AKTUELLES FACHINFORMATIONEN F &E Filmton und Tondramaturgie Nirgends gibt es mehr simultane Tonspuren als beim Filmton. Um bei Großproduktionen die Übersicht zu behalten, bedarf es penibler Ordnung, genauer Kenntnis der verschiedenen Filmton-Kategorien und wohl organisierter Arbeitsteilung. Doch auch bei kleinen Produktionen ist es vorteilhaft, zumindest eine grobe Tonkonzeption zu erstellen, bevor man mit dem Vertonen beginnt. Im Beitrag wird ein Überblick über „Filmton“ gegeben. Movie sound commonly involves a very large number of audio channels. Keeping track of all audio files within a film project demands strict and precise order, in-depth knowledge of the various sound categories and a perfectly organised work assignment. It is important to think twice about sound before starting to work on a project, even for small productions. This contribution outlines movie sound requirements. Einleitung Man sollte sich nichts vormachen, denn in puncto Filmton ist Deutschland im Vergleich zu den USA noch immer ein Entwicklungsland. Der amerikanische Kult-Filmer David Lynch macht mit seinem provokativen Ausspruch „Sound is 50 % of a film, sometimes 100 %“ deutlich, woran viele deutsche Produktionen kranken: Obwohl die Wichtigkeit des Tons – in der Theorie – niemand mehr ernsthaft bestreitet, regiert in der Praxis immer noch „König Bild“. Das zeigt sich schon in der Sprache: Wir haben „Zuschauer“! In den USA entscheidet die „audience“ also die „Zuhörerschaft“ über die Verkaufszahlen. So zeigt sich das Gros der Produzenten und TV-Redakteure unbeeindruckt von den Erkenntnissen der Medienwissenschaft; die Tonspur bleibt allzu oft ein Anhängsel, das möglichst spät für möglichst wenig Geld auf den fertigen Film „draufgeklebt“ wird. Die „Heerscharen“ hoffnungsvoller, arbeitswilliger PC-Komponisten wirken dieser Tatsache nicht gerade entgegen. Denn diese möchten um jeden Preis ins „Traumgeschäft“ und sind daher bereit, für einen Hungerlohn – oder gar einen vermeintlichen GEMA-Segen – die Nächte zu opfern, um die stets viel zu kleinen Zeitfenster für die Tonproduktion einzuhalten. Oft unterschreiben diese Newcomer dann auch noch Knebel-Verträge, die der Produktionsfirma neben einem unbeschränkten und unbefristeten exklusiven Buyout gleich auch noch die Verlagsrechte gratis mit übertragen, sodass diese über einen Scheinverlag mit 40 % bzw. 1/3 an den MusikTantiemen beteiligt ist. Ein ähnliches Prinzip kommt bei den „Hofkomponisten“ diverser Privatsender zur Anwendung, die unter Verzicht der Geltendmachung ihrer in Deutschland unveräußerbaren Urheberrechte zum monatlichen Gehalt einer Bürokraft im Akkord und unter hohem Zeitdruck Serien vertonen. Auch wenn diese im Grunde illegalen Methoden längst bekannt sind, finden sich immer wieder Beispiele von auf diese Weise düpierten Komponisten. Daher sollten sich unerfahrene musikalische Talente – man hört immer wieder von begabten Ton-Cuttern, die durch passende Gelegenheiten das Fach wechselten – bei einer Anfrage bezüglich Filmmusik unbedingt umfassend rechtlich informieren (Internet, GEMA, GVL, Anwälte mit Spezialgebiet Urheberrecht). Selbstredend, dass für einen ehrbaren Produzenten solche Methoden nicht in Frage kommen, doch erfahrene, dramaturgisch und musikalisch geschulte Komponisten und SoundDesigner kosten nun mal Geld. Um das auf völlig legale Weise einzusparen, werden für Industriefilme und Dokumentationen häufig fertige Musiken aus den einschlägigen Sammlungen GEMA-freier Musik mit eigenen Lizenzierungs-Modellen verwendet. Damit macht der Cutter den Tonschnitt wieder selbst – wie es früher beim Film ohnehin jahrzehntelang die Praxis war. Das ist gerade für kleine Filme wesentlich preiswerter als eine GEMA-Lizensierung von fertigen oder gar neu zu produzierenden Musiken. Auch wenn all diese Vorgehensweisen aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und