Schauerlich! Unbehagen und Ekel Jeder Mensch besitzt eine durch

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Schauerlich! Unbehagen und Ekel
Jeder Mensch besitzt eine durch Erziehung, Gesellschaft und Kultur geprägte Moralvorstellung.
Ohne ein universales System aus Grundsätzen, Werten und Normen, welche die Menschen in
ihrem Verhalten zueinander leiten, wäre das Leben in einem auf gegenseitige Abhängigkeit
ausgerichteten Sozialgefüge nicht möglich. Verstoßen Gegenstände mit ihrer Aussage gegen
unser persönliches Wertegerüst, empfinden wir Unbehagen und Empörung. An erster Stelle der
universalen Wertevorstellung steht die Unantastbarkeit des Lebens als höchstes Gut und die
Erhaltung der menschlichen Würde. Eine Infragestellung oder Bedrohung dieser Werte ruft eine
unbehagliche Irritation her vor.
„Gun collection“: Lounge Gun, Table Gun, Bedside Gun
Entwurf: Philippe Starck; Hersteller:Flos, Bovezzo, 2005
Schocker mit Persilschein: Waffenfetischisten dürften an der
2005 auf der Mailänder Möbel messe vorgestellten „Gun
collection“ von Philippe Starck Gefallen finden. Starck versieht
seine höchst provokante Leuchtenserie mit einem ausführlichen
Begleitschreiben. Darin verweist er auf die fundamentalen
Bezüge von Leben und Tod und prangert den weltweiten
Waffenhandel und seine Folgen an. Starck erklärt unter
anderem:„Heut zutage töten wir – religiös, militärisch, höflich,
wahrlich sehr höflich manchmal. Wir töten aus Ehrgeiz, aus
Gier, aus Spaß oder wegen der Show. Ganze Republiken
spielen verrückt. Tyrannen sind unsere Meister. Konstruiert,
hergestellt, verkauft, geträumt, gekauft und benutzt, Waffen sind
unsere neuen Ikonen. Unser Leben ist gerade mal eine
Gewehrkugel wert. Die Gun Collection ist nur ein Zeichen
unserer Zeit. Wir kriegen die Symbole,die wir verdienen.
Happiness is a hot gun. Ruhm unseren Diktatoren, dem Leben,
dem Tod.“ ((Auszug aus www.starck.com)
Die drei in der „Gun collection“ zitier ten Waffentypen – Beretta-Pistole, Kalaschnikow AK-47 und Maschinengewehr M16 –
wählte Starck bewusst als Repräsentanten für Europa, für die
Länder des Ostens sowie Amerika; die Vergoldung ist eine
Anspielung auf das lukrative Geschäft der Waffenindustrie. Das
Schwarz des Lampenschirms symbolisiert den Tod, die Kreuze
auf seiner Innenseite die Toten. Allerdings ist dieses mahnende
Motiv durch die Positionierung auf der Schirminnenseite dem
ersten Blick entzogen; eine störende Beeinträchtigung der
„blendenden“ Ästhetik wird damit zunächst ausgeschlossen.
Dabei könnte sich der Eindruck aufdrängen, die Kreuze dienen
lediglich als Alibi für die friedfertige Intention der „Gun
collection“.
Starcks mahnender Ansatz erschließt sich – zumindest bei
flüchtigem Blick – nicht aus der Gestaltung, sondern bedarf
einer mitgelieferten Erläuterung. In erster Linie konfrontier t die
„Gun collection“ den Betrachter mit einer ästhetisier ten Waffe.
Mit ihrer irritierenden Ästhetik, die zwischen Schönheit und
Abartigkeit oszilliert, erscheint sie wie gemacht für das
Wohnambiente des klassischen James-Bond-Bösewichts In der
realen Welt dürfte sich eine diesem Typus ähnelnde Klientel
auch durchaus für die „Gun collection“ interessieren.
Als moralische Provokation empfinden wir daher
Produkte, die durch drastische Formensprache
oder inhaltliche Aussage Themen wie Gewalt, Herabwürdigung und Verletzung assoziieren
lassen, oder gar Symbole für Tod und Gewalt zum Hauptgestaltungsmotiv erheben. Befremdlich
wirken ebenso Objekte, in denen Faktoren anklingen, die das Leben in bislang nicht
einschätzbarem Ausmaß tangieren wie etwa die Züchtung menschlichen Gewebes.
