Ringvorlesung 65 Jahre DDR – Wie 40 Jahre DDR noch immer unser Dasein färben Heilt die Zeit die Wunden? – Politische Inhaftierung in der DDR und ihre Auswirkungen auf Betroffene und deren Kinder Dr. Gregor Weißflog, Universitätsklinikum Leipzig formel1. (Forschungsförderung der Medizinischen Fakultät Leipzig) Gliederung I. Einführung in die Thematik II. Erstes Projekt III. Zweites Projekt IV. Heilt die Zeit die Wunden? 2 Einführung Politische Inhaftierung Etwa 200.000 Menschen waren in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Quelle: www.stsg.de/cms/bautzen/startseite Quelle: www. frauenkreis‐hoheneckerinnen.de/hoheneck.htm 3 Frau R. - Ihre Geschichte „Ich bin 1970 als 17-jährige wegen versuchter Republikflucht zu 10 Monaten Hoheneck verurteilt wurden. Meine gesundheitlichen Beschwerden begannen erst nach der Wende. Seit 2000 habe ich einen anerkannten haftbedingten Gesundheitsschaden (PTBS, soziale Phobie, F62.0.) von 50% MdE. Ich war in den letzen 5 Jahren mehrere Wochen in einem psychosomatischen Krankenhaus, mache derzeit ambulante Traumatherapie, leider alles ohne nennenswerten Erfolg. Seit August 2006 bin ich daraufhin EU-Rentnerin, weil es mir nicht gelingt die Vergangenheit loszulassen. Sie hat sich zu tief in mir eingegraben. Ich lebe mit all meinen Gefühlen noch in der Zeit von 1970. Das macht mir das Leben sehr schwer.“ 4 Frau R. - Krise „…ich bin derzeit in einer ganz schwierigen Lage und Sie boten mir an, mich an Sie zu wenden, wenn ich Hilfe brauche. Sie wissen, dass ich jede Woche einmal zu meiner Psychologin nach ... zur Traumatherapie fahre. Ich habe Ihnen auch gesagt, dass ich das nicht mehr schaffe und demnächst wieder in eine psychosomatische Klinik gehe, in der ich schon mehrmals war. Ich bin psychisch und körperlich völlig erschöpft. … Meine Psychologin ist der Überzeugung, dass ich eine stationäre Therapie dringend brauche. …Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie mir eine Einrichtung empfehlen können, die mich stabilisiert. Wo eventuell Erfahrung mit traumatisierten ehemaligen politischen Häftlingen vorhanden ist. Vielleicht wissen Sie einen Rat. Allein komme ich nicht mehr zurecht.“ 5 Frau R. - Der Strohhalm Wie ich Ihnen im Frühjahr diesen Jahres schon mitteilte, dass ich in die Uniklinik … gehe, möchte ich Ihnen dazu einiges schreiben. Inspiriert von dieser Klinik wurde ich durch eine Studie von Prof. …, welcher … über die Thematik der Haftfolgeschäden recherchierte. Das war für mich der Grund nach XY zu gehen, denn - so glaubte ich - dort kenne man sich mit dieser Problematik aus. …Ich bin dann im April zum Vorgespräch bei einem Psychologen gewesen und habe ihm meine derzeitige Situation geschildert. Im Vordergrund stand, dass ich völlig erschöpft war und noch bin und meine Daueranspannung mich noch in den Wahnsinn treibt. Ich bemerkte jedoch recht schnell, dass auf diesem Gebiet wenig Kenntnis vorliegt. Aber ich brauchte diesen rettenden Strohhalm und bin eine Woche später zur Therapie. … Meine Therapeutin und ich waren beide voller Hoffnung, dass ich in der Klinik stabilisiert werde. 6 Frau R. - Therapie So war es nicht. Das Konzept der Klinik war gewiss völlig in Ordnung. Nur für mich war es in keinster Weise hilfreich. Ich kam in die Gruppe der Essgestörten. Alle Patienten dort hätten fast meine Enkel sein können. Ich war mit meinen 54 Jahren mit Riesenabstand die einzig Ältere. Von Wohlfühlen war keine Rede. Therapien gingen von früh bis spät und ich habe es nicht geschafft. Es hat mich maßlos überfordert. Auch gab es weder Musik noch Fernsehen und ich fühlte mich wie eingesperrt. Ich war viel zu erschöpft, um dieses Pensum mit der Jugend mitzuhalten. Mit dem Psychologen kam ich gut zurecht, aber Einzelgespräche fanden nur einmal die Woche statt. Das hatte ich bis dahin bei meiner Psychologin auch. Die Gruppe wollte von jeden alles wissen und alles wurde gemeinsam gemacht. 