aufgrund knapper Budgets verständlich sind, so sollte den verantwortlichen Produzenten und Redakteuren jedoch klar sein, dass ihre Filme auf diese Art meist genauso klingen werden, wie sie vertont wurden: billig und klischeehaft. Da hilft auch nicht, dass die ArchivmusikProduzenten sich bessere „Samples“ anschaffen, denn das Konzept einer pauschalen „Untermalung“ dessen, was man ohnehin im Bild sieht, ist die perfekte Voraussetzung für eine langweilige und wenig bereichernde Vertonung. Eine Tonspur, die nett vor sich hin plätschert und keine gravierenden techni- EVENT FKTG SERVICE schen Mängel hat, ist noch lange keine gute Tonspur. Wer kennt das nicht: „Der Neffe vom Produktionsleiter hat da so eine ganz tolle MusikSoftware!...“ – so hat schon manche „Karriere“ begonnen. Wenn auch ein auf diese Weise frisch gekrönter Filmmusik-Komponist leuchtende Augen bekommt, weil – endlich – auch seine Sample-Streicher durch den Äther quäken, gaben bei einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts immerhin 63 % aller Zuschauer an, dass sie sich gelegentlich von der Musik in deutschen Fernsehfilmen gestört fühlen. Darüber hinaus bestätigten 43 % aller Befragten, schon mal allein wegen einer ärgerlichen Filmmusik auf den weiteren „Genuss“ eines Films verzichtet zu haben! Dabei braucht man für eine überzeugende Ton-Konzeption weder ein Live-Orchester noch eine digitale Großkonsole und kein Millionen-Budget, sondern einzig und allein eine klare Vision, die am narrativen und visuellen Inhalt orientiert mit den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln arbeitet. Und genug Zeit, um diese Vision auszuarbeiten. Nachfolgend werden Grundbegriffe und Basis-Kategorien des Filmtons erklärt. Töne vom Set Während der Dreharbeiten erstellen die Toncrew-Mitglieder eine große Menge an Tonmaterial, das später für die Postproduktion zur Verfügung steht. Hier sollten allerdings die Töne schon bei der Aufnahme nach den nachfolgend genannten Kategorien getrennt archiviert oder zumindest in den Tracklisten entsprechend kenntlich gemacht werden. Die Tonaufzeichnung am Set erfolgt heute meist auf Festplatte, Speicherkarte oder DAT (Digital Audio Tape). Früher war das eine sichere Domäne tragbarer, analoger Tonbandgeräte wie zum Beispiel von Nagra, die heute nur noch selten eingesetzt werden. O-Ton Bei professionellen Produktionen erfolgt die Tonaufzeichnung separat von der Kameratechnik (Double-System-Sound), was zur Fol- Roman Beilharz arbeitet seit 15 Jahren als Produzent von Film- und Theatermusiken im eigenen Tonstudio. Sein Beitrag basiert auf der Erstveröffentlichung in „music & pc“ x/2008 FKT 1 FILMTON ge hat, dass man den O-Ton (Original-Ton) in der Postproduktion nach Klappe und/oder Timecode synchron zum Bild anlegen muss. Während die Kamera läuft, wird der O-Ton mit einem an einem langen Galgen (Stativ-Ausleger) befestigten Richtmikrophon „geangelt“. Der Tonassistent mit der Tonangel (Angler oder Boom-Operator genannt) muss genau wissen, wer wann bzw. wo sprechen wird und welchen Ausschnitt die Kamera einfängt. Denn das Mikrophon und die Tonangel müssen stets aus dem Bild herausgehalten werden und dürfen weder als Schatten noch in Form von Spiegelungen zu sehen sein. Bei speziellen Szenen (zum Beispiel im Auto) ist die Fantasie des Tonmeisters gefordert; hier werden häufig drahtlose Sendermikrophone zur Direktabnahme installiert. Wenn es der O-Ton bis in den Kinosaal schaffen will, muss er so störgeräuschfrei wie möglich sein. Um das zu erreichen, mussten die Kameras früher in spezielle Schallschutzgehäuse gesteckt werden, ihrer klobigen Optik halber Blimp (Luftschiff) genannt. Heutige Sync-Sound-Kameras sind in der Regel „selbst geblimpt“; die Kameramechanik ist hier so vom Gehäuse entkoppelt, dass sie mit einem Laufgeräusch von höchstens 20 dB relativ ruhig laufen. Doch je nach