmtes Naturereignis gesetzmäßig verursachen und einen bestimmten Prozeß ebenso
gesetzmäßig auslösen. In dieser nomologischen Perspektive versucht man ein Naturereignis
nicht etwa zweckbezüglich und gewissermaßen von innen als Phänomen nachzuverstehen;
vielmehr konstruiert man es mit Hilfe bestimmter Gesetzesannahmen als Fall eines
allgemeinen Natur-Gesetzes, genauer: als Fall einer nomologischen Theorie. So tritt an die
Stelle eines teleologisch verstehbaren Phänomens, von dem angenommen wird, es zeige sich
von sich selbst her, das sinnleere bzw. stumme Objekt einer theoretischen Erklärung. Es
bedurfte einer Denk- und Methodenrevolution, damit es in der Neuzeit, eindeutig mit Galileo
Galilei
und
Isaac
Newton,
zur
mathematisierten,
konstruktiv
kausalerklärenden
Naturwissenschaft kommen konnte.303
Allerdings hatte dieser Paradigmenwechsel einen organismustheoretischen und ökologischen
Preis, weil er einen Objektivismus der Betrachtungsweise und Methode einschließt –
ambivalent für die Biologie und für den Umgang mit der Natur riskant. Biologisch blendet er
ab, daß die Lebensprozesse in der außermenschlichen wie in der menschlichen Natur ohne die
auch die elementaren Quasi-Zwecke der Organismen, nämlich das Funktionieren des
Stoffwechsels, die Selbsterhaltung und die angelegte Selbstentfaltung des Organismus nicht
begreiflich sind.304 Ökologisch ist ein Objektivismus unsensibel für das Wechselverhältnis
302
303
304
Vgl. D. Böhler, Naturverstehen und Sinnverstehen, in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis und
Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981
(zit.: Naturverständnis (1981)), S. 70-95.
Vgl. A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft, München 1977.
K.-O. Apel, Das Verstehen – eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. I , Bonn 1955, S. 142-199 (zit.: Das Verstehen (1955)). J. Mittelstraß, Das Wirken der Natur.
Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs, in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis (1981), S. 36-69. D.
Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas,
München 1994 (zit.: Ethik für die Zukunft (1994)), S. 244-276.
Dazu: H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973 (zit.:
Organismus und Freiheit (1973)), bes. S. 22ff, 34ff, 53ff, 103ff, 124f und 130ff. K.-O. Apel, Die Erklären :
Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M. 1979, bes. S. 307ff.
125
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
von Organismus und Umwelt als dessen Lebenszusammenhang. Organismen hängen von
einer zuträglichen Umwelt ab. Nun ist aber die faktische Umwelt von Pflanzen, Tieren,
Menschen gesellschaftlich – durch menschliche Kultivierung, Industrie und Technologie –
derart folgenschwer verändert worden, daß es einer lebenssensiblen, ökologisch
perspektivierten Technologie bedarf, deren Selbstverständnis und Methode einer Umweltethik
entgegenkommt. Es ist deshalb kein Zufall, daß seit den sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts, als Hermeneutik, Pragmatik und Ökologie einander in der Kritik des
methodologischen Objektivismus begegneten, der aristotelische Verstehenszugang zur Natur
wissenschaftstheoretisch, naturphilosophisch und kritisch differenziert und ökologisch
aktualisiert werden konnte: nach Hans Jonas’ Pioniertat einer „philosophischen Biologie“
(1966) zumal von Karl-Otto Apel mit transzendentalpragmatisch wissenschaftstheoretischer
Fragestellung (1979) und von Robert Spaemann sowie Reinhard Löw (1981) in ontologischer
Sicht.305
Kehren wir zu Aristoteles, dem Enkelschüler des Sokrates zurück, und fragen nach seinem
Philosophieverständnis, so fällt gleich auf, daß er in erster Linie gegenstandstheoretisch,
nämlich substanzontologisch, dachte, nicht etwa sokratisch dialogisch. Demgemäß begriff er
die Philosophie nicht als methodischen Dialog und als dessen Reflexion, sondern als theoria
des Seins. Er suchte eine durch Prinzipien gesicherte Erkenntnis des Seienden, insofern es
ist.306 Eine solche Erkenntnis nennt er Philosophie und stellt sie sowohl der Dialektik, die es
bloß zum Wahrscheinlichen bringe und beim Erkenntnisversuch stehenbleibe, als auch der
Sophistik entgegen, da diese zwar Philosophie zu sein scheine, jedoch keine sei.307 Unter
Prinzipien (αρχαι) verstand er in erster Linie Quellen bzw. Ursprünge des Seienden, die
diesem objektive Grundcharaktere verleihen wie die Selbigkeit der Form (ειδος) und die
Strebigkeit zum naturgemäßen Zustand, dem Telos. Zudem kann er darunter Erkenntnis- und
Verfahrensgrundsätze bzw. Beweisaxiome verstehen. Als das erste Verfahrensprinzip gibt er
den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch an. Doch versteht er diesen logischen Grundsatz
zugleich ontologisch; denkt er ihn doch als verwoben mit den Ursprüngen bzw. tragenden
Charakteren des Seins, in diesem Fall mit der Selbigkeit eines Wesens dank der Identität
seiner einprogrammierten natürlichen Form.
305
306
307
Zu Jonas und Apel siehe Anm. 162; R. Spaemann, R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und
Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981; R. Löw, Zur Wiederbegründung der
organischen Naturphilosophie, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 68-79.
Aristoteles, Metaphysik, 1003 a 21-32, vgl. 1005 a 24 u.ö.
A.a.O., 1004 b 17-26.
126
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Folgt er hierin nicht seinem Lehrer Platon, insofern dieser die Ideen zugleich als
Seinsstrukturen und Erkenntnisvoraussetzungen angesetzt hatte? Jedenfalls interpretiert er den
logischen Satz vom Widerspruch als ontologisches principium: als Formel für die
Selbstidentität der Substanzen. Davon geht er im vierten Buch seiner Metaphysikvorlesungen,
in dem er den Satz vom Widerspruch als gültiges Axiom erweist, offenkundig aus, sowohl im
ersten wie im dritten Kapitel. Er bekräftigt diese substanzontologische Deutung308 im
Fortgang des vierten Kapitels mit gegenstandstheoretischen Argumenten, undialogisch und
gegen die natürliche Sprachpragmatik denkend. Die gegenstandstheoretische Perspektive wird
sein Nachfolger in der peripatetischen Schule, Theophrast, als die philosophische Perspektive
auszeichnen und sie der vermeintlich unphilosophischen Pragmatik entgegensetzen.
Ontologie bestimmt Aristoteles als jene Erkenntnisweise, die das Seiende so erkenne, wie es
an sich selber ist, d.h. in seiner Identität und damit in seinem aktuellen Was- und Eines-Sein,
um es in der Sprache des Thomas zu sagen. Eben diese Seinserkenntnis würdigt Aristoteles
als die „erste Philosophie“ oder ‚erste Wissenschaft’.309 Damit erkennt er der Metaphysik, der
Substanzontologie, den Vorrang vor Logik und Erkenntnistheorie zu. Warum? Jene sei
absolut wahrheitsfähig, weil sie von dem handele, was so sei, wie es ist und nicht anders sein
kann – ganz im Unterschied zur Praktischen Philosophie, zu Politik und Ethik. Denn diese
habe es mit den veränderlichen bzw. schwankenden Angelegenheiten der Handlungswelt zu
tun.310 Also vor seinem ewigkeitsontologischen Hintergrund und dank seiner Offenheit für
unterschiedliche Phänomene bzw. Erkenntnisgegenstände entdeckt er, daß die theoria, der
Erkenntnisrahmen des Ontologen und dessen Suche nach ewigen Seinsstrukturen, quer steht
zur geschichtlichen und sozialen Welt. Sie tauge nicht eigentlich zur Erkenntnis der
Polisbildung und Polisleitung noch werde sie dem Orientierungsanspruch der Staatskunst und
Ethik gerecht. Denn das seien praktische Wissenschaften, deren Ziel nicht im Erkennen
(ewiger Wahrheit), sondern in situationsbezogenem Handeln liege. [Fortsetzung folgt!]
Was andere Erkenntnismethoden anbelangt, kann er auch den Gegensatz zur Dialektik
betonen, weil die es bloß zum Wahrscheinlichen bringe und beim Erkenntnisversuch
stehenbleibe. Erst recht setzt er seine ontologische Philosophie der Sophistik entgegen, da
diese zwar Philosophie zu sein scheine, jedoch keine sei.311
308
309
310
311
Die thomasische Auslegung, derzufolge Aristoteles den Satz vom Widerspruch „offenbar in
Zusammenhang mit dem Seinsmerkmal des Identischen (Selbigen), von dem er in Kapitel 3 sprach“,
gesehen habe, trifft m.E. zu. So der Kommentar Horst Seidls in der Meiner-Ausgabe der „Metaphysik“:
Hamburg 1991, S. 349, vgl. 351ff.
Aristoteles, Metaphysik, 1004 a 3ff.
Aristoteles, Nikomachische Ethik, I, 1094 b 12-27.
Aristoteles, Metaphysik, 1004 b 16-26.
127
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Für das Selbstverständnis wie auch für die Inhaltsbestimmung der Philosophie war Aristoteles
von kaum zu überschätzender Wirkung: seit seiner Wiederentdeckung und theologischphilosophischen Aneignung durch Albertus Magnus und Thomas von Aquin hat er die
Philosophie erneut auf das Paradigma einer metaphysisch teleologischen Ontologie festgelegt.
Selbst nach dem Paradigmawechsel, nämlich in dem neuzeitlichen, modernen Paradigma der
Subjekt- bzw. Bewußtseinsphilosophie lebt die Aristotelische Ontologie begrifflich fort. Doch
auch für ein strikt nachmetaphysisches Denken, für die Selbstaufklärung des Philosophierens
als eines Denkens im Dialog und als eines Begründens aus dem Dialog ist Aristoteles von
Bedeutung.
4.2.2 Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: Verbindlichkeit aus dem Diskurs.
Oder: Aristoteles als Diskpragmatiker avant la lettre?
Diese
Aktualität
zeigt
sich
heute
bei
der
Entwicklung
eines
dritten,
kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophie. Jetzt erst nehmen wir den
Richtungsstoß wahr, den er für ein sokratisch dialogisches Selbstverständnis des Denkens als
kommunikativ reflexiven Diskurses gegeben hat. Paradoxerweise ist es nämlich der
metaphysische Seinsdenker, der – auf der Suche nach den ersten Quellen des Seins und den
ersten Grundsätzen bzw. Beweisaxiomen der Seinslehre – den Sokratischen Elenchos als
genuin philosophische Begründungsweise ins Spiel bringt.
Wird der Ontologe gegen sein Selbstverständnis zum Sokratiker und Dialogiker? Als
Ontologe sucht Aristoteles das „sicherste Prinzip von allen Dingen“, über das „kein Irrtum
möglich ist“312. Dieses müsse das zugleich ontologische Prinzip der Identität und das logische
des Satzes vom Widerspruch sein. In seinen Vorlesungen über eine erste Philosophie, die viel
später, nach der Anordnung seiner Vorlesungen, den Namen „Metaphysik“ – die nach der
Physik – erhalten sollte, stellt er im vierten Buch die Philosophie als diejenige Wissenschaft
heraus, die einerseits vom ursprünglichen Wesen dessen, was ist, handelt und andererseits von
den „allergewissesten“ Axiomen bzw. ersten Grundsätzen.
In einer Diskussion mit relativistischen Skeptikern – offenbar mit Herakliteern, die die
Gültigkeit dieses doppelten Prinzips bestreiten und von ihm dessen Beweis, nämlich eine
αποδειξις (apodeixis), eine Deduktion abverlangt haben –, gerät der junge Aristoteles
offenbar in Beweisnot. Gegenüber seinen Gegnern kann er nicht einfach im Sinner seiner
312
Ebd., 1005 b 10-17.
128
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Ontologie weiterargumentieren. Ebenso wenig kann er sich auf die von seinen Gegnern
vorausgesetzte formallogische Beweismethode, nämlich auf die Deduktion des zu
Beweisenden aus Obersätzen, verlassen. Denn diese würde – wir kommen darauf – nur in drei
Verlegenheiten führen, in ein Trilemma. In dieser Beweisnot entwirft der junge Aristoteles
einen anderen Begründungsweg: eine reflexiv sinnkritische Argumentation. Denn allein auf
eine solche reflexive Weise, nicht aber durch eine Deduktion aus Obersätzen, sei es möglich,
ein in der Tat fundamentales und irrtumsfreies Prinzip zu erweisen: ein Prinzip, das für jeden
als Dialogpartner unhintergehbar ist. Allein reflexiv, und gewissermaßen praktisch, d.h.
durch Rückgang auf das, was auch ein Skeptiker, insofern er sich am Dialog beteiligt,
voraussetzen muß, lasse sich überhaupt die Gültigkeit jenes elementarsten und sichersten aller
Grundsätze erweisen.313
Warum? Nun, jeder, der überhaupt etwas Bestimmtes zu verstehen gebe (σηµαίνειν,
semainein) und geltend mache, also jeder, der überhaupt etwas denke und es zu sich oder zu
einem anderen sage,314 der habe dieses Prinzip – jedenfalls als Satz des Widerspruchs –
bereits als gültig vorausgesetzt und es implizit als Grundregel der Rede anerkannt.
Das sieht in der Tat nach einem schlagenden Argument aus. Doch läßt sich aus der Moderne,
aus dem Denken seit Hume und Kant, nicht doch ein geltungslogischer Einwand dagegen
vorbringen? Versuchen wir es: ‚Nun gut’, könnte ein moderner Skeptiker einwenden, ‚so mag
es sein. Doch schließt du damit nicht von einem bloßen Faktum auf die Verbindlichkeit einer
Norm? Das wäre ein faktizistischer bzw. naturalistischer Fehlschluß eigener Art.’
Dieser Einwand läßt sich nur entkräften, wenn man demonstrieren kann, daß jenes
Voraussetzen des Widerspruchssatzes als eines gültigen Prinzips ebenso dialogisch wie
logisch notwendig ist – durch kein sinnvolles Argument hintergehbar. Dazu tut Aristoteles
einen wichtigen Schritt. Denn er kann, wie jeder von uns, hier eine Sinnbedingung des EtwasDenkens ins Spiel bringen; mithin etwas, das nicht bloß faktisch von N.N. anerkannt worden
ist – dann hätte das Anerkannte einen bloß zufälligen Charakter, so daß ihm keine allgemeine
Verbindlichkeit zukäme –, vielmehr etwas, das sich gar nicht sinnvoll in Zweifel ziehen läßt,
weil es zur Sinnbasis eines jeden möglichen Dialogs gehört.
So können wir mit Aristoteles reflexiv sinnkritisch argumentieren: Eine Person, die sich selbst
bzw. Anderen etwas verständlich macht, kann dieses Gesagte/Gedachte allein dadurch als
Beitrag in einem Diskurs zur Geltung bringen, daß sie eine verpflichtende Partnerrolle
eingenommen hat: die Rolle eines Partners in einem Dialog, worin allein diskutierbare
313
314
Ebd., 1005 b 17f und 1005 b 33f.
Ebd., 1006 a 21-23; hiermit paraphrasiert er übrigens Sokrates nach Platon, Theaitetos 189 e 4 - 190 a 2.
Vgl. 1006 b 7-9.
129
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Argumente zählen. Denn diese Voraussetzung stellt, so läßt sich Aristoteles explizieren, eine
argumentativ unhintergehbare Sinnbedingung der Rede bzw. eines Logos dar. Das macht er
schlagartig klar: Jeder, der sich nicht davonstehle oder sich stumm wie eine Pflanze verhalte,
sondern Rede und Antwort stehe, müsse – wenn er nur im Dialog auf die Sinnbedingungen
des Rede-und-Antwort-Stehens achte – zugeben, daß die These, alles könne „so“ und zugleich
„nicht so“ sein, in ihrer Bedeutung eigentlich nicht nachvollziehbar und als Argument mit
Geltungsanspruch nicht prüfbar sei. Also sei der bezweifelte Grundsatz vom zu vermeidenden
Widerspruch als Prinzip wahr und als Diskursregel verbindlich.
Aristoteles konstatiert, daß diese kritische Argumentation den Satz vom Widerspruch durch
Widerlegung seiner Bezweiflung beweise.315 Fragt sich nur, ob diese formallogische
Bewertung hinreichend bzw. angemessen ist. Trifft sie die Form des Erweises? Sowohl das
Erweisziel als auch die Erweismethode sind sinnkritischer Art: das, was erwiesen werden soll,
ist die Unhintergehbarkeit des Prinzips; die Art des Erweises ist eine diskurspragmatische
Sinnkritik. Das Resultat lautet daher: Die These von N.N. ist nicht diskutierbar. Was sich aber
nicht auf seine Wahrheit oder Falschheit hin diskutieren läßt, das ist nicht widerlegungsfähig.
Wer derlei behauptet, ist bereits vor jeder Wahrheitsprüfung gescheitert. Sein Dialogbeitrag
ist sinnlos. Er ist mit diesem Beitrag aus dem argumentativen Dialog ausgeschieden.
Das Fazit müßte also nicht „Widerlegung der Beweisführung“ lauten, sondern Sinnlosigkeit
der Bezweiflung (als Dialogbeitrag) bzw. dialogische Sinnlosigkeit. Denn weder eine Rede
insgesamt, also als Beitrag in einem Diskurs, noch eine Aussage als Satz, die widersprüchlich
ist, kann überhaupt eindeutig identifiziert, intersubjektiv nachvollzogen und auf mögliche
Wahrheit hin geprüft werden. Sie ist sinnlos. Dasjenige aber, an dessen Gültigkeit sich nicht
mit einer verständlichen, sinnvollen Rede zweifeln läßt, das ist gültig. Und sofern dasjenige,
an dessen Gültigkeit sich nicht mit einer verständlichen, sinnvollen Rede zweifeln läßt, einen
normativen, moralischen Gehalt besitzt, ist es verbindlich. Diese diskurspragmatische
Konsequenz zieht der Ontologe und Logiker nicht; dafür bietet sein Selbstverständnis als
theoria-Denker keinen Raum.
Will man Aristoteles’ Argument sinnkritisch interpretieren und durchführen, so scheinen sich
zwei
Wege
anzubieten,
nicht
allein
der
dialogpragmatische,
sondern
auch
ein
satzsemantischer. Diesen will Ernst Tugendhat einschlagen. Doch seine Pointe lautet: ‚Eine
Aussage, die in ein und derselben Hinsicht Verschiedenes besagt, nämlich zugleich A und
non-A geltend macht, ist nicht diskutierbar.’316 Freilich hat er mit dem Kriterium der
315
316
Ebd., 1006 a 15-18 und 1006 a 22-28.
Vgl. E. Tugendhat, U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik (1983), S. 50-59.
130
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Diskutierbarkeit implizit schon einen diskurspragmatischen Standpunkt bezogen. Denn damit
argumentiert er als Diskurspartner, der vom Sprecher des Satzes erwartet, daß dieser in einem
unausgesprochenen Behauptungsakt („Ich behaupte hiermit als verständlich und wahr: A ist
zugleich
A
und
non-A“)
bestimmte
diskussionsermöglichende,
weil
prüfbare
Geltungsansprüche erhoben hat. Das heißt aber, daß auch der sprachanalytische Philosoph,
der Satzsemantiker, eine diskurspragmatische Perspektive in Anspruch nehmen muß. Er
kommt nicht umhin, den zu prüfenden Satz als den propositionalen Teil eines kompletten,
formal vollständigen Diskursbeitrages in einem Dialog zu verstehen. Mithin nimmt er selbst
(virtuell) die Rolle des Diskurspartners ein. Also denkt er eigentlich nicht bloß satzanalytisch,
nicht allein in der theoretischen Einstellung dessen, der einen Satz von außen und nur auf
seine Semantik hin analysierte. Vielmehr versteht er a priori das pragmatische Eingebettetsein
des Satzes in einen Diskussionsbeitrag, für den der Sprecher Geltung beansprucht. Im
Widerspruch zu seinem satzanalytischen Selbstverständnis setzt er von vornherein bei dem
geltungslogisch pragmatischen Sinn eines Satzes als Diskursbeitrag mit Geltungsanspruch
ein. Seine sinnkritische Begründung des Satzes vom Widerspruch ergibt sich just aus der
Perspektive, die er als Satzanalytiker außen vor läßt, nämlich aus der Perspektive eines
Diskursteilnehmers…
Das zeigt, daß eine bloß satzsemantische Analytik gewissermaßen dialogparasitär ist; lebt sie
doch von einem Geltungssinn, den sie als Analyse nicht einholen kann. Dieser Befund
berechtigt dazu, die umfassende dialogbezogene Perspektive einzunehmen und Aristoteles’
negativen Erweis auf die ganze Rede zu beziehen: Gerade ein formal vollständiger
Diskursbeitrag – ein performativer Akt, der Geltungsansprüche erhebt, in Verbindung mit
einer Proposition, für die Geltung beansprucht wird – ist für Diskurspartner (und auch für den
Sprecher als Diskursteilnehmer) allein dann verständlich, wenn im Verhältnis beider Teile
zueinander, also Geltungsanspruch und Proposition, kein Widerspruch besteht. Anders
gewendet: in dialogreflexiver Einstellung läßt sich demonstrieren, daß man eine pragmatisch
bzw. performativ widersprüchliche Rede überhaupt nicht als Diskussionsbeitrag aufnehmen
kann, weil man sie weder als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen noch auf ihre
Geltung hin prüfen kann. Man kann sie eben nicht diskutieren. Wer derlei vorbringt, hat
durch diesen Akt den argumentativen Dialog verlassen. Er hat sich – mit dieser Rede –
disqualifiziert, so daß sein Votum ausscheidet; es zählt nicht.
So hätte der dialogpragmatische Coup des jungen Aristoteles aussehen können. Und in
gewisser Weise scheint er für einen Blitzschlag die reflexive Einstellung und den ultimativen
Status eines sokratischen Elenchos, dessen Rang als dialogreflexiven Gültigkeitserweis eines
131
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Prinzips, erspürt zu haben – die Möglichkeit einer Prinzipienbegründung durch Reflexion im
Dialog auf Sinnvoraussetzungen eines Dialogbeitrags eröffnend. Freilich ist die geniale
sokratische
Intuition
des
Peripatetikers
weder
von
ihm
selbst
noch
von
der
Philosophiegeschichte in seiner reflexiven Methodik erkannt geschweige denn ausgeschöpft
worden. Umso mehr verlohnt es, bei ihm zu verweilen und ihn zu explizieren – mit Bezug auf
Wolfgang Kuhlmanns reflexiv pragmatische Rekonstruktion317.
Aristoteles entdeckt eigentlich, sagten wir, daß eine Rede, die nicht dem Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch folgt, nicht verständlich ist. Folge sie ihm nämlich nicht, dann
könne niemand, weder der Sprecher noch die Hörer, wissen, wovon eigentlich die Rede sei,
was also diskutiert und auf seine Gültigkeit hin geprüft werden solle. In solchem Falle bringe
der Redende eine These (einen Zweifel oder eine Bestreitung) vor, die sich nicht
identifizieren und als Diskussionsbeitrag nicht verstehen lasse. Das heißt: ein solcher Gegner
diskutiert gar nicht. Zwar scheint er einen Diskurs zu eröffnen, indem er die Rolle eines
Diskurspartners einnimmt (oder prätendiert); doch hält er diese Rolle nicht durch, vielmehr
entzieht er sich durch seine widerspruchsvolle Rede dem Dialog der Argumente, weil er etwas
vorbringt, das Argumentationsteilnehmer nicht als Argument nachvollziehen und prüfen
können.
Diese, bei dem jungen Aristoteles zumindest angelegte, reflexive Sinnkritik kann, sofern sie
diskurspragmatisch expliziert und demgemäß durchgeführt wird, sechs Dinge demonstrieren:
Jeder Gedanke basiert auf dem dialogbezogenen Geltungsanspruch, als Diskursbeitrag
verständlich zu sein (1). Dieser Verständlichkeitsanspruch impliziert die Anerkennung, daß
der Satz vom (zu vermeidenden) Widerspruch logisch gültig (2) und für alle möglichen
Diskursteilnehmer dialogisch verbindlich ist (3) – ein unhintergehbares Sinn- und
Geltungsprinzip des Denkens als Diskurs.
Der erhobene Geltungsanspruch auf Verständlichkeit läßt sich nicht elementarsemantisch
verengen auf die Nachvollziehbarkeit eines sprachlichen Ausdrucks, sondern geht primär auf
den direkten Kontext einer Redehandlung als Diskursbeitrag, der sich auf seine Gültigkeit
oder Ungültigkeit hin diskutieren läßt. Der Verständlichkeitsanspruch ist also, weil er darauf
zielt, daß man das Gesagte als Diskursbeitrag ernstnehmen und hinsichtlich seiner
Geltungswürdigkeit prüfen kann, verwoben mit Ansprüchen der Gültigkeit, nämlich mit dem
theoretisch-empirischen Geltungsanspruch auf Wahrheit und dem praktischen auf Richtigkeit
bzw. Legitimität (4).
317
W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 267-278.
132
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Der dialogpragmatische Schluß auf die Sinnlosigkeit eines Zweifels an der Gültigkeit und
Verbindlichkeit des Satzes vom Widerspruch ist schlagend. Ein dialogreflexiver Schluß zeigt
sich als eigenständiger Beweis. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Beweisart zu tun, als
es die aussagenlogische Deduktion eines Satzes aus Obersätzen ist: hier liegt ein sinnkritisch
reflexiver Aufweis oder Elenchos vor (5).
Die sinnkritische Evidenz des dialogreflexiven Elenchos unterscheidet ihn scharf von einer
formallogischen Ableitung. Denn ein deduktiver Beweisgang führt in einen unendlichen
Regreß auf wiederum bezweifelbare, beweisbedürftige Axiome oder zur dogmatischen
Festsetzung eines „ersten“ Axioms, die den Begründungsdiskurs abbricht, oder aber zu einem
logischen Zirkel, weil auf begründungsbedürftige Aussagen zurückgegriffen wird. Das ist die
Einsicht in das von Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und Hans Albert dargelegte
Münchhausentrilemma (6a). Hingegen eröffnet der reflexive Rückgang auf interne
Sinnbedingungen
des
Diskurses
einen
abschließenden
Gültigkeits-
oder
Verbindlichkeitserweis, eine „reflexive Letztbegründung“ (W. Kuhlmann) bzw. einen
dialogreflexiven Erweis (6b)318. Denn wenn ein Dialogpartner dem anderen reflexiv aufzeigt,
daß dieser die logische Geltung und dialogische Verbindlichkeit eines als Prinzip behaupteten
Satzes nicht ohne pragmatischen bzw. performativen Selbstwiderspruch (zu der von ihm
selbst in Anspruch genommenen Rolle eines Diskurspartners) bezweifeln kann, so
demonstriert er sinnkritisch, und zwar unhintergehbar, daß eben dieser Satz gültig und für
einen Diskursteilnehmer verbindlich ist – ein absolutes Prinzip des Denkens als Diskurs. Das
ist die Pointe einer aktuellen, sokratisch sinnkritischen Dialogreflexion. Karl-Otto Apel hat
sie in der Auseinandersetzung mit Hans Albert angebahnt und auf die Formel „Reflexion auf
den Diskurs im Diskurs“ gebracht.319 Die Diskurspragmatik zeichnet eine solche
Dialogreflexion als den eigentlichen philosophischen Beweis aus: allein sie könne die
Grundlagen des Philosophierens als denknotwendig und allgemeinverbindlich erweisen.