7 Frau R. - Leider keine Hilfe Mein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Ich bekam schwere Depressionen und schwere Magenprobleme. Nach vier Tagen lies ich mich im beiderseitigen Einverständnis entlassen und eine Woche später lag ich mit einem blutenden Magengeschwür im Krankenhaus. … war meine letzte Hoffnung, aber es ging nicht. Die Therapien waren für Essgestörte gemacht und damit habe ich gar nichts zu tun. Den Mädchen wird es sicher helfen. Als ich dem Chefarzt sagte, dass ich das alles nicht schaffe, weil ich so erschöpft bin, empfahl er mir in die angrenzende Psychiatrie zu gehen. Das habe ich verneint, denn diese gibt es auch in meiner Heimat, falls erforderlich. Nun habe ich völlig resigniert und weiß, dass es kaum Therapeuten gibt, die sich auf diese Traumaart, was politisch inhaftiert betrifft, spezialisiert haben. 8 Frau R. – Resignation? „So zerstört wie ich bin, werde ich es bleiben. Und ich weiß auch nicht, wie lang ich die Kraft noch habe einmal die Woche zu meiner Psychologin zu fahren. Es ist ganz sehr anstrengend für mich. Und es wird mich nicht weiterbringen. Ich bin seit Mai 2005 bei ihr in Behandlung und mir geht es immer schlechter. Es ist alles aufgewühlt und nichts weiter. Durch den Erhalt der EU-Rente hat mein Leiden auch kein Ende. Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören, denn ich weiß, dass Sie mit dieser - meiner - Problematik vertraut sind. Das ist sehr wichtig für mich.“ 9 Spätfolgen aus der Sicht der Angehörigen …mein Mann war über 6 Jahre in DDR-Haft, bis 1985. Heute hat er schwere gesundheitliche Schäden, welche immer schlimmer werden. Ihm ist vor ca. 4 Jahren ein Haftschaden von 30% anerkannt wurden, aber im Laufe der Jahre hat sich das alles noch viel mehr verschlimmert, worunter wir alle leiden. Die Spätfolgen meines Mannes sind wirklich dramatisch, er geht so gut wie nie raus, braucht sein gewohntes Umfeld, ist misstrauisch - auch seiner Familie gegenüber, hat ständig Alpträume und ruft dann um Hilfe. Ach es sind so viele Dinge ich kann sie jetzt nicht alle aufzählen. 10 Traumatypologie 11 Traumareaktive Entwicklungen Quelle: S2-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung, AWMFRegisternummer 051/027; Online unter: http://www.uniduesseldorf.de/AWMF/ll/05 1-027.htm 12 Forschungsgutachten Forschungsgutachten der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (2003) „Die empirische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt, dass politische Repression zu ausgeprägten gesundheitlichen Schäden körperlicher und psychischer Art führen kann.“ „wenigstens 100.000 Personen mit manifester psychischer Störung im Sinne einer PTBS oder anderer psychischer Störung… und wenigstens 50.000 Personen mit einer Chronifizierung dieser Störung“ „eine offene gesellschaftliche Atmosphäre kann zur Reintegration der Traumatisierten beitragen. Hierzu gehören Kompetenz und Empathie bei den Gutachtern und die Überwindung von Defiziten bestehender Gesetze“ 13 Projekt I Stiftung Sächsische Gedenkstätten in Dresden Mit Hilfe der Verbandszeitschriften „Stacheldraht“ & „Freiheitsglocke“ 2003/04 insgesamt 1288 Personen befragt Erste Auswertung 2004 publiziert (Müller, KH in „Zwischen Bautzen und Workuta Totalitäre Gewaltherrschaft und Haftfolgen“) Sekundäranalyse der existierenden Daten 14 Forschungsfragen 1. Welche Haftbedingungen werden von den Betroffenen berichtet? 