Kameramodell, Mikrophonentfernung, Raumakustik und Dynamik der Szene kann auch heute noch ein Barney – eine gedämmte Schallschutzhaube aus Stoff oder Leder – erforderlich sein, um den Störgeräuschpegel der Kamera und des Objektivs weiter zu minimieren. Selbst wenn die Technik perfekt leise läuft, ist der O-Ton stets von Umgebungsgeräuschen (zum Beispiel Flugzeug, Martinshorn), stolpernden Technikern und schwätzenden Crew-Mitgliedern bedroht. Windgeräusche bei Außenaufnahmen lassen sich durch einen fellartigen Windschutz – im Jargon auch „Hund“ genannt – über dem Richtmikrophon minimieren. Kontinuierliche, in sich konsistente Störgeräusche wie Summen, Zischen und Rauschen (zum Beispiel Klimaanlagen, Brummen von Dimmerpacks) lassen sich relativ leicht in der Postproduktion herausfiltern. Dazu benötigt man eine separate Aufzeichnung des Störgeräusches zur Erstellung eines Noiseprints (von „Fingerprint“) – idealerweise für 1 bis 2 Sekunden. Der O-Ton wird dann anhand des Noiseprints digital vom jeweiligen Störgeräusch befreit, was bei aktuellen Algorithmen hervorragend funktioniert. Bei Dokumentationen und Reportagen ist der O-Ton meist der einzige Set-Ton und wird von der Kamera synchron mit aufgezeichnet (Single-System-Sound). Häufig nutzt man da- 2 x/2008 FKT zu einfach das Kameramikrophon; je besser dieses mechanisch vom Kameragehäuse entkoppelt ist, desto störgeräuschfreier ist die Aufzeichnung. Primärton Völlig egal ist die Umgebungslautstärke bei „stummen“ MOS-Drehs, die ohne simultane O-Ton-Aufnahme durchgeführt werden. Die Herkunft der Abkürzung MOS ist umstritten, die gängigsten Deutungen lauten: „Motor only shot“, „Motion only shot“ und „Microphone off stage“. Eventuell stammt der Term sogar aus der frühen Hollywood-Ära, als ein deutscher Regisseur in bestem Denglisch „mit out sound“ statt „without sound“ gesagt haben soll. Typische MOS-Kandidaten sind Landschaftsschwenks, Effekt-Shots (zum Beispiel Highspeed-Aufnahmen), Fahrten mit dem Kamerawagen und Werbeaufnahmen – diese werden fast immer komplett nachsynchronisiert. In der Mehrzahl der Fälle wird der O-Ton jedoch auch dann mit aufgenommen, wenn man ihn sowieso ersetzen wird. Man spricht dann von Primärton (PT), der in der Postproduktion einen Eindruck von der Original-Akustik am Set liefert. Nur-Töne Dialog-Sätze aus dem Off – also aus einem Bereich, der nicht im Bild zu sehen ist – und Geräusche, die ohne laufende Kamera aufgenommen werden, nennt man Nur-Töne (NT), „wild tracks“ oder „wild sound“. Markante Geräusche wie knallende Türen, das Schlagen auf Gegenstände usw. werden häufig zusätzlich zum O-Ton als Nur-Töne aufgenommen, um in der Postproduktion mehr Auswahl zu haben. Atmo Eher durchgängige, flächige Hintergrundgeräusche nennt man Atmo (AT). Besonders spezielle und typische Atmos von Real-Locations nimmt der Tonmann stets vor oder nach Abschluss der Dreharbeiten ohne das Lärm-Risiko der hektischen Betriebsamkeit beim Dreh separat auf. Atmos von Originalschauplätzen werden in der Postproduktion meist mit solchen aus Geräuscharchiven kombiniert. Nachsprecher Hat sich in einem ansonsten guten Take ein Schauspieler im O-Ton versprochen, hat der OTon technische Mängel oder ist er durch Störgeräusche (zum Beispiel Motorgeräusch des Kamerawagens) unbrauchbar, so kann man die entsprechenden Dialoge nochmal als NurTon aufnehmen – in der Hoffnung, dass die Ton-Cutter diese Nur-Töne hinterher mit dem Bild lippensynchron bekommen. Dabei helfen in der Postproduktion spezielle ADR-(Automated Dialog Replacement-)Werkzeuge; ansonsten lassen sich zu kurze Worte von Hand digital „time stretchen“, zu lange Worte werden ohne Tonhöhen-Veränderung per „NegativTime-Stretching“ gestaucht. Solche Nur-Töne nennt man Nachsprecher (NS). Besonders bei speziellen Raumakustiken passen diese oft besser zur Szene als nachträglich im Studio synchronisierte Aufnahmen. Playback Wenn