Sabine Veits-Falk Kommunale Sozialpolitik im Nationalsozialismus

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Österreichischer Zeitgeschichtetag 2016 Graz
Stadtverwaltung und Parteiherrschaft im Nationalsozialismus
am Beispiel der Stadt Salzburg
Sabine Veits-Falk
Kommunale Sozialpolitik im Nationalsozialismus.
Integration – Ausgrenzung – Vernichtung
Vorbemerkung
Der Vortrag konzentriert sich auf Veränderungen im Wirkungsbereich der
kommunalen Fürsorge in der Gauhauptstadt Salzburg, konkret im
Bereich des Fürsorgeamts und des Stadtjugendamts, sowie auf die
engen Verschränkungen zwischen Stadtverwaltung und Partei. Im Sinne
von „Agency“ als eine der thematischen Klammern dieses
Zeitgeschichtetages werden auch Handlungsinitiativen bzw. -prozesse
von Akteuren und Akteurinnen in der kommunalen Fürsorge
exemplarisch aufgezeigt.
NS-Fürsorge: Zwischen Integration und Segregation
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde auch das
bisher bestehende System der kommunalen Armenfürsorge in der Stadt
Salzburg grundlegend verändert. NS-Sozialpolitik war ein Instrument der
biologischen und sozialen Selektion und durch eine Spannung zwischen
sozialer Inklusion und bis zur Lebensvernichtung reichender Exklusion
gekennzeichnet. Damit war ein radikaler Perspektivenwechsel
fürsorgepolitischen Denkens vollzogen und das traditionelle Verständnis
von Solidarität auf den Kopf gestellt. Staat und Partei mit ihren
Organisationen NSV, HJ und BDM griffen in einem bisher unbekannten
Ausmaß in die Sozialpolitik und Verwaltung ein. Das Ziel der NSFürsorge war nicht die Förderung des Individuums um seiner oder ihrer
selbst willen, sondern die Stärkung der „Volksgemeinschaft“.
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Stadtverwaltung und Parteiherrschaft im Nationalsozialismus
am Beispiel der Stadt Salzburg
Fürsorgerecht – Fürsorgeamt
Aufgrund des im Oktober 1938 übernommenen deutschen
Fürsorgerechts lösten Bezirksfürsorgeverbände die Gemeinden als
Hauptträger der Fürsorge ab, die Stadt Salzburg blieb als Stadtkreis
Hauptträgerin der kommunalen Fürsorge. Dem Führerprinzip verpflichtet,
lag die Leitung des Fürsorgewesens bei Oberbürgermeister Anton Giger,
zu dessen Beratung ein zehnköpfiger Beirat bestimmt wurde, der sich
aus fünf Ratsherren und fünf weiteren Mitgliedern, darunter drei
Vertreter/inne/n von NSV, HJ und BDM zusammensetzte.
Das städtische Fürsorgeamt wurde bis August 1938 von Franz Heinzl
geleitet. Er hatte von 1919 bis 1930 als Vertreter der Nationalsozialisten
der Schulz-Richtung (DNSAP) dem Gemeinderat angehört, war Mitglied
der NSV und hatte sich Verdienste um die Errichtung einer
Arbeitslosenküche und eines Obdachlosenheims erworben. Sein
Nachfolger ab Oktober 1938, Johann Stradner, war seit 1926 Mitarbeiter
des Armenamts gewesen und trat 1938 der HJ und der NSV bei. Der
nach seinem Tod 1943 eingesetzte Leiter des Fürsorgeamts, Karl
Hannakampf, war wie seine beiden Vorgänger NSDAP-Mitglied und
beschrieb in einem Ansuchen um Wiedereinstellung 1945 – bei aller
quellenkritischen Relativierung – Heinzl und Stradner als glühende
Nationalsozialisten, die Hitler mehr als Gott verehrten.
Berichte des Oberbürgermeisters über die Jahre 1938 bis 1941 geben
Einblicke in den Aufgaben- und Tätigkeitsbereich des Fürsorgeamts der
Gauhauptstadt Salzburg. Dabei wurde die bestehende, in der
Reichsfürsorgeverordnung übernommene, Einteilung in offene und
geschlossene Armenfürsorge beibehalten.
