“Was bringt Geld, wenn wir keine Zeit haben, es auszugeben?“ Aktiv, kreativ und bewusst. Der Schwede Micael Dahlén ist ein „Marketing‐Guru“, ein Querdenker der Ökonomen. Seine Theorien sorgen für Aufsehen. Der Professor der Stockholm School of Economics ist Autor des vielbeachteten Buchs «Nextopia: Freu dich auf die Zukunft – du wirst ihr nicht entkommen!». Dahlén stellt das gängige Marketing‐Denken in Frage. Der „Lebensmittelprofi“ vermittelt seiner Leserschaft einen Ausschnitt aus einem grösseren Interview, das die Fachzeitschrift „Handel heute“ mit Micael Dahlén geführt hat. Die Dinge unseres wirtschaftlichen Alltags einmal in einem etwas andern Licht zu sehen, kann für viele von uns spannend und bedenkenswert sein. Herr Dahlén, die Medien bezeichnen Sie häufig als den “Marketing‐Guru der Wirtschaft”. Wollen Sie ein Guru sein? Micael Dahlén: Nicht wirklich. Ich will eigentlich nur ich selbst sein, in der bestmöglichen Art und Weise. Es ist ein Lebensprojekt. Mögen Sie den Begriff? Nicht besonders. Warum? Ich finde, ein Guru ist nicht eine besonders spassige Person. Es ist jemand, der sein Gebiet sehr ernst nimmt – zu ernst, wie ich glaube. Und es ist jemand, der weiss oder wenigstens glaubt zu wissen, dass er alles über ein Gebiet weiss. Ich will Spass haben – warum also so viel Zeit auf etwas verwenden, das keinen Spass macht? Es bedeutet, dass man die wertvolle Zeit vergeudet, die man in im Leben hat. Davon abgesehen, sehe ich bescheidenerweise ein, dass ich nicht alles weiss, was es zu wissen gibt, das ist unmöglich in dieser super‐vernetzten Welt. Ich fokussiere mich eher darauf, neue Routen zu entdecken und Dinge in eine neue Perspektive zu setzen. Sie haben Bücher geschrieben über “das nächste grosse Ding, dem wir alle hinterherrennen”, dem ultimativen Vergnügen (nextopia). Was ist das nächste grosse Ding in unserer digi‐sozialen Gesellschaft? Zeit. Es ist dieser eine kritische Faktor, den wir alle besitzen, aber von dem wir nie genug haben. Vielleicht das einzige universelle Element, von dem wir es nicht geschafft haben, es wirklich für uns nutzbar zu machen. Aber es gibt einige sehr coole Dinge, die sich momentan in dieser Richtung tun. Auf Ihrer Homepage steht der Satz: “Professor Dahlén ist ein Entdecker aller Dinge, die “mindblogging” sind – ein Suchender der Anomalien”. Erzählen Sie doch bitte ein bisschen mehr über die nächste grosse Anomalie, auf die Sie sich konzentrieren werden. Geld. Wir brauchen es nicht mehr wirklich, sowohl aus wirtschaftlicher Perspektive – in unserem Teil der Welt sind Bruttoinlandsprodukt und Saläre auf einem Niveau, wo Erhöhungen das Gemeinwohl bzw. Wohlbefinden nicht mehr signifikant steigern – als auch in funktioneller Hinsicht. Wir sind so vernetzt, dass wir handeln, koproduzieren und uns immer wieder finden könnten, ohne dass wir die ganze Zeit dazu Geld austauschen müssten. Aber wir tun es trotzdem, weil wir Geld mögen. Es beinhaltet eine ganze Reihe psychologischer Aspekte. Ich habe Experimente und Studien aus sozialer und evolutionärer Perspektive dazu durchgeführt. Zum Beispiel etwa in welcher Weise Geld die Entscheidungsfindung, das Verhalten und die Selbstreflektionen von Menschen beeinflusst – die Resultate sind höchst amüsant, in vielerlei Hinsicht. Themawechsel: Kaufen Sie gerne ein? Ja, zumindest im Sinne von Stöbern. Ich liebe es. Machen Sie dies lieber online oder offline? Gibt es wirklich ein entweder oder? Was ist mit Einkaufszentren? Einkaufszentren werden immer Sinn machen. Obwohl der Sinn sicherlich ein anderer sein werden dürfte. Haben Sie Spass an Marketing, so wie es derzeit im 2015 gemacht wird? Ist es