Dasselbe gilt für Produkte, deren alleiniger Zweck darin besteht, Vertreter bestimmter
gesellschaftlicher Gruppen oder religiöse Autoritätspersonen respektlos und in tabubrechender
Weise der Lächerlichkeit preiszugeben; etwa Jesus Christus als Anziehpuppe, oder zwei
Aufziehfiguren, die eine in Gestalt einer Greisin, die tapsig mit ihrem Rollator umherläuft, die
andere eine keifende,„Feuer “ speiende Nonne. Allesamt sind diese Personen zum „Scherz “
degradiert und laufen somit unserem sozialen Gewissen zuwider. Ein Großteil von uns reagiert
auf derartige Gegenstände mit „gemischten Gefühlen “.Die erste Reaktion kann durchaus Lachen
sein, das uns spontan entfährt angesichts der befremdlichen Komik. Doch schon unmittelbar
darauf oder auch zeitgleich empfinden viele
ein Gefühl der Beklemmung oder Empörung
angesichts des hämischen „Lächerlichmachens“.
Körperliches Unbehagen erzeugen Objekte,
die einen angeborenen oder kulturell
bedingten Ekelreiz hervorrufen. Im
Produktdesign lässt sich eine Ekelreaktion
auf Objekte naturgemäß nur in
Ausnahmefällen finden, denn die
„Abwehrreaktion “ als Gestaltungsziel läuft
dem Konsumprinzip des „Habenwollens“
schlicht zuwider. Es sei denn, die eigentliche
Funktion des Produktes soll gerade die
„Unantastbarkeit “ desselben sein.
Tasche „SK classic“
Entwurf und Hersteller: Olivier Goulet,
SkinBag, Paris, 2000
Ein Material, dessen Anmutung irritiert und Befremden weckt. Dem
ersten Blick folgt meist reflexartig ein erforschendes Tasten, um
die ungewöhnliche Materialität besser einordnen zu können. Die
samtige Weichheit sowie die Temperatur des Materials
unterstützen den ersten, visuellen Eindruck von Haut. Manche
scheuen vor diesem „Hautkontakt“ zurück, das Materialwirkt auf sie
abschreckend und weckt Widerwillen oder gar Ekel.
Olivier Goulet bezeichnet das von ihm entwickelte Material
SkinBag als synthetische, von feinen Falten und Alterungsspuren
durchzogene Haut. Die SkinBag-Objekte lassen sich durch Tattoos
individualisieren und bringen somit die Persönlichkeit des Besitzers
zum Ausdruck. Goulet interessierte der große Widerspruch, der
zwischen dem ursprünglichen, naturgegebenen Körper sowie
dem künstlichen und optimierten Körper unserer heutigen Zeit
besteht. Seinen Taschen und Kleidungsstücken – alles
Objekte, die in engem Kontakt zum Körper stehen – verleiht
er durch das hautartige Material einen Aspekt des
Organischen, des Lebendigen. Für ihn sind sie
Verlängerungen oder Auswüchse des Körpers. Gleichzeitig
nackt und angezogen tritt der in Kleidungsstücke aus
SkinBag gehüllte Mensch auf – ein provozierendes Paradox,
das gesellschaftliche Regeln konterkariert.
Die Waffe als Konsumgut – eine
moralische Gratwanderung
Erheben Designer eine Waffe zum
Hauptgestaltungsmotiv ihres Entwurfs,
schicken sie uns auf eine moralische
Gratwanderung: Die Objekte mag man
schön oder auch witzig finden, andererseits
stellt sich unmittelbar nach dem Lachen
vielfach ein beklemmendes Gefühl ein, und
angesichts der ersten Bewunderung kommen
uns Zweifel an der eigenen Moralvorstellung.
Der irritierend spielerische Umgang mit
Waffenmotiven kann jedoch auch als
Versuch verstanden werden, die Waffe an
sich zu „entwerten “.Ihr Einsatz als
Gestaltungsmittel macht sie zu einer leeren,
ihrer eigentlichen Funktion beraubten und
nur mehr dem Styling dienenden Hülle. Ein
Blick in die Geschichte der Alltagskultur
offenbart, dass bereits in früheren Zeiten das
Thema Krieg und Gewalt in Form von
allerlei „Weltkriegsnippes “ den Alltag
begleitete:: beispielsweise als Tassen,
überzogen mit heroischen Parolen,
Sparbüchsen oder Kettenanhänger in Form
von Granatgeschossen oder Fingerringe,
geschmückt mit dem Eisernen Kreuz.
