Thomas Bernhard Der Schein trügt Schauspiel „Jetzt brauche ich auch zum Nägelschneiden die Lesebrille, durch dieselbe Brille, durch welche ich Voltaire lese, sehe ich meine Zehennägel“, raunzt Karl, der einst mit 23 Tellern jonglierte. Zwei Bühnenkünstler lässt Thomas Bernhard in Der Schein trügt auftreten: Karl, einen älteren Artisten, einen Teller-Jongleur, und Robert, seinen Bruder, einen alten Schauspieler. Die beiden (Halb-)Brüder verbindet eine eigene, komplizierte Geschwisterliebe. Vor kurzem ist Mathilde, Karls Lebensgefährtin, gestorben, „die gescheiterte Pianistin“, wie Karl sie verächtlich nennt, mit der er so viele Jahre verbracht hat, die ihn „im ungünstigsten Moment verlassen“ hat. Ihn irritiert, dass sie nicht ihm, sondern seinem Bruder Robert das Wochenendhäuschen vermacht hat. Nun teilt Karl seine Einsamkeit mit Maggi, Mathildes Kanarienvogel. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag treffen sich die Brüder. Die Besuche sind zu einem Ritual geworden. Man erinnert sich, die Gespräche sind vielfach geübt, sie kreisen immer um das gleiche: die Kunst. Robert, der sich nach Mathildes Tod noch mehr in die Krankheit geflüchtet hat, träumt immer noch von einem großen Auftritt als „König Lear“. Karl, der sich nicht nur als Künstler, sondern auch als philosophischen Kopf begreift, betont die stets überprüfbare handwerkliche Dimension seiner Jongleur-Kunst und demütigt den kränkelnden Bruder, den er für einen „Antikünstler“ hält – wie „Schauspieler überhaupt“. Die beiden Brüder haben sich, wie viele von Thomas Bernhards Figuren, „naturgemäß“ in Verrücktheit und Skurrilität verrannt und spielen uns auf berührend komische Weise eine Komödie des Alterns vor. „Wir ziehen die Konsequenz, wir übernachten hier auf der Welt sozusagen.“ Der Schein trügt entstand 1982 und wurde 1984 von Claus Peymann in Bochum uraufgeführt. INSZENIERUNG Uwe Lohr RAUM Florian Parbs Premiere 7. Oktober 2010, Eisenhand ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Deutschsprachige Erstaufführung Anupama Chandrasekhar Falsch verbunden Drama „Hallo! Guten Morgen! True Blue Capital heißt Sie als geschätzten Kunden einer Helium Kreditkarte willkommen. Es ist wundervoll, dass Sie Mitglied der glücklichen True Blue Familie sind. Mein Name ist Ross.“ Doch Ross heißt eigentlich Roshan, und wenn die Morgensonne am anderen Ende der Leitung scheint, dann ist es nach Mitternacht in seiner fensterlosen Telefonkabine in einem Bürogebäude in Chennai (ehemals Madras)/Indien. In zehnstündigen Nachtschichten bombardieren junge indische Universitätsabsolventen die ins Minus geratenen Kunden einer amerikanischen Kreditkartenfirma mit Anrufen, als virtuelle moderne Schuldeneintreiber die tägliche Quote dabei immer im Auge. Mit dem jeweils passenden Akzent und erfundenen Lebensgeschichten arbeiten sie nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“, schmeicheln ein oder drohen je nach Bedarf und werden so zu den Kummerkästen und ungewollten Lebensberatern von Menschen, die Geld ausgeben, das sie eigentlich nicht haben. Dabei scheinen die jeweiligen Lebenswelten immer mehr zu verschwimmen. Erst als Ross sich in eine tausende Kilometer entfernte Schuldnerin zu verlieben glaubt, offenbaren sich die Gräben, die zwischen den Zeitzonen liegen … Call-Center sind die zeichenhaften Orte unserer hybriden globalisierten Welt. Die aus Chennai stammende junge indische Autorin Anupama Chandrasekhar, vom internationalen Programm des Royal Court Theaters entdeckt und gefördert, hat vor Ort recherchiert und in ihrem erst jüngst in London uraufgeführten Stück dieser Welt auf faszinierende Weise ein Brennglas vorgesetzt. In einem fast musikalisch zu nennenden Geflecht von Telefonund Realgesprächen stellt sie Fragen, die uns alle angehen, und lässt eine traditionelle konservative