Das, was der frühe Aristoteles in der Diskurssituation der Prinzipienbegründung entdeckt oder
doch gegenüber Prinzipienbezweiflern in Anspruch genommen hat, die Umstellung des
Etwas-Denkens zu einer aktuellen Reflexion auf dessen Sinnbedingungen in dem gerade
geführten Dialog, kann er jedoch weder als Ontologe, der theoretisch spekulativ denkt, noch
später als Logiker, der bloß theoretisch analytisch verfährt, in Besitz nehmen. Denn wer allein
in theoretischer und analytischer Einstellung über etwas nachdenkt, statt auf seine dialogische
318
319
Vgl. W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). Vgl. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 296-308,
363-384, vgl. 335ff; H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: Burckhart und Gronke (Hg.), Philosophieren
(2002), bes. S. 34ff.
K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 179.
133
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Praxis zu reflektieren, der vergißt methodisch, was er dialogisch tut bzw. je schon getan hat,
daß er nämlich selbst Geltungsansprüche gegenüber Anderen erhoben hat.
So vergißt der spätere Aussagenlogiker Aristoteles das – für die Selbsteinholung des
Diskurses und damit für die Letztbegründung von Prinzipien ausschlaggebende – dialektische
Zugleich von theoretischer Einstellung und aktuell reflexiver Einstellung, wenn er den
Elenchos nur als analytisches Instrument entwickelt: als indirektes Verfahren eines Beweises
durch Widerlegung einer aufgestellten Behauptung.320 Der Elenchos habe „die Form der
reductio ad absurdum, welche den Schluß auf die Negation der widerlegten Aussage
erlaubt“321. Doch behandelt ein solches formallogisches Beweisverfahren die (in unserem
Zusammenhang als unbezweifelbar gültig) zu erweisende Präsupposition (hier: ‚der Satz vom
zu vermeidenden Widerspruch ist unhintergehbar’) nur wie eine Prämisse in einem
Syllogismus. Für den, der so verfährt – bloß analytisch technisch, ohne sich und die Anderen
als Diskussionspartner zu berücksichtigen –, gilt dann tatsächlich, was Alfred Berlich
irrtümlich gegen die transzendentalpragmatische Idee der reflexiven Letztbegründung
vorgebracht hat: daß „das elenktische Argument vom transzendentalen Charakter des zu
Begründenden Gebrauch macht, nicht ihn begründet“322.
Das ist das Begründungsdefizit des Aristoteles. Er fällt damit hinter seinen eigenen Ansatz
oder doch Anstoß zurück, der auf einen reflexiven Gültigkeitserweis des transzendentalen
Prinzips der Logik abzielt. Indem er in seiner Ersten Analytik eine bloße Aussagenlogik
entwickelt und nunmehr den Sokratischen Elenchos bloß „aus der Perspektive der
apodeiktischen Logik analysiert“323, hat er das dialektische Zugleich des Elenchos, nämlich
zugleich Rede über etwas und Reflexion auf die Redehandlung zu sein, im vorhinein
abgespannt. Als theoretisch eingestellter Analytiker von Aussagen begibt er sich der
sokratisch reflexiven Begründungsperspektive und damit auch ihres Ertrags. Denn der besteht
darin, daß die Gültigkeit des zu begründenden Prinzips im Dialog durch Reflexion auf die von
‚mir’ in Anspruch genommenen Sinnbedingungen des Dialogs erwiesen wird: als nicht
hintergehbar von ‚mir’.
Von ‚mir’? Wer ist dieses Ich? Jeder kann es sein, insofern er überhaupt etwas zu verstehen
gibt und zur Geltung bringen will. So bin ich es selbst, der ‚ich’ in der Rolle eines
320
321
322
323
Aristoteles, Analytica priora I, 6, 28b, 21; I, 23, 41a, 23ff sowie II, 20, 66b, 11 u.ö.
A. Berlich, Elenktik des Diskurses, in: Kuhlmann und Böhler (Hg. 1982), S. 251-287,
hier S. 279, vgl. D. Böhler, Transzendentalpragmatik und kritische Moral, in: a.a.O., S.
83-123, bes. S. 85-92.
A. Berlich, a.a.O., S. 261f.
K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 172.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
glaubwürdigen Diskurspartners einen bestimmten Zweifel als Diskursbeitrag vorbringe oder
einen anderen Gedanken verständlich und geltend mache.
Der Aussagenlogiker Aristoteles verspielt diese dialogisch reflexive Begründungspointe des
Sokratikers. Damit beraubt er den Elenchos seiner Bedeutung als Selbstaufhebungsargument,
als Erweis einer Sinnlosigkeit. Denn der Elenchos kann ein bezweifeltes Prinzip negativ
begründen, indem er den dagegen vorgebrachten Geltungszweifel als sinnlos vorführt – als
Zerstörung des Geltungsbodens, auf dem der Zweifelnde als Sprecher, der einen Gedanken
verständlich und geltend machen will, doch selber steht.
4.2.3 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung für den
methodischen Solipsismus
Es ist kein Wunder, daß die theoretische Denkeinstellung in Aristoteles’ Philosophie den Sieg
über eine reflexiv sokratische davonträgt. War diese doch ein ungesicherter Versuch, jene
aber übermächtig etabliert in der griechischen theoria-Tradition. So kann der Platonschüler –
seiner Kritik an der Ideenlehre zum Trotz und im Gegenzug zu seiner erfahrungsbezogenen
Orientierung – das „theoria“-Konzept seines Lehrers in wichtigen Stücken fortsetzen.
Beispielsweise, indem er die theoretische Lebensform des Philosophen (βίος θεωρητικός, bios
theoretikos) als Inbegriff eines glückseligen Lebens auszeichnet: die kontemplative
Lebensweise oder Haltung der theoria sei nämlich, wie er ganz platonisch annimmt und
wertet, die Annäherung der menschlichen Existenz an die vollkommen autarke, nur sich selbst
schauende und erkennende Vernunft Gottes.
Sokratiker ist Aristoteles eher in seiner Dialektik. Diese konzipiert er als Methode zur
Prüfung schwacher Geltungsansprüche, wie sie für (bloß) wahrscheinliche Sätze erhoben
werden. Nach der dialektischen Methode sollen „wir über jedes aufgestellte Problem aus
wahrscheinlichen Sätzen (ένδοξα, éndoxa) Schlüsse ziehen können“, so daß wir, „wenn wir
selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten.“324 Im Gegensatz zu den Sophisten
schlägt er diese Methode auch nicht der Rhetorik325 zu, sondern sieht sie als kommunikative
Hilfsdisziplin der Philosophie an: Als Prüfungskunst habe sie „nicht denjenigen, der sicheres
Wissen hat, im Blick, sondern denjenigen, der dieses nicht hat, es aber zu wissen beansprucht.
324
325
Aristoteles, Topica I, 1, 100 a, 18ff. Vgl. E. Braun, Zur Vorgeschichte der
Transzendentalpragmatik. Isokrates, Cicero und Aristoteles, in: A. Dorschel u. a. (Hg.),
Transzendentalpragmatik, Frankfurt a.M. 1993 (zit.: Vorgesch. Transzendentalpragmatik
(1993)), S. 23; H.-B. Gerl, Philosophie und Rhetorik bei Johannes von Salisbury, in: H.
Schanze, J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989 (zit.: Rhet. u.
Phil. (1989)), S. 108-119, hier 109f.
Aristoteles, Metaphysik I, 2, 104 b, 17ff.
135
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Wer nun das Allgemeine sachgemäß betrachtet, ist ein Dialektiker, wer dies bloß vorgibt, ist
ein Sophist.“326 Bei der dialektischen Prüfung wahrscheinlicher Sätze müsse der Dialektiker
kommunikativ verfahren, nämlich „seine Argumentationspartner ständig einbeziehen und sich
auf diese einstellen“. Sei es doch darum zu tun, „daß sowohl der Vorgang der Prüfung als
auch deren Resultat an das Gespräch gebunden sind“, wie Edmund Braun herausarbeitet.327
So weit, so gut. Insofern nimmt Aristoteles einen wichtigen Platz in der Geschichte des
dialogisch-diskursiven Denkens ein. Aber er hat von seiner kommunikativen Dialektik keinen
fundamentalphilosophischen Gebrauch gemacht, hat sie nicht auf sich selbst als Ontologen
oder „ersten Philosophen“ angewandt. Vielmehr blieb er einem platonisch-theoretischen
Selbstverständnis verhaftet – „erste Philosophie“ gilt ihm als eine geistige Schau der ersten
Prinzipien, worunter er die eigentlichen Ursprünge, die Quellen dessen versteht, was ist. So
hat er, bei aller Kritik an seinem spekulativen theoria-Lehrer, den Kern der Philosophie nicht
in den Prinzipien des Dialogs, der gemeinschaftsbezogenen Praxis des Etwas-Denkens und
Etwas-Erkennens, gesucht und sie konsequent dort verortet. Wenn anders, hätte er auch der
philosophieverführerischen Tendenz zu einem methodischen Solipsismus den Boden
entzogen. Stattdesen verfestigte er das Parmenideisch-Platonische Verständnis der
Philosophie als theoria durch eine verdinglichende Sprachauffassung, der zufolge das Wesen
der Sprache dem geistigen Etwas-Sehen entspreche. Denn der Wesenszweck einer Sprache sei
die Bezeichnung und Darstellung eines Gegenstands, den Aristoteles nach dem Muster eines
sichtbaren oder vorgestellten Dings versteht.
Die Philosophie-, die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte dürfte ganz anders verlaufen sein,
wenn Aristoteles seine Philosophie aus der dialogisch reflexiven Einstellung entwickelt hätte,
die er im Begründungsstreit um den Satz des Widerspruchs hat aufblitzen lassen. Als Logiker,
der den Elenchos als Beweisfigur rekonstruiert, bleibt er der reflexionsvergessene Analytiker,
und als Fundamentalphilosoph ein „theoretischer“ Ontologe in der Schule Platons, der die
Beziehung der Aussagen auf mögliche Wahrheit im Sinne einer gegenstandstheoretischen
Ontosemantik interpretiert und sie daher als im Grunde kommunikationsunabhängig ansieht.
Denn er bestimmt sie nicht etwa als den Geltungsanspruch auf Wahrheit, der vom
Sprecher/Denker behaupteten Aussage. Vielmehr sieht er darin ausschließlich das Verhältnis
einer Aussage als Gedanke zu dem Sein selbst, und zwar im Sinne einer Übereinstimmung
beider ‚Seiten’. Das ist spekulativ ontologisch gedacht, vom Sein selbst her, und im Sinne
eines Vorstellens von Dingen; so als wäre der Gedanke und Kunstbegriff „Sein“ etwas
326
327
Aristoteles, Sophistici elenchi 11, 171 b 3ff.
E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 26; vgl. ders., Zur Einheit der
aristotelischen Topik, Köln 1959, S. 36f.
136
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dingliches – und nicht vielmehr das Ergebnis einer sprachlichen Interpretation, sei es von
lebensweltlich erschlossenen Sinnzusammenhängen der Kultur, sei es von vorgedeuteten bzw.
vorverstandenen Sachverhalten der Natur, die ihrerseits z.T. von Kultur schon durchdrungen
ist. Aristoteles setzt die theoria-Tradition fort: Erkenntnis versteht er nach dem Muster des
Betrachtens und Vorstellens von Dingen. Dementsprechend setzt er die Wahrheit von
Aussagen, die Bedeutung von Aussagenwahrheit, mit dem dinglich vorgestellten Seienden
gleich, welches ewig so ist, wie es an sich ist.
Aristoteles nimmt dabei den metaphysischen, genauer: seinstheologischen Standpunkt einer
göttlichen Vernunft ein, die das Ewige so erschaue, wie es an sich ist – was immer das
bedeuten
soll.
Diese
ontotheologische
Spekulation
verbindet
er
mit
einem
gegenstandstheoretischen Bedeutungs- und bezeichnungstheoretischen Sprachbegriff. So setzt
er voraus, daß der durch die Aussage formulierte Gedanke nicht in seinem
kommunikationspragmatischen Bezug, im Sinne von „Etwas-Denken“ als Etwas-gegenüberAnderen-Behaupten“ oder als eine andere kommunikative Sprachhandlung zu verstehen ist,
sondern als prädikative Aussage über etwas, das sich betrachten läßt wie ein Ding. So
etabliert er das Subjekt-Objekt-Schema des Denkens, als bewegte sich das Etwas-Denken und
Etwas-Aussagen bloß in der Relation zwischen dem, der etwas sagt/denkt und dem
Gegenstand seines Denkens/Aussagens. In der Moderne wirkt diese Ausklammerung der
kommunikationspragmatischen Voraussetzungen des Denkens überall dort fort, wo man die
Wende der Philosophie zur Sprache nur logisch strukturell versteht, als einen bloß satzsemantischen „linguistic turn“. Darauf kommen wir noch zu sprechen.
Damit aber nicht genug. Auch die Sinnkonstitution macht Aristoteles von der gesprochenen
Sprache, von der Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft, tendenziell unabhängig. Führt
er doch die Bedeutung der Gedanken auf innerseelische Vorstellungen zurück, welche eigentlich sprachunabhängig seien. Sprachliche Zeichen würden den Vorstellungen, die die
Seele vor jeder sprachlichen Kommunikation habe, dann bloß konventionell zugeordnet.328 Im
Rahmen dieser Sprachauffassung läßt sich die Dialektik nicht als ein Verfahren verständlich
machen, das prinzipiell auf öffentliche Rede und kommunikativen Diskurs angewiesen ist.
Daher führt von Aristoteles kein Weg zu einer Pragmatik, die den kommunikativen Diskurs
als Basis für intersubjektive Geltung auszeichnet.329
328
329
Aristoteles, De interpretatione I, 16 a I.
Anders E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 27f.
137
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Auch Theophrast (322-287 v.Chr.), Aristoteles’ Nachfolger im Peripatos, ist in diesem
Zusammenhang nicht als Abweichler von einem vermeintlich kommunikativ dialektischen
Wege des Aristoteles, sondern als konsequenter Fortsetzer von dessen theoriabestimmter
Philosophie-, Erkenntnis- und Sprachauffassung zu beurteilen. Er ist es, der die
Auswirkungen dieser Sprachauffassung für die Beziehungen zwischen Gesprächsteilnehmern
augenfällig macht: die kommunikativ-„pragmatischen“ Dimensionen der Rede reduziert er
auf eine Vermittlung von Sinn- und Erkenntnisgehalten und daher auf die rhetorische
Beziehung des Redners zu seinem Auditorium. Im Einklang damit verkürzt er den
philosophischen Wahrheitsbezug, also die Gewinnung und In-Geltung-Setzung von
Information, auf eine referenzsemantische Satz-Ding-Beziehung, von welcher „der
Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will.“ 330
Diese, im Peripatos beheimatete, aber noch heute wirkungskräftige „common senseAufassung“ der Sprache im Sinne der „konventionellen Bezeichnungsfunktion“ hat wohl
niemand entschiedener kritisiert als Karl-Otto Apel, der sie auch problemgeschichtlich auf
Aristoteles zurückführen konnte.331 Da sie so suggestiv ist, daß es noch heute, wie Apel
bemerkt, außerordentlich schwer fällt, sie in Frage zu stellen, und weil sie sich einer
Diskurspragmatik geradezu entgegenstemmt, lohnt es, ihr kritische Aufmerksamkeit zu
schenken.
Schon Aristoteles hat die implizite, aber von vornherein mitverstandene Einbettung jeder
Aussage und jeder Wortverwendung in eine formal vollständige Äußerung (als Sprachhandlung)332 und in den reziproken Erwartung-Erwartungs-Zusammenhang eines Dialogs ist
verdrängt – und damit eine folgenschwere Weichenstellung der Philosophiegeschichte
vorgenommen. Diese doch sinnkonstitutive Einbettung des präpositionalen Gehalts in den
Zusammenhang einer Verständigung mit Anderen erklärt Theoprast in aristotelischer
Ausdrücklichkeit zu einer geltungsmäßig irrelevanten, bloß empirischen Angelegenheit.
Dieser kommunikative Kontext sei allein rhetorisch und poetisch von Belang. Die direkten
und indirekten Bezüge eines Sprechers auf andere Menschen werden so auf die direkte
Sprecher-Hörer Beziehung verkürzt. Diese beschränkt er noch dazu auf den empirischpsychologischen Vorgang einer Übermittlung von Effekten, die der Sprecher durch die
rhetorische Einkleidung des Aussagegehalts bei den Hörern erzielen kann bzw. will. Eine
solche rhetorische ‚Einkleidung’ gilt natürlich als in der Sache irrelevant. Dem Sinn des
330
331
332
Ammonius, In Aristotelis De Interpretatione Commentarius. Hg. v. A. Busse, Berlin
1887, S. 65f.
K.-O. Apel, Transf. d. Phil., II, (1973), S. 334ff.
Dazu: A. Øfsti, Abwandlungen (1994).
138
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Gesagten könne sie nur wenig, vernachlässigenswert wenig, seiner Gültigkeit aber nichts
hinzutun. Folglich gehe die – derart empirisch-psychologisch reduzierte – Pragmatik den
Philosophen nichts an. Denn der Philosoph habe es einzig mit der Geltung der Rede zu tun.
Die aber verstehen Aristoteles und Theophrast nach dem Muster der Wahrheit von Aussagen
über Dinge.
Im Sinne dieses aussagenlogischen Philosophieverständnisses und dieser Beschränkung der
„Logosfunktion“ der Sprache, ihres Geltungsbezugs, auf einen benennenden und einem Ding
Eigenschaften zusprechenden Aussagesatz hat Theophrast eine falsche und bis heute
nachwirkende Unterscheidung getroffen: er schneidet die semantische Bedeutungsrelation der
Rede als Ort der Wahrheit ab von der pragmatischen Beziehung auf Hörer als Medium von
Effekten (z.B. Überzeugungseffekten): „Da die Rede [λόγoς] eine zweifache Beziehung hat
[...] eine zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet, die andere zu den Dingen, von
welchen der Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will, so entstehen im
Hinblick auf die Beziehungen zu den Hörern die Poetik und die Rhetorik [...] im Hinblick
aber auf die Beziehung der Rede zu den Dingen wird der Philosoph vorzüglich dafür Sorge
tragen, das Falsche zu widerlegen und das Wahre zu beweisen.“333
Damit verbannt Theophrast die Pragmatik aus der Philosophie. Die folgende Abbildung
vermag diesen noch heute nachwirkenden Vorgang zu verdeutlichen:
333
Kritisch dazu: K.-O. Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache, in: Ders., Transf. d.
Phil., II, (1973), bes. S. 336ff.
139
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Abb. X:
Philosophie
Wahrheit bzw. logische
Geltung
Semantik
Dinge
Rede
Poetik und Rhetorik
psychische Effekte
Pragmatik
Hörer
Teils verkürzt, teils verdrängt wurden damit die drei von uns unterschiedenen pragmatischen
Dimensionen, also jene Funktionen der Interpretation von Sprachzeichen, die konstitutiv sind
für den Verwendungssinn und Geltungssinn des inhaltlich Kommunizierten, des
propositionalen Gehaltes, mithin auch konstitutiv für jeden möglichen Dialog.
Was die sinnkritische Dialogreflexion anbelangt, derer sich Aristoteles ein einziges Mal
ansatzweise bedient hat, so ist sie philosophiegeschichtlich implizit und auf paradoxe Weise
wirksam geworden: als sokratisches Selbstaufhebungsargument, doch bloß in theoretischer
statt in kommunikativ dialogischer Form. So bei Augustinus, Descartes, Kant und Husserl.
Offenbar ist sowohl die drastische Verkürzung der kommunikativ pragmatischen
Dimensionen der Rede als auch die Assimilation eines aktuell reflexiven Elenchos an die
theoretische Einstellung in zwei Kernstücken der theoria-Tradition angelegt. Es ist das einmal
das instrumentalistisch bezeichnungstheoretische Verständnis von Sprache und Rede, in dem
selbst die Antipoden Heraklit und Platon übereinkommen, zum anderen die durch Platon
vorbereitete, vom Neuplatonismus etablierte Unterscheidung der vermeintlich intuitiven
Vernunfteinsicht (nous) von der bloß diskursiven Verstandeserkenntnis (dianoia), welche
nicht als kommunikativer Diskurs, sondern als monologisches Schlußverfahren angesetzt
140
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
gedacht wird. Auf diesem Boden konnten dann die wirkungsträchtigen Neuplatoniker Philon,
Plotin, Syrian und Proklos die Erkenntnisdichotomie der Scholastik, intuitiv versus diskursiv,
denken. Sie stellen das vermeintlich intuitive Erschauen des nous als das eigentliche, der
Ewigkeit zugehörige Erkennen, dem alles gegenwärtig sei, gegen das endliche, diskursive
Überlegen und Reden (διεξοδικός λόγος, diexodikos logos), die intellektuelle Anschauung des
intelligiblen Seins in seiner Wesenheit gegen die syllogistischen Analysen und
Demonstrationen der Akzidentien. Dem diskursiven Denken überlassen sie bloß das
Unwesentliche.
Vor allem die, in der Platonischen und der Aristotelischen Version der theoria enthaltene und
seither machtvoll tradierte Unterstellung einer unabhängig von Sprache möglichen Erkenntnis
– Theorie und Diskurs ohne Kommunikation – hat das abendländische Denken zutiefst
geprägt,
bis
heute.
verstehenstheoretische,
Genaugenommen
zwei
sind
geltungstheoretische
es
vier
Unterstellungen,
eine
und
eine
vergewisserungs-
bzw.
evidenztheoretische. Erstens wird unterstellt, einer allein – solus ipse, daher „methodischer
Solipsismus“ – könne für sich und ohne Vermittlung durch virtuelle Kommunikation
(Sprachgebrauch und Tradition) oder durch aktuelle Kommunikation Sinn bzw. Bedeutung
haben. Zweitens und drittens wird vorausgesetzt, daß einer als prinzipiell Einsamer Gültigkeit,
nämlich Wahrheit von Tatsachenbehauptungen und ebenso Richtigkeit/Legitimität von
Normsätzen, gewinnen und daß er diese – viertens – als solche erkennen könne, also auch die
Gewißheit der Wahrheit erlangen könne. Das ist die Quadrupelthese des methodischen
Solipsismus:
141
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Abb. X: Die Quadriga des methodischen Solipsismus, d.h. der Thesen,
daß Privatsprache (a), Privaterkenntnis (b) und private Evidenz (c) möglich sind
Fragestellung
These
Anwendungsbereich
Wie ist Sinn möglich?
(a) einer allein (und nur einmal) kann etwas als etwas von bestimmter
Bedeutung verstehen, mithin charakterisieren → einer Regel folgen
Sprachphilosophie und
Hermeneutik
Wie ist Gültigkeit
möglich?
(b1) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)],
sondern er kann auch
Erkenntnis- und
Wahrheitstheorie
→ Wahrheit
allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
erkennen
→ begründen, daß jene Charakterisierung zutrifft, also wahr ist
Wie ist Gültigkeit
möglich?
(b2) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)]
sondern er kann auch
→ Richtigkeit,
Verbindlichkeit
allein, d.h. ohne jeden sprachlich- kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
erkennen
→ begründen, daß die so charakterisierte Handlungsweise etc. richtig/legitim
und verbindlich ist
(c) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)],
sondern er kann auch
Wie ist Gewißheit
möglich?
→ Zweifelsfreiheit
Ethik / Praktische Philosophie
Beweistheorie/Sinnkritik
allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
Zweifel an der Wahrheit seiner These oder an der Verbindlichkeit einer
Aufforderung bzw. Norm als gegenstandslos erkennen und erweisen
142
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
5 Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welten und Emanzipationen von deren
Macht und theoria.
z
Der Zerfall der mittelalterlichen Welt als Einheit von Reich (imperium) und
Priesteramt (sacerdotium)
z
Die kopernikanische Wende des wissenschaftlichen Weltbildes
z
Die konfessionellen Bürgerkriege in West- und Mitteleuropa
Jede dieser drei Krisenerfahrungen läßt sich auf ihre Weise als Herausforderung an die sich
ausbildende instrumentelle Vernunft verstehen, die man zunehmend für fähig hält, die
jeweilige Krise zu meistern. Das gelingt ihr in gewisser Weise in den italienischen
Stadtstaaten des 15. Und 16. Jahrhunderts; denn hier trat an die Stelle des kirchlich-weltlichen
Einheitssystems des christlichen Mittelalters der souveräne Stadtstaat, der in Theorie und
Praxis die überkommenen sittlichen Bindungen abstreifte: zugleich mit der Entwicklung der
Technik entsteht die Sozialtechnik Machiavellis, die die strategische Rationalität des
politischen Handelns freisetzt. Als durch die astronomischen Erkenntnisse des Kopernikus die
Unendlichkeit des Alls erfahren wird und offenbar ist, daß der Mensch sich nicht länger als
die natürliche Mitte des Seienden verstehen kann, weil er seinen vorgegebenen
Orientierungspunkt verliert, hilft ihm die naturwissenschaftlich-technische Rationalität, durch
Messen, Berechnen und den Einsatz von Intrumenten (Fernrohr, Kompaß) eine künstliche
Orientierung zu gewinnen. Aus dem Mittelpunkt des Weltalls gleichsam in die Unendlichkeit
gefallen, setzt sich der Mensch nunmehr selbst künstlich als Zentrum: messend, rechnend,
analysierend und Naturgesetze über die Bewegung der Körper (Mechanik) aufstellend
(Kopernikus, Gallilei, Descartes).
Als schließlich die Einheit von politischer Gemeinschaft und Glaubensgemeinschaft, von
Kaiserreich und katholischem Christentum endgültig zerfällt und Europa in das Chaos
blutiger konfessioneller Bürgerkriege stürzt, ist die Stunde der strategischen Rationalität
endgültig gekommen: nur eine moralisch wertneutrale Staatskonstruktion scheint den
gesellschaftlichen Frieden, das Überleben und die Selbsterhaltung zu ermöglichen (Hobbes).
143
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
5.1
Sprachsensibilität, Bildungsreichtum und tendenzielle Diskursautonomie des
italienischen Humanismus.