2. In welchem Ausmaß führt politische Inhaftierung zu langfristigen Gesundheitsstörungen bei den Betroffenen? Welche Störungen sind das? 3. Wie verarbeiten die Betroffenen die von der Verfolgungserfahrung belastete Vergangenheit? Universität Leipzig, Abteilung Sozialmedizin „quantitativer“ Zugang zu den Fragestellungen Æ schriftlicher Fragebogen Kornelia Beer und Prof. Matthias Pfüller, Politische Memoriale e.V. MecklenburgVorpommern bzw. FH Mittweida/Roßwein „qualitativer“ Zugang zu den Fragestellungen Æ biografische Interviews 15 Inhaftierungsgründe 16 Haftbedingungen ‐ Entwicklung von anfänglich überwiegend physischer Misshandlung/Folter in SBZ und den Anfangsjahren der DDR hin zu überwiegend psychischer Misshandlung/Folter ‐ Körperliche Misshandlung und Ausbeutung wie z.B. Schläge, Schlafentzug, Zwang zu schmerzhaften Körperhaltungen, Arbeitspflicht unter z.T. widrigen Arbeitsbedingungen ‐ Psychische Misshandlungen wie z.B. Erzeugen von absoluter Unsicherheit und Desorientierung, Isolation, Schüren von Misstrauen, Demütigungen, Drohungen und Erpressung 17 Soziodemografie Zweitbefragung N= 157 (129 männlich; 82%) Alter 64,9 Jahre (+/- 10 Jahre, Spanne: 39 bis 86) Je 50% leben in Ost- bzw. Westdeutschland 83% haben Kinder (+3% mit Stief- oder Adoptivkindern) 2/3 mit Partner (davon 5% in getrennten Haushalten) Familienstand: 59% verheiratet, 22% geschieden, 13% ledig, 6% verwitwet 53% Altersrentner, 12% berufstätig, 15% arbeitslos, 15% EURente N=70 (50% Stpr. der 2. Befragung) haben Anerkennung eines Haftfolgeschadens beantragt, bei N=30 ist dieser bewilligt worden 18 Haftfolgeschäden 86% gaben an, unter Spätfolgen der Haft zu leiden, 66% bezeichnen dies direkt als Haftfolgeschaden Schädigungen der „Zähne“ (50% der Befragten) wurden zu 34% auf Mangelernährung, schlechte Hygiene und mangelhafte zahnärztliche Versorgung zurückgeführt. Knapp 20% der ehemals Inhaftierten hätten auf Grund dessen früher als gewöhnlich Zähne verloren. Beeinträchtigungen der „Gelenke“, v. a. Funktionseinschränkungen und Schmerzen (40% der Befragten) 37% der Befragten klagten über Schädigungen der Wirbelsäule. (20% bringen dies mit schwerster körperliche Arbeit und schlechten Haftbedingungen in Zusammenhang) 34% mit Schädigungen des Magens. Auch hier wird Verbindung zur Mangelermährung während der Inhaftierung hergestellt (26%). 19 Körperbeschwerden Gießener Beschwerdebogen 24 - Männer 24 20 N=277 (Allgemeinbevölkerung, ab 61 J.) 16 12 8 N=123 (Ehem.polit. Inhaftierte) 4 er de n He rz be sc hw er ze n G li e de rs ch m ch we rd en ag en be s M Er sc hö pf un g 0 Gießener Beschwerdebogen 24 - Frauen 24 20 N=317 (Allgemeinbevölkerung, ab 61 J.) 16 12 N=26 (Ehem.polit. Inhaftierte) 8 er de n He rz be sc hw er ze n G li e de rs ch m ag en be s ch we rd en 0 M Verhaltenstherapie (Karger) 4 Er sc hö pf un g Verwendetes Instrument: GBB 24; Quelle: Weißflog et al. 2012, 20 ku n ris ch e I Er M nf a e kr ge ge k a t n i d. n-D ons nku n k W a S rm ran gen /B E k Er ew r kr hei kr a an eg nk ten ku Za un un ng hn gs ge en - E ap n p au r H f G au kra ara n ts tH r er und Erk kun zge Kr Ma ran n k ei sla nge ung le e uf Er -E rnä n kr r h kr d. an run N ie A ku g re n n uge / Er n- Tra gen n e ab kr E le r k um an u ku rolo iten ran ata k ng d g en isc en ung H de he a en r G Er rnw e es kra Al nk ge le O chl u rg h e n ie Zi ren cht gen / A vi -E s st lisa rk org an ra hm ti a ons nku e /A n k ut ran gen oi m khe m i un ten kr a so nk ns h. tig es Er kr an ps yc hi at Aktuelle Erkrankungen 80 70 40 30 20 10 71 60 50 40 37 33 - Datenbasis: 147 Fragebögen 27 20 18 19 16 8 7 5 4 4 4 5 0 5 - insgesamt 323 Erkrankungen, die sich in 17 Gruppen einteilen ließen - Ø 2 Erkrankungen genannt 21 Ängstlichkeit/Depressivität Verwendetes Instrument: HADS; Quelle: Weißflog et al., 2010, Psychiatrische Praxis. 