1. Aphasie und Polemik »Mit der gefräßigen Aneignung völlig belangloser Einzelheiten und der Fähigkeit zur Aufnahme ganzer Regale voller zerfallender Schriftstücke – samt Untersuchungsprotokollen, die vielleicht niemand (einschließlich des Schreibers) je gelesen hat – ist die Geschichtsschreibung auf diesem Weg vorangeschritten, auch wenn sie sich im allgemeinen hinsichtlich der eigenen Gründe geirrt hat: Scharen von Forschern haben gemeint, sie kämen beim Durchforsten von Papierbergen der Gewißheit näher, oder sie haben beim Ausbreiten ihrer Zahlenwerke und Tabellen sogar geglaubt, mit der Naturwissenschaft gleichzuziehen. Doch je mehr sie die Rohdaten einkreisten, desto deutlicher ließen sie die stumme Rätselhaftigkeit jeder geschichtlichen Fährte zum Vorschein kommen. Hinter diesen Namen, diesen beglaubigten Dokumenten, diesen juristischen Aktenbündeln tat sich die gewaltige Aphasie des sich in sich selbst verschließenden, mit einem Früher und Später nicht in Berührung kommenden Lebens auf.«1 Dieses vernichtende Urteil gilt sicher nicht für die ganze Geschichtsschreibung, sei sie literarischer oder wissenschaftlicher Art. Die Aphasie mag gewaltig sein, vollkommen ist sie wohl nie. Obwohl sich die Witwe Camus in ihrer fast völligen Stummheit dem Früher und Später verschließt, erschließt uns ihr Sohn ihr Leben.2 Noch den Stummsten, weil Unbekanntesten, kann man zum Sprechen bringen.3 Umso schlimmer steht es um die Soziologiegeschichtsschreibung. Die Klassiker der Soziologie litten zwar nur unter partieller Aphasie. Doch nicht einmal das haben ihre Geschichtsschreiber diagnostiziert. Man hat den Eindruck, als umkreisten sie einen Komplex von Zufällen, an dem sich bei näherem 1 2 3 Roberto Calasso, Der Untergang von Kasch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 220. Albert Camus, Der erste Mensch. Reinbek: Rowohlt 1995. Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben. Frankfurt am Main, New York 1999. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 7 Hinsehen alles – einschließlich des Namens »Soziologie« – als ein Knäuel aus Unschärfen erweist.4 Um dieser Rätselhaftigkeit ein Ende machen und eine Geschichte der Soziologie schreiben zu können, ist eine richtige Diagnose erforderlich, die sich freilich nur auf der Folie eines adäquaten geistes- und sozialgeschichtlichen Bezugsrahmens stellen lässt. Im Folgenden wird es also zunächst um die Entwicklung eines solchen Rahmens gehen. Dieser Rahmen wird zwangsläufig abstrakt sein, in den nächsten Kapiteln aber mit konkreten Inhalten gefüllt werden. Beginnen wir mit der Klärung des Begriffs der Aphasie! Die Sprachwissenschaft hat gezeigt,5 dass es in der Sprache auf das Zusammenwirken zweier verschiedener, sich ergänzender Verfahren ankommt. Erstens: Beim Sprechen wählt man stets zwischen verschiedenen Möglichkeiten aus, etwa zwischen Synonymen. Die Selektion und Substitution eines Wortes oder Satzes durch andere Worte oder Sätze stellen zwei Erscheinungsformen desselben Verfahrens dar, das auf dem Prinzip der Similarität beruht. Similarität (von lat. similis = ähnlich) ist eine Relation der Ähnlichkeit im weitesten Sinne, wenn sich zum Beispiel A und B gleichen oder wenn sie entgegengesetzt sind oder wenn A komplexer ist als B oder wenn A durch B ersetzt wird, etc. Zweitens: Jede sprachliche Einheit (Wort, Satz, Diskurs) besteht aus einfacheren Einheiten (Laute/Buchstaben, Wörter, Sätze). Die höhere Einheit bildet den Kontext der einfacheren Einheiten und findet ihren eigenen Kontext in einer noch höheren Einheit. Die Kombination von Einheiten und ihre Kontextbildung stellen ebenfalls zwei Erscheinungsformen desselben Verfahrens dar, das auf dem Prinzip der Kontiguität beruht. 4 5 8 Ich folge hier der Polemik, die Peter Sloterdijk in Bezug auf das Wort Europa – und damit auf eine affi ne Problematik – formuliert hat; siehe Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 32-33. Roman Jakobson und Morris Halle, Fundamentals of Language. Den Haag: Mouton 1956, S. 53-82; Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. Ich folge hier den diesbezüglichen Ausführungen von Horst Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Semantik der historisch-politischen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 24-26. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Kontiguität (von lat. contiguus = angrenzend, anstoßend, zusammenhängend) ist eine Relation des faktischen Zusammenhangs, wenn zum Beispiel A und B benachbart sind oder wenn sie aufeinandertreffen, wenn A die Ursache von B ist oder wenn A aus B hervorgeht, etc. Das vollständige Sprechen besteht im Ineinanderwirken beider Verfahren: »Mit der Similarität […] und der Kontiguität […] sind die beiden Relationen benannt, auf denen die sprachlichen Verfahren auf allen Ebenen (phonologische, morphologische, syntaktische und semantische) beruhen. Die Selektion substituierbarer Elemente bildet ein Verhältnis der Similarität; die Kombination dieser Elemente in einem Kontext bildet ein Verhältnis der Kontiguität.«6 Diese beiden Verfahren erinnern an die Tropen der Rhetorik. Deswegen kann man von »metaphoric and metonymic poles« der Sprache reden.7 Die Metapher beruht auf dem Prinzip der Similarität und drückt eine – gedachte – Relation zwischen ähnlichen, inhaltlich aber nicht benachbarten Phänomenen aus, zwischen denen man eine Bedeutungsübertragung vornimmt. In der Metapher »Achill ist ein Löwe« wird die Stärke des Raubtiers auf den Krieger übertragen; in der Metapher »Lebensabend« das Ende des Tages auf das Alter. Die Metonymie hingegen beruht auf dem Prinzip der Kontiguität und drückt eine – reale – Relation zwischen inhaltlich benachbarten Phänomenen aus, zwischen denen man ebenfalls eine Bedeutungsübertragung vornimmt. Diese Relation kann qualitativ sein wie zwischen Person und Sache (»Vergil lesen« statt seines Werks), zwischen Gefäß und Inhalt (»Das Theater jubelt« statt der Zuschauer), zwischen Grund und Folge (»Bachus’ Gabe«), zwischen Abstraktum und Konkretum (»Das Gericht urteilt« statt der Richter), etc. Sie kann aber auch quantitativ sein wie zwischen Teil und Ganzem (»Segel« statt Schiff ), zwischen Gattung und Art (»Sterbliche« statt Menschen), zwischen Singular und Plural (»der Brite« statt die Briten), etc. In vollständigen sprachlichen Äußerungen wirken beide Verfahren ineinander, wobei die Art, in der sie der Sprecher verwendet, 6 7 Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 27. Jakobson und Halle, Fundamentals of Language, S. 76-82; Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 24-26. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 9 seinen Stil charakterisiert. Bei Aphasie ist mindestens eines dieser Verfahren gestört. Sind Selektion und Substitution, die auf dem Prinzip der Similarität beruhen, gestört, geht die Wortfindung verloren. Dann kann man von einem Wort weder ein Synonym oder das entsprechende Wort einer anderen Sprache finden noch Umschreibungen bilden, was den Verlust von Mehrsprachigkeit und die Beschränkung auf einen Dialekt zur Folge hat. Dem entspricht, dass Aphasiker, deren Fähigkeit zur Selektion und Substitution gestört ist, keine Metaphern mehr verwenden, sondern nur noch Metonymien. Sind hingegen Kombination und Kontextbildung, die auf dem Prinzip der Kontiguität beruhen, gestört, geht die Satzbildung verloren. Der Satz zerfällt zur Wortanhäufung, das Sprechen beschränkt sich auf Äußerungen von einem Satz oder auf Sätze aus einem Wort. Dabei schwindet die Fähigkeit zur syntaktischen Koordination, Wörter mit rein grammatischer Funktion wie Konjunktionen, Präpositionen und Pronomina kommen nicht mehr zur Anwendung. Dem entspricht, dass Aphasiker, deren Fähigkeit zur Kombination und Kontextbildung gestört ist, keine Metonymien mehr verwenden, sondern nur noch Metaphern. Solange die Aphasie nicht pathologisch wird und die Grenze des Verstehbaren überschreitet, charakterisiert sie also einen – störungsspezifischen – Stil. Dies gilt auch für sprachliche Äußerungen, die Anschauungsweisen der sozialen Wirklichkeit enthalten. Auch hier gibt es vollständige Äußerungen, in denen sowohl das Similaritäts- als auch das Kontiguitätsprinzip zur Anwendung kommen, und unvollständige Äußerungen, in denen eines der Verfahren zu Lasten des anderen überwiegt. Handelt es sich dabei nicht nur um mündliche Äußerungen des Alltags, sondern um schriftlich fi xierte, die eventuell sogar die Form von Theorien haben, hat man es weniger mit schiefen Synonymen und unbeholfenen Umschreibungen oder unzusammenhängenden