in einer Szene Musik vorkommt, zu der beim Dreh getanzt, gesungen oder auf die im Bild anderweitig synchron reagiert werden soll, muss diese am Set als Playback (PB) über Lautsprecher eingespielt werden. Der OTon ist dann in der Regel nicht brauchbar und dient somit nur noch als Primärton zur Orientierung für die Postproduktion. Dialoge über dem Playback werden dann meist als Nachsprecher aufgenommen – es sei denn, ein Tonassistent regelt das Playback punktgenau für die einzelnen Dialog-Sätze herunter und in den Sprechpausen wieder hoch, um Synchronizität und Kontinuität der Bewegungen zu gewährleisten. Töne in der Postproduktion Die hier suggerierte Chronologie der Arbeitsschritte orientiert sich an einem real nicht existierenden Normalfall und ist keinesfalls fest vorgegeben. Gerade im Zeitalter des digitalen, nonlinearen Tonschnitts kann prinzipiell in jeder Phase jedes Element der Tonebene modifiziert werden, sodass bei den meisten Produktionen mehrere Versions-Zyklen – sich gegenseitig beeinflussender Vormischungen – durchlaufen werden. Dialogschnitt Für den Bildschnitt brauchen Cutter und Regisseur relativ bald eine brauchbare Rohmischung (Rough Mix) des Dialogschnitts, der sich zunächst aus O-Tönen und Nachsprechern zusammensetzt. Für spätere IT-Mischungen müssen alle Dialogstellen aus der O-Ton-Spur herausgeschnitten und auf eine separate Spur gelegt werden, um die Nachsynchronisation in anderen Sprachen zu ermöglichen. AKTUELLES FACHINFORMATIONEN F &E EVENT FKTG SERVICE neudeutsch aber eher von Soundscapes. Deren Grenzen zur Musik sind häufig nicht sehr klar umrissen, sodass gelegentlich auch ein Komponist solche geräuschhaften Flächen anbieten wird. Atmo-Schnitt Bild 1. Die Timeline einer normalen TV-Filmproduktion in der Mischung: 38 Spuren – und einige davon sind bereits Vormischungen Spätestens hier wird entschieden, ob bestimmte Szenen im Studio synchronisiert werden – zum Beispiel, da die Originalakustik problematisch war oder Störgeräusche die Restauration bestimmter O-Töne zu aufwändig machen würden. Solche nachträglichen Sprachaufnahmen nennt man sprachsynchron oder ADR; ein Vorgang, der vor der Herstellung von „Auslands“-Kopien am Ende der Produktionskette gegebenenfalls nochmals anfällt, um den Film in einer anderen Sprache zu synchronisieren. Im selben Zuge werden nun auch eventuelle „Voice Over“ erstellt, also Aufnahmen von kommentierenden (Erzähler-)Stimmen, die nicht selbst im On – also im Bild – zu sehen sind. Sind all diese Schritte abgeschlossen, hat man meist einen ziemlich fertigen Dialogschnitt zur Verfügung. Werden im Bildschnitt nun plötzlich andere Takes oder gar andere Szenen verwendet, muss natürlich auch der Dialogschnitt überarbeitet werden, indem die entsprechenden Töne ausgetauscht bzw. eingefügt werden. Effektschnitt/SFX Parallel kann schon an einem ersten Effektschnitt gearbeitet werden, der Nur-Töne vom Set und neu aufgenommene Geräusche kombiniert. In beiden Fällen spricht man von Geräusch-Effekten (FX). Besonders solche individuellen, Timing-relevanten Ereignisse wie Schritte, Papierrascheln, Haushaltsarbeiten, Kratzen einer Feder auf Papier usw. erstellt ein geübter Geräuschemacher viel schneller als dass man sie einzeln erzeugen bzw. aus dem Archiv aussuchen und anlegen könnte. Beim Geräuschsynchron werden diese daher live zum Bild aufgenommen. Die englische Bezeichnung für diesen Vorgang nennt sich Foley (nach dem Geräuschemacher Jack Donovan Foley von den Universal Studios). Für die ITMischung müssen für alle „Löcher“, wo der Dialog vom O-Ton separiert wurde, „Foleys“ gemacht werden, es sei denn, eine Atmo in der jeweiligen Szene wäre dominant genug, diese ausreichend zu überdecken. Einzelgeräusche aus Archiven und Effekt-Bibliotheken (-Libraries) nennt man Archivtöne (AV); diese werden meist in der mittleren Phase des Effektschnitts hinzugefügt oder