22 Erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität Odds ratio OR (95% KI): 14,25 (8,59-23,61) für eine klinisch signifikante Ängstlichkeit der ehemaligen Inhaftierten OR (95% KI) von 5,75 (3,75-8,80) für eine klinisch signifikante Depressivität bei den Inhaftierten Aber: auf Grund von seelischen (körperlichen) Beschwerden in psychotherapeutischer bzw. psychiatrischer Behandlung waren 38% (27%) der Befragten 23 Lebensqualität - Funktionsbereiche 100 90 80 70 60 N=151 (Ehem.polit. Inhaftierte) 50 40 N=492 (Allgemeinbevölkerung) 30 20 10 Le be ns qu al itä t G lo ba le oz ia le Fu nk tio n Fu nk t io n S K og ni ti ve Fu nk tio n na le m ot io R ol le nf un kt io n E K ör pe rli ch e Fu nk t io n 0 Verwendetes Instrument: EORTC QLQ C30, Quelle: Weißflog et al., 2010, Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie. 24 Fi na w ie it ite fa ll ng ke ch ri g ur fu ke t it ei ke gk n en it ) z ch ke er ig si st op D er ch V flo ig m tm ch ig re it l os la za et ch ur pp S A S K S rb üd E (M nd ue ei tu t ig lle lk ie be nz Ü Fa Lebensqualität - Symptome 100 90 80 70 60 50 40 N= 151 (E h e m . p o lit . In h a ft ie rt e ) 30 20 10 N= 492 (A llg e m e in b e vö lk e ru n g ) 0 25 Soziale Folgen Zwischenmenschliche Konsequenzen • Gemütsschwankungen und Reizbarkeit • Initiativlosigkeit • Ruhelosigkeit • Misstrauen Im Rahmen der Befragung haben die TeilnehmerInnen immer wieder die Auswirkungen auf ihre Familie, auch insbesondere auf die nachfolgende Generation thematisiert 26 er z -K re i sla uf -M St P s edi of ka fw y An ech cho me n p s al ge el - h ar t e M m M ed ag tika a ur en / A ika ka ol m n D og e ar tip i hl nte m V i sch og M ta e ed ist m Er S c in ika ika - u kra hild . a nku dr ü N me eu nt lte s n rn ge enm rol e n, o at g e iv e mä dik ika Al Pr nn am le äp li e rg ., che nte ie S s /A pu G re e st hm ne nita le a m l /A Vi e ut r us nte oi t m Im m atik un a m un kr a s n H up kh or p . Au mo res ge npr siv nm äp a ar e H au dik ate t m am ed en ika te m e so nt e ns tig es H Medikamenteneinnahme 180 160 60 40 20 165 140 120 100 80 52 56 41 18 14 9 6 6 - Ø werden 3 Medikamente eingenommen 3 12 2 4 5 1 11 0 - Datenbasis: 147 Fragebögen - insgesamt 405 Medikamente, die sich in 16 Gruppen einteilen ließen (Vergleichsbasis evtl. Bundesgesundheitssurvey “Arzneimittelgebrauch” von 2003; ATC-Gruppen) 27 Ergebnisse der Interviews Politische Haft ist die zentrale Lebenserfahrung Schuldgefühle gegenüber den eigenen Familien Nach dem Ende der Haft fortgesetzte Repressionen z.B. im Betrieb Erfahrung von Arbeitslosigkeit Erfahrung von Ungerechtigkeit im Täter-Opfer-Verhältnis (Stichwort Renten) Enttäuschung über nicht erfolgte Verantwortungsübernahme der Täter Fehlende gesellschaftliche Anerkennung (Opferrente oder Ehrenpension?) 28 Sozialer & gesellschaftlicher Kontext Sekundäre Belastungen nach dem Ereignis • Unverständnis und Beschuldigungen • unverständliche Forderungen im Rahmen von Anerkennungsverfahren haftbedingter Gesundheitsschäden • Nicht-Anerkennung des persönlichen Schadens • Ignoranz gegenüber psychischen und körperlichen Traumafolgen • (potentielle) Konfrontation mit Tätern * Diese Belastungen können im Sinne zusätzlicher Risikofaktoren eine Bewältigung des Traumas erschweren. 29 Menschen nach politischer Inhaftierung in der Beratung • Patienten kommen mit „von der Gesellschaft aufgeladenen und individuell verschnürten Leidenspaket“ (Drees, 1996) • Affektisolierung: „fest verschlossene Erinnerungsboxen“ (Drees, 1996) • „Angst, dass alles Gute erneut zerstört wird, führt zu einer prinzipiellen Misstrauenshaltung“ (Hölter, 2003) • Sozialer Rückzug und Isolierung: „vergiftete Beziehungen“ (Trobisch-Lütge, 2003) • Konkret: Angst davor, den Tätern zu begegnen 30 Besonderheiten Auf Seiten der Patienten • Erlebte Entpersönlichung in der Haft führt zu intensiven Schamgefühlen • Im beraterischen/ therapeutischen