Wortanhäufungen und Einwortsätzen zu tun. Gleichwohl lassen auch ein exklusiver Gebrauch von Metaphern oder Metonymien sowie Denkstrukturen, die auf Metaphern oder Metonymien beruhen, auf einen störungsspezifischen Stil schließen. Mit begriffsgeschichtlichen Studien von Erich Auerbach und Leo Spitzer 10 WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 kann man zwei solche unvollständige Anschauungsweisen charakterisieren, die von grundlegender Bedeutung auch für die Soziologiegeschichtsschreibung sind: das Konzept »Figura« als Beispiel für eine metaphernspezifische Denkstruktur und das Konzept »Milieu« als Beispiel für eine metonymiespezifische Denkstruktur.8 Auerbach zufolge stammt das Konzept »Figura« aus der antiken Rhetorik, in der es generell die figürliche, also gestaltete Redeweise bezeichnete. Im frühen Christentum erhielt es eine neue Bedeutung als Deutungsmuster der Geschichte. Ebenso wie die Metaphernbildung stellt die Figuraldeutung eine Beziehung zwischen zwei inhaltlich nicht benachbarten Phänomenen aufgrund ihrer Ähnlichkeit her. Diese Beziehung wird als eine zeitliche konstruiert, wobei das frühere Phänomen das spätere andeutet, das spätere das frühere hingegen erfüllt; insofern ist das frühere eine Realprophetie des späteren. Paulus benutzte dieses Verfahren, um Personen und Geschehnisse des Alten Testaments als Realprophetien der Heilsgeschichte des Neuen Testaments zu deuten. Dadurch machte er aus einem Gesetzes- und Geschichtswerk der Juden eine Vorgeschichte der Christen, »in der nichts endgültige Bedeutung, sondern alles nur Vorbedeutung ist, welche sich jetzt erfüllt hat; in der alles ›für uns geschrieben‹ (1. Kor. 9,10, vgl. Röm. 15,4) ist und in der eben die bedeutendsten und heiligsten Vorgänge, Sakramente und Gesetze vorläufige Vorformen und Figurationen Christi und des Evangeliums sind«.9 Weil es kein jüdisches Gesetz- und Geschichtswerk mehr war, konnte es zum Instrument der Missionierung werden und den bekehrten Völkern einen »Grundbegriff der Weltgeschichte« vermitteln, »der durch seine Verknüpfung mit dem Glauben überaus eindringlich war und der fast ein Jahrtausend der einzig gültige blieb. Dadurch aber mußte die in der Figuraldeutung enthaltene Auffassungsweise zu einem der wichtigsten Aufbauelemente ihres Wirklichkeits- und Geschichtsbildes, ja ihrer Sinnlichkeit überhaupt werden.«10 8 9 10 Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 12-17. Erich Auerbach, Figura, S. 55-92 in: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern: Francke 1967, hier S. 76. Ebd. S. 77. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 11 Günther merkt dazu an, dass aus diesen Similaritätsrelationen, die man zwischen früheren und späteren Phänomenen herstellt, ein teleologisches Deutungsmuster der Geschichte abgeleitet werden kann, das zeitlich und räumlich nicht zusammenhängende Phänomene aufeinander bezieht, um sie aus der Perspektive einer durch Offenbarung gewissen Zukunft, die der Gegenwart erst ihren Sinn verleiht, zu interpretieren.11 Dabei werden die Relationen zwischen den Phänomenen, welche oft nur eine »schattenhafte« Ähnlichkeit haben,12 willentlich und mehr oder weniger willkürlich konstruiert. Motiviert durch das deutende Verstehen, macht diese Konstruktion das einzelne Phänomen austauschbar im Rahmen einer im Ganzen bereits gesicherten Deutung der Geschichte. Alles in allem bezeichnet das Konzept »Figura« eine Anschauungsweise der sozialen Wirklichkeit, die typisch ist für die teleologische Weltsicht der Antike und des Mittelalters. Dieser Perspektive zufolge, die in der »aristotelischen causa finalis« ihren Ursprung hat, wird »die Gegenwart von der Zukunft her bestimmt: das Ziel der Veränderung liegt fest. Dies fand seinen unmittelbaren Ausdruck im mittelalterlichen Lebensgefühl einer Hinorientierung jedes Lebens, jedes Augenblicks auf das allein belangvolle, in der Zukunft liegende Ereignis des Jüngsten Gerichtes. Geschichte ist hier immer nur Vorgeschichte.