können mangelhafte Originalgeräusche ersetzen. Bei der weitergehenden Arbeit am Effektschnitt kommt es nicht selten zu sehr aufwändigen Geräuschmontagen – auch mit Neuaufnahmen von Geräuschen, die nicht mehr unbedingt als naturgetreu zu bezeichnen sind. So wird hier häufig das Prinzip der Überzeichnung angewendet, die Klänge sind dann „larger than life“ – echter als echt. Beispiel: In einem Film sollte die Hauptdarstellerin eine Salzstange zwischen den Fingern zerbrechen, bevor sie einen Mord begeht. Aber erst das Zerbrechen eines Bündels von Weißbrotstangen erzeugte einen angemessen wirkenden Klang für diese markante Stelle. Diese Art der besonderen, akzentartigen Klangereignisse nennt man Special Effects (SFX); bei flächigen Montagen spricht man auf Aus den vorhandenen Original-Atmos und Archivtönen wird ein Atmo-Schnitt angefertigt, der alle Töne einer Einstellung auditiv klammert und wie eine spezielle Raumakustik (zum Beispiel Kirche) in denselben raumzeitlichen Zusammenhang stellt. Der Anteil an Archivtönen ist hier besonders bei Produktionen mit kleinerem Budget sehr hoch, da man sich die zusätzliche „Stille“-Zeit am Set zur Aufnahme von Original-Atmos als Nur-Töne gerne spart. Am gezieltesten und effizientesten erstellt man Atmos aus Archivtönen nach dem „Schichten-Prinzip“, zum Beispiel Windgeräusch, dann leichter Regen dazu, eine zweite Regenatmo wird hinzugeblendet (wodurch der Regen stärker erscheint), nahe Tropfen kennzeichnen eine überquellende Dachrinne; eventueller Donner wird punktgenau da eingesetzt, wo man ihn auch wahrnimmt. Um eine fertige Archiv-Atmo mit einem ungefähr passenden Ablauf zu finden, muss man meist lange und manchmal vergeblich suchen. Musikschnitt Spätestens sobald erste Vormischungen (Premix‘s) des Dialog- und Effektschnitts vorliegen, sind auch komponierte Layout-Musiken oder sogenannte Role Models (fertige Archivmusiken) für den Bildschnitt als Temp Tracks gefragt. Temp(orary) Tracks sind sinngemäß übersetzt „vorläufige Musikspuren“; sie dienen dem Cutter und Regisseur zur Entwicklung der Musikdramaturgie – idealerweise im Einvernehmen mit dem Music Supervisor und/oder dem Sound-Designer (s. Kasten). In einzelnen Fällen werden solche PlatzhalterMusiken sogar schon beim Dreh als Moods (Stimmungen) genutzt, um die Atmosphäre der Szene nonverbal zu steuern und zu intensivieren. Hier kommt es immer wieder zum Gewöhnungseffekt, sodass es manchmal schwierig wird, die Temp-Tracks durch Neukompositionen zu ersetzen (Bild 1). Bei der Filmmusik wird unterschieden zwischen dem Score, also der individuell komponierten, meist eher illustrativen Musik, und Source-Musiken wie zum Beispiel Songs, Schlagern und anderen bekannten Melodien. Source-Musiken sind alle fertigen Musiken, die im Film enthalten sein sollen – sei es, x/2008 FKT 3 FILMTON Was macht ein Sound-Designer? Der Beruf des Sound-Designers ist beinahe so jung wie die verschiedenen Berufe rund um die Themen „Visuelle Effekte“ (VFX) und 3D-Animation. Stark geprägt wurde der Begriff „Sound Design“ durch die detailreich orchestrierten Tonspuren für Coppolas „Apocalypse Now“ (Walter Murch). Wenig gefestigt und klar umrissen ist daher auch das Aufgabenfeld des Sound-Designers. Das liegt daran, dass der Tonschnitt ursprünglich von Bildcuttern mit erledigt wurde. Erst mit der Erhöhung des Signal-Rauschabstandes durch Dolby Stereo und dessen digitalen Nachfolger konnte die Tonebene so an Komplexität zulegen, dass zumindest ein spezialisierter Toncutter (Sound Editor) mit der Aufgabe des Tonschnitts betraut wurde. Inzwischen wurde diese Aufgabe so weit in die verschiedenen Tonbereiche (Dialogton, Foley, FX, Atmos, SFX, Score, Source-Musiken) differenziert, dass bei großen Produktionen ein ganzes Heer von Toncuttern an der Tonebene arbeitet: einer für Schritte, einer für Explosionen, einer für Atmos usw. Idealerweise fungiert