Wenngleich der dreifache Zerfall der mittelalterlichen Welt in seine Zeit fällt oder sich in
dessen Anfangsphase vorbereitet, läßt sich der Geist des Humanismus schwer auf einen
Nenner bringen – etwa als Antwort auf diesen Zerfallsprozeß. Die große Spanne vom frühen
14. Jahrhundert, dem Trecento Dantes, Petrarcas und Bocaccios, über die Mitte des 16.
Jahrhunderts hinaus, als nach Thomas Morus und Huldrich Zwingli auch Erasmus, Luther,
Melanchthon und Petrus Ramus aus dem Leben schieden, umfaßt eine zu vielfältige Zeit der
Aufbrüche, Neuorientierungen und Reformationen, zugleich der Handelsexpansion und
Entstehung des Finanzkapitals, der Emanzipation von Technik, Künsten und Forschung, als
daß sie sich – sei es in Italien oder Frankreich, sei es nördlich der Alpen – als eine
überschaubare Entwicklungsphase beschreiben ließe. Und der Geist der Zeit? Er ist nur wenig
übersichtlicher. Auch wenn man, die Reformation vernachlässigend, eine romanische
Perspektive einnimmt und den Zeitgeist auf den (jedoch erst 1808 von Hegels Freund
Niethammer geprägten) Begriff „Humanismus“334 zu bringen versucht, tut man gut daran,
Kristellers vorsichtiges Urteil über den italienischen Humanismus auf den humanistischen
Geist insgesamt zu beziehen: „Die Humanisten haben nicht so sehr bestimmte Gedanken
miteinander gemein wie vielmehr ihren Stil, ihre Probleme und ihre antiken Quellen.“335 Mit
Ausnahme einiger Schriften wie der sokratischen Laien- bzw. Idiota-Dialoge des Nikolaus
von Kues oder einiger reformatorischer Thesen und Schriften Martin Luthers, findet der
Zeitgeist selten die Form und das Niveau argumentativer Auseinandersetzungen – selbst nicht
mit der durchweg polemisch und zum Teil ungerecht auf Distanz gebrachten Scholastik336.
Wohl aber finden wir ein Ensemble auflockernder Impulse für die Kultur des Diskurses.
Betont sei die hier nicht aufzufächernde Vielfalt dieser Impulse. Sie reicht von den, durch
334
F.J. Niethammer, Der Streit des Philantropismus und Humanismus in der Theorie des
Erziehungsunterrichts unserer Zeit, Jena 1808.
Zu Begriff und Epoche vgl. G. Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums
oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Berlin 1859; J. Burckhardt, Die Cultur der
Renaissance in Italien, Leipzig 1860; W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des
Menschen seit der Renaissance und Reformation. Ges. Schriften II, Göttingen 101957; E.
Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/Berlin
1927/41974 (zit.: Individuum und Kosmos (1974)); P.O. Kristeller, Humanismus und
Renaissance I, Humanistische Bibliothek I, Abh. 21, München 1974.
335
P.O. Kristeller, Der italienische Humanismus und seine Bedeutung. Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung
an der Universität Basel, X, Basel u. Stuttgart 1969, S. 15.
336
Vgl. W. Kölmel, Aspekte des Humanismus, Münster 1981 (zit.: Aspekte (1981)), S.
154ff.
144
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Petrarcas Cicero-Erlebnis eröffneten337, literarisch-rhetorischen Studia humaniora resp.
humanitatis
zur
neuplatonischen
Theologie
der
Florentiner
Akademie
und
vom
Neuplatonismus des Cusaners zur natürlichen Vernunftreligion Jean Bodins – aber auch zu
den naturalistischen, technischen und erfahrungswissenschaftlichen Gegenströmungen
innerhalb des rhetorischen „Humanismus“, und das in so unterschiedlichen Gestalten wie
Machiavelli, Leonardo und Galilei, aber auch Francis Bacon. Hinzu kommen, fast schon post
festum, die autobiographische und anthropologische Lebens- bzw. Diskursessayistik
Montaignes und schließlich die geschichts- sowie sprachphilosophische Antwort Giambattista
Vicos auf Descartes.338
Weit verbreitet, ja implizit durchgängig ist eine emanzipatorische Motivation der rhetorisch
sprachhumanistischen studia. Die Parolen sind: Befreiung von der (als unfruchtbar
angesehenen) scholastischen Dialektik, weg von der verdinglichenden Sprache und
Weltauffassung der Scholastik. Zudem deutet sich eine anthropologische Abkehr von den
Studia divinitatis und ihrem Primat der Theologie an und, darin wirksam, eine Tendenz zur
Diskursautonomie. Diese wird von Sokrates und Platon339, von Seneca340 oder von Horazens
„Sapere aude“ entlehnt. Zum anderen steckt hinter den studia humanitatis oft eine
Dialektikkritik, die mit einer impliziten rhetorisch-humanistischen Sprachphilosophie
einhergeht. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die autoritäre Begrenzung, der die
scholastische Dialektik, insonderheit die Disputation, unterlag. Üblich war ja der Rückgang
auf Autoritäten bzw. auf fraglose Topoi, so daß später die moderne Scholastikkritik sogar von
einer „Methode der Autorität“ (Ch. S. Peirce341) sprechen und die Form eines geschlossenen
bzw. dogmatischen Diskurses argwöhnen konnte.
Doch polemisieren die Humanisten nicht allein gegen die Unfruchtbarkeit der scholastischen
Dialektik und der disputatio als eines bloßen „actus syllogisticus“, auch unterwerfen sie die
337
Vgl. J. F. Petrarca, Brief an Luce von Penna (April 1374), in: H. Nachod u. P. Stern,
Briefe des Francesco Petrarca (1931); Teilnachdruck in: H. W. Eppelsheimer (Hg.),
Petrarca - Dichtungen, Briefe, Schriften, Frankfurt a.M. 1956, S. 166ff; vgl. W. Rüegg,
Cicero und der Humanismus. Formale Untersuchungen über Petrarca und Erasmus,
Zürich1946 (zit. Cicero und der Humanismus (1946)).
338
Vgl. K.-O. Apel, Idee (1963), S. 326-380; G. Cacciatore, Storicismo problematico e metodo critico, Neapel
1993, S. 17-58; A. Damiani, La dimension política de la Scienza Nuova, Buenos Aires 1997; ders.,
Domesticar a los Gigantes. Sentido y Praxis en Vico, Rosario 2005; V. Hösle, Vico und die Idee der
Kulturwissenschaft, Einleitungen zu: G.B. Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame
Natur der Völker, Teilband 1, Hamburg 1990.
339
So in den Idiota-Dialogen des Nikolaus von Kues, bes.: Idiota de mente, Kgs I.
Vgl. Seneca, Ad lucilium epistolae morales, 33, 7-11; dazu Pico della Mirandola, Über
die Würde des Menschen, übers. v. H. W. Rüssel, Zürich 1988, S. 46.
340
341
Ch.S. Peirce, Collected Papers. Hg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiß, 1931-1935, Vol. I, § 5.380ff.
145
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Dialektik nicht allein „dem anmutigen Diktat der Rhetorik“.342 Nein, in ihrem Spott über die
Sprache der aristotelisch-scholastischen Ontologie, über Substantivierungen wie entitas,
quidditas, haecceitas schwingt sich eine neue Denkweise auf,343 ein lebendiger poetischer
Sprachgestus bricht sich Bahn.
Das humanistische Sprachgefühl und die rhetorische Orientierung an der „lebendigen
geschichtlichen Sprache“344, an Dantes „vulgaris locutio“ oder L. Vallas consuetudo loquendi
erspüren, daß „das Volk besser spricht als der Philosoph“ – will sagen als der Scholastiker345.
Die italienischen Humanisten empfinden, daß Sinn und Bedeutung die Leistung der gesprochenen, mit Handlungsweisen verwobenen Sprache ist, nicht die Leistung einer, die
Wesenheiten zunächst wie Dinge schauenden und dann wie dingliche Substanzen
benennenden, begrifflich ontologischen Kontemplation. Von Dante bis Vico nähern sie sich
der Einsicht, daß die geschichtliche Sprache das Apriori menschlicher Welt- und
Selbstbeziehung ist: sowohl öffentliche „Institution der Institutionen“346 als auch – Humboldt
avant la lettre – sinnschöpferische und ursprünglich poetische Weltkonstitution.
Auf dem tief kultivierten römischen Sprachboden Italiens konnte sich die humanistische
Erneuerung mit gutem Grund als rinascita verstehen und vollziehen. Anders nördlich der
Alpen. Hier konnte die Einsicht in die Sprache als Fundament der Welt- und Selbstbeziehung
nicht durch Erneuerung einer öffentlichen Sprachkultur praktisch werden, hier kam alles auf
die Erschließung einer neuen Sinn- und Sprachwelt an – bei gleichzeitiger Eroberung des
Freiheitsraums für Sinnäußerungen und Geltungsansprüche.
5.2
Luthers Reformation: Verdeutschung der Bibel, Behauptung und Destruktion von
Gewissensfreiheit und Menschenwürde.
In dem dialektzerklüfteten deutschen Sprachraum fehlte es nicht allein an einer
literaturfähigen Umgangssprache, sondern überhaupt an einer gemeinsamen Volkssprache.
Hier
mußte
eine
gigantische
hermeneutisch
poetische
Leistung,
Martin
Luthers
Bibelübersetzung,, mit einem Schlag zugleich das Pendant zu einer humanistischen
342
343
344
345
346
H. Marti, Disputation.
So E. Cassirer in bezug auf Lorenzo Valla, Pico, Ramus, Marius Nizolius und auf
Leibnizens Kritik an letzterem: E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie
und Wissenschaft der neueren Zeit, I, Berlin 1922 (Neudr. 1974) (zit.: Erkenntnisproblem
(1922)), S. 122ff, 133f, 144ff, 149ff; vgl. auch W. Kölmel, Aspekte (1981), S. 158.
K.-O. Apel, Idee (1963), S. 99.
L. Valla, Dialectica disputationes, in: Opera omnia, Basel 1540, Neudr. hg. v. E. Garin,
Turin 1962, 658. 684; vgl. W. Schröder, Teil-Artikel „Die italienische Renaissance“, in:
HWPh., Bd. 7, 657, Artikel „Philosophie“.
K.-O. Apel, Idee (1963), Kap. V.
146
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Sprachempfindsamkeit und den Sprachhumus selbst hervorbringen, auf dem eine
Sprachkultur gedeihen kann. Dieser Horizontwandel und Sprachsprung ging ebenfalls mit
einer massiven Scholastikkritik und einer emanzipatorischen Motivation einher. Nur war
beides derber und radikaler als in Italien, weil religiös existenziell geladen. Zudem war es mit
der Aneignung einer ganz anderen Sprachwelt verbunden, der hebräischen, die von Rom
niemals integriert worden war.
Der Augustinermönch Martin Luther (1483-1546), zunächst getrieben von der Frage „Wie
kriege ich einen gnädigen Gott?“, machte „die Freiheit eines Christenmenschen“ (1520)
geltend und nahm damit die allgemeine Gewissens- und Denkfreiheit in Anspruch. Ihr brach
er Bahn durch seine Verteidigung vor Kaiser und Reich, auf dem Wormser Reichstag 1521. In
diesem Sinne setzte er der „weltlichen Obrigkeit“ freiheitsrechtliche Grenzen: „Von
weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523). Augustinisch den
äußeren, leiblichen Menschen von dem inneren, seelischen unterscheidend, versteht Luther
diesen als Bürger „in Gottes Reich unter Christo“, und einzig jenen als Bürger „in der Welt
Reich unter der Obrigkeit“. Aufgrund dieser Unterscheidung zweier Reiche könne man
wissen, wie lang der Arm der Obrigkeit und „wie fern ihre Hand reiche, daß sie sich nicht zu
weit strecke und Gott in sein Reich und Regiment greife. Und das ist sehr not zu wissen.
Denn unerträglicher und greulicher Schaden daraus folget, wo man ihr zu weit Raum gibt. [...]
Denn über die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich allein. [...] Wenn
man ein Menschengesetz auf die Seele legt, daß sie glauben soll so oder so, wie derselbe
Mensch vorgibt, so ist gewißlich das nicht Gottes Wort.“347
Aus der augustinischen Scheidung zweier Reiche zog Luther die geistespolitische
Konsequenz eines diskursiven Pluralismus, der auch den religiösen Wettbewerb freigibt: „Es
müssen Sekten sein und das Wort Gottes muß zu Felde liegen und kämpfen.. [...] Man lasse
die Geister aufeinanderplatzen und -treffen.“348 Kraft dieses protestantischen Plädoyers für
die notwendige Toleranz in Heils- und Wahrheitsfragen gewannen zunächst der deutsche
Bildungs-Humanismus, dann die deutsche Aufklärung – auch gegenüber der lutherischen
Orthodoxie
–
den
legitimierten
Entfaltungsraum
der
Gewissens-,
Denk-
und
Meinungsfreiheit. Der frühe Pietismus und die Frühaufklärung, Kant und Herder, Schiller und
Goethe, Hegel und Heine sahen darin das politisch ethische Hauptverdienst Luthers.
Daß Luthers Befreiung von dem Einheitsideal und der Einheitsmacht der fides catholica sich
weniger in lateinischer als vielmehr in der Landessprache vollzog, ja daß dieselbe erst im
347
348
M. Luther, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (zit.: WA), 11, S. 261f.
M. Luther, WA, 15, S. 218f.
147
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Zuge einer solchen Emanzipation gewissermaßen geschaffen worden ist, hat der deutschen
Reformation eine umfassende Bildungswirkung gesichert. Luther gab der Geistesfreiheit
einen Leib, die reale Kommunikationsbasis: „er schuf die deutsche Sprache. Dieses geschah,
indem er die Bibel übersetzte.“349 Niemand hat so klar und eindringlich den internen
Zusammenhang der reformatorischen Befreiung von Einheitszwang und Scholastik mit der
bibelhermeneutischen Sprachschöpfung erkannt wie der jüdische Hegelschüler Harry alias
Heinrich Heine. Er wußte, was es bedeutet, daß Luthers Bibelübersetzung zugleich die
Entdeckung und Anverwandlung der hebräischen Bibelsprache war. Er konnte das mit
emanzipatorisch dichterischem Pathos aussprechen:
„In der Tat, der göttliche Verfasser dieses Buchs scheint es ebensogut wie wir andere gewußt
zu haben, daß es gar nicht gleichgültig ist, durch wen man übersetzt wird, und er wählte
selber seinen Übersetzer und verlieh ihm die wundersame Kraft, aus einer toten Sprache, die
gleichsam schon begraben war, in eine andere Sprache zu übersetzen, die noch gar nicht lebte.
Man besaß zwar die Vulgata, die man verstand, sowie auch die Septuaginta, die man schon
verstehen konnte. Aber die Kenntnis des Hebräischen war in der christlichen Welt ganz
erloschen. Nur die Juden, die sich, hie und da, in einem Winkel dieser Welt verborgen hielten,
bewahrten noch die Traditionen dieser Sprache. Wie ein Gespenst, das einen Schatz bewacht,
der ihm einst im Leben anvertraut worden, so saß dieses gemordete Volk, dieses VolkGespenst, in seinen dunklen Gettos und bewahrte dort die hebräische Bibel; und in diese
verrufenen Schlupfwinkel sah man die deutschen Gelehrten heimlich hinabsteigen, um den
Schatz zu heben, um die Kenntnis der hebräischen Sprache zu erwerben. Als die katholische
Geistlichkeit merkte, daß ihr von dieser Seite Gefahr drohte, daß das Volk auf diesem
Seitenweg zum wirklichen Wort Gottes gelangen und die römischen Fälschungen entdecken
konnte, da hätte man gern auch die jüdische Tradition unterdrückt, und man ging damit um,
alle hebräischen Bücher zu vernichten, und am Rhein begann die Bücherverfolgung, wogegen
unser vortrefflicher Doktor Reuchlin so glorreich gekämpft hat. Die Kölner Theologen, die
damals agierten, besonders Hoogstraeten, waren keineswegs so geistesbeschränkt, wie der
tapfere Mitkämpfer Reuchlins, Ritter Ulrich von Hutten, sie in seinen ‚Litteris obscorum
vivorum’ schildert. Es galt die Unterdrückung der hebräischen Sprache. Als Reuchlin siegte,
konnte Luther sein Werk beginnen. In einem Briefe, den dieser damals an Reuchlin schrieb,
scheint er schon zu fühlen, wie wichtig der Sieg war, den jener erfochten, und in einer
349
H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche Werke. Hg. v. H.
Kaufmann, Bd. IX, München 1964, S. 192.
148
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
schwierigen Stellung erfochten, während er, der Augustinermönch, ganz unabhängig stand;
sehr naiv sagt er in diesem Briefe: ‚Ego nihil timeo, quia nihil habeo.’“350
Es nimmt nicht wunder, daß im deutschen Sprachraum auch der aus Italien entlehnte
Humanismus von dem Lutherschen Sprachleib und Freiheitsgeist zehrte. Das ist die eine
Seite. Die andere ist kein Ruhmesblatt der Lutherschen Reformation, sondern deren dunkler
Fleck: die Manifestation von Luthers Antijudaismus zwischen 1538 („Wider die Sabbather.
An einen guten Freund“) und 1543 („Von den Juden und ihren Lügen“). In dem Maße, wie
Luther erkennt, daß die Juden die Dogmen der Gottheit Christi, der vorweltlichen Existenz
Christi als göttlichem Logos, der Jungfrauengeburt und der göttlichen Dreifaltigkeit
beharrlich bestritten und mit bissiger Polemik überzogen, ja daß sie „auch uns, das ist die
Christen an sich locken“351 und „die Sprüche der Schrift verehren“, um „unseres Glaubens
Grund umzustoßen“,352 – in eben dem Maße vergeht seine relative, auf Bekehrung wartende
Toleranz. Sein Warten schlägt um in ein Wüten. Er bedient sich aus alten und
zeitgenössischen Polemiken, teilweise aus der Feder getaufter Juden wie Paulus von Burgos
(†
1435)
und
Antonius
Margaritha
(†
1490)353.
Vor
allem
den
jüdischen
Ausschließlichkeitsanspruch, das alleinige Volk Gottes zu sein, und die Diffamierung Jesu als
eines Zauberers weist er emphatisch zurück. Ja er verlangt staatliche Gewaltmaßnahmen
gegen die Juden: Zwangsarbeit, Anzünden der Synagogen und Zuschütten ihrer Ruinen.354
Freilich waren die meisten Synagogen, zumindest 300, von dem Würzburger Brandanschlag
1349 bis hin zu Kaiser Maximilians Verbrennung der Nürnberger Synagoge im Jahre 1509
ohnedies schon vernichtet. Von körperlichen ‚Strafen’ oder gar Tötung rät er jedoch
ausdrücklich ab.
Den freien interreligiösen Diskurs zerstört Luther hier barbarisch. Und die Menschenwürde
beschneidet er, indem er deren Existenzbedingungen, Gewissens- und Geistesfreiheit,
gegenüber den Juden ebenso zurücknimmt wie zwei elementare Realisierungsbedingungen
des Diskurses: die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Der reformatorische
Spielraum für eine Anerkennung der Juden war offenbar von Anfang an christologisch
verengt, nicht anders als Luthers biblische Hermeneutik. Stand diese doch unter der
christologischen Doppelnorm, die Bibel sei stets auf Christus hin auszulegen – als ob auch die
350
351
352
353
354
Ebd., S. 192f.
M. Luther, Vorwort zu: „Von den Juden und ihren Lügen“, in: WA, 53, S. 417.
Ebd.
Vgl. den Artikel „Antonius Margaritha“, in: Jüdisches Lexikon, begründet von G. Herlitz und B. Kirschner,
Bd. III, Berlin 1929, S. 1380.
Zu Luther: W. Bienert, Martin Luther und die Juden, Frankfurt a. M. 1982. Auch D. Böhler, Reformation
und praktische Vernunft, in: Universität des Saarlandes (Hg.): Martin Luther 1483-1983. Ringvorlesung der
Philosophischen Fakultät Sommersemester 1983, Saarbrücken 1983, S. 173 ff (zit.: Reformation (1983)).
[Fußnote fehlt!]
149
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
hebräisch jüdische Bibel, das von den Christen so genannte Alte Testament (!), bereits auf
Jesus als den Messias, den Sohn Gottes und dem sich opfernden Erlöser angelegt sei! In
dieser „christologischen“, das christliche Dogma spiegelnden Hinsicht sollen die Christen
sich die jüdische Bibel auch aneignen, nämlich allein, „soweit sie Christum treibet“. Heinrich
Heines wirkungsgeschichtliche Würdigung Luthers schönt also die historische Wahrheit.
Diskursgeschichtlich bedeutet sowohl Luthers christozentrische Einengung der biblischen
Hermeneutik als auch seine gegen die Juden betriebene Kirchenpolitik einen erheblichen
Rückfall hinter die diskursbezogene Anerkennung der Vielfalt religiöser Formen bzw. Riten
als eines Wertes, welche der katholische Kirchenpolitiker Nikolaus von Kues alias Cusanus
(1401-1464) aus humanistisch neuplatonischem Geist vorgedacht hatte. Fast drei
Generationen vor dem Reformator hatte der konzilsfreundliche und sokratisch gesonnene
Kardinal „das Bild eines möglichen Religionsfriedens“ entworfen, der „durch ein ‚Konzil’ im
Himmel zustande kommt, an dem Philosophen als Vertreter der verschiedenen Religionen
sowie Christus, Petrus und Paulus teilnehmen.355 Zielpunkt der ausführlichen Diskussion ist
die These, daß es nicht viele Religionen gebe, sondern lediglich ‚una religio in varietate
rituum’, nur ‚eine Religion in der Vielfalt der Riten’356.“357
Dank seiner Verbindung des Ideenbegriffs mit seinem christlichen Vorverständnis der
zentralen Themen einer Religion kann der Cusaner alle Religionen anerkennen, weil er in
jeder eine andere rituelle Gestalt der so verstandenen Idee der Religion sieht und diese nicht
in Doktrin und Ritus ansiedelt, sondern im Glauben (fides) der Menschen. Im Unterschied zu
Luther und in der Nähe zu Kant versteht er fides als ethisch religiöse Größe, als Gesinnung
und guten Willen. Im besten Verstande gesinnungsethisch läßt Nikolaus auf dem himmlischen
Konzil der verfeindeten Religionen als Versöhner den Apostel Paulus auftreten: Die Erlösung
hänge nicht von den Werken ab, von der Erkenntnis und Beachtung äußerer Regeln, Sitten
und Riten, sondern eben von dem Glauben. Denn „wer überhaupt das Göttliche verehre, der
setze bereits die Idee des Göttlichen voraus. Diese Idee aber gilt als unwandelbar. Lediglich
die vielen Erscheinungsformen des Glaubens, die Sitten und Institutionen, seien verschieden
und veränderlich. Als solche aber stellten sie allesamt nur unzureichende Zeichen für Gott dar
– und damit für die absolute Wahrheit und das absolut Gute.“358
So kann der christliche Humanist Raum für innerreligiöse Toleranz schaffen. Deren Kriterium
ist freilich nicht der Anspruch aller Menschen auf Achtung ihrer Würde. Zur Idee der
355
356
357
358
Nikolaus von Kues, De pace fidei. Vom Frieden im Glauben, in: Philosophisch-theologische Schriften,
hrsg. u. eingel. v. L. Gabriel, 3. Bde., Wien 1989, S. 705-799.
Ebd., S. 710.
M. Bongardt, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 2005, S. 178.
D. Böhler, Ethische Motive (1980), S. 110.
150
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Menschenwürde als universalem moralischem Rechtsgrund kann das Gedankenexperiment
eines himmlischen (Religions-)Konzils naturgemäß nicht vorstoßen, wohl aber zu dem Ansatz
einer natürlichen Religion vor allen religiösen Riten und Institutionen. Toleranz gegenüber
allen Religiösen – das ist es, was sich in diesem Rahmen einer religio naturalis denken läßt,
Achtung aller Menschen (als moralischer Anspruchssubjekte und Rechtssubjekte) noch nicht.
Hingegen hat Luther nicht einmal den normativen Begriff einer innerreligiösen Toleranz.
Verficht er doch eine christozentrische Ethik, die letztlich eine Anerkennung anderer
Religionen, zumal die der Judenheit, von der Bereitschaft, Christus als Sohn Gottes
anzuerkennen, abhängig macht. Der Antiplatoniker und Nonphilosoph Luther kann – ohne
den Begriff der Idee, welcher die Wirklichkeit und die kulturellen Differenzen transzendiert, –
weder Toleranz noch gar Menschenwürde als Prinzip denken. Das ist moralphilosophisch und
auch theologisch desaströs, weil ihm der Begriffsrahmen fehlt, dessen es bedarf, um den
moralisch universalistischen Verpflichtungsgehalt der Nächstenliebe und der Hütung des
Ebenbildes zu erkennen – eben die Grundnorm „achte die Würde jedes Menschen!“. Luthers
Defizit an Philosophie, zumal seine Nichtbeerbung des Ideenbegriffs, hatte böse praktische
und politische Folgen, weil die Kirche der lutherschen Reformation dadurch abgekoppelt
wurde von der natur- bzw. vernunftrechtlichen Entwicklung hin zu einem unbedingten Prinzip
der Menschenwürde. Nicht eine Ethik der Menschenwürde und der aus diesem Prinzip
gespeisten Toleranz, sondern nur eine christozentrische „Ethik der Buße“ empfing der
Protestantismus aus den Händen Luthers.359
Nicht Luther, sondern der Cusaner hatte den Richtungsstoß für die Achtung der
Menschenwürde gegeben. 1437 sendet ihn „Papst Eugen IV. als Mitglied einer Delegation des
Basler
Konzils
nach
Konstantinopel
[...],
um
dort
mit
der
Ostkirche
Vorbereitungsverhandlungen für das Unionskonzil (1438 in Florenz und Ferrara) zu führen.
Mit den führenden Denkern und Theologen des Ostens, wie Georgios Gemistos Plethon, kehrt
er zu Schiff zurück. Im ständigen Gedankenaustausch mit ihnen entscheidet er sich gegen
Aristoteles für Platon“360, den er sich freilich in der Perspektive eines christlichen Humanisten
anverwandelt. Er löst den Ideenbegriff aus Platons ontotheologischem Zusammenhang,
orientiert ihn nicht mehr exklusiv an dem Göttlichen, sondern bezieht ihn auf den Menschen:
zunächst in christologischer Deutung, aber auch in geistes- und erkenntnisphilosophischer
Hinsicht. Im dritten Buch seiner sokratisch-platonisch inspirierten Schrift „De docta
ignorantia“ (Von der belehrten Unwissenheit) ruft er – so pointiert Ernst Cassirer – „die
359
360
So D. Böhler, Reformation (1983).
D. Böhler, Ethische Motive (1980), S. 108f.
151
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Christus-Idee zur Rechtfertigung, zur religiösen Legitimation und Sanktion der Idee der
Humanität“ auf.361 Denn es ist der „geistig universelle Gehalt des Menschentums [...], den
Cusanus in Christus beschlossen sieht“,362 weil dieser die „mittlere Natur“ zwischen dem
Endlichen und Unendlichen, dem Menschlichen und Göttlichen darstelle – die „Klammer der
Welt“363. Wie Christus der Ausdruck für die ganze Menschheit sei, so schließe andererseits
das Wesen des Menschen das All der Dinge, den Makrokosmos, in sich.