Neben der „allgemeinen“ und gehobenen Fürsorge war das Fürsorgeamt
nun auch für die Bearbeitung von Ehestandsdarlehen, die Errichtung
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einer Amtsstelle für Familienunterhalt und eines Kriegsschädenamts
zuständig.
Der Städtische Kindergarten an der Wolf-Dietrich-Straße blieb in
städtischem Besitz und das von den Barmherzigen Schwestern geführte
Mädchen- und ein Knabenheim wurde enteignet und als Städtisches
Kinderheim bzw. Kleinkinderheim geführt.
Im Städtischen Altersheim sollten Volksgenossen und -genossinnen, die
nach einem harten Lebenskampf müde geworden waren, so
Oberbürgermeister Giger, Ruhe und Pflege finden.
Erstaunlich und unklar sind Gigers Motive, die ihn dazu bewogen, sechs
bis acht „Pfleglinge“, die wegen Altersblödsinn bettlägrig dahinsiechten,
nur mehr lallten, sich täglich beschmutzten und zum Teil Schmerzen
litten, vor ihrer Ermordung durch „Euthanasie“ zu bewahren. Er sah wohl
die im Altersheim befindlichen Menschen trotz ihres Alters und ihrer
Demenz als integralen Bestandteil der „Volksgemeinschaft“ an.
Zu den so genannten besonderen Fürsorgeeinrichtungen zählten eine
Volksküche und das „Zigeunerlager“ in Leopoldskron-Moos, dessen
Verwaltung die Kriminalpolizei und dessen finanzielle und fürsorgerische
Betreuung das Fürsorgeamt übernahm. 1943 begannen die
Deportationen von 170 Sinti in die Vernichtungslager nach AuschwitzBirkenau und in das „Zigeuner-Anhaltelager Lackenbach“ im Burgenland.
NSV
Das städtische Fürsorgewesen und vor allem die Jugendfürsorge waren
so eng mit dem Komplex NSV verzahnt, dass ihre Handlungsräume,
Tätigkeitsfelder und Handlungsprozesse nur schwer voneinander zu
trennen sind. Diese Verbindung ergab sich allein daraus, dass die
meisten in entsprechenden Verwaltungseinheiten beschäftigten
Personen zugleich Mitglieder der NSV waren. Auch in der Stadt Salzburg
gelang es der NSV gleich nach dem „Anschluß“, Sympathieträgerin der
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neuen Herrschaft zu werden, z. B. durch das Winterhilfswerk. Durch das
Hilfswerk „Mutter und Kind“ mit zahlreichen Mütterberatungsstellen
gelang es der NSV erfolgreich den Fürsorgebereich der Schwangeren-,
Mütter- und Kleinkinderfürsorge an sich zu ziehen. Darüberhinaus wurde
das Kindergartenwesen zu einem zentralen Arbeitsbereich erklärt. Im
Juni 1942 wurden in den 12 NSV-Kindergärten der Stadt Salzburg 650
Kinder betreut. Die Stadt bezahlte die Mieten, Sanierungsmaßnahmen
und Betriebskosten.
Die NSV griff auch in die offene Fürsorge ein: Das seit 1893 bestehende,
überkommene Elberfelder System wurde im März 1941 offiziell
aufgelöst. Auf Vorschlag des Fürsorgeamts übernahmen nun die
Zellenwarte der NSV die Funktionen der ehrenamtlichen Armenräte und
-inspektoren. Damit gab die Stadt einmal mehr eine zentrale, historisch
gewachsene Aufgabe, die Betreuung armer Menschen, an eine
Parteiorganisation ab. Und 1943 wurde die NSV sogar für die
Festsetzung der Leistungen der öffentlichen Fürsorge herangezogen.
Jugendfürsorge – Stadtjugendamt
Mit 1. April 1940 trat die „Verordnung über die Jugendwohlfahrt in der
Ostmark“ in Kraft, die der NSV, aber auch HJ, einen weiteren Einflussund Machtzuwachs brachte. Wie für die Fürsorge war Oberbürgermeister
Giger nun auch für die Jugendwohlfahrt zuständig. Die ausführende
Dienststelle war das neu zu errichtende Stadtjugendamt.