der Sound-Designer als eine Art künstlerischer Leiter für die gesamte Tonebene – so wie der Kameramann (DoP/DP) verantwortlich für das Gesamtergebnis „Bild“ ist. Er entwickelt und betreut im Dialog mit allen anderen künstlerischen Entscheidern – vor allem Regisseur, Cutter und Komponist – und technischen Zuarbeitern die Konzeption der Tonund Musikdramaturgie bis hin zur Endmischung. In der deutschen Produktionsrealität reduziert sich das Aufgabenfeld des Sound-Designers jedoch meist auf das Erstellen von Special-Effects und Soundscapes; für Mischung und Gesamt-Konzeption ist im besten Falle eine beratende Funktion erwünscht. Das liegt einerseits an zu knappen Budgets und Produktionszeiten für den Ton, andererseits aber auch daran, dass die Wichtigkeit einer stringenten Tonkonzeption häufig immer noch unterschätzt wird. dass sie durch inhaltliche Bezüge im Drehbuch verankert sind, dass der Regisseur sie in einer Szene haben möchte oder dass die Produktion sie durch Verträge mit Plattenfirmen oder Sponsoren in die Produktion bringt. Die meisten Spielfilme enthalten viel mehr Source-Musiken als man denkt, zum Beispiel in Form von Hintergrundmusiken in Bars und Restaurants sowie aus Autoradios und Fernsehern. Source-Musiken helfen nicht nur bei der Verortung (zum Beispiel mexikanische Folklore, alpenländische Blasmusik) und der Zeitzuordnung (zum Beispiel Jimi Hendrix = 70er Jahre), sondern können auch soziale Assoziationen und damit entsprechende Emotionen bestimmter Generationen wecken (zum Beispiel die erste Liebe im „Trümmer“-Berlin). Tonmischung Über eventuelle Alternativ-Töne (ALT) – alternative Dialog-, FX- oder Atmo-Schnitte – wird erst in der Rohmischung (rough mix) entschieden, wo erstmals alle Vormischungen und Einzelspuren mit der Musikmischung zusammengeführt werden. Hier gilt wie bei den Vormischungen die Regel, dass die „kurzen Töne“, wie Einzelgeräusche in der Arrangement-Liste der Software oben, und die „lan- 4 x/2008 FKT gen Töne“, wie Atmos unten, positioniert werden. Die Endmischung (final mix) erfolgt bei großen Spielfilmproduktionen in Mischtheatern mit Synchron-Projektion, die der Akustik eines Kinosaals sehr nahekommen. Hier kann neben dem Kinomix auch eine auf die private Hörsituation abgestimmte DVD- oder Fernsehmischung mit einer anderen Pegelgestaltung erstellt werden. Auch bei kleinen Produktionen wird man den geringen Mehraufwand zur Erstellung einer IT-(Internationaler Ton-)Mischung in Kauf nehmen, um die Chance einer eventuellen Auslandsverwertung später kostengünstig nutzen zu können. Der IT-Mix darf keinerlei verständliche Sprachinformationen enthalten. Daher müssen alle Töne von Anfang an nach Dialogen und Geräuschen getrennt angelegt werden; auch Atmos mit verständlichen Sprachfetzen dürfen nicht mit anderen Hintergrundgeräuschen zusammengemischt werden. stärkend und intensivierend sind naturalistische bis dezent „übernatürliche“ Geräusche und eine Musik, die die Stimmung der inhaltlichen Ebene gleich schwingend untermalt (Underscoring). Das ist die gängigste und sicherste Art der Vertonung, bringt jedoch nichts eigenes mit und kann schnell klischeehaft wirken. Übertreibt man das Underscoring und betont jeden Bildakzent synchron akustisch mit (Sync-Point), bekommt man eine Comic-artige Wirkung, die auch als Mickey-Mousing bekannt ist. Unabhängig von der Frage der SyncPoints – den gleichzeitigen Akzenten in Bild und Ton – kann durch extreme Übersteigerung der inhaltlichen und visuellen Stimmungen besonders durch die Musik, aber auch durch haltlos übertriebene Geräusche, eine ironische Haltung zum Ausdruck kommen. Das Bild und die Erzählung werden sozusagen „auf die Schippe genommen“ und wirken im Spannungsgefüge zum Ton komisch. Kontrastierend wirken Geräusche, Soundscapes und Musiken, die eine ganz andere Stimmung tragen und erzählen als eine solche, die im Bild bereits