«13 Spitzer zufolge geht das Konzept »Milieu« auf eine Übersetzung des Begriffs »medium« zurück, den Isaac Newton im Anschluss an antike Äther- und Raumvorstellungen benutzt hat, um die im leeren Raum zwischen den Himmelskörpern wirkenden physikalischen Kräfte zu erklären: »According to him the attraction of the stars is due to tension in the ether«.14 Außer diesem »Aetherial medium«, das als »intermediary (agent)«, als »conveyor, transmittor of attractive forces« fungiert, kennt Newton noch weitere Medien, so ein »ambiant 11 12 13 14 12 Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 28 Auerbach, Figura, S. 65. Hans Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung. Stuttgart: Reclam 2004, S. 270. Leo Spitzer, Milieu and ambiance: an essay in historical semantics, in: Philosophy and Phenomenological Research 3, 1942/43, S. 1-42 u. 169-218, hier S. 35. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 medium«, das er sehr unspezifisch benutzt, um etwas Umgebendes zu bezeichnen: »it [...] has a narrowly local significance, used for the practical purpose of emphasizing the immediately surrounding element of any given substance (it appears in Samuel Clark’s Latin translation of the Opticks as medium circumjacens, circumjectum). And it is also the least vital of all the mediums; it need have no property save that of contiguity.«15 Dennoch setzte sich nicht Aetherial, sondern ambiant durch, nachdem Mme de Châtelet medium ins französische milieu übersetzt hatte: »What was destined to survive, to become so deeply rooted in the language as to continue to put forth new fruit, is the phrase ›milieu ambiant‹ = the element immediately surrounding a given body.«16 Im 18. Jahrhundert übernimmt die Biologie diesen Begriff, was zu einer metonymischen Bedeutungsübertragung im Sinne von Grund und Folge führt: »milieu ambiant continues to refer to the ›element surrounding a given body‹ – in biological terms, the media in which experiments with bacteria-culture were carried out. But now this ›surrounding element‹ is that which environs, not an inert substance, as in physics, but a living being; milieu ambiant represents the element in which an organism lives and upon which it depends for sustenance«.17 Zukünftig sollte der Begriff milieu nicht nur ein Umgebendes, sondern auch ein Bedingendes bezeichnen. Honoré de Balzac übertrug ihn im 19. Jahrhundert in seiner Comédie humaine erstmals auf die soziale Wirklichkeit, um den Einfluss der Gesellschaft auf das Individum zu illustrieren: »once the term is used to refer to the environment of a living being, be it man or beast, there must necessarily be present an emphasis on the determining, conditioning efficacy of the milieu, for it is indispensable to the life of the organism«.18 Günther weist darauf hin, dass aus den Kontiguitätsrelationen, die zwischen tendenziell unbegrenzten Phänomenen der räumlichen Umgebung und der zeitlichen Vorgeschichte und einem bestimmten 15 16 17 18 Ebd., S. 37 u. 40. Ebd., S. 173. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 13 Phänomen bestehen, ein kausales Erklärungsmuster abgeleitet werden kann, das die Wirkungen aus den Ursachen des raum-zeitlichen Kontextes determinativ bestimmt.19 Dieses Erklärungsmuster hat nichts Willentliches und Willkürliches, sondern ist seiner Tendenz nach vollständig und zwingend. Es sichert das verursachte Phänomen, während die Zurechnung seiner verursachenden Phänomene anzweifelbar ist. Alles in allem bezeichnet das Konzept »Milieu« eine Anschauungsweise, die typisch ist für die neuzeitliche kausale Weltsicht und darauf abzielt, »diejenigen Gesetze zu ermitteln, die es gestatten, […] aus je gegebenen Bedingungen in Prognosen jeden künftigen und in Retrodiktionen jeden vergangenen Zustand der Welt zu berechnen. Die Erweiterung um statistische Gesetze, gar als quantentheoretische Grundgesetze, schien hieran nichts Wesentliches zu ändern, galten sie doch nur für den Bereich des Mikrokosmos, während sich makroskopische Phänomene weiterhin kausal deuten ließen. Diese an der Physik orientierte Sicht war seit der Renaissance so mächtig geworden, daß sie zeitweilig zum Leitbild der Wissenschaftlichkeit schlechthin geworden war; selbst die Geisteswissenschaften, von den Sozialwissenschaften zu schweigen, hatten sich ihm anbequemen sollen«.20 Das auf dem Similaritätsprinzip beruhende, der Struktur der Metapher folgende teleologische Verfahren und das auf dem Kontiguitätsprinzip beruhende, der Struktur der Metonymie folgende kausale Verfahren bezeichnen unterschiedliche Weisen, sich intellektuell zur Welt zu verhalten: »Das eine Mal deutend und verstehend, indem man aufgrund von Motivation für ähnlich gehaltene Tatsachen aufeinander bezieht, das andere Mal, indem man ein Phänomen aufgrund räumlicher, zeitlicher und kausaler Determination aus seinen Faktoren erklärt.