Dieser kosmosspekulativen Christus-Mensch-Analogie fügt Nikolaus von Kues einen
erkenntnisphilosophischen und werttheoretischen Gedanken hinzu. Als habe er sich aus dem
Bann der augustinischen Erbsündenlehre gelöst, stellt er die Freiheit des Menschen und das
menschliche Vermögen, Wert zu setzen, in den Mittelpunkt. Dank seiner Freiheit vermöge es
der Mensch, sich Gott anzugleichen und Gottes Gefäß zu werden,364 und als Setzer von Wert
sei der Mensch selbst ein freier Schöpfer. Denn ohne den menschlichen Intellekt ließe sich
überhaupt nicht wissen, „ob es einen Wert gibt. Ohne die Kraft der Beurteilung und des
Vergleichens hört jegliche Schätzung auf, und mit ihr müßte auch der Wert wegfallen.
Hieraus ergibt sich die Köstlichkeit des Geistes, da ohne ihn alles Geschaffene ohne Wert
gewesen wäre. Wollte also Gott seinem Werke Wert verleihen, so mußte er neben anderen
Dingen die intellektuelle Natur erschaffen.“365
Da es ohne den Menschen keine Wahrnehmung von Wert, also auch keinen Wert gäbe,
kommt dem Menschen die höchste Würde im Kosmos zu. So nähert sich der Cusaner jenem
Gedanken, den wir bei Platon vermissen: der Idee des Menschen. Die humanistischen
Neoplatoniker von Florenz schritten auf diesem Denkweg fort. Marsilius Ficinus (1433-1499)
pries in seiner „Platonischen Theologie“ die Seele des Menschen als die geistige Mitte der
Welt; der junge Pico della Mirandola (1463-1494) führt dann in seiner berühmten Rede „De
hominis dignitate“ den Begriff der Menschenwürde ein. So wird Platon christianisiert und
humanisiert. Eigentlich trennen sich mit dieser Idee der Humanität die Humanisten von
Platon. Denn „nie hat ein Grieche im Ernst von der Idee des Menschen gesprochen – nur
spielend erwähnt Platon sie einmal, als er sie mit der Idee des Feuers und des Wassers
verbindet –, und dann folgt die Idee des Haares, des Schmutzes und des Drecks.“366 Zudem ist
an dieser Stelle im Dialog „Parmenides“ bloß von der körperlichen Gestalt des Menschen die
361
362
363
364
365
366
E. Cassirer, Individuum und Kosmos (1974), S. 40.
Ebd., S. 41.
Nikolaus von Kues, Excitationes, Lib. IX, fol. 639: „Et in hoc passu mediatio Christi intelligitur, quae est
copula hujus coincidentiae, ascensus hominis interioris in Deum, et Dei in hominem“ (zit. bei E. Cassirer,
a.a.O., S. 41).
Nikolaus von Kues, Excitationes, Lib. V, fol. 498.
Ders., De ludo globi (Vom Globusspiel), Lib. II, fol. 236f (zit. bei E. Cassirer, a.a.O., S. 46).
So Bruno Snell in Bezug auf Platons „Parmenides“, in: B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur
Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 31955, S. 334.
152
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Rede, nicht aber von der moralischen Identität der Person und einer möglichen Würde dessen,
was Menschenantlitz trägt.367
Das Menschenwürdeprinzip entwickelte sich aus der Cusanischen Verbindung von Platons
Ideenbegriff mit biblischen Gehalten und der vernunftrechtlichen Suche nach den moralischen
Rechtsansprüchen
des
Menschen.
Diese
Suche
wird
schließlich
den
Berliner
Hofhistoriographen, den Natur- und Völkerrechtler Samuel Pufendorf (1632-1694), zu der
klaren normativen Fassung von Menschenwürde als Ur-Rechtstitel führen.368 Sie ist dann, in
eben diesem Sinne, von Kant mit der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs (1785)
philosophisch abgeschlossen worden. Doch war sie schon zuvor, 1776, in der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung zur Formulierung „unveräußerlicher“ Menschenrechte vorgestoßen
– nicht ohne Orientierung an Pufendorf,369 doch mit der rechtstheologischen Begründung, daß
alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen
Rechten begabt worden seien.
Ein weiter Weg! Vom Luthertum ist er so selten mitgegangen worden, daß unter dem
Nationalsozialismus selbst die „Bekennende Kirche“ kein eindeutiges Engagement für die
Würde der jüdischen Menschen, jedenfalls nicht in den ersten Jahren ihrer Entrechtung, an
den Tag gelegt hat: Ich meine ein staatsbürgerliches rechtsethisches Engagement, das über die
Fürsorge für jüdische Gemeindemitglieder hinausgegangen wäre. Zu den Ausnahmen zählt,
vor allen anderen, Dietrich Bonhoeffer. Er war ohnehin zu einer Grundsatzkritik der
Lutherschen Reformation aufgebrochen. Das Luthertum kritisierte er zugleich aus der
säkularen Perspektive einer „mündigen Welt“ und kraft einer christlich ethischen
Verantwortung für die eine Welt, die sich nicht augustinisch lutherisch aufspalten lasse in
einen geistlichen und einen profanen Raum, einen innerlichen und einen leiblichen
Menschen.370 Mutig, tatkräftig und traditionskritisch macht er, um jene Verantwortung
367
368
369
370
D. Böhler, Ethische Motive (1980), bes. S. 110ff.
Im Gegenzug zu Hobbes führt Pufendorf den rechtsmoralischen Begriff der eigentümlichen Würde des
Menschen ein. Sie zeige sich nämlich in der Einschränkung seiner natürlichen Willkürfreiheit durch
Grundnormen des Naturrechts, wie Karl-Heinz Ilting pointiert: „Requirebat humanae naturae dignitas et
praestantia, qua caeteras animantes eminet, ut certam ad normam ipsius actiones exigerentur; quippe citra
quam ordo, decor, aut pulcritudo intelligi nequit (Pufendorf, De jure naturae et gentium 2,1,2).
Entscheidend an diesem neuzeitlichen Begriff der Menschenwürde ist, daß sie nicht als eine der
menschlichen Natur als solcher zukommende Wertqualität, sondern als Rechtstitel verstanden wird, auf den
jedes menschliche Individuum als potentieller Adressat allgemein verpflichtender Grundnormen Anspruch
erheben darf. Klarer als Pufendorf hat dies selbst Kant nicht auszudrücken vermocht.“ (K.-H. Ilting,
„Naturrecht“, S. 289.)
Vgl. H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 130-144.
D. Bonhoeffer, Ethik. Hg. v. E. Bethge, München 1949, Kap. II, S. 174-197.
153
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
wahrnehmen zu können, „Civilcourage“ geltend: die „freie, verantwortliche Tat auch gegen
Beruf und Auftrag“. Deren Begriff und Praxis fehle den Deutschen noch.371
5.3 Die kopernikanische Revolutionierung des geozentrischen Weltbildes und die Suche nach
einem künstlichen Zentrum
Im ermländischen Dom zu Frauenberg, am Frischen Haff gelegen, bekleidete von 1495 bis zu
seinem Tode 1543 Nikolaus Kopernikus die wohlgesicherte, mit wenig Verwaltungspflichten
verbundene Stellung eines der sechzehn Domherren, so daß er viel Zeit für astronomische
Beobachtungen, Berechnungen und Theoriebildung nutzen konnte. Klugerweise erst im Jahr
seines Todes ließ er seien Werk „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ (Über die
Kreisbewegungen der Himmelskörper) erscheinen, in dem er ein System von Sphären
annahm, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Erde, sondern die Sonne stand. Er behauptete
hier, daß sich die Erde drehe. Denn mit dieser Hypothese, so begründete er (durch Schluß auf
die beste Erklärung), ließen sich die astronomischen Beobachtungen der Bewegungen der
Himmelskörper weitaus genauer erklären. Wiewohl er seine Annahme vorsichtig als
„Hypothese“ vortrug und nur methodologisch als Schluß auf die beste Erklärung rechtfertigte,
wurde sie schließlich, worauf sein Sinn gar nicht gerichtet war, weltbildstürzend.
Infolgedessen konnte man später den harmlosen Ausdruck „revolutio“ (Umlauf, Umdrehung,
Kreisbewegung) im Sinne von „Umsturz, Umbruch, Umwälzung“ verstehen – eben als
„Revolution“ im modernen Sinne.372
6
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes, Hobbes
und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
371
372
Ders., Widerstand (1951), S. 14.
Vgl. Funkkolleg Geschichte, SBB 8, S. 24ff. und Artikel „Revolution“ in Bd. 5 von: O. Brunner/W. Conze/R.
Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1981.
154
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität und
praktischer Vernunft.
6.1
Metaphysische Hintergrundserfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer Choc,
selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie
Die moderne Deutung, derzufolge Kopernikus als Revolutionär gefeiert wurde, dramatisierte
nicht, sondern war angemessen. Sie brachte einen überaus dramatischen Vorgang zum
Ausdruck. Der Astronom war der Zerstörer des aristotelisch-christlichen Weltbilds: die Erde
als Zentrum und der Mensch als Krone der Schöpfung: wohlbehütet in der Mitte, mit beiden
Beinen auf der Erde stehend und diese als das ruhende Zentrum eines Kosmos, so wie ihn
Platon im „Timaios“ ausgemalt hatte – als die vollendete Harmonie eines in sich kreisenden
Systems. Das Mittelalter hatte aus der antiken Astronomie die Ansicht übernommen, die Erde
sei eine Kugel in der Mitte des Universums, um die die Wandelsterne kreisten. Den Abschluß
des Universums bilde „die gewaltige Kristallschale des Himmelsgewölbes, die Fixsternkugel,
die sich in majestätischer Ruhe um sich selber dreht. […] Die Schöpfungsgeschichte ergänzt
dieses Bild durch die Vorstellung eines himmlischen Ozeans oberhalb des Himmelsgewölbes.
[…] Oberhalb des himmlischen Ozeans wäre dann der dritte Himmel als der eigentliche
Wohnort Gottes zu suchen.“373
Das alte Weltbild stellte den Menschen wohlbehütet und kosmostheologisch eingefügt in ein
göttliches Sphärensystem und politisch in eine christlich verbrämte Ordnungswelt mit dem
hierarchischen Gefüge von Bauern, Handwerkern, Rittern, Fürsten, Kaiser und darüber bzw.
daneben der Papst. Nun aber „rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X“, wie der
selbsternannte Prophet des Nihilismus, Friedrich Nietzsche, dreieinhalb Jahrhunderte später
diagnostizierte.374 Daher mußte der neuzeitliche Mensch, der Forscher, jetzt eine neue
Orientierung suchen. Das tat er auf zweierlei Weise:
indem er sich auf sich selbst als denkendes Ich stellte und sich seiner existierenden
Subjektivität vergewisserte; so findet Descartes das „unerschütterliche Fundament“ der
Erkenntnis im zweifelnden Rückgang auf sich als kognitives Subjekt: „cogito ergo sum“/ ich
denke, also bin ich, oder: indem ich denke, existiere ich;
-
indem er die Natur, richtiger: die Naturwissenschaft und die damit intern verbundene
Technologie, mathematisierte und mechanisierte, so daß er sich als Messender und
373
374
Günter Howe, Der Mensch und die Physik, Wuppertal 1955, S. 20.
F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. In: Werke. Hrsg. Von G. Colli und M. Montinari. Bd. XIII/1 Berlin
1974, S. 125.
155
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Berechnender selbst als Bezugspunkt setzte und von diesem Pol aus den unendlichen
Raum durch Experimente, durch methodischen Einsatz von Meßinstrumenten und
Orientierungsinstrumenten (Kompaß, Fernrohr) erst theoretisch, dann auch technisch
zu beherrschen begann.
Durch diese Subjektorientierung und Weltbeherrschung erwies sich die moderne, von
Kopernikus und Kepler angestoßene, von Galilei begründete Naturwissenschaft zumal dank
ihrer Technik als ungeheuer „praktisch“. Hier ist auch der Ursprung der modernen
umgangssprachlichen Kategorienverwechslung von „technisch“ mit „praktisch“, von
naturbeherrschend und prozeßobjektivierend bzw. Prozesse kontrollierend mit gemeinsam
handelnd und sich kommunikativ zueinander verhaltend. Als Nutznießer und Bediener von
Techniken nennen wir zahllose technische Apparaturen und deren Funktion „praktisch“: z.B.
vom Bedienen des Lichtschalters über den allseits bequemen Bürosessel und das
multifunktionale Mobiltelefon bis zur ausgeklügelten Computertechnik.
Aristoteles hatte hingegen praxis unterschieden von poiesis, welche von den Regeln einer
Kunstlehre, einer techne, angeleitet wurde. Der Arzt, der Architekt oder Bildhauer braucht das
Regelwissen seiner Kunst, seiner Technik, um z.B. richtig mit Material umzugehen und ein
bestimmtes Produkt herzustellen. Für die Praxis komme es aber auf Klugheit und
Besonnenheit an, die Achtsamkeit auf sich ändernde Situationen und schwankende
Gegebenheiten von Lebenswelt und Staat.375
In der Neuzeit jedoch wird das Technische absolut zum Vorbild der Praxis. René Descartes
(1596-1650) erblickt dann, wie seither zahlreiche Denker bis zum Ausgang des 20.
Jahrhunderts, in der neuen mathematisierten Physik sogar die Verheißung einer „praktischen
Philosophie“. Die Physik werde uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers,
der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso
genau kennen lehren, „wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so
daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden
und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen können (maîtres et possesseurs de
la nature).“376
Descartes und der dreißig Jahre ältere englische Lordkanzler Francis Bacon (1561–1626)
bestimmen die Hauptaufgabe der Wissenschaft als Naturbeherrschung durch Technik. Vor
allem Bacon sieht die Naturwissenschaft als die Basis einer rationalen Gestaltung der
375
376
Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI 4 f.
R. Descartes, Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt und hrsg. von L. Gäbe, Hamburg 1960,S. 101.
156
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Gesellschaft an – ja ihrer sozialtechnischen Beherrschung. Die Vernunft (ratio, raison,
reason) soll in technischem Sinn „praktisch“ werden: als Wissen zur Beherrschung der Natur,
einschließlich der menschlichen Natur. Die Ratio gilt als Instrument der menschlichen
Selbstbehauptung gegen die Natur und Herrschaft über die Natur.
Zuerst Machiavelli, dann Bacon und schließlich dessen zeitweiliger Sekretär Thomas Hobbes
denken auch die Praxis, das soziale und politische Handeln der Menschen untereinander, nach
dem Modell der Technik: als durch Wenn-dann-Regeln beherrschbar. Die von Aristoteles
eingeführte, wenngleich schon von ihm nicht durchgehaltene, Unterscheidung von
praktischem Handeln und technisch angeleitetem Herstellen wird zurückgenommen – total
und ungleich folgenschwerer als bei Aristoteles. Denn die Technik, von der er ausging, war
ganz die des Handwerkers. In der Neuzeit aber wird Technik zur Technik des Ingenieurs, die
alsbald in der neuen Produktionsstätte der Manufaktur (etwa 1500–1780) und der
maschinellen Großindustrie (etwa seit 1780) zur entscheidenden Produktivkraft wurde.377
Nunmehr, in der industriellen Moderne, herrscht die Technologie als Anwendung der Physik
und
als
Umsetzung
ihres
Erkenntnisinteresses
an
kontrollierter
Verfügung
über
objektivierbare Naturprozesse, wobei diese Naturbeherrschung seit Galilei ganz und gar auf
Mathematik und Mechanik beruhte.
Das mechanistische Verständnis von Naturwissenschaft wurde seit Bacon peu à peu auf die
Verfügbarmachung der sozialen Welt, der Gesellschaft und der Produktion übertragen.
Letztere konnte seit der industriellen Revolution als Zentrum oder “Basis” (Marx) der
sozialen Welt verstanden werden. Seit der industriellen Produktionsweise wurde Technologie
im doppelten Sinne zum Herzstück der industriellen Produktionsweise: Technologie als die
Anwendung der Naturwissenschaft, welche schon in deren experimentell prognostischer
Perspektive vorgebildet ist, und Sozialtechnologie als Übertragungsversuch der Mechanik auf
menschliche Handlungsweisen, zunächst auf die Tätigkeiten des modernen Fabrikarbeiters.
Es entwickelt sich das Kontrollpathos und Kontrollmechanismen eines Herrschaftswissens
über den Menschen in der Gesellschaft.
6.2
377
Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation
emanzipatorischen Solipsismus
durch
Vgl. K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867). Dreizehntes Kapitel. MEW, Bd. 23, bes.
S. 388 ff, 443 ff und 511 ff.
157
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Erschüttert von dem Kopernikanischen Choc und dem Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welt,
setzte in der Neuzeit ein philosophischer und wissenschaftlicher Orientierungsprozeß ein,
welcher schließlich – so können wir heute im Rückblick interpretieren und bewerten – auch
einen Paradigmenwechsel der Denk- und Erkenntnisauffassung mit sich bringt. Schon in der
Selbstüberholung des Humanismus, bei Machiavelli und Galilei, schließlich bei Montaigne,
ist das fundamentale Interesse an einer sicheren und autonomen Erkenntnis überhaupt, an
theologie- und autoritätsunabhängiger, vorurteils- wie irrtumsfreier Rationalität markant
hervorgetreten. Im Zeitalter Bacons und Descartes’ nimmt es nicht allein eine szientifischemanzipatorische Form an (Physik als Grundlage der Praxis), vielmehr sucht sich dieses
Interesse ein Fundament, welches zugleich die Autonomie des Erkennenden und die
Vergewisserung der Wahrheit verbürgen soll. Wo ist dieses Fundament zu finden? Die
subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophische Antwort lautet: Nirgendwo anders als im
Erkenntnissubjekt selber, im Bewußtsein des Erkennenden, das der Selbstprüfung und
Selbstvergewisserung fähig ist, und zwar aus eigener Kraft, aus eigenem Recht und
zweifelsfrei autonom. Diese Autonomie bedeutete zuallererst: emphatische Unabhängigkeit
von der Tradition, deren griechisch ontologisches Paradigma in der Scholastik zur
Lehrautorität erhoben worden war, indes der Humanismus die römische Rhetorik als Vorbild
ehrte. Ein Wechsel des Denkrahmens, des Paradigmas. Wo einst Schau des Seins war, des
göttlich
wohlgebauten,
soll
jetzt
Reflexion
des
Subjekts
sein,
statt
Ontologie
Subjektphilosophie.
Wie immer vorbereitet oder direkt bestärkt von den Autonomiemotivationen der
Sokratesschule, von der Innenwendung des Hl. Augustinus, von der emanzipatorisch
anthropologischen Tendenz des Humanismus, auch von Galilei und Montaigne, kommt das
Denken eigentlich erst durch die Bewußtseinsphilosophie dazu, sich aus seiner eigenen
Tätigkeit, verstanden als Akt des (Selbst-)Bewußtseins bzw. der Subjektivität, zu begründen.
Hatte sich die Philosophie seit den Athenern vorzugsweise über ihren Gegenstand, das Sein,
oder ihren Gegenstandsbezug, die Ontologie, begründet, so will sie sich jetzt auf sich selbst
stellen – meint, sich zur Gänze im Selbst-Bewußtsein, im Erkenntnis-Subjekt zu finden. Darin
liegt der Wechsel des Denkrahmens, des philosophischen Paradigmas. Von Descartes bis
Kant läßt er sich, ein wenig überbelichtet, so pointieren: Wo Schau des Seins war, soll
Reflexion des Subjekts sein, wo Ontologie herrschte, soll Erkenntnistheorie walten –
Subjektphilosophie statt Seinsphilosophie. Und wo traditionsgeleitete Metaphysik war,
Kontemplation des Seins vom Standpunkt Gottes aus, soll jetzt ausweisbare, rationale
158
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Methode werden, vorurteilsfreie mathematische Erklärung der Naturphänomene mit
Experiment und Prognose, daher mit Technologie.
Diese Wendung setzt Kritik voraus, Kritik in zweierlei Gestalt: negativ als Autonomie
ermöglichende Befreiung von Traditions- und Vorurteilsabhängigkeit, konstruktiv als
Selbstvergewisserung der Erkenntnisgrundlagen bzw. Erkenntnisbedingungen. Das Zeitalter
der Aufklärung zieht herauf. Nun ergreift das Interesse an autonomer und vergewisserbarer,
mithin an ausweisbar sicherer Erkenntnis vollends von der Philosophie Besitz, und zwar in
zwei komplementären Ausprägungen und Richtungen: einerseits im britischen Empirismus,
andererseits im kontinentalen Rationalismus, der später in den Idealismus, den deutschen
zumal, übergeht. Um die gesuchte Rationalität zu gewährleisten, sucht man den logischen Ort
der gewissen, daher sicheren Erkenntnis. Evidenz wird die Parole. Hier wie dort will man
Vorurteils-, Autoritäts- und auch Irrtumsunabhängigkeit gewinnen, indem man ein
Erkenntnisvermögen präpariert, das einer anderen Sphäre als derjenigen angehören soll, in der
Autoritäten, Vorurteile und Irrtümer vorherrschen können. Das ist die Sphäre der sprachlichen
Traditionsvermittlung und Kommunikation.
Wann ist hingegen ein Zugang zum Evidenten gewährleistet? Immer dann, wenn und nur
dort, wo das Augenscheinliche unabhängig von Vorurteilen ist: in der methodisch erzeugten
und methodisch vergewisserbaren Erkenntnissphäre des autonomen Subjekts als solus ipse.
Den Empirismus von Hobbes, Bacon, Locke und Hume führt die Evidenzsuche auf die
sinnliche Erfahrung als vermeintlich sichere Basis der Erkenntnis. Nach Locke ist das
Bewußtsein rein perzeptiv; sprachfreie impressions rufen auf der Netzhaut sprachfreie ideas
hervor, wohingegen Descartes das fundamentum inconcussum letztlich in der Reflexion des
zweifelnden Erkenntnissubjekts findet, in der methodischen Kontrolle des Bewußtseins durch
methodischen Zweifel. Hier wie dort greift man zu der Idee eines, sich methodisch von dieser
Welt (mit ihrer sprachlichen Traditions- und Vorurteilsvermittlung) isolierenden und dadurch
Erkenntnisunmittelbarkeit gewinnenden, einsamen Bewußtseins (des Empirikers oder des
Philosophen). Das Bewußtsein als solus ipse, jetzt im Unterschied zu Augustinus strikt
autonom angesetzt und von der Kommunikation mit Gott mehr und mehr abgelöst, gilt als die
autarke, weil kommunikationsunabhängige Erkenntnisinstanz: „Words in their primary or
immediate significations stand for nothing but the ideas in the mind of him that uses them“
(Locke).378
Mit der Aufklärung bildet sich der bewußtseinsphilosophische Hintergrundkonsens heraus,
daß der Erkenntnisdiskurs prinzipiell einsam sei. Er muß es angeblich sein, um die
378
J. Locke, Essay Concerning Human Understanding, Bd.II, Buch III, 2.2., London 1690.
159
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Autonomie, und, über diese, die Gewißheit der richtigen Erkenntnis sicherzustellen. Daher
gehört
die
instrumentalistische
Bezeichnungstheorie
der
Sprache
zur
bewußtseinsphilosophischen Morgengabe der Moderne: dem emanzipatorisch gesonnenen
methodischen Solipsismus.379
Für ihn ist Sprache nichts als ein nachträgliches
Kommunikationsinstrument der Ratio. Es dient bloß zur Bezeichnung dessen, was wir ohne
die Sprache erkennen, erschauen können.
Der von der Aufklärung für das Autonomieideal entrichtete Preis ist die Verdrängung von
Sprache und Kommunikation als Denkvoraussetzungen und interner Erkenntnisbedingungen.
Den Fortschritt an Autonomie, den Gewinn an philosophischer Emanzipation, hat die
Aufklärung mit dem Verlust des kommunikationsphilosophischen Potentials, das im
rhetorischen Humanismus von Cicero über Petrarca bis zu Giambattista Vico entwickelt
worden war380, teuer bezahlen müssen: Sprache und Kommunikation fallen aus dem
Subjektparadigma heraus. Als Konstituentien der Erkenntnis und Rahmenbedingungen des
Subjekts spielen sie für die Philosophen, seien sie Empiristen oder Rationalisten, keine Rolle.
Hier zeigt sich wohl ein entwicklungslogisches Gesetz, das der Entwicklung der Philosophie
zugrundezuliegen scheint: Gesetz der produktiven Vereinseitigung dessen, was neu entdeckt
wird. Hier ist es der neue Standpunkt des autonomen, auf sich selbst reflektierenden Subjekts,
welches alles andere, Natur wie Gesellschaft, zum Gegenstand des Rechnens und kausalen
Erklärens macht – zum Objekt einer instrumentellen Ratio, die ihr Vorbild in der
Naturwissenschaft hat. Die radikale, vereinseitigte Einnahme des Standpunkts der Autonomie
und der Selbstvergewisserung (dieser Art)
führt dazu, die Sprache zu einem
Instrumentenkasten der Ratio herabzusetzen und die sprachliche Kommunikation, da man nie
wisse, was da vermittelt wird, eher unter den Generalverdacht der Vermittlung von
Vorurteilen zu stellen, als die neuartige Reflexionsfrage, Kants „transzendentale“ Frage nach
internen Bedingungen der Erkenntnis, nun auch auf Sprache und Kommunikation zu
beziehen. So geht mit der philosophischen Entdeckung des Erkenntnis- bzw. Diskurssubjekts
(cogitatio bei Descartes) die Verdeckung seiner kommunikativen Praxis einher. Freilich
vergißt man dabei, daß auch der einsame Denker Descartes immer schon kommunizieren
muß: Er hat gelesen, er schreibt, macht Gedankenexperimente, spricht mit anderen; auch
wenn
er
mit
der
Einsamkeit
kokettiert,
ist
er
nicht
allein,
sondern
in
Kommunikationsgemeinschaft.
379
380
Vgl. D. Böhler: Rek. Pragm. (1985), S. 69-76.
Vgl. K.-O. Apel, Idee (1963).
160
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
6.3
Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch
Reflexion des Erkenntnissubjekts
Descartes und der dreißig Jahre ältere englische Lordkanzler Francis Bacon (1561 1626) –
beide waren Wissenschaftler und Wissenchaftstheoretiker – bestimmen die Hauptaufgabe der
Wissenschaft als Naturbeherrschung. Vor allem Bacon betrachtete die (Natur-) Wissenschaft
als Basis einer rationalen Gestaltung der Gesellschaft. Die Vernunft (ratio, raison, reason) soll
in technischem Sinn praktisch werden. Wie? Indem sie zunächst als konstruktivmathematisches Naturverstehen konzipiert wird, welches schließlich zum mathematischtechnischen Herrschaftswissen über die Natur, einschließlich der menschlichen Natur führt.