zu sehen ist oder im Dialog transportiert wird. Gute Beispiele hierfür findet man zum Beispiel bei David Lynchs „Lost Highway“, „Mulholland Drive“ und diversen Psycho-Thrillern. Im Krimi wird das Prinzip Tondramaturgie Bei der Entwicklung der Tondramaturgie (Bild 2) sollte man sich zunächst einmal grundsätzlich fragen, ob und wo man die Atmosphäre der Bilder prinzipiell verstärken, kontrastieren oder ironisieren möchte. Ver- Bild 2. Musikdramaturgie-Grundtypen: A. illustrative Konzeption (Underscoring), B. kontrastierende Konzeption und C. ironisierende Konzeption AKTUELLES FACHINFORMATIONEN F &E EVENT – – Bild 3. Die Tondramaturgie lässt sich auch graphisch darstellen, um einen Überblick über die Gesamtstruktur zu bekommen ständig durch Suspense Music (SpannungsMusik) angewendet, wobei die Tonebene hier auch eine zeitliche Klammer setzt, indem sie „das Unheil“ vorwegnimmt (Antizipation). Ein sehr wichtiges Element bei der Tonkonzeption ist auch die Stille, die besonders nach lautstarken Sequenzen ein eindrucksvolles Mittel sein kann. Es hilft, wenn man dabei zwischen einer erzählerischen Stille und einer subjektiven Stille unterscheidet. Letztere verstärkt die Identifikation mit einer Figur, die zum Beispiel durch einen Schock oder eine Explosion keine Umgebungsgeräusche mehr wahrnimmt, während man im Bild etliche Geräusche „sieht“. Werden erst einmal solche dramaturgischen Überlegungen angestellt, so kommt man leichter zu einer sinnreichen Liste, die (vorläufig) festlegt, an welchen Stellen überhaupt Musik oder ein Sound-Design nötig ist. Bei Großproduktionen wird diese Liste in einer sogenannten Spotting Session erstellt. Bei der Gelegenheit wird auch geklärt, welche Art von Musik vonseiten der Regie gewünscht ist. Dabei geht es zunächst einmal um die Basis-Parameter Startzeit, Tempo, Lautstärke, Dynamik, instrumentale und melodische Dichte, Rhythmus und Länge. Einige dieser Parameter bestimmen maßgeblich die gewünschte Stimmung der Musik, die von den meisten Regisseuren mit blumigen Worten umschrieben wird. Es ist daher extrem wichtig, sich als Komponist oder Sound-Designer immer wieder rückzuversichern, dass man diese Anweisungen korrekt in tondramaturgische Werte „übersetzt“ hat (Bild 3). Narrative Verknüpfungen Wenn ein melodisches Motiv oder ein Sound stets mit der Darstellung einer bestimmten Person bzw. eines bestimmten Objekts einhergeht, so verknüpft der Zuschauer seine As- soziationen zu der Musik/dem Klang mit den Eigenschaften der Person/des Objekts. Auf diese Weise kann ein pockennarbiger Mann freundlich, eine hübsch geblümte Pflanze tödlich giftig und ein nettes Fachwerkhaus gruselig wirken. Wenn zum Beispiel mehrere Personen, Gruppen, Gegenstände und Orte eines Films jeweils ihr spezifisches motivisches Material erhalten, spricht man von Leitmotivik. Eine typisch leitmotivische Konzeption liegt der Musik zu den „Star Wars“-Filmen zugrunde (Darth Vader-Motiv, Leia-Motiv usw.). Eine Spielart der Leitmotivik besteht darin, bestimmte Instrumente oder Sounds einzelnen Charakteren, Objekten oder Orten zuzuordnen, ohne zwingend immer wieder dieselben melodischen Motive zu verwenden. Auch Archivmusiken und Songs können durchaus leitmotivisch verwendet werden und nicht nur als Moods (Stimmungen) die Emotionen bestimmter Szenen vertiefen. Die Größe und Art der Arrangement-Besetzung (Solo-Instrumente, Trio, Rock-Band, Orchester usw.) will wohl überlegt sein und sollte zunächst einmal den erzählerischen Inhalten, Orten und der erzählten Zeit angemessen gewählt werden, kann jedoch auch gezielt über- bzw. untertrieben werden. FKTG SERVICE und Dauer der Sequenz der Betrachtung des Films ohne Musik zu entsprechen. Bei A ist das Tempo der Musik bei gleichem Schnitttempo deutlich erhöht. Dadurch wirken die Bögen des Filmschnitts langsamer, denn die Takes werden in Relation zum kleineren Raster