«21 Der ausschließliche oder zumindest überwiegende Gebrauch eines dieser Verfahren zeugt von einer unvollständigen Anschauungsweise der sozialen Wirklichkeit. Er lässt sich als Ausdruck von Aphasie begreifen und charakterisiert einen 19 20 21 14 Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 14, 16-17 u. 28. Poser, Wissenschaftstheorie, S. 266-267. Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 29. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 störungsspezifischen Stil mit einem Übergewicht an metaphernspezifischen Denkstrukturen im Fall der Teleologie und an metonymiespezifischen Denkstrukturen im Fall der Kausalität. Die Bezeichnungen »Teleologie« und »Kausalität« weisen nun aber schon darauf hin, dass sich hinter dieser Unterscheidung die Unterscheidung von Geist und Sinnlichkeit verbirgt, die das abendländische Denken seit jeher prägt: »Das erste organisierte und allumfassende Weltbild ist dualistisch, d. h. es entsteht auf der Grundlage der ›Entdeckung‹ des Geistes bzw. der Geister, die vom Sinnlich-Wahrnehmbaren getrennt sind und dessen Schicksale lenken sollen. Es ist daher kein Zufall, wenn Philosopheme, die für die geistige Tradition des sogenannten Abendlandes maßgeblich geworden sind, dem Dualismus, d. h. der grundsätzlichen Entgegensetzung von Geist und Sinnlichkeit huldigen.«22 Selbst monistische Positionen sind davon nicht ausgenommen, stellen sie doch Versuche der Überwindung dieses Dualismus dar, die einen seiner Pole verabsolutieren. In Begriffspaaren wie Gott versus Welt, Subjekt versus Objekt, Sollen versus Sein (aber auch Sein versus Schein), Naturrecht versus positives Recht, Intellekt versus Sinne, Seele versus Körper, Vernunft versus Trieb, Vernunft versus Geschichte oder eben Teleologie versus Kausalität, pflanzt sich dieser Dualismus fort. Er ist das zentrale Problem aller Philosophie sowie aller Wissenschaften, die mehr als nur applied sein wollen. Dies gilt auch für die Soziologie, die im Kielwasser der Aufklärung entstand und sich wie diese nur im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus angemessen begreifen lässt, nämlich als »ein Versuch oder vielmehr eine Vielfalt von Versuchen, die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten«.23 Dass sie ebenso vielfältig wie die Aufklärung ist, überrascht nicht, sondern ist logische Folge und Ausdruck der Polemik, die der Dualismus von Geist und Sinnlichkeit hervorruft. Die Positionen, die sich aus den vielfältigen Antworten auf die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit ergeben, 22 23 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (Klett-Cotta) 1986, S. 9. Ebd., S. 19. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 15 sind nicht nur verschieden, sondern gegensätzlich. Der klassischen Logik zufolge ist ein Gegensatz kein einfacher Unterschied, dessen Momente A und B gleichgültig auseinander fallen. Vielmehr sind A und B negatorisch durcheinander bestimmt. Das andere Moment (B) ist nicht irgendein anderes Moment, sondern das andere des einen Moments (A), mithin sein Anderes bzw. das Andere seiner selbst. B ist nicht-A und A ist nicht-B. Dies ist freilich nur dann der Fall, wenn man beide Momente in ein und derselben Hinsicht betrachtet. Die Momente müssen »in einer Identität verschiedene« sein, um einen Gegensatz zu bilden.24 Ein Moment ist nur dann mit der Negation eines anderen Moments identisch, wenn es die Bestimmung von etwas ist, hinsichtlich dessen das andere Moment die ausschließende Gegenbestimmung ist. Dieses Etwas ist in unserem Fall die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit. Wie die Ideengeschichte zeigt, findet die Suche nach der wahren Antwort stets »im Rahmen des Kampfes gegen einen Gegner statt, und da dieser der ›Wahrheit‹ im Wege steht, so wird die letztere notwendig polemisch«.25 Betrachtet man jenseits der ideengeschichtlichen auch die sozialgeschichtliche Dimension mit ihrer Fülle an Personen und Gruppierungen, die ihre Antworten