An dieser Intention haftete ein ungeheurer Enthusiasmus: eine zweite Schöpfung. So hatte es
schon Nikolaus Cusanus vorausgedacht.381 In der Neuzeit wird dieser Enthusiasmus für alle
Bereiche bestimmend werden: messen, erklären, beherrschen. So gilt schließlich Vernunft,
Ratio, als Instrument der Selbstbehauptung gegenüber der Natur.
Zuerst Machiavelli, dann Bacon und schließlich dessen zeitweiliger Sekretär Hobbes denken
freilich auch die Praxis, das soziale und politische Handeln der Menschen untereinander, nach
dem Modell der Technik: als beherrschbar durch Wenn-dann-Regeln. Eine folgenschwere
Umorientierung, eine Umwälzung der Tradition, die das Selbstverständnis tiefgreifend
verändert. Die von Aristoteles eingeführte, aber nicht durchgehaltene Unterscheidung von
praktischem Handeln und technisch angeleitetem Herstellen wird eingeebnet – ungleich
folgenschwerer als bei Aristoteles: denn die Technik, von der er ausging, war wesentlich die
des Handwerkers. Nun aber wird Technik zur Technik des Ingenieurs, die alsbald in der
neuen Produktionsstätte der „Manufaktur“ (etwa 1500–1780) und der maschinellen
Großindustrie (etwa seit 1780) zur entscheidenden Produktivkraft wurde,
Die Neuzeit wird von einem ungeheuren Enthusiasmus der Herrschaft des Menschen
eingeleitet und begleitet. Einerseits beruht er auf der Selbstvergewisserung durch die
methodische Rationalität der neuen Wissenschaft, die die gesamte Natur zu berechnen,
messen, erklären und zu beherrschen erlaubt, andererseits auf einer zwiefach reflektierenden
Selbstvergewisserung des Menschen, nämlich auf zwei Gedankenexperimenten, die den
Autonomie-Anspruch der Ratio philosophisch methodisch zur Geltung bringen:
381
Vgl. Karl-Otto Apel, Das Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte). In:
Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. I, Bonn 1955, S. 142-199, hier: S. 148-152.
161
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
-
Es ist Descartes’ Selbst-Vergewisserung durch Besinnung auf ein „absolutes“, von
aller Einbeziehung in eine sinnhafte Welt, von allem vorgegebenen Wissen, allen
Lehr-Autoritäten und Traditionen abgelöstes, nur auf sich selbst reflektierendes Ich.
-
Es ist andererseits die Hobbes’sche Sozial-Vergewisserung durch Rückgang auf ein
isoliertes, von allen lebensweltlich sittlichen Normen und institutionellen Bindungen
abgelöstes, nacktes Individuum als Inbegriff asozialer, aggressiver Selbstbehauptung,
das nichts als die Ratio eines Vorteilskalküls mitbringe. Max Weber wird dies später
Zweckrationalität nennen.
Was Descartes anbelangt, so ist er zwar als Jesuitenschüler mit seinem Apparat an
scholastischen Begriffen, von denen er nie ablässt, mit seinem Versuch, katholische
Grundlehren wie die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes zu beweisen, und vor
allem mit seinem „Beweis“, daß Gott allein Welt und Ich vermitteln könne, ein traditioneller
Denker. Aber sein Denkmittel, sein Denkweg, seine Denkmethode ist spezifisch neuzeitlich.
Es hat über Kant, Fichte, Schelling und Hegel bis zu Husserl die Philosophie als „Philosophie
der Subjektivität“ bestimmt.382
Entsprechend kann Hegel ihn derart würdigen: Erst mit Descartes „treten wir eigentlich in
eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt
und daß das Selbstbewusstsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen,
sind wir zu Hause und können, wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf ungestümer See,
›Land‹ rufen; Cartesius [latinisierte Form von Descartes] ist einer von den Menschen, die
wieder mit allem von vorn angefangen haben; und mit ihm hebt die Bildung, das Denken der
neueren Zeit an.“383
Nach dem Zerfall der alten Welt und des alten Weltbildes scheint es nichts Sicheres mehr zu
geben – nichts, woran nicht gezweifelt werden könnte, so daß man als Philosoph nunmehr
fragen muß: „Wer bin ich? [...] Doch wohl ein Mensch. Aber was ist das ›ein Mensch‹? Soll
ich sagen: ein vernünftiges, lebendes Wesen? Keineswegs, denn dann müßte man ihn hernach
fragen, was ein ›lebendes Wesen‹ und was ›vernünftig‹ ist, und so geriete man aus einer Frage
in mehrere und noch schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Zeit, daß ich sie mit derartigen
Spitzfindigkeiten vergeuden möchte“. [– Die selbstverständliche Basis des christlicharistotelischen Geistes, daß der Mensch ein vernünftiges Lebewesen sei, ist also eine
382
Dazu W. Schulz: Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 31976, bes. S. 257ff., 348ff. – Ders. Ich und
Welt. Pfullingen 1979.
383
G. W. F. Hegel: Geschichte der Philosophie, 3. Teil, 2. Abschnitt. In: Werke in 20 Bänden. Hrsg. von E. und
K. M. Michel. Frankfurt 1979, Bd. 20, S.120, vgl. S. 123ff.
162
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Spitzfindigkeit! – Vielmehr will ich] „alles von mir fernhalten, was auch nur den geringsten
Zweifel zuläßt [...] und ich will solange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses [...]
erkenne [...] Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist.“ Aber wenn ich das tue,
bleibt doch eines übrig: mein Denken.384
Der methodische Zweifel, also die „Fiktion, daß nichts, was mir jemals in den Kopf
gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume“, findet doch an einem Punkt sein
Ende: daran nämlich, daß ich es bin, der denkt. Daher ist „diese Wahrheit: ›Ich denke, also
bin ich‹ so fest und sicher [...], daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht
zu erschüttern vermöchten.“385
Insofern macht Descartes das auf sich reflektierende einsame Ich, auf das sich der
neuzeitliche Mensch durch die kopernikanische Auflösung des sinnvollen zweckmäßigen
Kosmos und den Zerfall der universalen christlichen Gemeinschaft (unter Papst und Kaiser)
zurückgeworfen sieht, zum neuen Orientierungs- und Ausgangspunkt. In der Philosophie
herrscht seitdem ein methodischer Solipsismus vor, der unterstellt, einer für sich allein könne
verstehen und Wahrheit haben. Descartes verzichtete darauf, aus diesem radikalen Ansatz
praktische, ethische und politische Konsequenzen zu ziehen. Das tut dann Hobbes.
6.4
Thomas Hobbes oder die politische Hintergrundserfahrung der Neuzeit. Die
konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die Antwort der
zweckrationalistischen Vertragstheorie
Descartes verzichtete darauf, einen ethischen Gebrauch von dem neuen Ansatz zu machen.
Vielmehr greift er auf die aristotelische Klugheit zurück und beläßt es bei einer vorläufigen
Moral (morale par provision). In einer Zeit der alles bedrohenden Glaubenskriege und des
Verlustes universaler religiöser wie moralischer Überzeugungen empfiehlt er, sich die
lebensnotwendige praktische Orientierung aus der überlieferten und etablierten Sittlichkeit
des jeweiligen Landes zu holen386: Er hält sich sicherheitshalber an die konventionellen
Urteilsstufen drei und vier, wie wir sie im Schema Lawrence Kohlbergs kennen gelernt
haben. Wo Descartes aufhört, setzt Thomas Hobbes an. Er ist durchdrungen von der Gefahr
des brutalsten zu befürchtenden Krieges – Hobbes’ Geburtsjahr 1588 war das Jahr des
Angriffs der Spanischen Flotte auf britische Gewässer – und geprägt vom Grauen der
384
R. Descartes: Meditationes de prima philosophia. Hrsg. von L. Gäbe. Hamburg 1959, Bd. II., S. 43-49.
R. Descartes: Discours, a.a.O., S. 53.
386
R. Descartes: Discours, a.a.O., S. 37-43.
385
163
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Wolfsnatur, die sich ebenso im Religionskrieg wie in der Gesinnungsherrschaft über
Ungläubige folternd Bahn bricht. Geleitet von diesem Erfahrungs- und Erwartungshorizont
muß er das naturrechtliche Credo des Abendlandes verwerfen, welches auf den Aristoteliker
Thomas von Aquin zurückgeht: homo est naturaliter socialis.
Die in der abendländisch christlichen Tradition zutiefst verwurzelte aristotelische
Grundannahme, „daß der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei“, sieht
Hobbes als falsch an. „Denn wenn die Menschen einander von Natur, d. h. bloß weil sie
Menschen sind, liebten, wäre es unerklärlich, weshalb nicht jeder jeden in gleichem Maße
liebte, da sie ja alle in gleichem Maße Menschen sind.“387 Hobbes räumt den traditionellen,
zugleich ontologischen und ethischen Naturbegriff zur Seite und wendet den wertneutralen
Naturbegriff von Galileis Mechanik auf den Menschen an. Auch die Philosophie versteht er
nach dem Vorbild der neuen Naturwissenschaft als „rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder
Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der
möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen“. „Vernunft“ definiert er als
Berechnung, die auf die beiden Operationen „Addition“ und „Subtraktion“ zurückgeht:
„Vernunft ist nichts anderes als Rechnen, d. h. Addieren und Subtrahieren“, wobei auch mit
Begriffen gerechnet werde: „mit allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen
und Anzeigen unserer Gedanken [die also vorsprachlich und ohne Kommunikation möglich
sein sollen!] geeinigt hat.“388 Denken können wir jedoch als solus ipse, jeder einsam für sich.
Die Natur und die Wirklichkeit insgesamt sind für Hobbes nichts als Körper und Bewegung,
also die von vermeintlich innerem Sinn und innerer Zielbestimmung entleerte Natur im Sinne
von Galileis Mechanik.389 Auch deren Methode übernimmt er, nämlich den Zweischritt von
„Resolution“ als Zerlegung des zu Erklärenden in seine Grundelemente und dann
„Komposition“ als zusammensetzende Konstruktion der Elemente zum Ganzen. So will er
den bürgerlichen Zustand, den Staat, als politischen Körper zunächst analysieren und dann
neu zusammensetzen. Um jene Grundelemente im ersten – resolutiven – Schritt zu finden,
unternimmt er das Gedankenexperiment eines „Zustandes der Menschen außerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft“.
Wie Galilei, der, als er die Gesetze vom freien Fall der Körper konstruierte, zunächst von dem
Gedankenexperiment des luftleeren Raumes ausging, so geht Hobbes von der fiktiven
387
Th. Hobbes: De cive 1,2 – deutsch: Vom Menschen, vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet
und hrsg. von G. Gawlick. Hamburg 1959. S. 74f.
388
Th. Hobbes: De corpore I, 1,2 deutsch: Vom Körper. Elemente der Philosophie I. Hrsg. von M. FrischeisenKöhler. Hamburg 21967, S. 6 und: Ders,: Leviathan I, 5 – deutsch: Ders.: Leviathan. Hrsg. und eingeleitet
von I. Fetscher. Darmstadt/Neuwied 1966, S. 32.
389
Th. Hobbes: De corpore I, 1,9 – deutsch: a.a.O., S. 13.
164
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Annahme eines politisch-rechtlich-sittlich leeren Raumes aus: vom Vakuum eines
vorbürgerlichen Zustandes. Unter Voraussetzung des rein quantitativen Naturbegriffs der
galileischen Physik nennt Hobbes jenes politische Vakuum „Naturzustand“ – welch
kopernikanische Wende der Philosophie! Dieses Gedankenexperiment soll den Blick für die
unverfälschten Ursachen der Bewegungen der menschlichen Körper, also für die Ursachen
der menschlichen Handlungen, freigeben. Auf diese Weise findet er zwei Hauptursachen der
menschlichen Bewegung: das Begehren bzw. Erstreben von etwas und die Abneigung bzw.
die Furcht. Diese beiden Bewegungs- und Handlungs-Ursachen bilden nach Hobbes das
menschliche Selbsterhaltungsinteresse.
„Jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte
der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer natürlichen Notwendigkeit, nicht
geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde fällt.“390 Diese natürlichen Antriebe sind
bloß natürlich und daher weder gut noch böse. Aber das Begehren führt zur
Lebensbedrohung, weil oftmals viele Menschen „denselben Gegenstand begehren“, woraus
sich Kampf und sogar Kampf auf Leben und Tod ergeben kann; und zwar prinzipiell ein
Kampf aller gegen alle. Dabei ist selbst der stärkste Mensch leicht verletzlich, weil noch der
Schwächste, durch List oder durch Verbindung mit anderen, auch den Stärksten – der bei den
Tieren für Ordnung sorgen würde – überwältigen und töten kann. Im Grunde sind also die
Menschen gleich stark und haben die gleiche Angst vorm Tode. Es besteht daher eine
negative Gleichheit der Menschen in der Möglichkeit zu töten und in der Furcht, getötet zu
werden.391
Weil in einem bloßen Naturzustande, also in diesem fiktiven, nur angenommenen rechtlichpolitischen Vakuum, mit der absoluten Willkürfreiheit der Individuen auch absolute
Unsicherheit und Furcht herrschen würde, lassen sich nach Hobbes folgende „Gebote der
rechten Vernunft“ hinsichtlich der „möglichst langen Erhaltung des Lebens“ ableiten:
- daß man den Frieden suche, soweit er zu haben ist;
- daß man die Willkürfreiheit als natürliches „Recht aller auf alles“ einzuschränken willens
ist;
- daß man diesen Willen gegenseitig durch Verträge verbindlich macht;
- daß man die eingegangenen Verträge halte.392
390
Th. Hobbes: De cive 1,7 – deutsch: a.a.O., S. 81. Vgl. Leviathan I,6 – deutsch: S. 39f.
Th. Hobbes: Leviathan I, 13 – deutsch: a.a.O., S. 94ff.
392
Vgl. Th. Hobbes: De cive 2,2 bis 3,1 – deutsch: a.a.O., S. 87–98. Vgl. Leviathan I, 14 – deutsch: a.a.O., S.
99f.
391
165
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Diese Gebote bezeichnet Hobbes auch als „von der Vernunft ermittelte, grundlegende Gesetze
der Natur“. Denn sie werden durch das Gedankenexperiment eines bloßen „Naturzustands“
(also durch die Hypothese eines politisch-rechtlich-sittlich leeren Raumes) methodisch
erzeugt, so daß sie von jedem Denkenden ebenso gefolgert werden müßten und daher
intersubjektiv gültig sind. – Das aber können sie nur sein, wenn die Voraussetzungen
stimmen, von denen Hobbes ausgeht. Können, so müssen wir uns fragen, seine Annahmen
über die natürlichen Eigenschaften bzw. Handlungsantriebe der Menschen – über die von
Hobbes gemachten besonderen Erfahrungen hinaus – als verallgemeinerbar gelten oder nicht;
sind seine solipsistischen und mechanistischen Annahmen tragfähig? Sind sie vereinbar mit
jenen sozialen Voraussetzungen, die Hobbes ebenso gemacht hat wie wir alle, indem wir
etwas als etwas denken und es anderen gegenüber zur Geltung bringen?
Deutlich ist: Hobbes’ Vernunftgebote sind bloß „hypothetische Imperative“ im Sinne Kants.
Die Vernunft, die sie hervorbringt, entwickelt nicht selbst eine Motivation, die moralisch
verpflichten könnte; sie ist also nicht orientierend. Weder ist sie moralisch „gesetzgebend“ im
Sinne Kants, noch begründet sie im Sinne einer argumentationsreflexiven Ethik letzte
Maßstäbe dafür, was es bedeutet, „vernünftig“ und „praktisch vernünftig“ zu sein. Vielmehr
geht Hobbes von dem vermeintlich „natürlichen“ Faktum des Selbsterhaltungsinteresses aus
und verbindet es mit dem Kalkül der wertfreien Rationalität. Der Mensch, der als Lebewesen
im Willen zum Leben seinen obersten Zweck schon mitbringt, muß nun lediglich die
geeigneten Mittel zu dessen Realisierung suchen.
Im Sinne eines Kalküls der „Zweckrationalität“ (so Max Weber – eigentlich spräche man
besser von „Mittelrationalität“) entwickelt Hobbes eine Lehre vom Staatsvertrag, den die
Menschen aus natürlichem Selbsterhaltungsinteresse eingehen. Und zwar ist es nicht – darin
liegt ein wesentlicher, heute gern eingeebneter, Unterschied zur Ethik Kants – der moralisch
gesetzgebende Wille des Menschen als eines Vernunftwesens, sondern der empirische
Lebenswille des Menschen, der als Basis des Sozialvertrags angesetzt wird, der – so Hobbes –
zu einem friedlichen Zusammenleben führt. Es handelt sich also beim Willen zur
Selbsterhaltung (als Grundlage eines vernünftig geordneten Zusammenlebens) nicht um eine
moralische Basis, so daß wir als Argumentierende unwiderlegbare Gründe für das Eingehen
und Einhalten eines Sozialvertrags (etwa eines Staatsvertrags) geltend machen können.
Vielmehr handelt es sich um eine natürlich wirkende Ursächlichkeit im Sinne
unausweichlicher Naturgesetzlichkeit, die von einer empirischen Wissenschaft der
menschlichen Natur und ihrer Gesetze festgestellt werden soll.
166
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Aus der Sicht Immanuel Kants, der die Ethik auf die Vernunft gründet, ist eine solche
ethische Basis bloß „heteronom“: Hobbes Vertragstheorie etabliert eine Fremdbestimmung
des vernunftfähigen Willens. Das läuft nach Kant auf eine Entmündigung hinaus, auf eine
Beschneidung des menschlichen Vermögens zur moralischen Selbstbestimmung (im Sinne
einer freien, diskursiven Orientierung des Verhaltens an der verallgemeinerungsfähigen
Gesetzgebung).
Statt
moralischer
Autonomie
durch
praktische
Vernunft
herrscht
Fremdbestimmung durch natürliche Ursachen wie „Affekte“ und „Neigungen“ und daraus
abgeleiteten Regeln.
Die Begründung einer praktischen Vernunft, die von Kant teils beabsichtigt, teils schon
entworfen wurde, läßt sich nicht mit einer zugleich naturalistischen und utilitaristischen
Vertragstheorie harmonisieren – auch wenn einige, wie Ottfried Höffe, es versucht haben –,
genaugenommen weder mit einer naturalistischen noch mit einer utilitaristischen Politik oder
Ethik. Vielmehr gibt sie gerade den Blick auf die Begründungsverlegenheiten von Hobbes
frei. Dies sind zunächst zwei:
•
Hobbes ersetzt die klassisch naturrechtliche Form des naturalistischen Fehlschlusses
durch eine naturwissenschaftlich orientierte Version – er leitet das bürgerliche Sollen
nicht mehr aus dem Sein der göttlich geordneten Natur ab, sondern aus dem Sein einer
empirischen Naturkausalität in Verbindung mit der (freilich durch natürliche Affekte
angestoßenen) moral- und wertfreien Rationalität des Menschen als KalkülVermögen.
•
Hobbes ist nicht in der Lage, die Frage zu beantworten, warum Menschen auch dann
Verträge schließen oder einhalten sollten, wenn das nicht ihrem egoistischen
Selbstinteresse dient und daher als zweckrational ‚geboten‘ erscheint.
Erläutern wir zunächst diesen zweiten Einwand. Um den Vertragsbruch zugunsten des
eigenen Vorteils zu verhüten, stattet er die Staatsmacht, die aus dem Staatsvertrag hervorgeht,
nicht nur mit allen Vollmachten eines absoluten Souveräns aus, sondern verleiht ihr absolute
Autorität und installiert sie als irdischen Gott, als Leviathan.393 Insofern haben wir hier eine
ähnliche Paradoxie wie bei Platon: Einerseits überschreitet Hobbes das konventionelle, bei
Descartes noch ungebrochene Ethos und gründet die Moral auf einen Vertrag, den die Bürger
selbst zustandebringen (Stufe 5 nach Kohlberg), andererseits entzieht er eben diesen Bürgern
die Möglichkeit eines kritischen Dialogs zur eventuellen Revision der staatlichen Normen.
Das bedeutet: er versucht die kritische Spannung zwischen dem etablierten Ethos und der
393
Th. Hobbes: Leviathan II, 17 – deutsch: a.a.O., S. 134.
167
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Vernunftethik, zwischen der jeweiligen realen Staatsgemeinschaft und der idealen
Argumentationsgemeinschaft aufzuheben.
Wie bei Platon kommt auch dieser Rückfall in die bloß konventionelle Moral der
allmächtigen Staatsinstitution, deren Gewalt ungeteilt beim Souverän liegt,394 nicht ohne
Anknüpfung an eine un-eschatologische Theologie aus. Knüpfte Platon an die zukunftslose,
auf das ewige Kreisen der Gestirne als göttliche Erscheinungen bezogene Kosmostheologie
an, so vertritt Hobbes eine entchristianisierte, der eschatologischen Spannungen zwischen
irdischem Staat und Reich Gottes beraubte Theologie der absoluten Willkürmacht Gottes.
Wie die absolute Verbindlichkeit eines göttlichen Befehls auf der unwiderstehlichen
Willkürmacht Gottes beruhe, so auch die Verbindlichkeit staatlicher Grundsätze auf der
ungeteilten und unkritisierbaren Macht des Souveräns.
Allein der Souverän sei – auf Erden – der Herr über Leben und Tod, weshalb auch die
Todesstrafe ein unverzichtbares Attribut der Staatsmacht darstelle. (Ein Gedanke, der auch in
die französische Staatsverfassung eingegangen ist. Bis zu den Zeiten Mitterands gab es in
Frankreich die Todesstrafe, als Mittel der Abschreckung durch die Furcht vor einem
gewaltsamen Tode. Dies sei die causa der Bewegung des menschlichen und politischen
Körpers.) Allein der Souverän verbürge auf Erden ein Friedensreich. Die staatliche
Friedensordnung setzt Hobbes tendenziell sogar mit dem Reich Gottes auf Erden gleich.395
Eben dadurch ebnet er die normativ-kritische Distanz zwischen positiver Rechtsordnung und
idealer moralischer Ordnung, zwischen Legalität und Moralität, ein und nimmt der christlichaugustinischen Idee des Reichs Gottes ihre kritische Funktion. Hobbes verwirft das ihm
gefährlich scheinende Erbe der Augustinischen Lehre von den zwei Reichen. In dieser Lehre
hatte Augustinus in gewisser Weise die Reich-Gottes-Hoffnung aus dem revolutionären Geist
des frühen Christentums und der jüdischen Apokalyptik gerettet, geschichtstheologisch
entfaltet und dadurch dem Abendland einen utopieträchtigen Unruheherd und eine kritischmoralische Gegeninstanz zur jeweiligen realen politisch-sittlichen Ordnung vermacht.396
Über die Diesseitigkeit des autoritär absolutistischen Friedenssicherungsstaates hinaus will
Hobbes nichts gelten lassen. Dies sei das Höchste, wonach der Bürger streben dürfte und von
woher er diese gewaltige Staatsmacht, diesen sterblichen Gott, wie er sagt, überhaupt
kritisieren könnte. Weder kritische Dialoge über die Legitimität der Staatsordnung oder
einzelner ihrer Teile, noch Fernziele und fernhinzielende Wunschvorstellungen politisch-
394
Hobbes verurteilt ausdrücklich jede Teilung der Staatsgewalt: Leviathan II, 17 – deutsch: a.a.O., S. 134f.
Kritisch dazu: Dietrich Braun: Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Zürich 1963.
396
Augustinus: De civtate Dei libri XXII. Stuttgart 1928/29. Deutsch: Vom Gottesstaat, 2 Bde. Übertragen von
W. Thimme. München 1977.
395
168
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sozialer Utopien, weder kritische Moralansprüche noch utopische Glücksperspektiven darf es
in Hobbes’ Staat geben, weil sie den politischen Frieden bedrohen könnten.
Die Hobbessche politische Liquidierung von Diskurs und Utopie wirkt deutlich nach bei
Arnold Gehlen397, Helmut Schelsky, Herrmann Lübbe und anderen, die in den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts den Anspruch einer politischen „Tendenzwende“ gegen den
Anspruch der späten sechziger Jahre auf „mehr Demokratie“ gesetzt hatten.398 Die politische
Aktualität von Hobbes geht aber noch tiefer. Denn er verkörpert gleichsam – und damit
kommen wir zu unserem zweiten Einwand – das moralphilosophische Begründungsdefizit der
(wohl bis heute) im Westen vorherrschenden, wertfrei-liberalen Staatsideologie. Diese
bestreitet ja die Möglichkeit rationaler Begründung ethischer Normen, also die Möglichkeit
ethischer Vernunft, und will es bei der faktischen Anerkennung einer Rechtsordnung durch
die Bürger sowie bei der „Legitimation durch Verfahren“ bewenden lassen.399
Wenn aber – so betont K.-O. Apel – „eine Begründung intersubjektiver Gültigkeit ethischer
Normen tatsächlich unmöglich ist, dann besteht keinerlei Verpflichtung dazu, freie
Übereinkünfte einzugehen oder sie einzuhalten. Beides – und damit das gesamte Ethos
liberaler Demokratie – reduziert sich dann auf zweckrationale Klugheitsveranstaltungen der
Interessenten, wie sie prinzipiell auch in einer Gemeinschaft von Gangstern denkbar sind; und
die Verbindlichkeit oder normative Geltung der Übereinkünfte und der auf sie gegründeten
Gesetze läßt sich dann, strenggenommen, auf ihre faktische Effektivität angesichts einer
weiterbestehenden Interessenkonstellation zurückführen. Das heißt, jeder ist genau dann und
[nur] insofern ›verpflichtet‹, Übereinkünfte einzugehen bzw. sie einzuhalten, wenn bzw.
sofern er sich davon Vorteile verspricht bzw. wenn oder sofern er für den Fall eines anderen
Verhaltens Nachteile befürchten muß.“400
Hatte schon Machiavelli das Sozialverhalten der Menschen aus Trieben und Affekten wie aus
Naturgesetzlichkeiten erklären wollen, so erklärt Hobbes auch den Schritt der Menschen zum
Staatsvertrag – und noch die Einhaltung des Staatsvertrags sowie der bürgerlichen Ordnung –
aus dem Interessen-Kalkül in Verbindung mit einer natürlichen Anlage des Menschen, dem
Selbsterhaltungsinteresse, und mit einem natürlichen Affekt, der Furcht.401 Es sind also
Naturgegebenheiten, letztlich die Furcht vor einem gewaltsamen Tode im rechtlosen
397
Zu Gehlen vgl. die Beiträge von J. Habermas und D. Böhler in: K.-O. Apel u.a. (Hrsg.): Praktische
Philosophie/Ethik. Frankfurt 1980, S. 32ff. und 46ff.
398
Vgl. H. Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Opladen 1975 und ders., Die Hoffnung Blochs. Stuttgart 1979.