Kultur mit der in alle Lebensbereiche expandierenden, hochtechnologisierten Kommunikationswelt kollidieren. INSZENIERUNG Gerhard Willert BÜHNE UND KOSTÜME Florian Parbs MUSIK Christoph Coburger Premiere 16. Oktober 2010, Kammerspiele --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Anja Hilling Monsun Ein Stück in fünf Akten Bruno schreibt Drehbücher für die Fernsehserie „Tränenheim“, seit vier Jahren mit Erfolg, aber ohne Leidenschaft. So ist fast alles in seinem Leben – seine Ehe mit Paula läuft schon lange auf Sparflamme, aber die Affäre mit seiner Assistentin Sybille ist auch nur sowas wie die Ahnung von der großen Liebe. Seinem Chef vom Produktionsbüro würde er gern mal so richtig die Meinung sagen, traut sich aber nicht, und von den Träumen seines achtjährigen Sohnes Zippo hat er auch nur einen blassen Schimmer. Zippo ist auf dem Weg zur Schule. Beim Bäcker kauft er sich noch schnell eine Brezel, obwohl es seine Mutter Paula ausdrücklich verboten hat: „Wenn du dir Brezeln kaufst, dann kannst du was erleben.“ Die (Brezel-) Bäckerin Coco ist eigentlich glücklich in der Beziehung mit Melanie, wäre da nicht ihr drängender Kinderwunsch und die schon Wochen andauernden Versuche, schwanger zu werden. Am Morgen nach einem weiteren Anlauf flieht Melanie und legt sich im Auto Abschiedsworte zurecht. Dabei überfährt sie versehentlich ein Kind mit einer Tüte Brezeln in der Hand – Zippo. Es ist ein Verkehrsunfall, es ist der Tod eines Kindes, der die Lebenslinien der Figuren in Anja Hillings Monsun zueinander führt. Der Einbruch des Todes in die modern geordneten Verhältnisse treibt die Figuren in neue Beziehungen. Und heraus aus der Lebensdimension der Vorabendserie. Der Tod ist real. In überraschenden Konstellationen flüchten sie aufs Land und ans Meer oder alleine nach Vietnam. Alle stehen ihren Erfahrungen hilflos gegenüber. Mit Verlust und Trauer kann man lernen umzugehen – oder auch nicht. Anja Hillings Stück Monsun erzählt von der Möglichkeit, im Leben neu anzufangen – vielschichtig, traurig und poetisch, und dabei immer auch ein bisschen heiter. Die Autorin Anja Hilling wurde 1975 geboren und studierte von 2002 bis 2006 „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin. Dort entstand auch ihr erstes Theaterstück Sterne. Ihr zweites Stück Mein junges idiotisches Herz wurde an den Münchner Kammerspielen sowohl am „Wochenende der jungen Dramatiker“ als auch im Rahmen der Autorenwerkstatt vorgestellt. Die Münchner Aufführung wurde prompt zu den renommierten Mülheimer Theatertagen 2005 eingeladen. Monsun ist ihr drittes Stück und wurde im September 2005 in Köln uraufgeführt. Im selben Jahr wurde sie bei der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theaterheute“ zur „Nachwuchsautorin des Jahres“ gewählt. Seither sind weitere sieben Stücke entstanden und an namhaften Theater uraufgeführt worden. INSZENIERUNG Johanna Ullmann RAUM Florian Parbs Premiere 20. Jänner 2011, Eisenhand ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Deutschsprachige Erstaufführung Tamsin Oglesby Richtig alt, so 45 Ein Zeitstück „Jeder der heute durch die Straßen unserer Metropolen, Städte und sogar Dörfer geht, muss sich seinen Weg durch sie hindurch bahnen. Sie spazieren, ohne Zweck und ohne Ziel, manchmal allein, manchmal in Scharen und sehr oft scheint es, sind sie einfach nur im Weg. Was genau machen sie? Wir werden mit unserer eigenen Ungeduld konfrontiert. Warum sind sie nicht zu Hause?