Der auch hier zur Beratung des Oberbürgermeisters zu bestellende
Beirat setzte sich aus dem zuständigen Vormundschaftsrichter, einem
Lehrer und einer Lehrerin, dem zuständigen Kreisamtsleiter des Amts für
Volkswohlfahrt sowie Vertreter/inne/n der HJ und BDM zusammen. Auch
hier ist wieder deutlich erkennbar, wie eng bei den Mitgliedern
Verwaltungs- und Parteifunktionen miteinander verwoben waren: Der
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Leiter des städtischen Fürsorgeamts, Hans Stradner, saß z. B. für die HJ
im Beirat des Stadtjugendamts.
Da im Beirat die Betreuungsfälle und Vorgangsweisen des Jugendamts
besprochen wurden, war auch die direkte politische Einflussnahme auf
die Amtsführung des Jugendamts abgesichert.
Das Stadtjugendamt nahm im April 1940 unter der Leitung von Dr. Viktor
Renner den Parteienverkehr auf. Der Jurist war Mitglied der NSDAP und
seit Jänner 1939 SA-Oberscharführer. Als er ab Juli 1941 zur
Wehrmacht eingezogen wurde, übernahm Georg Suppin, ebenfalls
NSDAP- und SA-Mitglied, die stellvertretende Amtsleitung. 1943 wurde
er wegen teils versuchter, teils vollendeter Verführung zur Unzucht zu
einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Suppin hatte seine Stellung als
Berufsvormund und stellvertretender Leiter des Jugendamts
missbraucht. 1941 hatte sich der ehemalige Lehrer laut
Landesgerichtsurteil einer Reihe von ihm anvertrauten Mädchen, die
teilweise noch in einem sehr jugendlichen Alter standen, in unsittlicher
Weise angenähert.
Mit 1. Jänner 1944 wurde erstmals eine Frau mit der Amtsvormundschaft
im Stadtjugendamt betraut: Die 31jährige Erna Hirtler stammte aus
München und hatte eine Ausbildung als Volkspflegerin absolviert.
Während die Vormundschaft v. a. für die rechtliche Betreuung der Kinder
und Jugendlichen sorgte, war die Jugendfürsorge für ihr körperliches
Wohlergehen zuständig. Die Fürsorgestelle war auch für die Zuweisung
von Pflegeplätzen verantwortlich. Fürsorgerinnen, nun „Volkspflegerinnen“ genannt, kontrollierten sowohl Pflegekinder als auch die
betreuenden Familien. Für erbkranke, geisteskranke und asozial
veranlagte Kinder war die Unterbringung in einer Anstalt vorgesehen. Da
Salzburg im Gegensatz zu den Nachbargauen keine geschlossene
Erziehungseinrichtung besaß, mussten diese „Fürsorgezöglinge“ in
auswärtigen Heimen untergebracht werden.
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Neben der Leiterin der Fürsorgeabteilung, Johanna Dimai, die nach ihrer
Ausbildung als Kindergärtnerin die Fürsorgeschule in Wien absolviert
hatte, waren durchschnittlich sechs „Volkspflerinnen“ beschäftigt.
Erwartungsgemäß waren sie alle Mitglieder in der NSV oder in der DAF,
zwei Frauen, darunter auch Kreisleiterin Dimai, in der NSDAP.
Beispiele für „Agency“
Im Stadtarchiv Salzburg erhaltene Vormundschaftsakten geben
exemplarische Einblicke, wie die einzelnen Dienststellen und
Akteur/innen in den für die NS-Fürsorge charakteristischen Prozess
zwischen Förderung und Unterstützung bzw. Ausgrenzung und
Disziplinierung bis hin zur „Ausmerze“ eingebunden waren.