399
Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Neuwied 1969.
400
K.-O. Apel: Die Konflikte unserer Zeit und das Erfordernis einer ethisch-philosophischen
Grundorientierung. In: K.-O. Apel u.a. (Hrsg.): Praktische Philosophie/Ethik, a.aO., S. 280f.
401
Th. Hobbes: Leviathan I, 13; II, 17 – deutsch: a.a.O., S. 96ff. und 131. De cive. Vorwort; 1,13; 5,12 und 6,4. –
Vom Bürger, S.68ff, 84, 129ff. und 133.
169
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„Naturzustand“ eines egoistischen Kampfes aller gegen alle, die Hobbes als Beweggrund für
den Abschluß eines Staatsvertrags angibt. So geht er zwar nicht mehr von einer unmittelbar
verstehbaren teleologischen Naturordnung aus, aber von einer theoretisch erklärbaren,
empirischen Naturkausalität und verbindet diese mit dem Kalkül einer instrumentellen ratio,
einer, wie Horkheimer sie nannte, „instrumentellen Vernunft“. Wiewohl Hobbes – der als
Bewunderer Galileis dessen Mechanik auf die Gesellschaft zu übertragen suchte – an der
Ablösung des metaphysischen durch den wissenschaftlichen Naturbegriff vollen Anteil hat,
überwindet er die klassisch-ethische Argumentationsweise nicht, die das moralische Sollen
aus dem natürlichen Sein ableitet.402 Das aber heißt, er beruft sich auf eine
außerargumentative Instanz, also auf einen Standpunkt, den er als Diskurspartner, der nur
prüfbare Argumente sucht und nur solche vorbringen darf, nicht einholen kann. Er verlässt
damit den Diskurs der Argumentationspartner und springt aus der Autonomie des
Argumentationspartners in eine Heteronomie, eine Perspektive der Fremdbestimmung.
Erst ein Jahrhundert später zieht der schottische Philosoph David Hume (1711-76) aus dieser
Ablösung des metaphysischen Naturbegriffs die moralphilosophische Konsequenz, daß aus
dem Sein (der Natur) kein Sollen (des sozial Handelnden) abgeleitet werden kann, daß also
Normen nicht aus Fakten begründet werden können. Genauer gesagt: auch Hume legt diese
Konsequenz nur nahe.403 Aber sie ist gleichsam fällig: Der deutsche Philosoph Christian
August Crusius (1715-75), der selbst noch in der, durchaus aristotelisch geprägten, Tradition
des Naturrechts der Aufklärung steht, aber schon Grundgedanken der Kantischen Ethik
vorwegnimmt, setzt das Sein der quantitativen Natur, als Objekt der Physik, vom Sollen der
moralischen Gesetzgebung als Thema der Ethik in aller Schärfe ab: „Die physikalische
Wirklichkeit ist, nach welcher etwas ist, die moralische, nach welcher es sein soll.“404
6.5 Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft oder: Einsehbare Verbindlichkeit in
den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik
402
Vgl. C. B. MacPherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Übers. von A. Wittekind. Frankfurt
1973, S. 87, 91ff.
403
D. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Übers. von Th. Lipps. Hamburg 1973. Buch III (über
Moral), Erster Teil, 1. Abschnitt, S. 211f., vgl. 204ff. Dazu Lewis White Beck: ›Was – must be‹ and ›is –
ought‹ in Hume. Philosophical Studies 26 (1974), S. 219ff.
404
Christian August Crusius: Anweisung vernünftig zu leben. Leipzig 1744, S. 204.
170
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Immanuel Kant, 1724 in Königsberg geboren, dort ein neugieriger, allseitig informierter,
gastfreundlicher Weltbürger und Revolutionär der Philosophie, hart arbeitend und 1804
daselbst gestorben, ist der philosophische „Alleszermalmer“, wie ihn Zeitgenossen zu Recht
genannt haben. Er revolutioniert in der Tat die theoretische und die praktische Philosophie,
indem er beide auf kritische Vernunft zurückführt und nichts als diese gelten lassen will. Spät
reifend, mit vielen Schriften aus seiner vorkritischen Arbeitsphase und spät zum Professor
berufen, wird er sich immer klarer, wird auch immer entschiedener autonom und
republikanisch. Der größte Denker nach Platon und Aristoteles, der wahrhaftigste nach
Sokrates. Bereits in der „Vorrede“ seiner Grundlegung der Ethik bringt er wie
selbstverständlich das Wahrhaftigkeitsgebot als Paradigma „sittlicher Gesetze“ ins Spiel.405
Und er eröffnet den „Ersten Abschnitt“ dieser Grundlegungsschrift, indem er das Attribut
„gut“ für den guten Willen reserviert, den er dann als den wahrhaften Willen bestimmt, weil
ein guter Wille ein vernünftiger sein müsse, als solcher aber kein lügenhaftes Versprechen
rechtfertigen könne.406
Wenngleich er eine umfassende Philosophie der Vernunft nicht hinterlassen hat, sagt Kant
uns doch in einer Fußnote, welche den Atheismusstreit um den verstorbenen Lessing
schlichten sollte, worin er die Einheit der Vernunft erblickte: in jenem Selbstdenken, das sich
stets um das Verallgemeinerbare bemüht, weil Vernunft auf das begründete Allgemeine ziele.
In diesem Sinne enthalte die Vernunft die Maxime der Aufklärung. In der abschließenden
Fußnote seines Aufsatzes „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ lesen wir:
„Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner
eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.
Dazu gehört nun eben soviel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in
Kenntnisse setzen; da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines
Erkenntnisvermögens ist […]
Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man
annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man
etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen
Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen?“407
Obzwar die Bestimmung der Vernunft durch eine Maxime der Aufklärung eher den
praktischen als den theoretischen Vernunftgebrauch im Sinne hat, so daß auch hier die Einheit
der Vernunft unterbelichtet bleibt, deutet sie doch genugsam auf die gemeinsame Basis des
Vernunftgebrauchs hin: auf das begriffene Allgemeine. Dieses bestehe in zwei verschiedenen
Formen der Erkenntnis a priori. Am Schluss der „transzendentalen Elementarlehre“ der Kritik
405
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, S. 389, 2.Abs.
Ebd., S.393 und 402 f.
407
I. Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, A 330.
406
171
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der reinen Vernunft, im Kapitel über „das Ideal der reinen Vernunft“ begnügt sich Kant, wie
er betont, mit folgender Bestimmung: Das begriffene Allgemeine trete in zwei Formen des
Vernunftbegriffs auseinander: in den theoretischen, „durch den ich a priori (als notwendig)
erkenne, daß etwas sei, und [in den] praktischen, durch den a priori erkannt wird, was
geschehen solle.“408
Dort, wo er den kritischen Charakter der Vernunft herausarbeitet und ihn (in der das
Hauptwerk
beschließenden
„transzendentalen
Methodenlehre“)
abhebt
von
einer
dogmatischen Methode, die bisher geherrscht habe, nimmt er auch eine interne Ethik und
Politik der Vernunft an. Das Verfahren der Vernunft fordere von den Vernunftsubjekten ein
sokratisches Ethos, die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik. Von dieser subjektiven
Bedingung unterscheidet Kant eine objektive, politische und rechtliche Existenzbedingung
der Bedingung: Keine Existenz der Vernunft ohne persönliche Freiheit und freie
Öffentlichkeit in der Gesellschaft, also ohne den Rechtszustand und Friedenszustand einer
Republik, in der Meinungsfreiheit und Publikationsfreiheit herrschen:
„Die Vernunft muß sich in allen ihren Untersuchungen der Kritik unterwerfen, und kann der
Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr
nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des
Nutzens, nichts so heilig, daß [es] sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die
kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die
Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch
jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger [sucht], deren jeglicher seine
Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muss äußern können.“409
Welchen Stellenwert und welchen Verpflichtungssinn hat diese Überlegung und hat ihr
Resultat? Moderne Interpreten, die sich diese Frage stellen, könnten zu zwei ganz
unterschiedlichen Antworten kommen: je nachdem, welchen Geltungssinn sie der Vernunft
beimessen. Ob sie die Geltung dieses Denkmediums und Vermögens der Vernunft als
gänzlich abhängig von einer beliebigen subjektiven Entscheidung ansehen, sich seiner zu
bedienen oder nicht zu bedienen, oder ob sie die Vernunft und den eigenen Gebrauch der
Vernunft als zugleich logisch notwendige und moralisch gehaltvolle Voraussetzung dafür
ansehen, überhaupt etwas als Argumentationsbeitrag anderen gegenüber verständlich und
geltend zu machen – eine These oder einen Anspruch. Denn davon hängt es ab, wie sie das
„Müssen“ verstehen, nämlich als „hypothetischen“ oder als „kategorischen Imperativ“,
wonach Kant den Gebrauch von „Müssen“ unterscheidet. Handelt es sich hier um die
408
409
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 633 / B 661.
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 738f. / B 766f.
172
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Konsequenz einer beliebigen Entscheidung oder aber einer Entscheidung, für die
allgemeingültige Gründe sprechen?
Im ersten Fall (I) blieben wir als Subjekte, die den Anspruch auf Verständlichkeit bzw.
Intersubjektivität haben, als Intersubjekte sozusagen, unberührt davon, ob wir uns für oder
gegen die Anwendung von Vernunft entscheiden würden. Dann hat die Wahl selbst, die
Entscheidung, überhaupt nichts mit Rationalität zu tun; vielmehr ist sie eine bloße Wahl, eine
beliebige und zufällige Entscheidung, die man so oder auch anders treffen mag: als würfelte
man. Der Entscheidungsakt ist willkürlich, ist arational. Allerdings weiß man, daß die Wahl
Konsequenzen hat. Man weiß ja, daß „Vernunft“ etwas bedeutet; wie man die Grammatik
anderer Sprachspiele kennt, so auch die des vernünftigen Verhaltens, nämlich konsistent,
kritisch bzw. selbstkritisch und konsensbereit zu verfahren.
Im letzteren Fall (II) aber, wenn es nicht nur allgemeinverständliche, sondern
allgemeingültige und moralische Gründe für die Wahl des Mediums Vernunft gibt, begäben
wir uns in Widerspruch zu uns als rationalen Intersubjekten, genauer: als anerkannten
Teilnehmern an dem ‚Sprachspiel’ der Vernunft – wenn diese ‚schiefe’ Redeweise hier
einmal erlaubt ist, weil Vernunft kein Sprachspiel unter anderen ist, sondern eine Bedingung
der Möglichkeit, Sprachspiele zu unterscheiden, sie zu spielen und zu beurteilen – und damit
als Partnern der moralischen Gemeinschaft der Vernünftigen. Wenn es nämlich
allgemeingültige und moralische Gründe für die Entscheidung, vernünftig zu verfahren, gibt,
dann könnten wir eine Perspektive, eine Praxis, die der Vernunft zuwiderliefe, nicht ernsthaft
verteidigen, sondern müssten uns selbst widersprechen. Wir handelten dann wider besseres
Wissen, jedenfalls gegen das uns mögliche Wissen. Damit kassierten wir den eigenen
Anspruch, wir selbst zu sein (Identität), und als wir selbst verständlich zu sein
(Intersubjektivität). Denn wir kassierten unseren vorgängigen Anspruch, anerkannter Partner
in der umgreifenden Vernunftgemeinschaft sein zu können, also ein „Ich II“. Inwiefern? Wir
missachten die Allgemeingültigkeit der Vernunft (wider mögliches besseres Wissen) und
stellten uns den anderen nicht als Vernunftpartnern zur Verfügung, und achteten sie nicht als
unsere Partner: als Kritiker und freie gleichberechtigte Teilnehmer an der Suche nach
Wahrheit und Richtigkeit.
Im ersten Fall (I) interpretiert man Kant so, als ginge es hier um hypothetische Imperative, um
Ratschläge der Klugheit, also zweckrationale Direktiven der Art:
‚Wenn du „Vernunft“ als deinen Oberzweck gewählt hast, dann mußt du folglich auch
(1) bereit sein zur Kritik, Selbstkritik und Konsenssuche,
und
173
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
(2) mußt du dann für freiheitliche Rechtsverhältnisse Sorge tragen!
Andernfalls wärest du dumm, und semantisch unverständlich, nämlich (hinsichtlich deiner
Entscheidung) formallogisch widersprüchlich.‘
Das wäre die liberalistische, dezisionistische und vom Kritischen Rationalismus vertretene
Anknüpfung an Kant.
Im letzteren Fall (II) liest man Kant hier sogleich im Hinblick auf kategorische Imperative:
‚Du sollst unbedingt deine Thesen und Handlungsorientierungen
(1) der Kritik unterwerfen
und du sollst unbedingt
(2) für freiheitliche Rechtsverhältnisse Sorge tragen!’
Wer so interpretiert, der steht vor dem Begründungsdesiderat der Letztverbindlichkeit dieses
Imperativs der freien kritisch öffentlichen Vernunft. Der müßte, sei es aus Kants Texten, sei
es aus eigener Kraft demonstrieren können: Die Wahl der kritischen Vernunft ist nicht
irrational oder willkürlich, für sie sprechen vielmehr unwiderlegliche Gründe. D.h. sie ist eine
argumentativ unhintergehbare Wahl, weil einzig diese Entscheidung in einem argumentativen
Dialog mit guten Gründen verteidigt werden kann, so daß alle Vernunftsubjekte sie als die
richtige und zustimmungswürdige Wahl anerkennen, mithin ihre praktischen Implikationen
auch als moralisch verbindliche Orientierungen befolgen würden.
Das Begründungsproblem der Vernunft löst Kant bekanntlich nicht. Eine transzendentale
Deduktion der praktischen und in ihrem moralischen Verpflichtungssinn einsehbar
verbindlichen Vernunft hält Kant seit seiner Kritik der praktischen Vernunft für ebenso
unmöglich wie unnötig. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nahm er noch an, es
als allgemeingültig erweisen zu können. In der Folge der Kritik der praktischen Vernunft zieht
er sich jedoch zurück: es ist nicht möglich, es ist aber auch nicht nötig, es als allgemeingültig
zu deduzieren. Als Bedingung der Möglichkeit müssen eindeutig alle die Erfahrung
mitbringen. Das Programm ist, transzendental zu denken: objektivierende Erfahrung, die den
Siegeszug der Naturwissenschaften ermöglichte. Ohne wüßten wir nicht, wie die Welt
funktioniert. Das Moralprinzip gehört zur Autonomie. Zur Freiheit des Vernunftwesens
gehört es, dieses Prinzip zu erkennen. Objektivität bedeutet kausale Notwendigkeit als Natur,
als Dasein, das Dinge nach Naturgesetzen tut, aber keine Freiheit. Eine Begründung ist nicht
nötig, wäre vergebliche Liebesmüh. Es gilt das Faktum der reinen praktischen Vernunft: wir
setzen für uns alle Freiheit, Autonomie und Moral voraus. Am Beispiel des Gewissens zeigt
sich das Faktum der praktischen Vernunft. Kant zeigt im Ersten Abschnitt der Grundlegung
174
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
zur Metaphysik der Sitten, daß es eine allgemeine Tendenz zur praktischen Vernunft gibt, im
common sense, das intuitives Wissen vorhanden ist, ernsthaftes Wollen. Legitim ist nur, was
Du auch als Allgemeingesetz wollen kannst. Partikularität kann nicht als moralisches Gesetz
angesehen werden. Kant schreibt den „Donnersatz“ (Jonas): „Es ist überall nichts in der Welt
[...], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ Ein
guter Wille, der den Eigennutz am Verallgemeinerbaren mißt und nach diesem strebt. Warum
wir diesen guten Willen aufbringen sollten, warum es nicht auch einen vernünftigen,
intelligenten Nazi geben sollte, daß eine Letztbegründung des Moralischseins nötig sein
sollte, ist nach Kant nicht nötig, da die Tendenz dahin offensichtlich ist. Ein harter Rückzug,
dieser Verzicht auf eine Letztbegründung.
Daher konnte in der Moderne die dezisionistisch-liberalistische Auffassung dominieren - und
mit ihr die Voraussetzung (oft als stillschweigende Annahme): Vernunft bzw. Rationalität ist
nicht aus sich heraus praktisch verbindlich, sie ist lediglich eine Art Kalkül (Hobbes), ein
Rechnen, eine bloße Zweck- und formelle Rationalität. So haben wir es schon von Hobbes
gehört, der den Rationalitätsbegriff mit einer instrumentalistischen Auffassung von Sprache
und Kommunikation verbindet. Vernunft wäre also nur ein pures kognitives Instrumentarium,
für alles und jedes einsetzbar. Das ist die Auffassung des modernen Mainstreams. In Berlin ist
sie am scharfsinnigsten tendenziell von Ernst Tugendhat vertreten worden.410
6.5.1
Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit.
Wir hatten gesehen, daß die moderne Ablösung des metaphysisch-teleologischen
Naturbegriffs durch einen quantitativen Naturbegriff, der Natur als messbar versteht, zur
Lehre vom naturalistischen Fehlschluß führt. Kant ist eine Hauptstation auf diesem Wege. Er
unterscheidet im Anschluss an Hume das, was bloß ist, strikt von dem, was würdig ist, getan
werden zu sollen. Diese Unterscheidung steht am Anfang seiner Lehre von der praktischen
Vernunft. Und das zu Recht. Warum zu Recht?
Aus drei Gründen:
1.
Praktische Vernunft, die ihrem Begriff gerecht wird, muß den Rahmen für eine
Handlungsorientierung abgeben, welche die möglichen Akteure autonom einsehen
410
E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993: „Das plausible Moralkonzept“, S. 85ff (97-79),
bes. S. 88 ff und 85ff.
175
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
und frei anerkennen können. So nämlich, daß die praktische Vernunft, aus der der
gute Wille eine jeweilige moralische Maxime bzw. Richtschnur gewinnen kann, diese
Autonomie zur ersten Voraussetzung hat: Sie beruht auf „der Idee der Würde eines
vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst
gibt“.411 In diesem Sinne bestimmt Kant auch den Kategorischen Imperativ, der
zugleich Geltungskriterium und Grundnorm des Moralischen ist, als „das Prinzip der
Autonomie des Willens.“412 Das Prinzip bestehe nämlich darin, „keine Handlung nach
einer anderen Maxime zu tun als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein
allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst
zugleich als allgemeingesetzgebend betrachten könne.“413
2.
Praktische Vernunft muß den Rahmen für begründete Verbindlichkeiten resp.
Pflichten abgeben und daher den Begriff von Verbindlichkeit im Sinne
uneingeschränkter Befolgungsgültigkeit zum metaethischen Bezugsbegriff machen.
Das bedeutet ein Paradigmenwechsel, nämlich von der bis dahin vorherrschenden
aristotelischen Ethik der Natur des Menschen und des vermeintlich Natürlichen,
Guten und des lebensweltlich für gut Gehaltenen hin zu einer strikt normativen Ethik
als „einer reinen Moralphilosophie“414 oder, was dasselbe ist, im Sinne einer
Rekonstruktion der reinen praktischen Vernunft.
Damit führt Kant gegen die bis dahin herrschende aristotelische Tradition (Aristoteles: alles
strebt von Natur aus zum Guten) einen neuen Moralbegriff ein, so daß als moralisch nunmehr
allein dasjenige gilt, was „als Grund einer Verbindlichkeit“ anerkennungswürdig ist. Diese
traditionsstürzende Moraldefinition kann er in der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten als so evident ansehen, daß er sie schlicht im Nebensatz einführt:
„Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer
Verbindlichkeit, gelten soll [...]“415
In dieser kleinen Bestimmung sagt er schon das Entscheidende: moralisch ist nur das, was den
Grund einer Verbindlichkeit mit sich führt. Moralisch ist eine Pflicht, wenn wir einen
zureichenden Grund für ihr striktes praktisches Geltensollen angeben können. Eine solche
Begründung ist, logisch gesehen, strikt allgemein und also in ihrer Gültigkeit unbeschränkt:
Weder duldet sie Ausnahmen hinsichtlich des Adressatenkreises, noch kann sie von
besonderen Fakten und Naturbeschaffenheiten abhängig gemacht werden. Sie ist für alle
411
I. Kant, GMS, Akad. A, S. 434.
Ebd., S. 433.
413
Ebd., S. 434.
414
Ebd., S. 381.
415
I. Kant, GMS, S. 389.
412
176
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
möglichen vernünftigen Wesen als vernunftfähige Wesen gleichermaßen gültig. So lautet die
Stelle im Zusammenhang:
„Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer
Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du
sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber
daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der
Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der
Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der
reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung
gründet, […] zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen
kann“416.
Mit Kant weiterdenkend ließe sich ein dritter Grund anführen:
(3) Jede mögliche Deutung ‚des Seins‘ überhaupt, dies war das Geschäft der Philosophie seit
Alters her, ist eine spekulative Metaphysik, die sich nicht rational prüfen läßt. Jede
Kausalerklärung eines natürlichen Zusammenhangs, die eine Naturwissenschaft leistet, und
ebenso jede Interpretation von Umständen der Welt des Menschen hat nur den Stellenwert
einer falliblen Theorie bzw. einer Interpretation, die mehr oder weniger fehlgehen kann.
All diese Wege führen also nicht zur Einsicht in Verbindlichkeit, zu praktischer Vernunft. Da
praktische Vernunft aber nichts anderes sein kann als eben der Weg zu einsehbarer
Allgemeinverbindlichkeit, also zu etwas, das absolut soll gelten und orientieren können,
revolutioniert Kant die Moralphilosophie. Er löst sie aus der antiken und scholastischen
Metaphysik, zudem aus aller Kosmostheorie oder Theorie der Menschenwelt heraus. Er fragt
nurmehr nach den
Bestimmungsgründen unseres Willens, um zu klären, welche davon
einsehbar verbindlich sind.417
Kants Ethik zielt also, ebenso unaristotelisch wie antihobbesianisch, strikt auf das praktisch
Verbindliche (nicht etwa auf das Zweckdienliche, wenn ich nur mit Nützlichkeit
argumentiere (Hobbes), dann könnte jemand sagen, wenn ich unbeobachtet bin, wäre es
irrational, wenn ich den Vertrag nicht breche: hier gibt es keine Verbindlichkeit), das ein
Mensch, insofern er ein vernünftiges Wesen ist, als allgemeingültige Handlungsregel
selbst wollen können muß, so nämlich, daß er mit sich selbst (als fiktivem Gesetzgeber) in
Übereinstimmung bleibe:
„Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist:
handle nach einer Maxime, welche zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. - Deine
Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser
Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn
416
417
I. Kant, GMS, S. 389.
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 29.
177
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er
sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere.“418
Hier haben wir Kants Gedankenexperiment der praktischen Vernunft vor uns. Der
kategorische Imperativ gibt die Regel zur Durchführung dieses Gedankenexperiments an.
Es besteht in einer „Probe“ (einem kritischen Test) der subjektiven Willensregel, eine
Handlung tun oder lassen zu sollen und zu wollen. Der Maßstab, anhand dessen geprüft
wird, ist die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit des von mir Gewollten. Kants
moralisches Prüf-Verfahren ist also der Verallgemeinerungstest einer Maxime des
Willens bzw. der Gesinnung. Das Geltungskriterium des Testverfahrens lautet:
>Taugt eine Maxime für die moralische Gesetzgebung in der idealen Gemeinschaft aller
vernünftigen (logos-fähigen) Wesen, dem „Reich der Zwecke“? <
Dieses Verfahren gilt Kant als in doppelter Hinsicht praktisch vernünftig:
1. Es folgt einer argumentativ unbestreitbaren, daher schlechthin intersubjektiven – bei
Kant freilich „objektiven“ – und deshalb (im diskursbezogenen Sinne) vernünftigen
Regel zur Prüfung der Gesinnung, genauer: zur Prüfung „der Maximen des Willens”, die
sich eine Person bewusst setzt – oder zumindest bewusst machen kann, wenn sie sie
übernommen hat (weil nur dann das Handeln „willentlich“, also moralisch zurechenbar
ist).419
2. Es soll vernünftige Maximen zur Folge haben: das wären Handlungsregeln, die als
allgemeine moralische Gesetze („in einer bestimmten Situation (S) soll jeder nach der
Maxime M handeln“) gerechtfertigt werden können. Vor wem? Vor dem unbegrenzten
Forum aller vernünftigen Wesen, worin auch ein jeder Mensch seine Stimme hat, insofern
er sich selbst der praktischen Verallgemeinerungsregel unterwirft (und nicht etwa sein
bloßes Eigeninteresse durchzusetzen versucht). Dieses Forum praktischer Vernunft
postuliert Kant als ein ideales „Reich der Zwecke” und der Autonomie. Die Autonomie
versteht sich negativ als Unabhängigkeit der Vernunft sowie des Vernunftsubjektes von
argumentationsfremden
Instanzen
(Macht,
Attraktivität
etc.),
positiv
als
Selbstbestimmung aus verallgemeinerbaren Gründen.
In der Grundlegung zur „Metaphysik der Sitten“ gewinnt Kant für die Ethikbegründung
eine qualitativ neue Reflexionsebene, indem er „den Grund der Verbindlichkeit” sittlicher
418
419
I. Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., S. 225.
I. Kant, GMS, A 225.
178
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Gesetze weder in dem Faktum eines Naturzustandes oder einer Naturgeschichte der
Menschengattung noch in dem Faktum einer sozialvertraglichen Übereinkunft von
Bürgern sucht, sondern im Gedanken einer idealen Gemeinschaft der Vernunftwesen zur
freien Setzung und vernünftigen Prüfung der Zwecke. Damit hat er ein altes theologisch
ethisches Motiv, welches wie die Gnosis und die jüdische Apokalyptik zwei einander
entgegengesetzte Welten annimmt, die reale, sinnlich irdische und eine ideale lichtvoll
göttliche Welt, moralphilosophisch beerbt – ein ebenso fruchtbares wie heikles Erbe. Die
Konvergenz einer Willensmaxime als realer Handlungsweise mit der Gesetzgebung in der
idealen Welt setzt er als Geltungskriterium für das „praktisch Gute” an.
Problem- und begriffsgeschichtlich gesehen, begegnen wir hier der spekulativeschatologischen, auf Augustinus' Begriff der „civitas dei” zurückgehenden, Idee einer
„Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als eines Reichs der Zwecke” (438)420.
Kant definiert diese ideale Vernunftgemeinschaft als „die systematische Verbindung
verschiedener vernünftiger Wesen” allein aufgrund solcher Gesetze (433), die würdig sind,
als praktisch gut zu gelten, weil sie in eben dieser Gemeinschaft hinsichtlich
universalisierbarer Gründe anerkannt würden. „Praktisch gut ist [...], was vermittelst der
Vorstellungen der Vernunft, mithin [...] aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als
ein solches gültig sind, den Willen bestimmt” (413).