der schnelleren Musik und evtuell sogar mit höherer Pulsfrequenz des Zuschauers wahrgenommen. Die gleiche Schnittfolge wirkt nun länger als ohne Musik betrachtet. Genau das Gegenteil ist der Fall, wenn wie bei C das Musiktempo viel langsamer als das Schnitttempo ist. Besonders bei einem fließenden Charakter der Musik erzeugt nun der Schnitt den dominanten Rhythmus – und die Sequenz wirkt subjektiv kürzer. Proportionen verschieben Gezielt angewendet kann man mit diesem Wissen die gefühlten zeitlichen Proportionen der Gesamtstruktur manipulieren. Nebenbei lässt sich damit hervorragend an Spannungsbögen arbeiten. Aber auch die räumlichen Proportionen lassen sich im Ton hervorragend verändern: Wenn an der Kulisse für eine Palastszene gespart werden musste, kann der Ton die Dimensionen des Gebäudes durch einen großen Hallraum subjektiv locker verdoppeln. Zudem könnte ein prunkvolles Orchester-Arrangement mit Fanfarenbläsern hier seine assoziative Macht ausspielen. Subjektive Dauer Eines der spannendsten Phänomene auf dem Gebiet der Tondramaturgie ist deren Macht, die subjektive Wahrnehmung von Tempo, Rhythmus und Dauer der Bildsequenzen zu manipulieren. Betrachtet man Bild 4 – Graphik B, entspricht das Tempo des Bildschnitts gefühlsmäßig dem Musiktempo. Die Sync-Points, an denen ein Bildwechsel mit einem Taktschwerpunkt zusammenfällt, gliedern die Sequenz in der Wahrnehmung des Zuschauers in drei Abschnitte. Ansonsten scheinen Rhythmus Bild 4. Tempokorrelationen x/2008 FKT 5 FILMTON Aber auch das Gegenteil kann erwünscht sein. So könnte das Innere einer armseligen Hütte auf Leinwandgröße aufgeblasen schlichtweg zu unbescheiden wirken. Hier könnten eine entsprechende Musik, zum Beispiel Mundharmonika und Bierflasche im Duett und dazu vielleicht ein kratziger O-Ton, angemessene emotionale und räumliche Verhältnisse erschaffen. Auch lassen sich im Ton räumliche Bezüge herstellen, die im Bild eventuell gar nicht gegeben sind. Wenn zum Beispiel eine Szene mit wenig Darstellern gegenüber einer Massenszene in der Intensität zu stark abfällt, so kann der Ton diese Szenen klammern, sodass sie wie aus einem Guss wirken. Man kann sie im Ton in raumzeitlichen Zusammenhang bringen, indem man die Massen in den „kleinen Szenen“ weiter im Hintergrund hört. Die Macht der Tondramaturgie geht so weit, dass sich visuell oder rhythmisch unglückliche Schnitte bzw. inhaltliche Brüche mit einer musikalischen Klammer oder einer Soundscape überbrücken und damit elegant „reparieren“ lassen. Natürlich sollte das nur als Mittel der letzten Wahl genutzt und nur dann angewendet werden, wenn im Bildschnitt gar nichts mehr zu verändern ist. Schlussbemerkung Mit dem Thema Ton- und Musikkonzeption für Filme lassen sich ohne weiteres Bände füllen. Fakt ist: In jedem Zuschauer steckt ein aufmerksamer Zuhörer, den man nicht unterschätzen sollte. Wird die Tonebene mit der gebührenden Aufmerksamkeit erstellt und ausgearbeitet, so lässt sich jedes visuelle Programm emotional präzisieren und intensivieren, denn über das Gehör erreicht man die Gefühlswelt des Publikums wesentlich direkter als über das Auge. Was nicht heißen soll, dass es bei jedem Film ständig donnern, krachen und dramatisch vor sich hin tönen sollte. Wichtig ist, dass jeder Beteiligte – gleich ob Bild- oder Tonschaffender – in der Postproduktion immer wieder versucht, das Ergebnis so zu sehen und zu hören, als wäre es das erste Mal. Denn dieser Vorgang entscheidet über Begeisterung, Interesse oder gar Abneigung des Zuschauers. Mit der gedachten Brille des Premierengastes auf der Nase gelingt die kritische Überprüfung meist am besten. Denn egal welche Technik und welche Methoden wann, wie und warum verwendet wurden, macht all das nur Sinn, wenn das Gesamtergebnis überzeugt. Und um das zu erreichen, ist wiederum nur eines nicht erlaubt: die „Zuhörschauer“ zu langweilen. 6 x/2008 FKT