zur Begründung von Machtansprüchen benutzen, wird vollends plausibel, dass jede Antwort eine Position markiert, aus der zwangsläufig eine Gegenposition entsteht, die wiederum eine Gegenposition nach sich zieht, usw. Was sich über die Kunst formulieren lässt, gilt mutatis mutandis für unseren Zusammenhang: »Das Altern der Autoren, Werke oder Schulen ist etwas ganz anderes als ein mechanisches Abgleiten in die Vergangenheit: es wird erzeugt im Kampf zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überleben kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen 24 25 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II. Werke, Bd. 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 55. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 112113. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht. Epoche machen, das heißt untrennbar damit auch: eine neue Position jenseits der etablierten Positionen, vor diesen Positionen, als Avantgarde entstehen zu lassen und mit der Einführung der Differenz die Zeit zu schaffen.«26 Dadurch entsteht eine Vielfalt gegensätzlicher Positionen als polemische Variationen ein und desselben Themas: »In der Polemik aller gegen alle bzw. der philosophischen Parteien gegeneinander entsteht – je nach dem Ziel der Polemik bzw. dem vorschwebenden Ideal – die Vielfalt der Variationen über ein und dasselbe Thema, d. h. über die Grundfrage, um die sich die Polemik dreht. Die logische Struktur der Grundfrage bildet die konstante und zugleich unumgängliche Größe, die Grundhaltungen und die Polemiken sind die variablen und auswechselbaren Faktoren: so entsteht das allgemeine geistige Bild der Zeit in seiner Mannigfaltigkeit, während sich das besondere Bild des Werkes eines jeden Denkers aus der Kreuzung der logischen Struktur der Grundfrage mit der jeweiligen Grundhaltung ergibt.«27 Mit Grundhaltung ist hier eine letztlich nicht begründbare und insofern irrationale Einstellung im Sinne einer Weltanschauung gemeint, welche die Basis von Polemik bildet. Als solche ist sie jedoch rationalisierbar, so dass der Begriff »Rationalismus« definiert werden kann als »die zweckmäßige, formallogisch einwandfreie Verwendung der argumentativen Mittel, die das Denken zur Verfügung stellt, zur Untermauerung einer Grundhaltung«.28 Eine religiöse Grundhaltung lässt sich ebenso rationalisieren wie eine wissenschaftliche, eine politische nicht weniger als eine ästhetische, wobei der Rationalismus stets an den jeweiligen Inhalt gebunden ist, den er rationalisieren soll.29 Tatsächlich muss jede Grundhaltung, die sich gegenüber 26 27 28 29 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 253. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 20. Ebd., S. 36-37. Ebd., S. 40. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 17 anderen Grundhaltungen durchsetzen möchte, rationalisiert werden: »Sie muß in polemischer Hinsicht überzeugend sein können, was nicht immer und notwendig von ihrem Wahrheitsgehalt abhängt noch von der Stichhaltigkeit ihrer immanenten Kritik an den Positionen des Gegners: genug, wenn sie als allseitige und zugleich in sich geschlossene Alternative erscheint.«30 In unserem Zusammenhang geht es um die beiden Grundhaltungen und ihre verschiedenen Rationalisierungen – um die antike und mittelalterliche sowie um die neuzeitliche –, die als »longue durées«31 das okzidentale Denken und Handeln maßgeblich geprägt haben.32 Grob gesprochen überwiegt in der Ersten der Geist, während es in 30 31 32 18 Ebd., S. 111. Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften – Die »longue durée«, S. 189-215 in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972. Die nachfolgende Rekonstruktion des antiken und mittelalterlichen Rationalismus stützt sich auf die einschlägigen Artikel der maßgebenden philosophischhistorischen Lexika. Siehe insbesondere Gerhard Dohrn-van Rossum, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, S. 519-560 in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriff e. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978; Karl-Rolf Grawert, Gesetz, S. 863-922 in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriff e. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1975; Christoph Horn, Wille, Sp. 763-769 in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004; Anton Hügli, Willensschwäche, Sp. 800-809 in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004; Heinz Ilting, Naturrecht, S. 245-313 in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriff e. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Die Rekonstruktion des neuzeitlichen Rationalismus sowie der Aufklärung in ihrem Rahmen folgt im Wesentlichen Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus; siehe auch Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, S. 719-800 in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriff e. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1975. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 der Zweiten – auch – um eine Rehabilitation der Sinnlichkeit geht. Anders ausgedrückt: In der Ersten herrscht die auf einer metaphernspezifischen Denkstruktur beruhende Teleologie vor; in der Zweiten versucht man, die auf einer metonymiespezifischen Denkstruktur beruhende Kausalität durchzusetzen. Die Studien von Auerbach und Spitzer stellen zwei solche typische Denkstrukturen vor. Dabei bildet sich die Zweite in der Polemik gegen die Erste heraus. Sie kämpft gegen die Annahme, dass der als Gott konzipierte Geist der wahre Seinsgrund und als solcher zugleich der Garant der wahren gesollten Ordnung sei. Dass sie dadurch einen Relativismus in ontologischer und einen Nihilismus in normativer Hinsicht befördert, schlägt sich im Doppelcharakter der Aufklärung nieder, die in diesem Rahmen als gemeinsamer Nenner verschiedener möglicher Positionen entsteht. Manche dieser Positionen setzen die Polemik gegen den antiken und mittelalterlichen Rationalismus unentwegt fort, während sich andere angesichts des drohenden Relativismus und Nihilismus wieder dem Geist zuwenden: »zu seinen höheren Erkenntnisfähigkeiten wird Zuflucht genommen, sobald es um den ontologischen Grund geht, dessen Erkenntnis vor allem dann als objektiv und unwiderlegbar ausgegeben werden muß, wenn er eine bestimmte moralisch-normative Wertskala untermauern bzw. rechtfertigen soll. Erst der Geist erschließt die jeweils ›wahre‹ Welt des Seins und des Sollens.«33 In diesem doppeldeutigen Rahmen der Aufklärung ist auch die Soziologie als gemeinsamer Nenner verschiedener möglicher Positionen entstanden. Verständlich, dass sie einen ebenso gespaltenen, von Polemik strotzenden Eindruck hinterlassen hat. Wenn man die Geschichte dieser Disziplin schreiben will, bedarf es folglich einer Rekonstruktion der Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, der seinerseits nur in seiner Polemik gegenüber dem antiken und mittelalterlichen Rationalismus verständlich wird. Denn erst auf der Basis einer Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung des teleologischen Denkens wird die Entstehung und Entwicklung des kausalen Denkens, aber auch die Rückkehr zur Teleologie nach33 Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 14. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 19 vollziehbar, die sich in der Aufklärung – und der Soziologie – findet. Insofern gehören Aristoteles und Paulus ebenso zur Geschichte der Soziologie wie Isaac Newton und Francis Bacon; Aurelius Augustinus und Joachim von Fiore nicht anders als Blaise Pascal und Gotthold Ephraim Lessing; von Thomas Hobbes, Montesquieu, Bernard Mandeville und Anne Robert Jacques Turgot ganz zu schweigen. Eine Soziologiegeschichte, die bei Auguste Comte, dem Namensgeber dieser neuen Wissenschaft »Soziologie«, beginnt und allenfalls noch zeitgenössische Autoren wie Henri de Saint-Simon und Karl Marx streift oder es sich gar noch einfacher macht und mit dem Dreigestirn Durkheim/Simmel/Weber anfängt, wird keinen einzigen dieser Klassiker begreifen und vor allem nicht zeigen können, warum die gegensätzlichen soziologischen Positionen gleichwohl eine Einheit konstituieren, auch wenn sie in sich gegensätzlich ist. Diese in sich gegensätzliche Einheit, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstituiert hat, vollständig darzustellen, ist weder möglich noch notwendig.34 Die vorliegende Geschichte der Soziologie wird sich denn auch auf einige typische Positionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts konzentrieren, die nahe an den Polen des Kontinuums zwischen