Hier wird erstmals formuliert, was ein praktischer Diskurs, als argumentative Suche nach dem
praktisch Vernünftigen und daher Verbindlichen in der Gemeinschaft der Argumentierenden, als
Geltungskriterium voraussetzt, was aber in der Tradition als natürliches Gesetz, als naturgemäße
Zielbestimmung des Menschen interpretiert worden war. Denkt Kant den normativen Gehalt
der regulativen Idee einer universalen, reinen Argumentationsgemeinschaft? Nimmt er
das dialogische Rechtfertigungsprinzip und die regulative Geltungsidee einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft in metaphysisch-theologischen Begriffen vorweg?
6.5.2 Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in dualistischem Rahmen
420
Die in den Klammern stehenden Seitenzahlen verweisen auch im Folgenden auf I. Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe).
179
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist schwer zu finden. Einerseits kann er dank
jenes metaphysisch-theologischen Rückgriffs den notwendigen idealen Bezugsrahmen
einer eindeutig normativen Ethik in die Philosophie bringen, die unverrückbar
kontrafaktische Beurteilungsinstanz aller faktischen Antriebe und Orientierungen – die
reine Vernunftgemeinschaft eines Reichs der freien Zwecksetzung und Zweckprüfung.
Andererseits kann er wegen des dualistischen Hintergrunds dieses Rückgriffs – hier die
unfreie, naturgesetzlich determinierte reale Welt der Erscheinungen samt den Bedürfnissen und
Neigungen der Menschen, dort das freie, moralisch autonome Reich der vernünftigen Wesen –
überhaupt nicht verständlich machen und einholen, worauf es ihm damit ankommt:
Erstens will er eine Gemeinschaft „verschiedener [mithin unterschiedliche Intentionen haben
könnende] vernünftiger Wesen“ denken, die ein Interesse an Gemeinschaftsbildung, an
Gerechtigkeit etc. haben421, weil sie Interessenkonflikte kennen und eine moralische
Konfliktlösung (in solidarischer Gemeinschaft) suchen (433).
Zweitens will Kant die Beziehung einer solchen moralischen Gemeinschaft als regulativer
Geltungs- und Kritik-Instanz auf die reale Sozialwelt der vor- oder auch nonmoralischen
„Gefühle, Antriebe und Neigungen“, der „Marktpreise“ usw. denken (434f). Diese Beziehung
erhält aber nur dann den Sinn (Funktion) einer kritischen Orientierung für Menschen, welche in
der
vor-
bzw.
nonmoralischen
Welt
moralisch
handeln
wollen,
wenn
sie
verantwortungsethische Strategien freigibt, ja den Rahmen für die Entwicklung und Prüfung
solcher strategischer Konfliktlösungsmittel darstellt. Das jedoch ist nicht der Fall, weil Kant
gar keine Vermittlung jener beiden Welten, des metaphysischen „Reichs der Zwecke“ und der
realen natürlichen Bedürfnis- sowie Interessen- und Markt-Welt denkt resp. denken kann.
Drittens gelangt Kant eigentlich gar nicht zu einem Begriff von Gemeinschaft, weil er deren
Glieder nicht als verbunden durch lebensweltlich kommunikative Erfahrung ansieht, sondern
als autarke, einsame Vernunftsubjekte. Sein dualistisches System – hier Dinge der Natur, die
nach allgemeinen Gesetzen wirken, da vernünftige Wesen, die „nach der Vorstellung der
Gesetze, d. i. nach Prinzipien“ handeln können (412) – hat für die sprachliche Verständigung
und den kommunikativen Diskurs interessierter Menschen, leibhafter Wesen, keinen logischen
Ort.422 Der Handlungsbegriff löst sich bei Kant auf.
Freilich setzt Kant ein kommunikatives Verbundensein der Menschen in der Lebenswelt, ein
universales Sich-Verständigenkönnen in moralischer Hinsicht über moralische Konflikte
voraus. Ja, er baut seine Ethik in gewisser Hinsicht auf dieser Vorraussetzung auf. Denn er
421
Dazu W. Kuhlmann, Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik. In: Ders., Kant und
die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S. 100-130, bes. 107 ff, 116 ff.
422
Dazu D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 256 ff und 296-306, vgl. S. 23f und 55-64.
180
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
rekonstruiert ihren normativ ethischen Ansatzpunkt insofern aus dem „gemeinen
Menschenverstande“, also dem sensus communis bzw. common sense, als jeder diesen kraft
seines Überlegens in der Lebenswelt, d.h. ohne der „Wissenschaft und Philosophie“ zu
bedürfen (S. 404), zum Verallgemeinerungs-Standpunkt, dem Standpunkt der Moral,
entwickeln könne. Und man kann hinzufügen – wir haben das durch Rückgang auf die
Tendenz zum moralischen Universalismus im Geist der Achsenzeit (Kapitel I.3 und I.4.1 mit
Einführung einer Urteilsstufe 5 ½ ) bereits getan – daß sich eine solche Entwicklung auch im
objektiven Geist der Lebenswelt geschichtlich verkörpert hat: in Form des Dekalogs, des
Bundesgedankens, der Ethik der Propheten und interkulturell in Form der „Goldenen Regel“,
deren universalistische Tendenz – mehr als eine solche bietet sie freilich nicht – Kant jedoch
nicht würdigt (S. 430, Fußnote).
Kants Rekonstruktionsbasis ist jedenfalls die vorphilosophische „gemeine Menschenvernunft“,
die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis, die „aus praktischen Gründen“ bis zum vernünftigen,
moralischen „Prinzip des Wollens“ gelange, dem kategorischen Imperativ (400ff). Darum geht
es im „Ersten Abschnitts“ der Grundlegungsschrift. Ohne dieses lebensweltliche Fundament
eines sich über das Moralprinzip Verständigenkönnens hinge der Geltungsanspruch, die
Intersubjektivität, seiner normativen Ethik in der Luft. Der Bau seiner Moralphilosophie stürzte
in sich zusammen.
Aber Kant holt diesen stillschweigend intersubjektivistischen Ansatz nicht in sein System ein.
Trotz dieser starken intersubjektivitätstheoretischen Voraussetzungen – und darin liegt der
Hauptwiderspruch – bleibt sein System der Ethik, bleiben das Selbstverständnis und die
Methode des Moralphilosophen Kant an das Paradigma des einsamen Subjekts gebunden.
Nimmt er doch an, man könne einsam und allein, durch Anwendung des „Kategorischen
Imperativs”, moralisch relevante Situationen vernünftig beurteilen, ohne daß man – nach
Möglichkeit – einen Diskurs mit den Anderen führen oder (wenn sie direkt nicht da oder auch
nicht bereit zum Diskurs sind) die Kommunikation mit ihnen doch hypothetisch
vorwegnehmen sollte, mit denen also, die in die Situation verstrickt sind bzw. unter den Folgen
leiden können, die das Verhalten gemäß der jeweiligen Maxime mit sich bringt.
Kants Ethikbegründung ist, wie wir jetzt gesehen haben, in mancherlei Hinsicht
zwiespältig, sprich widersprüchlich. Eine Hinsicht möchte ich noch eigens herausstellen:
den Zwiespalt zwischen dem intersubjektiven Geltungsrahmen des „Reichs der Zwecke“
als Gemeinschaft der vernünftigen Wesen und dem subjektbeschränkten Gegenstand des
einzelnen Willens.
181
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
-
Als Vernunftethik, die ein a priori notwendiges Prinzip der Moral für alle Vernunftwesen
rekonstruiert, ist Kants Moralbegründung universal gemeinschaftsbezogen,
-
während sie sich als Gesinnungsethik als Ethik des Willens, die die moralische
Urteilsbildung des einzelnen auf dessen Willensbestimmung beschränkt, auf ein solus
ipse (ein einsames alleiniges Selbst) bezieht.
Die Vernunftethik, die ein letztes Kriterium zur Begründung einer allgemeinen
Verhaltensnorm („Prinzip der Moral", „Sittengesetz") sucht, bezieht sich auf die Idee einer
reinen praktischen Vernunftgemeinschaft und unterstellt dabei das dialogische Prinzip der
uneingeschränkten Reziprozität der vernünftigen Wesen als „moralischer Gesetzgeber”, das
heißt als Argumentierender, die mittels Verallgemeinerung Handlungszwecke und Normen
kritisch prüfen und moralische Maximen begründen (434). Hierbei setzt Kant stillschweigend
die volle dialogische Reziprozität voraus: die Wechselseitigkeit von Anspruch und Eingehen
auf den Anspruch im gemeinsamen Medium der Argumentation, also in Form von
Geltungsansprüchen.
Denn sie ist es, die eine „systematische Verbindung verschiedener
vernünftiger Wesen“ durch Prüfung und Anerkennung „gemeinschaftliche[r] Gesetze“ (433)
allererst ermöglicht.
Als Gesinnungsethik, die den moralischen „Wert“, das praktisch uneingeschränkt Gute in dem
„guten Willen” einer Person lokalisiert (393f.), bestimmt Kant aber die praktische Vernunft
nicht als gemeinschaftsbezogene dialogische Metapraxis, die sich in Diskursen vollzieht und
dabei eine ideale Beurteilungsgemeinschaft vorwegnimmt, sondern als einsames Vermögen des
autonomen, vernünftigen Willens, nach der Vorstellung universalisierbarer Gesetze zu handeln
(412) (eine Vorstellung braucht keine Kommunikation) und auf diese Weise (derweise) den je
eigenen Willen von seiner „natürlichen Dialektik“ zu reinigen, von dem „Hang, wider jene
strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln“ (405).
Dieser Ansatz, den Gehlen, obzwar polemisch, so doch nicht zu Unrecht, als die Fiktion
kritisiert hat, man könne „die Normen des Verhaltens aus der eigenen Brust ziehen“, geht von
Voraussetzungen aus, die es erlauben, ihn als „methodisch-solipsistischen Ansatz” zu
charakterisieren. Denn vorausgesetzt ist hier: Einer allein kann eine Handlungssituation, ohne
Kommunikation über den Sinn und die Verallgemeinerbarkeit der Interessen anderer, nur
anhand des kategorischen Imperativs moralisch richtig beurteilen und eine „praktisch gute“
Maxime für das Handeln durch einsame, unmittelbare Anwendung des kategorischen
Imperativs auf die Situation ableiten.
182
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Kants Ansatz blendet den dialogischen Bezug der ethischen Urteilsbildung von vornherein aus:
Weder führt er - i.S. einer Explikation des Aristoteles - für den Normalfall einer Anwendung
gegebener Normen das pragmatisch-dialogische Klugheitskriterium der Situationsgerechtigkeit
bzw. „Billigkeit“ ein, das ist das Problem eines Richters: eine allgemeine Regel auf eine
konkrete Situation anzuwenden, einen hermeneutischen Zirkel zu durchlaufen, um sowohl der
Norm als auch der Situation angemessen zu urteilen, noch entwickelt er für die kritischen Fälle
einer Abwägung zwischen widerstreitenden moralischen Normen oder einer Ausschließung
von Betroffenen aus dem realen Diskurs ein dialogisches Rechtfertigungsprinzip – ein Prinzip,
das der tragende Grundsatz wäre sowohl zur vernünftigen Lösung von Normenkonflikten mit
den
Beteiligten
und
Betroffenen
als
auch
zur
Auszeichnung
einer
legitimen
verantwortungsethischen Strategie gegen nonmoralische Akteure bzw. Mächte, die z.Zt. nicht
am Diskurs teilnehmen dürfen, weil ihre Beteiligung unverantwortlich gegenüber Dritten wäre.
Ein solcher Grundsatz – es wäre der eine Grundsatz praktischer Vernunft oder das
Diskursprinzip – würde etwa lauten müssen:
Nur die Handlungsweise kann als moralisch gelten, die auch hinsichtlich ihrer Folgelasten
bzw.
ihres
möglichen
adialogischen
Strategiecharakters
in
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft s o verteidigt werden kann bzw. könnte, daß sie uneingeschränkt
intersubjektive Anerkennung aus guten Gründen fände.
Wir hatten (in Abschnitt 4.2. von Teil I) mit Blick auf Dietrich Bonhoeffer und den
heranwachsenden Michael Degen einen Normenkonflikt zwischen Wahrhaftigkeit und
Lebensschutz unter moralrestriktiven Handlungsbedingungen, die eine verantwortungsethische
Strategiebildung mit Ausschließung Beteiligter und Betroffener aus dem aktuellen Diskurs
nahelegten,
eingehend
verantwortungsethischen
diskutiert.
Orientierung
Dabei
haben
hinsichtlich
der
wir
das
möglichen
Erfordernis
einer
Folgelasten
eines
gutgemeinten, gesinnungsethisch lauteren Handelns erkannt. Mußten wir doch einsehen, daß
man sich in der realen Sozialwelt gerade dann, wenn man seine Handlungsweise angesichts
möglicher Folgelasten sub specie der moralischen Rechtsansprüche Betroffener soll
rechtfertigen können, sich nicht vorbehaltlos verständigungsorientiert und unmittelbar
wahrhaftig verhalten darf, sondern auch verdeckt strategisch agieren muß. In großem Maßstab
gilt das, wie Max Weber in Bezug auf Machiavelli hervorgehoben hat423, für das politische
Handeln - und zwar sowohl unter den „üblichen” Bedingungen der Parteienkämpfe im
423
M. Weber, Politik als Beruf. In: Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Th. Heuß hrsg.
von J. Winckelmann, Tübingen ³1971, S. 558.
183
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Rechtsstaat und der internationalen Interessenkämpfe zwischen Staaten im Frieden als auch
unter den extremen Ausnahmebedingungen eines Unrechtsstaates.
Jene Einsicht hat manche Christen im „Dritten Reich” motiviert, Eide zu brechen, zu lügen, ja
zu morden, nämlich den Mord an Hitler vorzubereiten bzw. zu versuchen. Man denke an
Dietrich Bonhoeffer und Klaus Graf Schenk von Stauffenberg.424 Aber ein moralstrategisches
Handeln ist - geltungsmäßig - keineswegs methodisch einsam sondern durchaus dialogisch
strukturiert. Denn es kann unter Bedingungen einer reinen Argumentationsgemeinschaft
gegenüber allen begründeten Einwänden durch Güterabwägung kommunikativ-diskursiv
gerechtfertigt werden: als Handeln, das einer moralischen Strategie folgt, die als solche nicht
unmittelbar auf Übereinkunft mit allen Beteiligten und Betroffenen gründet, sondern diese
(mehr oder weniger) ausschließt und darüber hinaus „um des Nächsten willen Schuld
übernimmt” (Bonhoeffer). Die Nächsten waren hier alle, die noch Hitlers Opfer hätten werden
können.
Ein Hauptgrund für das Verantwortungsdefizit in Kants Ethik scheint mir zu sein, daß er die
Frage, was wir tun sollen, auf die neuplatonisch-christliche Frage zurückführt, wie die
Herrschaft der Vernunft über die sinnlichen Begierden und Neigungen im Menschen praktisch
werden kann. Kant versteht den Menschen – im Einklang mit seiner Zwei-Welten-Metaphysik
und in der Tradition Augustinus’ sowie Luthers – als Doppelnatur: äußerlich ist er ein
sinnliches Wesen, „knechtischen” Neigungen und dem Naturmechanismus unterworfen;
innerlich kann er ein vernünftiges Wesen sein, das unabhängig von Neigungen nur der
Vernunft folgt. Aufgrund dieser Voraussetzungen kann er das monologische Problem der
Beherrschung des unteren durch das obere Seelenvermögen in der Seele des einzelnen in
seinem Willen zu seinem ethischen Ausgangspunkt machen. Ein solches Ausgangsproblem
führt nicht zu einer Ethik des Handelns hinsichtlich kommunikativ zu verstehender, zu
beurteilender und sowohl recht als auch billig zu beantwortender Situationen, sondern zu einer
personalen Moral der guten Gesinnung – eben durch Beherrschung der Sinnlichkeit des
(Egoismus) „mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierte(n) Wesen(s)“
Mensch.425 Das philosophisch-ethische Schlüsselproblem heißt für ihn daher: Wie ist eine
möglichst gute Gesinnung des einzelnen als eines Mitglieds des ‚Reichs der Zwecke‘ möglich?
Kant, der den personalen Gott als das „Oberhaupt“ im Reich der Zwecke und den Schöpfergott
als Oberhaupt des Naturreiches anerkennt,426 unterstellt zwar mit dem Gedanken der ethischen
424
Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, herausgegeben von E. Bethge, München 1961, S.190f.
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 32.
426
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 433, A 439f.
425
184
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Urteilsbildung durch Anwendung des kategorischen Imperativs in gewisser Weise das
dialogische Prinzip. Denn durch die Prüfung „meiner“ Maximen am kategorischen Imperativ
als der Grundregel des Reichs der Zwecke beziehe „ich” mich indirekt auch auf dessen
Oberhaupt, das allein einen „heiligen Willen” hat und deshalb diese Regel verkörpert, sowie
auf alle anderen Glieder dieses Reiches. Aber diese dialogische Beziehung im
Rechtfertigungsdiskurs ist nur eine weltabgewandte Beziehung der des guten Willens bzw. des
Gewissens auf das „Reich der Zwecke”, die „mich” sowohl von einem Dialog mit anderen als
vernunftfähigen realen Anderen, die ihre Bedürfnisse und Interessen als berechtigte Ansprüche
an „mein” Handeln geltend machen würden, freistellt als auch von dem scheinbar schmutzigen
Geschäft, einen Verantwortungsdiskurs über die jetzt ausgeschlossenen Betroffenen und
Beteiligten zu führen, um eine moralische Strategie zu finden. Denn es geht in Kants Diskurs
anhand des kategorischen Imperativs wesentlich um die Moralität der Person - also darum,
wie „ich” einen guten Willen bzw. eine reine Gesinnung bekomme, die bereit ist, sich
anzustrengen und handelnd „alle Mittel aufzubieten”. Kant will gewiß keine bloße Gesinnung.
Aber er gelangt nicht zu einer diskursbezogenen Ethik mit Verantwortung für die reale Welt,
welche auch die Bildung moralischer Strategien müßte anleiten und kontrollieren können.
Für Kants Defizite will ich abschließend einige Gründe in Erinnerung rufen:
5) Aufgrund seiner Zwei-Welten-Metaphysik (innerhalb einer neuplatonisch-christlichen
Tradition mit lutherischen Elementen) macht Kant die Herrschaft des guten Willens
über die triebhaften Neigungen bzw. Bedürfnisse zum Schlüsselproblem. Dadurch wird
der kategorische Imperativ vor allem zur Prüfung der persönlichen Absichten und zur
Läuterung der Person wichtig. Er wird insofern auf den Bereich der Moral einer Person
zurückgeschnitten.
6) Kants Argumentationen halten sich nicht durchgängig auf dem Niveau einer
reflektierenden Vernunftethik, sondern fallen zum Teil dahinter zurück; und zwar dann,
wenn er den kategorischen Imperativ nicht als Geltungskriterium für die
Handlungsbeurteilung und damit als Metanorm für ein praktisches Diskursverfahren
einsetzt, sondern ihn mit einem inhaltlichen („heiligen, unbedingt gebietenden“) Gebot
verwechselt427 – einer konkreten Norm, wie wir sie aus der religiösen Gebotsethik („Du
sollst nicht lügen“) kennen.
427
Vgl. I. Kant, „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, GMS, Bd. VIII, S. 639; Akad.-Ausg.,
S. 427. Dazu: Marcus George Singer: Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt 1975, S. 264 ff. und STE
4.2.2
185
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
7) Kant verwendet den kategorischen Imperativ nicht konsequent als Metanorm zur
Prüfung der „Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen“428 bzw. Wertpräferenzen,
welche andere Menschen in ihren realen Lebenssituationen als Ansprüche an eine (sich
einsam eine Maxime setzende) Person geltend machen können. Die im kategorischen
Imperativ enthaltene Geltungs-Gegenseitigkeit bezieht er also nicht eigentlich auf die,
erst zu verstehenden, Interessen bzw. Werte als mögliche Ansprüche der anderen, die
von „meinem“ moralisch gemeinten Handeln nach der Maxime M betroffen werden
können.
8) Aus dem im kategorischen Imperativ enthaltenen Prinzip der Geltungs-Gegenseitigkeit
zieht Kant nicht die (notwendigen) Konsequenzen,
-
daß die monologische Gewissensprüfung des Einzelnen (anhand des kategorischen
Imperativs) nur ein hypothetischer Ersatz des dialogischen Diskurses in Form einer
Beratung und Diskussion ist,
-
und daß der Grund für die Geltung und Verbindlichkeit eines moralischen Gesetzes
eben in der Idee eines – freilich diskursiven – „Reichs der Zwecke“ – das heißt aber, im
Gedanken einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft Verschiedenartiger –
liegt, deren Ansprüche als „Ansprüche der Vernunft“, d.h. als Geltungsansprüche zu
diskutieren sind.429
9) Kant unterstellt offenbar – wie es die traditionelle Ethik (und Psychologie bzw.
Anthropologie) seit Platon tut – einen ungeschichtlichen Begriff von menschlicher
Natur und meint daher, es bedürfte keiner Verständigung über die Ermittlung des
konkreten Sinns jeweiliger menschlicher Bedürfnisse, Interessen etc.430 Deshalb auch
fällt bei ihm die dialogförmige Verständigungs-Gegenseitigkeit aus dem Moralprinzip
heraus. Die Folge ist, daß er die prinzipiell einsame Anwendung des, als kategorischer
Imperativ formulierten Moralprinzips für völlig problemlos hält – als wäre „mein“
Analogieschluß auf das Interesse bzw. den Wert der anderen überhaupt keine
Fehlerquelle. Dann wäre allerdings eine Verständigung mit anderen überflüssig.
428
J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt 1973, S. 149 bis 161.
G.H. Mead, Philanthropy from the Point of View of Ethics: In: A. Reck (Hrsg.): G.H. Mead, Selected
Writings. Indianapolis 1964, S. 404. Zit. nach: H. Joas: Praktische Intersubjektivität. Frankfurt 1980, S.
135.
430
Vgl. Habermas, a.a.O., S. 124f.
429
186
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Abschließend möchte ich im Sinne der hier vertretenen kommunikationsphilosophischen,
genauer: diskurspragmatischen, Gründung der Moral auf praktische Vernunft den über Kant
hinausweisenden Hauptpunkt hervorheben:
Um das Moralprinzip als verbindlich begründen und den, von ihm notwendig vorausgesetzten,
Sinn der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit begreifen zu können, muß –gegen(über) Kant –
gezeigt werden, daß es allein auf dem Boden möglicher Kommunikation als moralisches
Gesetz gültig sein kann. Die kontrafaktische Vorwegnahme konsensualer Kommunikation in
einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft ist die Geltungsbedingung eines moralischen
Gesetzes. Auf der Basis einer ausgeführten diskurspragmatischen Reflexion, ihrer
Unterscheidung von Verständigungs-Gegenseitigkeit und Geltungsgegenseitigkeit und ihrer
realitätsbewußten Virtualisierung des Dialogs zumal mit nicht diskurswilligen bzw.
diskursfähigen Beteiligten / Betroffenen läßt sich dieses Diskursprinzip begründen, und zwar
zugleich als letzter Maßstab der Moral (als Geltungskriterium) und als moralische Grundnorm,
als Norm, die mich verpflichtet.
Ob resp. weshalb und inwiefern das Diskursprinzip auch die verbindliche Orientierung für die
neuartigen(en) Menschheitsprobleme der Zukunftsverantwortung eröffnet – Probleme, die zu
Zeiten des großen Kant noch nicht einmal erahnbar waren.
7.3
Welches sind die Sinnbedingungen des Verstehens und Erkennens?
Charakteristische Antworten auf die transzendentalpragmatische Frage: Aristoteles,
Tugendhat und Heidegger I versus W. von Humboldt, Wittgenstein II und
Diskurspragmatik
187
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Nach intensiver Beschäftigung mit Aristoteles, in Marburger Vorlesungen und Seminaren, an
denen zum Beispiel Hans-Georg Gadamer, Hannah Arendt und Hans Jonas teilgenommen
haben, hat Heidegger in „Sein und Zeit“ eine quasi-transzendentale Analyse des EtwasVerstehens und alltäglichen Etwas-Erkennens gegeben, und er nennt diese Analyse
‚existenzial’, weil er die Seinsart der menschlichen Existenz selber als Verstehen dessen
bestimmt, was dem Dasein in seiner Lebenswelt begegnet und was es darin zunächst
wahrnimmt: das wahrgenommene Begegnende, zunächst die Gebrauchsdinge des Alltags, das
‚Zeug’, mit dem wir alltäglich umgehen und das uns in seiner Verwendungsweise von
vornherein als etwas Bestimmtes erschlossen ist. Und insofern es uns im vorhinein
‚erschlossen’ ist, haben wir es bereits in seiner Bewandtnis bzw. in seiner praktischen
Bedeutsamkeit verstanden. Unter ‚Existenzialität’ versteht Heidegger den Zusammenhang der
Seinsstrukturen der Existenz.
Heideggers existenziale Fragestellung soll die transzendentalphilosophische Frage Kants nach
den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis eines Subjekts
gewissermaßen aufheben. Denn Heidegger setzt nicht mehr bei einem Subjekt an, welches als
ein Innen der Welt als einem Außen gleichsam cartesisch entgegengestellt wird.431 Sein
Bezugsbegriff ist das verstehende Dasein verstehende Dasein, welches sich als verstehendes
„immer schon“ in einer „erschlossenen“ Welt vorfinde: Als Dasein habe der Mensch seine
Welt je schon verstanden. Darin sieht Heidegger das „apriorische Perfekt“ der Erschlossenheit
von Welt.432 Hieraus ergebe sich, daß der Mensch nicht etwa wie ein Theoretiker der Welt als
einem Gegenstand oder Gegenstandsbereich gegenüberstehe, sondern immer schon in der
Welt sich befinde. Als Dasein sei der Mensch ein verstehendes und je schon Welt verstanden
habendes „In-der-Welt-Sein“.
Der phänomenologisch hermeneutische Ansatz von „Sein und Zeit“, den Heidegger als
„Daseinsanalytik“ mit dem Status einer „Fundamentalontologie“ einführt,433 überwindet
insofern die Subjekt-Objekt-Spaltung und den cartesischen Begriff der Welt als res extensa,434
als Inbegriff quantifizierbarer und sinnleerer Objekte, zu welchen der Mensch kein
verstehendes Verhältnis sondern nur die äußerliche Relation einer Theorie und Technik habe.
Heidegger reflektiert auf uns als lebendige Wesen, die bereits in einer vertrauten Alltagswelt
431
432
433
434
Sein und Zeit, §§ 12-22.
Ebd., S. 85.
Ebd., S. 34 ff. und §§ 4, 5, 7, 9-11.
???
188
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
wohnen und darin ihre Interessen wahrnehmen, insbesondere das Elementarinteresse,
überhaupt zu leben und sich in dieser Welt einzurichten. Dieses Interesse nennt er „Sorge“.