kreativ? Ich denke, wir sehen momentan einen Bruch. Marketing und Werbung sind in den letzten zehn Jahren immer kreativer geworden, allerdings so ziemlich im Rahmen der traditionellen Konsumenten‐ und Business‐Definition. Im Augenblick, mitten in der technologischen Explosion, ändern sich diese Definitionen, und Marketing und Werbung versuchen ihren Platz und ihre Mission in diesem neuen Gewusel zu finden. Spulen Sie im Schnellvorlauf zwei, drei Jahre vor, all diese Dinge und Begriffe werden sich gesetzt haben und die Kreativität wird voll durchstarten. Welchen Aspekten von Marketing‐Kreativität sollten Firmen besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn sie die Attraktivität ihrer Produkte steigern wollen? Die zwei fundamentalen Dimensionen von Kreativität sind Neuheit und Bedeutsamkeit oder Relevanz. Bedeutsamkeit und Relevanz sind Synonyme, aber die meisten Menschen tendieren dazu, das Wort Relevanz zu nutzen, und das ist der Punkt, in dem sie falsch liegen. Indem sie sich auf Relevanz fokussieren, schränken sie ihre Sichtweise ein und zwar – im Grunde genommen auf: “Passt es zu meiner Zielgruppe und ihrem Kontext?” Das ist zu einfach. Das Schwierige wird sein, herauszufinden und neu zu definieren, welche Bedeutung das Produkt spielt und spielen könnte in der neuen Zeit für die Menschen. Es scheint, als wären die Wörter „Bewusstsein“, „gesunder Menschenverstand“ und „Kreativität“ zentral in Ihren Büchern über Marketing und Ökonomie. Weshalb? Personen handeln niemals mit gesundem Menschenverstand. Gesunder Menschenverstand hat sehr wenig mit dem zu tun, was und warum Leute tun, was sie tun. Vergessen Sie gesunden Menschenverstand – und Kreativität entfaltet sich, zum Wohle aller. Bewusstsein ist etwas, von dem wir alle zu wenig haben. Wir nehmen uns selten die Zeit, unsere Taten und ihre Auswirkungen zu reflektieren. Und deswegen verpassen die Meisten die Chance, ihren inneren Superhelden freizusetzen. Sind die vier klassischen P (Product, Price, Promotion, Place) überholt? Ja. Das ist Altgriechisch. Sprechen wir über ein anderes prickelndes Thema: Gibt es so etwas wie die Ökonomie von Sex? Ja. Bitte erläutern Sie uns das doch etwas näher. Historisch gesehen war Sex der Treiber für Dinge wie etwa Handel, Infrastruktur und technologische Entwicklung. Ich meine, sehen Sie sich die frühe Entwicklung der Videoindustrie oder Internetnutzung an, wo wäre diese ohne Pornographie? Machen Sie eine Schnellsuche im App‐Store und sie werden es sehen. Oder nehmen Sie als ein etwas weniger explizites Beispiel das Thema Dating und das viele Geld, das Menschen für die Partnersuche ausgeben – für Partnerbörsen oder alles andere, was damit verbunden ist wie Restaurants, SPAs, Urlaub – bis hin zum Reisen‐Markt für Hochzeits‐Anlässe. Wenn man es genauer betrachtet, verdichtet, dann treten viele entlarvende Dinge zutage. Eine Ihrer Hypothesen ist: „Die zukünftige Währung bist Du“. Also warum ist Geld so von gestern? Das bezieht sich auf das, was ich vorhin gesagt habe. Geld hat seinen Zenit erreicht, bezogen auf das, was es für uns leisten kann. Was bringt Geld, wenn wir keine Zeit haben, es auszugeben? Oder wenn wir es nicht dahin bringen können, wo wir es gerne ausgeben würden – virtuell und real? Es entwickelt sich zurzeit grad ein neuer Typ von Währungen. Was ist der Sinn des Lebens? Ich habe mich so lange mit dieser Frage beschäftigt, ich kann tatsächlich eine kurze Antwort darauf geben: Es zu leben. Sind Sie rebellisch? Wenn rebellisch heisst, dass man allergisch auf Regeln und Konventionen reagiert oder sie nicht wahrnehmen will, dann ja. redigiert von Hans Liechti, VELEDES