So zum Beispiel im Fall des 1924 unehelich geborenen Walter. Im
Dezember 1938 wandte sich seine Mutter an seinen Amtsvormund. Sie
erklärte, nicht der Jude Paul F. aus Wien sei sein Vater, sondern Peter
S., mit dem sie ungefähr zur selben Zeit ein Verhältnis gehabt hätte. Der
Junge […] ist blond, hat blaue Augen und kein einziges jüdisches
Rassenmerkmal, im Gegenteil, er sieht aus, wie ein richtiger deutscher
Junge. Unsere Familie war immer national […] und wurde im Sinne der
nationalen Weltanschauung erzogen und es wäre wohl nicht
auszudenken, wenn er eines Tages erfahren würde, daß sein Vater ein
Jude gewesen sein soll. Die daraufhin eingeleiteten Nachforschungen
und Bemühungen von Amtsvormund Renner inkludierten einen Antrag
auf Erlass eines Abstammungsbescheides samt rassenpolitischem
Gutachten der bekannten NS-Anthropologin Dr. Hella Pöch und
bescheinigten Walter letztendlich eine „arische Abstammung“.
Letalen Ausgang hatten hingegen die vielschichtig verwobenen
Amtshandlungen für die 1939 mit so genanntem „vererbbaren
Schwachsinn“ geborene Anna, die im städtische Kinderheim
untergebracht war. Im März 1941 betrieb ihr Vormund ihre Unterbringung
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in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder, da ihre Mutter geistig
minderwertig sei, und sie das Zeichen von Schwachsinn zeige.
Zusätzlich weitete Vormund Renner den Behördenzugriff noch auf die
Mutter aus, indem er das Gesundheitsamt ersuchte, allenfalls einen
Antrag auf Unfruchtbarmachung nach dem „Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses“ zu stellen. Im August 1941 wurde die
zweijährige Anna vom städtischen Kinderheim und vom
Gaufürsorgeverband Salzburg in die Jugendfürsorgeanstalt „Am
Spiegelgrund“ in Wien eingewiesen und im September 1941 ermordet.
An Anna erinnert an ihrem letzten Wohnort, dem städtischen Kinderheim
im Bärengässchen in der Stadt Salzburg, ein Stolperstein. Ebenso an
Ida.
Ida war das 1939 ledig geborene Kind einer „Zigeunerin“ und seit März
1940 im Kinderheim untergebracht. Da nach den letzten Bestimmungen
Zigeunerkinder in öffentlichen Heimen nicht untergebracht werden
sollen, wollte Vormund Renner von der Vormundschaftsbehörde in
Karlsbad, dem Geburtsort Idas wissen, ob dort der Aufenthalt der Eltern
des Kindes bekannt ist, oder ob es allenfalls möglich wäre, das Kind in
das Zigeunerlager nach Auschwitz zu bringen. Im Jänner 1944 wurde
Ida von „JD“ – offensichtlich Kreisfürsorgerin Johanna Dimai – persönlich
im Lager Auschwitz abgeliefert. Das wissen wir, denn ihr Ansuchen an
die Kriminalpolizeistelle Salzburg um Spesenersatz hat sich erhalten. Im
Jänner 1944 wurde das 4jährige Mädchen im Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau ermordet.
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Schlussbemerkung
Die hier nur angerissenen Beispiele zeigen, wie viele Dienststellen und
Menschen in den jeweiligen Einzelfällen involviert waren. Dieser Prozess
war durch hierarchische und funktionale Arbeitsteilung gekennzeichnet,
und jede/r war ein Rädchen in der Maschinerie des Nationalsozialismus.
Der springende Punkt ist aber, dass die Akteure und Akteurinnen sich
auf das Funktionieren, die Dienstpflicht, die Funktion, die sie zu erfüllen
hatten, zurückzogen und die moralische Verantwortung, die Ahnung oder
das Wissen, was mit den Menschen, über deren Schicksal sie alle
scheibchenweise mitentschieden, bewusst oder unbewusst, aus
Überzeugung, Ignoranz, Feigheit, Angst – aus welchen Motiven auch
immer – ausblendeten. Ihre Handlungsmotive oder vielleicht sogar
Strategien im einzelnen kann ich aufgrund der Quellenlage und einer
wissenschaftlichen Redlichkeit verpflichtet, nur befunden, nicht seriös
deuten. Die Konsequenzen ihres Handelns waren aber für zu viele
Menschen fatal und tödlich.
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