Igittigitt! – von natürlichem und erlerntem Ekel
Ekel gehört zu den heftigsten körperlichen Emotionen überhaupt. In starker Abhängigkeit vom
Geschmacks- und Geruchssinn ist das Ekelempfinden als Schutzreaktion angeboren. Fühlt sich
der menschliche Organismus von gefährlichen Substanzen bedroht, erzwingt er sich durch die
unmittelbar einsetzende körperliche Ekelreaktion bis hin zum Erbrechen die notwendige Distanz
zu diesen.
Bei den Ekel auslösenden Faktoren lässt sich unterscheiden zwischen natürlichen Ekelreizen und
„erlernten “,d.h. kulturell oder ganz individuell bedingten Auslösern.
Ekel empfinden wir insbesondere gegenüber organischen Substanzen und nicht so sehr
gegenüber Anorganischem. Natürliche Ekelerreger sind faulige, abgestorbene Substanzen, aber
auch Körperausscheidungen und -sekrete, also insbesondere die Dinge, die in direktem
Zusammenhang mit Verwesung und Tod stehen.
Wie stark unsere Kultur oder Erziehung für die Ausbildung von Ekel verantwortlich ist, zeigen
die unterschiedlichen Esskulturen: In unseren westlichen Breiten lösen beispielsweise
Lebensmittel aus Insekten oder Schlangen heftigsten Ekel aus, in anderen Kulturkreisen werden
diese als Delikatessen mit großem Genuss verspeist. Für die Konsumierung des hierzulande eher
als Scherzartikel empfundenen „Süßwarengrusels “ in Form von Lutschern mit Ameisen,
Würmern oder Heuschreckenchips bedarf es daher schon einer großen Neugierde und Lust an
der Überwindung des eigenen Ekels. Im Gegenzug ruft der von uns Europäern geschätzte
Schimmelkäse bei Asiaten eine Ekelreaktion her vor.
Shocking gags – witzig und beklemmend zugleich
Eine tapsig mit ihrem Rollator umherlaufende Greisin oder
eine „Feuer“ speiende Nonne als Scherzfiguren. Wir lachen
und empfinden Beklemmung zugleich. Welche
Eigenschaften muss ein Gegenstand aufweisen, damit wir
sehr gegensätzliche, „gemischte Gefühle“ wie Heiterkeit und
Unbehagen fast zeitgleich erleben können? Wie generell bei
der Gefühlsrelation zwischen Produkt und Betrachter,
entscheidet darüber weitestgehend die innere Haltung des
Rezipienten. Jeder Mensch besitzt durch Sozialisierung und
Erziehung eine persönliche Wertevorstellung, die unter
anderem moralische und ethische Aspekte enthält und
soziale Normen widerspiegelt. Verletzen Gegenstände durch
ihre Aussage diesen persönlichen Wertekanon, empfinden
wir Empörung oder Unbehagen. „Alten Menschen“ sowie
Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften wie Nonnen
oder Mönche sollten wir gemäß unserer gesellschaftlichen
Norm eigentlich mit Achtung und Respekt begegnen und sie
eben nicht der Lächerlichkeit oder Verspottung preisgeben.
Der Eindruck von „Witz“ entsteht immer dann, wenn
Britischer, schwarzer Humor at it‘s best! Für
eigentlich unvereinbare Komponenten zur Einheit gebracht
alle, die ihre im Verborgenen ruhende
brutale Ader am Schreibtisch ausleben
werden, in diesem Fall die Aspekte „Greisin“ und
wollen.
„Aufziehfigur“. Eine Micky Maus oder ein Schlumpf als
Aufziehfigur provozieren hingegen keinen derart „witzigen“ Eindruck, denn diese beiden Figuren
dienen von Grund auf der Belustigung. Die Banalisierung und Herabwürdigung des Themas
„Alter“ ist hingegen tabuisiert. Eine Verknüpfung dieses Tabus mit dem der Belustigung
dienenden Thema „Aufziehfigur“ führt zu Irritation; die Spannung der Unvereinbarkeit entlädt
sich daraufhin in Form eines Lachens.
Stifthalter „Dead Fred pen holder“
Entwurf und Hersteller: Suck UK
Ltd., London, 2006
© Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Textauszug aus: Design+Emotion. Produkte, die Gefühle wecken. AK Karlsruhe 2008, S.75, 84 und 87; Text: Heidrun Jecht
Stichwörter:
Gun collection: Lounge Gun, Table Gun, Bedside Gun
Philippe Starck
Flos
Dead Fred pen holder
Suck UK
SK classic
Olivier Goulet
SkinBag
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