Kontext erfolgt ausführliche Darstellung äußerer Ereignisse wie Verhaftungssituation, Einrichtung der Zelle im Gefängnis etc. • Stattdessen nicht: Verbalisierung tief verborgener Scham- und Schuldgefühle • Wird es von Therapeuten angesprochen Æ Gefahr für die therapeutische Arbeitsbeziehung Auf Seiten der Berater/ Therapeuten Gefahr, dass eigene Überforderung wahrgenommen wird, wenn der Patient von grauenvollen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Inhaftierung berichtet Therapeutische Arbeit „blockiert“ durch die Aufgabe der psychologischen (psychologisierenden?) Bearbeitung von gesellschaftlich Verdrängtem Æ „Herumdoktern“ 31 Traumatherapie Halten, Stabilisieren, Integrieren 1) Misstrauensabbau 2) Anerkennung des Traumas 3) Arbeitsbeziehung 4) Konfrontation 5) Kontextualisierung 6) Würdigung der Leiden (nach Trobisch-Lütge) „mit viel Geduld eine Vertrauensbeziehung schaffen“ 32 Traumatherapie Bereits vorhandene spezifische Therapieansätze • z.B. Narrative Expositionstherapie Wenige spezialisierte Anlaufstellen: Beratungsstelle Gegenwind Berlin, Behandlungszentrum für Folteropfer Potentiale onlinebasierter Beratungsangebote und Psychotherapie für „silver surfer“ (über 60jährige Onlinenutzer) Æ www.lebenstagebuch.de (für WKII) Knaevelsrud & Maercker für Patienten mit PTSD (2006, 2007, 2009) 33 Narrative Expositions-Therapie (NET) Entwickelt von Schauer, Neuner und Elbert (Konstanz) aus fragmentarischen, biographischen Erinnerungen soll eine kohärente Geschichte gebildet werden Erleichterung tritt durch die Integration und Habituation vergangener Ängste ein Aus dem sprachlosen Terror im 'Hier und Jetzt' entsteht eine in Worte gefasste, an einem anderen Ort erlebte, Vergangenheit (Vergeschichtlichung und Verortung) NET soll die Betroffenen ermutigen, ihre Lebensgeschichte und vor allem ihre belastenden Ereignisse in ihrem chronologischen Ablauf zu beschreiben Erinnerungen werden dabei auf einer kognitiven, emotionalen und sensorischen Ebene psychisch und physisch erlebt Die entstehende Autobiographie wird schriftlich festgehalten und in den nächsten Sitzungen erneut durchgearbeitet, ergänzt und korrigiert. 34 Wo werden Menschen, die in der DDR politisch inhaftiert waren, beraten? Übersicht über Angebote • bei der Stiftung Aufarbeitung, zuletzt erschienen 2006 (4. Auflage) • Ist zur Zeit vergriffen Æ aber unter https://www.stiftungaufarbeitung.de/publikationen/files/beratung2006.pdf als Pdf-Datei erhältlich im Internet: http://www.diktatur-folgen-beratung.de in der Beratungsstelle Gegenwind, im Behandlungszentrum für Folteropfer (beide Berlin) in (evangelischen) Lebensberatungsstellen Wenn lediglich vermittelt wird, ist bei der Suche nach geeigneten Beratungsstellen der Fokus der Einrichtung zu beachten • Sozialrechtlich • Psychologisch/therapeutisch • Oder beides verknüpft 35 Fazit Integration von entsprechender Expertise in bestehende Beratungsstellen durch Weiterbildungsangebote • die Besonderheiten der Beratung und Therapie nach politischer Inhaftierung müssen dabei berücksichtigt werden Gutachterschulung in Kontext der Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden Intensivierung der politischen Bildungsarbeit, v.a. mit Jugendlichen und z.B. auch in Schulen Beschäftigung mit transgenerationalen Auswirkungen nach politischer Haft 36 Staats-Sicherheiten Theaterstück „Staats-Sicherheiten“ oder „Das Reden der anderen“ Inszenierung vom Hans-Otto-Theater in Potsdam, Konzept und Dramaturgie: Lea Rosh und Renate Kreibich-Fischer, Regie: Clemens Bechtel Gastspiel am Leipziger Centraltheater am 23.2.2010 Dokumentartheater • zeigt individuelle Lebensverläufe • Möglichkeit des Einstiegs in den gesellschaftlichen Verantwortungsdiskurs © Fotos: Stefan Gloede 37 Zum Stand der Aufarbeitung einerseits „Aufarbeitungsweltmeister“ Beleg: 53.000 Veröffentlichungen, darunter 8.800 Bücher Æ Internetplattform: www.wiedervereinigung.de Andererseits: kritische Sicht auf die Aufarbeitung Juristische Aufarbeitung: wenige Gefängnisstrafen für Verantwortliche Politische Aufarbeitung: SED-Unrechtsbereinigungsgesetze Mediale Aufarbeitung: • „Das Leben der Anderen“ • „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ • „Weißensee“ 38 Opferrente „3. Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR“ Viele (kritische) Anmerkungen der BefragungsteilnehmerInnen zum durch das Gesetz geregelten Kreis der Betroffenen, die Anspruch auf die Zahlung haben (Kriterien: Mindesthaftzeit, Bedürftigkeit) Aber 96% haben Antrag gestellt oder werden dies tun 39 Opferrente 2008 Drucksache 16/11555 des Deutschen Bundestages 40 Aus der Zeitung… Leipziger Volkszeitung, 15.3.2010 41 Jahrestage… Deutsches Ärzteblatt (PP), 2009, Heft 9, 406-408. 42 Welche Auswirkungen hatte die politische Inhaftierung auf die Kinder der Betroffenen? 43 Und die Familie? Aspekte der Haftbedingungen, die die Familie besonders betrafen: ‐ Kontaktverbot und Kontaktreglementierung zu Verwandten ‐ Versuche des MfS, die Familienbeziehungen gezielt zu beeinflussen / beschädigen, z.B. Scheidung herbeizuführen ‐ Einbezug der Angehörigen in Repressionsmaßnahmen, z.B. Benachteiligungen in Ausbildung und Beruf ‐ Geburt im Gefängnis ‐ Zwangsadoptionen 44 Transgenerationale Effekte Aufruf zur Studienteilnahme in der LVZ am 30.6.2010 Fragestellungen: 1.) Gibt es transgenerationale Weitergabe nach politischer Inhaftierung in der SBZ/DDR? 2.) In welchen Lebensbereichen wirkt sich die politische Verfolgung der Eltern auf die Kinder aus? 2.) Wie bewältigen die Kinder ehemals politisch Inhaftierter die belastende Vergangenheit ihrer Eltern? 45 direkter Effekt des Traumas indirekter Effekt des Traumas Trauma Vater Mutter -psychopathologische Belastung -Veränderung der Familienfunktion -Veränderung der Bindung -Veränderung der Kommunikation kulturelle und soziale Faktoren Schutzfaktoren -psychopathologische Belastung -Veränderung der Familienfunktion -Veränderung der Bindung -Veränderung der Kommunikation Nachkommen Negative Konsequenzen des elterlichen Traumas - Alter - Geschlecht - soziale Schicht -… - Psychopathologie - Veränderung der Bindung - Veränderung der Familienfunktion - Veränderung der Kommunikation Positive Konsequenzen des elterlichen Traumas - Posttraumatisches Wachstum? Modell erweitert nach Deckel & Goldblatt, 2008 46 Methode – Studiendesign Studie I (Weißflog, Klinitzke) Studie II (Böhm) Forschungsprojekt an der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig Dissertation zu Familien politisch Inhaftierter an der Universität Leipzig 2010 – 2014 01/2010 – 02/2011 Befragung von ehemaligen Vergleich der Nachkommen von Inhaftierten, ihren Partnern/‐ ehemals pol. Inhaftierten mit der innen und ihren Kindern Allgemeinbevölkerung Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung, Berechnung von Zusammenhängen zwischen den Familienmitgliedern 47 Methode – Gewinnung der Probanden Aufrufe in Lokalzeitung „Leipziger Volkszeitung“, Verbandszeitschrift „Stacheldraht“, „Freiheitsglocke“ und im Hörfunk RBB Pressemitteilung über die Homepage der Medizinischen Fakultät Auslegen der Studieninformation: Beratungsstelle „Gegenwind“ Berlin, Bürgerverein Berlin; Zeitgeschichtliches Forum Leipzig; diverse thematische Veranstaltungen Fragebögen an Besucherreferenten/‐innen der Gedenkstätte Hohenschönhausen verteilt Unterstützung durch die LStUs Sachsen‐Anhalt, Thüringen und Mecklenburg‐Vorpommern 48 Methode – Fragestellungen Zeigen sich die Kinder ehemaliger politisch Inhaftierter stärker psychisch belastet als die Allgemeinbevölkerung? Gibt es Geschlechtsunterschiede? Bestehen Unterschiede zwischen den Kindern, die zur Haftzeit geboren waren und denen, die erst nach der Haft geboren wurden? Bestehen Korrelationen zwischen der psychischen Belastung der ehemals inhaftierten Eltern und der psychischen Belastung ihrer Kinder? 