Teleologie und Kausalität situiert sind. Diese Konzentration auf Auguste Comte, Herbert Spencer, Georg Simmel und Max Weber ist aber nicht nur dadurch gerechtfertigt, dass diese großen Klassiker die Entstehungs- und Begründungsphase dieser wissenschaftlichen Disziplin symbolisieren, sondern auch durch die Tatsache, dass sie in der Theoriebildung Maßstäbe setzten, an denen sich die Soziologie des 20. Jahrhunderts abgearbeitet hat. Dem Schöpfertum der Gründerzeit, die in den 1920er-Jahren zu Ende ging, folgten Jahrzehnte des Epigonentums, in denen kaum etwas formuliert wurde, ohne es im Rekurs auf wenigstens einen 34 20 Es triff t sich, dass 2007/08 eine Werkausgabe der Schriften Albert Salomons (1891-1966) erscheint, denn Salomons soziologiegeschichtlicher Ansatz kommt dem hier verwendeten Bezugsrahmen am nächsten. Der Leser kann sich in dieser Ausgabe über manche Positionen, die im Folgenden entweder nur knapp oder gar nicht zur Sprache kommen, in relativ kompatibler Weise eingehender informieren; siehe Albert Salomon, Werke, 5 Bde. Wiesbaden: VS 2007/08. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Klassiker zu legitimieren (sofern man so redlich war). Das soll nicht heißen, dass kein Erkenntnisgewinn erzielt worden wäre. Die Soziologie hat sich zu einer hochprofessionalisierten Disziplin entwickelt, die mit raffinierten Methoden empirische Forschung betreibt, ohne freilich in der Theoriebildung über die Klassiker hinauszugelangen. Das wäre nicht schlimm, wenn es ihr in ihrer Gründerzeit gelungen wäre, ein »Paradigma« im Sinne einer einheitlichen, für alle verbindlichen Theorie auszubilden.35 Dann hätte sie als »Normalwissenschaft« Wissen akkumulieren können, bis es zu einer wissenschaftlichen Revolution und einem neuen Paradigma kommt. Die neuzeitliche Physik hatte spätestens seit Newton ein Paradigma ausgebildet, indem sie die teleologische Grundhaltung definitiv verabschiedete und die kausale theoretisch begründete. Die Soziologie hingegen sah sich durch die Rehabilitation der teleologischen Grundhaltung, welche die Aufklärungsphilosophie weniger aus wissenschaftlichen, denn aus moralisch-praktischen, letztlich politischen Gründen betrieben hatte, mit einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konfrontiert: Neben der neuen kausalen Grundhaltung stand die alte teleologische. Manche Klassiker – wie Comte und Spencer – konnten es daher als legitim erachten, der Neuen nur rhetorisch Rechnung zu tragen, um aus dem Theoriepotenzial der Alten zu schöpfen, sodass andere Klassiker – wie Simmel und Weber – an die Neue regelrecht erinnern mussten, was wieder andere – wie Durkheim – nicht davon abhielt, die Alte fortzuschreiben. An dieser Gegensätzlichkeit hat sich im 20. Jahrhundert nichts geändert. Die Soziologie steckt nach wie vor fest auf ihrem Weg zur Normalwissenschaft. Solange es bloß Versuche gibt, beide Pole des Gegensatzes zu integrieren, anstatt ihn zugunsten der neuen Grundhaltung aufzuheben, wird sich an dieser Sachlage nichts ändern.36 Dass solche Versuche mit Blick auf Weber erfolgen, deutet zwar in die richtige Richtung, zeugt allerdings auch 35 36 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Rainer Greshoff und Uwe Schimank (Hg.), Integrative Sozialtheorie? Esser – Luhmann – Weber. Wiesbaden: VS 2006. WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 21 vom Epigonentum der heutigen soziologischen Theoretiker, die keinen Schritt ohne die Klassiker gehen. In der vorliegenden Soziologiegeschichte werden die Gründer der Soziologie also ausführlich zur Sprache kommen, während die Epigonen nur überblicksartig vorgestellt werden. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Positionen nicht losgelöst von den sozialen Problemlagen, in denen sie entstanden sind, rekonstruiert werden. Im Folgenden werden wir immer wieder auf die Geschichte der weltlichen und geistlichen Gewalten der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende zu sprechen kommen, in deren Verlauf die bürgerliche Gesellschaft entsteht. Diese Gesellschaft ruft dann die Soziologie auf den Plan, deren Vertreter allesamt mehr oder weniger unter Aphasie litten. 22 WAGNER, Eine Geschichte der Soziologie. ISBN 978-3-8252-2961-0 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007