Und ein Wesen, welches dieses Interesse zu seinem eigenen macht, habe die „Seinsart des
Besorgens“.435 Ja er kann „das Sein des Daseins selbst als Sorge“ bestimmen und den
Grundzug seines Verhaltens eben als Besorgen. ‚Besorgen’ führt er „als ontologischen
Terminus (Existenzial)“ ein: Es bezeichnet das „Sein eines möglichen In-der-Welt-seins“.436
Die Sorge des Daseins um sich selbst prägt nach Heidegger auch das kognitive Weltverhältnis
des menschen, also das Etwas- als-etwas-Verstehen. Und es liege auch allem
wissenschaftlichen Erkennen schon zugrunde: Keine Erkenntnis ohne Interesse, genauer
gesagt: kein wissenschaftliches Erkennen von Welt ohne die Perspektive des besorgenden
Interessiertseins an der Welt, in der sich auch der Wissenschaftler immer schon als besorgtes
endliches Dasein befindet.
Die Antwort, die sich aus „Sein und Zeit“ auf die Frage nach den Sinnbedingungen des
Verstehens und damit auch des Erkennens von Welt entnehmen läßt, lautet: Alles Verstehen
hat die (prädikativ-propositionale) „Struktur des Etwas als Etwas. […] Das im Verstehen
Erschlossene, das Verstandene ist immer schon so zugänglich, daß an ihm sein ‚als was’
ausdrücklich abgehoben werden kann. Das ‚Als’ macht die Struktur der Ausdrücklicklichkeit
eines Verstandenen aus; es konstituiert die Auslegung. Der umsichtig-auslegende Umgang
mit dem umweltlich Zuhandenen, der dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke ‚sieht’, braucht
das umsichtig Ausgelegte nicht notwendig auch schon in einer bestimmenden Aussage
auseinanderzulegen. Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen [das heißt des in
der Alltagswelt Bekannten und von uns regelmäßig Gebrauchten, D.B.] ist an ihm selbst
schon verstehend-auslegend. […] Das Sehen dieser Sicht ist je schon verstehend-auslegend.
Es birgt in sich die Ausdrücklichkeit der Verweisungsbezüge (des Um-zu), die zur
Bewandtnisganzheit gehören, aus der her das schlicht Begegnende verstanden ist. Die
Artikulation des Verstandenen […] am Leitfaden des ‚Etwas als etwas’ liegt vor der
thematischen Aussage darüber. In dieser taucht das Als nicht zuerst auf, sondern wird nur erst
ausgesprochen, was allein so möglich ist, daß es als Aussprechbares vorliegt. Daß im
schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht dazu,
diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-Struktur
435
436
Sein und Zeit § 12, bes. S. 54 u. 57.
Ebda., S. 57.
189
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
abzusprechen. Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im Zutunhaben mit … trägt die
Auslegungsstruktur […] ursprünglich in sich“.437
Das ist nichts anderes als eine aktualisierende Auslegung des Aristotelischen Logos-Begriffs.
Etwas Ähnliches finden wir bei Ernst Tugendhat, der im Umkreis Heideggers Aristoteles
studiert und seine Dissertation über diesen geschrieben hat. Auch er bestimmt die VerstehensStruktur als „prädikativ-propositionale“ Charakterisierung des Verstandenen nach dem
Muster eines Aussagesatzes, in dem etwas als etwas Bestimmtes „charakterisiert“ wird.438
Freilich setzt Tugendhat bloß satzsemantisch an; er berücksichtigt ausschließlich die
Beziehung zwischen dem Sprecher und seinem Thema. Den von Heidegger rekonstruierten
praktischen Sinn- und Handlungszusammenhang der Alttagswelt, die „schon mitverstandene
Bewandtnisganzheit“ der Gebrauchsdinge („Zeug“) in ihrem lebensweltlichen Kontext – etwa
eine Wohnung, ein Betrieb, eine Stadt – läßt der Satzsemantiker Tugendhat außen vor.
Insofern fällt er hinter Heidegger, den Mit-Initiator einer pragmatisch hermeneutischen
Wende der Philosophie, durchaus zurück – und auch hinter Wittgenstein II, den Pragmatiker
der Sprache. Er versteht sich auch ausdrücklich als Vertreter einer „formalen Semantik“439
und nicht etwa einer formalen Pragmatik wie Habermas.
Hingegen bettet Heidegger die Als-Struktur des Verstehens eben in den Sinn- und
Handlungszusammenhang einer „Zeugganzheit“440 bzw. des alltäglich „Zuhandenen“ ein.
Dadurch gewinnt er einen gewissen Anschluß an die geschichtlich-pragmatischen Dimension
der realen Handlungs- und Kommunikationsgemeinschaft. (Dazu unser Schema „die
semiotischen Sinndimensionen…“ – geschweifte Klammer rechts unten.) Allerdings entfaltet
er nicht, was er dadurch an Pragmatik gewinnen kann, weil er das Dasein und dessen
Verstehen ganz traditionell, nämlich monologisch auffaßt.
437
438
439
440
Ebda., S. 149.
Tugendhat, Vorlesungen zur Einleitung in die sprachanalytische Philosophie, Ffm. 1976. S.180 f. und 366
ff.
Vgl. ebd., S. 53 ff., S. 197 ff., passim.
Sein und Zeit, S. 68.
190
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Charakteristische Antworten auf die (nachkantische) transzendentalpragmatische Frage:
Welches sind die Sinnbedingungen des Verstehens und Erkennens?
Als-Struktur
ohne
Dialogizität
(samt
moralischen
Implikatio-nen)
Aristoteles:
Die Rede (Logos) ist ein Etwas als etwas Bestimmtes Verstehen und zu Verstehengeben (semaineìn) aufgrund der
prädikativ-propositionalen Als-Struktur in (monologischer) Beziehung auf Dinge.
Tugendhat:
Die Rede ist ein Etwas als etwas Bestimmtes Verstehen und zu Verstehengeben in satzsemantischer Beziehung auf
441
ein Thema = Charakterisierung kraft Als-Struktur
Heidegger:
Diese (monologische) „Als-Struktur“ liegt dem Verstehen als „Sein können des Daseins“ zugrunde und hat dem
Dasein immer schon die Bedeutsamkeit von Welt (als „Zeugganzheit“ und als „Mitsein mit Anderen“)
442
erschlossen.
Wittgenstein
Sprechen ist virtuell öffentlich und hat die (monologische) Form eines „Sprachspiels“443 (Verwobensein von
Handlung und Worten) im Rahmen einer Lebensform (als Sinnwelt).
Humboldt:
Transzend
entale
Sprachund
Diskurspragmatik
441
442
443
Notwendige Bedingung des Denkens (auch in Einsamkeit) ist das dialogförmige
Sprechen mit anderen.444
Das Etwas-Verstehen und –Denken hat die dialogische Form einer
(a) Äußerung zu anderen = virtueller Dialogbeitrag mit:
(a1) einer Proposition (s.o. Aristoteles) als bezogen auf
(a2) einen performativen Akt samt impliziten Geltungsansprüchen445
und vorgängigen Dialogversprechen, verwoben mit
(b) einem möglichen Begleitdiskurs: und zwar über (a1) aufgrund von (a2) als
(virtuelle) Rechtfertigung/Verantwortung gegenüber (virtuell anerkannten) realen/
idealen Anderen → mögl. Übergang zum praktischen Diskurs.
monologische AlsStruktur und
Kommunikationsstruktur
→ Sich-mit-anderenüber-etwas-Verständigen
sowie Dialog und Andere
Anerkennen (Moral!)
Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 1976: Vorlesungen 4, 11, 12 u. 21.
Heidegger, Sein und Zeit, § 32, S. 144, § 15, §26.
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 2-31, (76-84).
191
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Erläuterung zu b):
Zu einer formal vollständigen Äußerung gehört die Möglichkeit, zu dieser erläuternd und begründend
Stellung zu nehmen. Dann redet man nicht mehr wie in (a) über ein Thema (Situation) und dabei
gegebenenfalls auch mit anderen (themenzentrierte Kommunikation); vielmehr redet man über eine
vollzogene Kommunikation zu anderen. Das ist die Metakommunikation eines Begleitdiskurses. Die hier
vollzogenen einzelnen Sprachhandlungen haben wiederum die Form einer kompletten Äußerung mit
performativem Akt und formal dazu passender Proposition. Deshalb spricht A. Øfsti von der „doppelten
Doppelstruktur“ einer „formal vollständigen Sprache“446, Böhler hingegen von ihrer (impliziten)
Dialogstruktur, weil die Geltungsansprüche die Möglichkeit eines Diskurses voraussetzen und ein
Dialogverhältnis zu anderen prätendieren.447
Menschen haben die Möglichkeit, über ihre Äußerungen wie auch ihre nonverbalen Handlungen einen
Begleitdiskurs zu führen. D.h.: Sie sind imstande,
(b1) ihr Verstandenes und Gedachtes bzw. Gesagtes gewissermaßen vor sich zu bringen:Sie
können sich darüber Rechenschaft geben und ihre Gedanken in einen größeren
Zusammenhang rücken, eine Argumentation anlegen, planen und korrigieren. Darauf beruht
die einzigartige reflexiv kommunikative Kompetenz, das jeweils Gemeinte bzw. Gesagte
einzuholen und zu verantworten. Menschen können Rede und Antwort stehen über
Sprachhandlungen und nonverbale Handlungen.
Was bedeutet das?
Aufgrund der kommunikativen Verständigungsstruktur des Etwas-Verstehens als Wechselseitigkeit von
Performanz und Proposition (a) und der Möglichkeit des Begleitdiskurses (b) haben die Menschen
444
445
446
447
W. v. Humboldt, Schriften zur Sprache, Reclam 1973, S. 24f, 451, 482,52.
Habermas über die Doppelstruktur der Rede (als kompletter Äußerung): Vorstudien u. Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm 1984, S. 404 ff.
A. Øfsti, Abwandlungen, Würzburg 1994, S. 71 ff.
D. Böhler u. M. Werner, Alltagsweltliche Praxis und…, in: F. Jaeger, J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart u. Weimar 2004, S. 72 f. u. 76 ff.
192
Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
(c) das monologische und themenzentrierte Verhältnis des Etwas-als-etwas-Verstehens und
Sagenkönnens, mithin gleichsam die Subjekt–Objekt–Relation, immer schon überschritten:
Sie befinden sich von vornherein in einem dialogförmigen und auf Reflexion angelegten
Verhältnis, hinsichtlich ihrer impliziten Geltungsansprüche und bezüglich der realen oder
möglichen Gesprächsteilnehmer als anzuerkennender Anspruchssubjekte.
(c1) Aufgrund dieser reflexiven Dialogverhältnisse sind Menschen in der Lage und können dazu
herausgefordert werden, Begleitdiskurse (mit Argumenten/Gründen) zu führen: ‚Warum ist
es wahr, daß ich/wir die jeweilige Situation, das erörterte Thema so und so verstehe(n)? →
theoretischer Diskurs. Oder es stellt sich die normativ ethische Frage: ‚Ist es richtig und
folgen-verantwortbar, daß ich/wir in der vorgeschlagenen Weise auf die Situation antworten?
praktischer Diskurs.
(c2) Dank des reflexiven Dialogverhältnisses der formal vollständigen Rede sind Menschen
befähigt, sich auch unsere transzendentale Eingangsfrage, welche internen Bedingungen ein
Etwas-Verstehen und Etwas-Erkennen ermöglichen, sowohl zu stellen, als auch diese Frage –
in einem reflexiven philosophischen Begründungsdiskurs – dialogethisch zu konkretisieren:
‚Gibt es unabweisbare Verpflichtungen, die ich durch mein Ins-Spielbringen von
Geltungsansprüchen unausdrücklich anerkannt habe? Wenn ja, welche sind das?’
Ein solcher philosophischer und zugleich philosophiereflexiver Begründungsdiskurs ist eine
Besinnung auf unsere Rolle in Diskursen. Sie müßte sich in zwei Schritten vollziehen:
– Rekonstruktion von Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses,
– Prüfung der Rekonstruktionsergebnisse im reflexiven (sokratischen) Dialog mit einem
Skeptiker in Form einer → aktuellen Dialogreflexion.
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Auch Heidegger und Wittgenstein rekonstruieren Sinnbedingungen des Etwas-Verstehens
und (damit) des Etwas Sagens. Aber:
1. Sie thematisieren nicht bzw. rekonstruieren nicht die Reflexivität, die darin liegt, noch die
darin enthaltene Dialogizität. Vielmehr präsentieren sie das Verstehen und Reden, als handele
es sich sowohl um monologische Vorgänge, die keine Kommunikation mit anderen
voraussetzen, als auch um ein Geschehen (so bei Heidegger) oder Handlungsweisen
(Wittgenstein), für die ein Reflektieren, das Zurückgehen auf den Verstehenden oder
Handelnden als ein Subjekt, jedenfalls nicht von grundlegender Bedeutung ist. Damit
verkürzen sie die von ihnen selbst doch ins Auge gefaßte pragmatische Dimension des
Sinnverstehens und der Sprache entscheidend. Denn die Reflexivität liegt der
geltungslogischen, nämlich dialogisch-pragmatischen Dimension der Geltungsansprüche und
Geltungsrechtfertigung zugrunde (vgl. unser Schema „Die semiotischen Sinndimensionen…“
– geschweifte Klammer rechts oben). Die Kommunikationsstruktur des Verstehens und
Denkens verweist sowohl auf diese dialogisch-pragmatische Dimension als auch auf die
geschichtlich-pragmatische Dimension: Einmal finden unsere realen Kommunikationen
immer schon in dem Traditionszusammenhang einer realen Sprach- und
Kommunikationsgemeinschaft statt, zum anderen hat die Traditionsvermittlung von Sinn und
Bedeutung selbst die kommunikative Form des Sich-mit-Anderen-über-etwas-Verständigens,
selbst dann, wenn sie faktisch autoritär oder als ein Lernen im Sinne von „Abrichtung“
(Wittgenstein) stattfinden mag.
2. Heidegger und Wittgenstein denken so selbstvergessen, wie Kant seine transzendentale
Analyse des Erkenntnisvermögens angesetzt hat. Sie vergessen, daß ihre Untersuchungen der
Alltagspragmatik – bei Heidegger der immer schon vorverstandenen Welt der
Gebrauchsdinge, des Zeugs, und des schon „im Seinsverständnis des Daseins“ enthaltenen
Verständnisses anderer, bei Wittgenstein die Analyse der Sprachspielpraxis mit einer
vorausgesetzten Abrichtung – Geltungsansprüche voraussetzen, die sie als Theoretiker ihren
Lesern gegenüber müßten einlösen können, so daß sie als Diskurspartner für diese ihre
Diskursbeiträge verantwortlich sind. Es sind die Geltungsansprüche auf Wahrhaftigkeit bzw.
Ernsthaftigkeit eines Diskursbeitrags, auf dessen Verständlichkeit, auf dessen sachliche
Wahrheit und auch auf die moralische Richtigkeit der normativen Elemente, die in ihren
Untersuchungen enthalten sind. Heidegger legt darüber hinaus im zweiten Abschnitt von
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Vorlesung im Sommersemester 2009, Prof. Dr. D. Böhler
Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Sein und Zeit“, „Dasein und Zeitlichkeit“, eine normative Orientierung nahe, indem er ein
„eigentliches Seinkönnen“, die „vorlaufende Entschlossenheit“, als existentiell vorbildlich
darlegt. In diesen Kapiteln, in denen er auch das Gewissen und die Schuld rekonstruiert (§§
55-60), erhebt er seinen Lesern gegenüber natürlich zugleich den Anspruch auf Wahrheit der
phänomenologischen Rekonstruktion und den auf moralische Richtigkeit der nahegelegten
existentiellen Orientierung. Jedoch fragt Heidegger ebenso wenig wie Wittgenstein, was es
bedeutet, Geltungsansprüche zu erheben. Beide fragen sich nicht, ob sie damit etwas implizit
versprochen haben, was sie zunächst und in erster Linie durch ihre Darlegungen, durch ihren
philosophischen Diskurs müßten einlösen können. Die von Kant ins Auge gefaßte Einheit von
theoretischer und praktischer Vernunft blenden sie aus. Daher kommen sie auch nicht auf die
Schwelle einer Ethik des Diskurses, wiewohl sie doch durch ihre Geltungsansprüche in einen
argumentativen Dialog mit ihren Lesern eingetreten sind.
Heideggers Antwort auf die transzendentalpragmatische Frage lautet eigentlich: ‚Die
Sinnbedingungen des Etwas-Verstehens und Erkennens liegen in der monologischen AlsStruktur der menschlichen Weltwahrnehmung. Diese propositional-prädikative Struktur
erweitert sich alltagspragmatisch durch unseren interessierten bzw. besorgten Umgang mit
Zeug zu einer Etwas-als-Etwas-um-zu-Struktur: Wir nehmen etwas in der Alltagswelt immer
schon wahr, um etwas damit tun zu können, was im Sinne unserer Daseins-Sorge liegt.’
Zudem deutet Heidegger noch eine zweite Erweiterung der Als-Struktur an. Diese scheint auf
das kommunikative Handeln zu führen. Es ist das Existenzial des „Mitseins“. Doch führt
Heidegger den Bezug auf das Mitsein nicht von vornherein als eine Grundeinstellung des
Daseins ein, die gleichursprünglich wäre mit der sorglichen bzw. interessierten Als-UmzuStruktur. Und dessen Charakter bestimmt er nicht als wechselseitige Interaktion mit zugrunde
liegenden Ansprüchen, für die sich argumentieren ließe, so daß man Geltungsansprüche dafür
erheben kann – zumal den der Legitimität bzw. moralischen Richtigkeit.
Eine Gleichursprünglichkeit der Als-Struktur der Weltwahrnehmung und des Verstehens
Anderer verdeckt Heidegger. Fragt er doch nicht transzendentalhermeneutisch, ob bzw.
inwiefern bereits das je einsame Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen vermittelt ist durch
vorausgehende Verständigung in Form von Tradition. Er berücksichtigt nicht, daß auch einem
traditionsgeleiteten Verstehen sowohl die Verständigung voraufgegangener Generationen als
auch deren Aneignung durch den gegenwärtig Verstehenden zugrunde liegt. Dem Prozeß des
Tradierens, der in allem Weltverstehen schon am Werk ist, liegt aber die, von Humboldt
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
hervorgehobene, dialogische Wechselseitigkeit von Frage und Antwort, Rede und Erwiderung
zugrunde. Und daran schließt sich wiederum die geltungslogische Gegenseitigkeit von
Anspruch und möglicher Zustimmung an.
Kurzum:
Das, was Wilhelm von Humboldt als die Gegenseitigkeitsstruktur allen Sprechens und
sprachlichen
Verstehens
traditionsgeleiteten
rekonstruiert,
Weltverstehen
ist
von
auch
in
vornherein
allem
Tradieren
wirksam:
die
und
allem
dialogförmige
Gegenseitigkeit. Und eben deshalb besteht immer schon eine Dialektik der geschichtlich
pragmatischen Dimension der Rede bzw. des Verstehens, also der Traditionsvermittlung,
einer
realen
Dimension,
Kommunikationsgemeinschaft
also
der
Diskurse
vor
und
der
der
geltungslogisch
Geltungsinstanz
pragmatischen
einer
idealen
Kommunikationsgemeinschaft (vgl. unser Schema der semiotischen Sinndimensionen –
geschweifte Klammer rechts oben).
Heidegger biegt das „Mitsein“ jedoch in ein monologisches Verhältnis um. Denn er
beschreibt es als ein immer schon im Dasein enthaltenes „Verstehen des Mit-Daseins“,
welches dem einzelnen Dasein offenbar eingeschrieben sei und ihm monologisch zur
Verfügung stehe. Das von Heidegger ins Spiel gebrachte Verstehen des Mitdaseins – gemeint
ist
doch
wohl
ein
Gegenseitigkeitsverhältnis
zu
anderen
–
eröffnet
keine
Verständigungsbemühungen, von denen die Rede wäre. Es verweist offenbar nicht auf
mögliche Begleitdiskurse. „Die zum Mitsein gehörige Erschlossenheit des Mitdaseins
Anderer besagt: Im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das
Verständnis Anderer.“448 Diese Art von Intersubjektivität ist also dem Dasein schon
eingeschrieben, sie fordert nicht zur Verständigung mit anderen heraus.
Die Pluralität der anderen und ihre Gleichberechtigung als möglicher Diskursteilnehmer,
welche dieselben Geltungsansprüche für ganz unterschiedliche und oft konfligierende Ziele
und Interessen erheben – beides bleibt im Dunkel, ja es wird gänzlich verdeckt von dem
ontologischen Singular „das Mitsein“. Der Ontologe bleibt im Banne der Scholastik. Dabei
hätte hier der junge Heidegger von Humboldt und den Dialogikern lernen können, der späte
von Hannah Arendt. In „Vita activa“ arbeitet sie die Pluralität als Charakteristikum des
menschlichen Handelns heraus, als eine condition humaine, die mit der „Gebürtlichkeit“ bzw.
Natalität des Menschen immer schon gegeben sei.449 In ihrem philosophischen Spätwerk
448
449
Sein und Zeit, S. 123.
H. Arendt, Vita activa oder: Vom tätigen Leben, München o.J., S. 164ff, 230ff, 14-18.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
„Vom Leben des Geistes. Das Denken“ hebt sie – mit Sokrates und gegenüber Heidegger –
die dialogische Struktur des „Zwei in Einem“ als Bedingung der Möglichkeit des Denkens
hervor: „Das Denken ist, existentiell gesehen, etwas, das man allein tut, aber nicht einsam:
allein sein heißt mit sich selbst umgehen; einsam sein heißt allein sein, ohne sich in das Zweiin-Einem aufspalten zu können, ohne sich selbst Gesellschaft leisten zu können.“450
Zusammenfassend können wir zweierlei hervorheben:
1. Heideggers Daseinsanalytik überspringt das Verwobensein der alltagsweltlichen Etwas-alsEtwas-um-zu-Struktur mit Reflexion und Kritik, besser gesagt: mit der Möglichkeit eines
Begleitdiskurses. Sie ignoriert, daß auch in dem Etwas-als-Etwas-um-zu, in dieser Einstellung
des Etwas-Besorgens, hintergründig Geltungsansprüche stehen, mit denen sich der
Verstehende und Handelnde virtuell auf andere bezieht. Solche Geltungsansprüche lassen sich
nur durch das Miteinander-Argumentieren/das Teilnehmen an einem Diskurs einlösen, das
heißt, in Form eines kommunikativen Handelns mit anderen in dem gemeinsamen Rahmen
eines dialogischen Anerkennungsverhältnisses und letztlich vor der Geltungsinstanz einer
idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Ideal ist diese Instanz, weil sie nichts
anderes zuließe als eine argumentierende Kommunikation; nämlich sinnvolle Argumente,
deren propositionaler Gehalt sich im Einklang mit den normativen Sinnbedingungen der Rolle
eines Argumentationspartners befindet. Unbegrenzt ist diese Instanz, weil sie alle möglichen
Argumente zur Sache, mithin auch alle möglichen Anspruchssubjekte als mögliche
Argumentationspartner einbezieht.
2. Das interessierte Etwas-Verstehen läßt sich also nicht denken, ohne daß man apriori einen
nicht etwa monologischen, sondern kommunikativen und zugleich reflexiven Typ der
Kognition und der Praxis ins Spiel bringt:
a) das kommunikative Sich mit anderen über etwas Verständigen und
b) das kommunikative Handeln als Interagieren mit anderen in dem gemeinsamen Rahmen
von Anerkennungsverhältnissen.
Letzteres ist im Rahmen der pragmatischen Wende von dem amerikanischen Pragmatisten G.
H. Mead als Verhältnis des Role taking entwickelt worden. Mead weiß ebenso wie Humboldt,
was der Daseinsanalytiker unterschlägt: Das monologische Welt- und Ding-Verstehen ist
450
H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998, S. 184. Vgl. D. Böhler, Warum moralisch
sein? In: K.-O. Apel und H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 25ff, 47ff.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
verwoben mit einem kommunikativen Sich-Verständigen über Sinn und Bedeutung, sei es
von Worten und Redewendungen, sei es von Weltinterpretationen angesichts neuer oder
abweichender Situationserfahrungen oder neuer Selbstverständnisse und Sinnereignisse.
Auch die von Heidegger rekonstruierte lebensweltliche Erfahrung des Etwas-als-etwas-umzu-Verstehens hat zur Voraussetzung, daß das verstehende Dasein schon mit anderen
kommuniziert hat. Aber mit wem eigentlich? „Das Dasein“ ist ja ein kollektiver Singular, dem
der
Anlaß
zur
Kommunikation
mit
anderen
Menschen
als
verschiedenartigen
Interessensubjekten fehlt. Auch dann, wenn wir für die regulierte, institutionalisierte, mehr
oder weniger festgelegte Alltagswelt mit Heidegger, übrigens auch mit Wittgenstein,
annehmen wollen, daß es darin wenig Verständigungsbedarf gibt, insofern alle Benutzer von
Zeug über dessen Gebrauch schon mehr oder weniger verständigt sind, so handelt es sich bei
diesem Verständigtsein doch um eine geronnene kommunikative Erfahrung, eine geronnene
Kommunikation. Das ist ein Angelpunkt meiner „Rekonstruktiver Pragmatik“. Vielfach ist
aber die moderne, nämlich hoch technisierte Alltagswelt und deren Zeugverständnis, zumal
wenn es sich um hochtechnologisches Zeug handelt, keineswegs unproblematisch.
Heideggers Blickwinkel einer handwerklichen Alltagswelt des Schwarzwaldes und analog
Wittgensteins Konzentration auf einfache institutionalisierte „Sprachspiele“ blenden lediglich
den Verständigungsbedarf aus. Ihre Unterdrückung einer transzendentalpragmatischen
Sprach- und Selbstreflexion verdeckt die Diskursoffenheit des Sprechens und Verstehens
überhaupt. Infolgedessen werden sie auf desaströse Weise unmodern: unsensibel für das
Kritik- und Diskurspotential einer hochmodernen Lebenswelt und unseres Sich-in-dieserWeltVerstehens.
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Dialog und Begründung zwischen den drei Paradigmen in der Geschichte der Philosophie
Verehrte Hörer und Leser!
Da ich den Schluss dieser Vorlesung, die Kapitel IV 7.3 und das wichtige Kapitel V, aus
Zeitgründen nur noch andeuten konnte, möchte ich Sie auf die hierzu einschlägige Vorlesung
um Sommersemester „Selbsteinholung, Verstehen und Handeln. Ethik im Rahmen von
Hermeneutik und Pragmatik.“ hinweisen. Zudem empfehle ich Ihnen, den Essay
„Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“ zu lesen, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche
(Hg.): Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral? EWD-Schriftenreihe Band 12,
Münster: LIT-Verlag 2004, S. 105-148. Vgl. dazu die pdf-Datei auf der Homepage des Hans
Jonas-Zentrums unter folgendem Link:
http://www.hans-jonas-zentrum.de/aktuell/aktuell8.html .
Haben Sie Dank für Ihre Teilnahme! Ihre Kritik ist mir willkommen.
Freundlich grüßt Sie Ihr
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