49 Methode ‐ Fragebögen Psychopathologie Ängstlichkeit (GAD‐7; Spitzer et al., 2006) Depressivität (PHQ‐9; Löwe et al., 2001) Somatoforme Symptome (PHQ‐15; Löwe et al., 2001) Posttraumatische Belastungssymptome: IES‐R (Maercker & Schützwohl, 1998) Belastung durch verschiedene psychiatrische Symptome: SCL‐27 (Hardt & Gerbershagen, 2001) Weitere Aspekte Resilienz (RS‐11; Schumacher et al. 2005) Bindung (AAS; Schmidt et al. 2004) Familie (FEE; Schumacher et al. 2000 & FB‐A; Cierpka et al. 1994) Soziale Unterstützung (ESSI, OSS‐3) Lebensqualität (SF‐12) 50 Ergebnisse – Studie I Nachkommen politisch Inhaftierter (N=43) Allgemeinbevölke rung A (N=1162) Allgemeinbevölke rung B (N=558) M=50,4 J. (21‐83 J.) M=50,4 J. (18‐92 J.) M=48,9 J. (18‐91 J.) Alter n % n % n % weiblich 27 62,8 735 63,3 349 62,5 männlich 16 37,2 427 36,7 209 37,5 ohne Abschluss 0 0,0 6 0,5 4 0,7 Haupt‐/Volksschule 2 4,8 218 18,8 93 16,7 mittlere Reife/ Realschule/POSa 10 23,8 193 16,6 106 19,0 Fachschule 5 11,9 33 2,8 20 3,6 Hochschulreife/Abitur 25 59,5 712 61,3 335 60,0 Geschlecht Schulabschluss* Klinitzke et al., 2012 26 Befragte lebten bereits als Mutter, Vater oder beide inhaftiert waren (Durchschnittsalter 12 Jahre), 17 waren noch nicht geboren 51 Ergebnisse – Studie I Klinitzke et al., 2012 Aber: keine Geschlechtsunterschiede innerhalb der Gruppe der Nachkommen politisch Inhaftierter in der SBZ/DDR 52 Ergebnisse – Studie I 53 Ergebnisse – Studie I Anzahl der Störungen (n=43) Æ n=3 zeigen eine Posttraumatische Belastungsstörung (9,1%) Æ zum Vergleich: 2,1% in der Allgemeinbevölkerun g (Maercker et al., 2008). 54 Ergebnisse – Studie I Traumatisierungserfahrungen der Nachkommen 55 Ergebnisse – Studie I Unterschiede in der psychischen Belastung in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Geburt? 56 Ergebnisse – Studie I Es machte keinen Unterschied für die psychische Belastung, ob die Eltern in der SBZ oder der DDR inhaftiert waren. ob Mutter oder Vater oder beide inhaftiert waren. ob die oder der Inhaftierte nach der Haft in der DDR oder in der BRD lebte. 57 Ergebnisse – Studie I Resilienz = Widerstandskraft gegenüber ungünstigen Umwelteinflüssen 58 Ergebnisse – Studie I Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung tendenziell mehr Distanzverhalten tendenziell weniger Vertrauen kein Unterschied in Bezug auf Verlustängste 59 Ergebnisse – Studie II Korrelationen (Kendalls Tau) zwischen psychiatrischen Symptomen der Eltern und denen ihrer Kinder (SCL‐27). E K GSI‐27 Depressive Symptome Dysthyme Symptome Vegetative Symptome Agoraphobische Symptome Sozial phobische Symptome Misstrauen 0,27* 0,20 0,27* 0,16 0,22 0,26* 0,34** Depressive Symptome 0,32** 0,27* 0,31* 0,18 0,27* 0,27* 0,34** Dysthyme Symptome 0,19 0,16 0,17 0,05 0,20 0,16 0,21 Vegetative Symptome 0,23 0,20 0,21 0,26* 0,21 0,12 0,29* Agoraphobische Symptome 0,11 0,04 0,12 0,12 0,11 0,12 0,20 Sozial phobische Symptome 0,19 0,14 0,19 0,12 0,17 0,23 0,27* 0,29* 0,16 0,32** 0,12 0,19 0,33* 0,41** GSI‐27 Misstrauen 60 Fazit Studie I Gegenüber repräsentativen Bevölkerungsstichproben zeigten sich die hier befragten Kinder ehemaliger politisch Inhaftierter (SBZ/DDR) in den Dimensionen Ängstlichkeit, Depressivität, somatoforme Symptome und PTBS stärker psychisch belastet – unabhängig davon, ob sie zur Haftzeit bereits geboren waren oder nicht. Aber: Nicht alle Befragten berichten eine psychische Belastung Studie II höhere Zusammenhänge zwischen verschiedenen