“ Es gibt einfach zu viele alte Menschen. Tamsin Oglesbys Stück bearbeitet dieses in allen westlichen Kulturen immer offensichtlicher hervortretende Phänomen aus zwei Perspektiven, der öffentlichen und der privaten. Während eine staatliche Wissenschaftlergruppe auf ihre Weise versucht , mit dem Problem der älter werdenden Gesellschaft umzugehen, befasst sich eine Familie mit ihrem eigenen Altern. Lyn beginnt ihr Gedächtnis zu verlieren, die Beine ihrer Schwester Alice geben nach, und auch der Schauspielerbruder Robbie muss den Zeichen seines Alterns ins Gesicht sehen. Über drei Generationen hinweg werden die familiären Beziehungen auf die Probe gestellt. In der Zwischenzeit planen die staatlichen Wissenschaftler einen Ausweg aus der demographischen Krise. Ihre Lösung: kommunal geförderte Enkeladoption, die Erfindung von Roboterpflegerinnen, die Kranke betreuen und nicht zuletzt die Errichtung eines Vorzeigekrankenhauses, in dem Pillen entwickelt und verabreicht werden, die einen glücklichen Tod beschleunigen sollen. Letztendlich mischen sich die beiden Ebenen, als sich Alice und Lyn in der staatlichen hygienischen Todesabteilung eingekerkert wiederfinden. Tamsin Oglesbys böse Komödie konfrontiert uns direkt mit unserer Verlegenheit und Angst vorm Alter(n). Sie stellt eine Gesellschaft bloß, in der Mitleid in Konkurrenz zu Pragmatismus steht und gelangt, indem sie unmissverständliche Fragen stellt, zu außergewöhnlichen Antworten. „Wir haben nicht gelernt zu sterben.“ INSZENIERUNG Christian Wittmann Premiere 19. Februar 2011, Kammerspiele Deutschsprachige Erstaufführung Joël Pommerat Cercles/Fiction Szenische Skizzen „Diese Geschichten sind witzig, manchmal erschreckend oder hart. Aber sie sind wahr.“ Joël Pommerat, Jänner 2010 In seinem neuesten Stück führt Joël Pommerat in die grundlegenden Widersprüche der zeitgenössischen Gesellschaft: Die neuen Normen stehen nicht im Einklang mit traditionellem Verhalten. Und bei Zuwiderhandlung drohen unmittelbar Ausschluss und Kündigung. Zunächst scheinen lose aneinandergereihte, unverbundene Szenen Musterbeispiele einer erkaltenden Zwischenmenschlichkeit vorzuführen, bevor sich einzelne Leitmotive abzeichnen: Da ist ein junger Top-Manager, dem eine Sandlerin prophezeit, am Folgetag noch bedeutender zu werden. Eine sich selbst als Dornröschen bezeichnende Gestalt, die zudem unverblümt den sexuellen Kontakt mit dem Mann sucht, mag man verstehen als Wiedergängerin der Hexen aus Shakespeares Macbeth, die Frau des Managers als nunmehr eifersüchtige Lady Macbeth. Den Manager selbst peinigen Schuldgefühle, als er erfährt, dass direkte Vorgesetzte ohne sein Zutun sterben und sich so der schnelle Weg des Aufstiegs in die Vorstandsetage öffnet. Wunschdenken und Verwirklichungen gehen hier eine bedrohliche Allianz ein. Da ist der erfolgreiche, mit seinem Eigenengagement protzende Geschäftsmann, der eine Gruppe von Langzeitarbeitslosen in die Beschäftigung zurückcoachen soll und in einer späteren Szene in einer Gruppe phlegmatischer Obdachloser nach einem Organspender für seinen vom Tode bedrohten Sohn sucht. Zu durchaus komischen Missverständnissen führt die Konfrontation der so unterschiedlichen Milieus und sprachlichen Codes. Und dann ist da noch ein alternder Gigolo, ein Conférencier, der behauptet, nach Jahren unnützer Bewegung die Mitte, sein Zentrum gefunden zu haben. Die Ökonomie des Verschenkens und die Ökonomie des Verkaufens stoßen immer wieder als unvereinbare Prinzipien aufeinander. Dazwischen tritt die Frage, ob Werte eine Beteiligung am Krieg begründen können, Fragen des christlichen Glaubens – ein Kaleidoskop von Themen und Motiven. Joël Pommerat wurde 1963 in Roanne geboren und arbeitet als Autor und Regisseur. 1990 gründete er die Compagnie „Louis Brouillard", mit der er bislang alle seine Texte zur Uraufführung brachte. Seine Stücke waren zu vielen internationalen Festivals (unter anderem Festival d'Avignon) eingeladen. Cercles/Fiction ist nach Ich zittere (1 und 2) das zweite Stück Pommerats, das am Landestheater als Deutschsprachige Erstaufführung herauskommt. INSZENIERUNG Gerhard Willert BÜHNE UND KOSTÜME Alexandra Pitz Premiere 9. April 2011, Kammerspiele