psychopathologischen Symptomen in Familien mit inhaftierten Eltern bzw. Elternteil im Vergleich zu populationsbezogenen Familienstudien, dort zwischen r=0.12 und 0.16 für Angst u. Depression (Czajkowski et al. 2010) 61 Diskussion Vulnerabilität für psychische Störungen bei den Nachkommen politisch Inhaftierter andere Störungsbereiche bei den Nachkommen? Transgenerationale Weitergabe vs. eigene Traumatisierung? Spezifität der „Weitergabe“ psychischer Belastung ÆMechanismen ÆRolle anderer Faktoren wie Familienklima, Eltern‐Kind‐ Bindung, persönliche Ressourcen u.a. Größe und Selektivität der Stichprobe 62 Kognitive Neurowissenschaft Übersichtsartikel zum Zusammenhang von PTSD und Hirnveränderungen (Neuroimaging bei PTSD: Bremner JD, 2007; Meta-Analyse von Karl, Schaefer et al., 2006) Experimentelle Arbeiten zu PTSD und Hirnveränderungen • • • Forschungsgruppe SOSS (Science of Social Stress, DFG 2006 bis 2012) • Mollica et al., 2009: „Brain structural abnormalities and mental health sequelae in South Vietnamese Ex-Political detainees who survived traumatic head injury and torture“ (Arch Gen Psychiatry) Æ dort Haupteffekt eher für traumatic head injury Æ Thomas Elbert (Vielzahl an Arbeiten) Æ Kolassa et al, 2007: „Altered oscillatory brain dynamics after repeated traumatic stress“ (BMC Psychiatry) Mögliche Studienansätze • Überprüfung der Korrelation zwischen Amygdala und Torture in der Kohorte der unmittelbar Betroffenen, d.h. bei den ehemals politisch Inhaftierten • oder Überprüfung, ob in der zweiten Generation Hirnveränderungen vorliegen, die mit den Erlebnissen der ersten Generation korrelieren • …. 63 Ausgewählte Publikationen Weißflog G, Klinitzke G, Böhm M (2014). Politische Haft in der ehemaligen DDR und ihre gesundheitlichen Folgen. Psychoanalyse im Widerspruch. Weißflog G, Brähler E. (in press). Political Persecution in the German Democratic Republic Between 1949 and 1989 and Its Consequences for Mental and Physical Health. In Lindert J & Levav I (Eds.): Violence and Mental Health: Its Manifold Faces. Springer: New York. Klinitzke G, Böhm M., Brähler E., Weißflog G. (2012). Ängstlichkeit, Depressivität, Somatisierung und Posttraumatische Belastungssymptome bei den Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland (1945‐1989). Psychother Psych Med, 62; 18‐24 Beer K. & Weißflog G (2011). Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen. Göttingen, V&R unipress. Maercker A, Schützwohl M (1997). Long‐term effects of political imprisonment: a group comparison study. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol, 32, 435‐442 64 Publikationen zum Thema 65 In Büchern verarbeitet… • Populär sind: – – – • Erich Loest „Durch die Erde ein Riss“ (1990) & „Prozesskosten“ (2007) Jürgen Fuchs „Magdalena“ (1998) Walter Kempowski: „Im Block“ (1969) Weniger bekannt: – – – – – Angela Kowalczyk: „Sicher verwahrt – Stasiknast und medizinische Versorgung“; "Punk in Pankow", "Negativ und Dekadent", "Auch Dich werden wir in den Griff bekommen..." Wolfgang Welsch: "Ich war Staatsfeind Nr. 1“ Karl-Heinz Richter: "Mit dem Moskau-Paris-Express in die Freiheit" Baldur Haase: "Briefe, die ins Zuchthaus führen" Martin Lauer: "Mein Buch Sehnsucht“ 66 Heilt die Zeit die Wunden? Tempus vincit omnia oder Dies levat luctum? Der Schmerz wird gelindert, aber nicht alle Wunden geheilt. Belege hierfür sind vor allem die Ergebnisse des Vergleichs mit den Repräsentativdaten aus der deutschen Allgemeinbevölkerung. 67 Der Dank an… die Kolleginnen und Kollegen… …und die vielen Menschen, die uns bei unserer Forschung unterstützt haben, indem sie uns über schmerzliche Erfahrungen in ihrer Biografie berichtet haben! 68 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: [email protected]‐leipzig.de 69