29 WISSENSCHAFT AM WOCHENENDE

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SONNABEND, 17. NOVEMBER 2012 / NR. 21 516
WISSENSCHAFT AM WOCHENENDE
DER TAGESSPIEGEL
29
Riffe in
Gefahr
E
s war eine Nachricht, die viele
Menschen auf der ganzen Welt
aufschreckte: Das Great Barrier
Reef vor der Ostküste Australiens habe in nicht einmal 30
Jahren die Hälfte seiner Korallen verloren, verkündeten vor kurzem australische Wissenschaftler. Sie hatten das
größte Riff der Erde, unglaubliche 2300
Kilometer lang, über Jahre studiert und
festgestellt, dass die Korallendichte seit
1985 von 28 auf knapp 14 Prozent zurückgegangen ist. Grund dafür seien vor
allem schwere Stürme und wiederkehrende Invasionen von Dornenkronen-Seesternen, die heuschreckenartig die Korallenbänke leer fressen, schrieben sie im
Fachblatt „PNAS“. Forscher an anderen
Riffen verkünden ähnliche Hiobsbotschaften. So kam es in den letzten Jahren
bei den Malediven und den Seychellen zu
großen Korallenbleichen, die die Unterwasseroasen mit ihrem blühenden Leben
in eine Ödnis verwandelten.
Obwohl sie gerade einmal 0,1 Prozent
der von Ozeanen bedeckten Fläche einnehmen, beherbergen Riffe eine ungeheure Vielfalt an Lebewesen. Doch Erderwärmung und Fischfang bedrohten ihre
Existenz, darin seien sich die meisten
Wissenschaftler einig, sagt Reinhold
Leinfelder von der Freien Universität Berlin, der die einzigartigen Lebensräume erforscht: „Die Frage ist, wie viel hält ein
Riff aus und wann geht es unweigerlich
kaputt?“
Riffe sind auch für die Menschheit äußerst wichtig. Rund eine Milliarde Menschen sind nach Schätzungen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen
(UNEP) maßgeblich auf sie angewiesen.
Dazu gehört zunächst der Fischfang.
Nicht nur wegen der Tiere,die inunmittelbarer Riffnähe ins Netz gehen. Auch zahlreiche Arten, die als erwachsene Tiere im
offenen Wasser schwimmen, haben ihre
Kinderstube in der verwinkelten Unterwasserwelt. Wird diese kleiner, gibt esweniger Fische.
Auch für den Küstenschutz sind die
„Korallenstädte“ wichtig, denn sie fangen
die Energie von Stürmen und starken Wellen ab. „Auf den Malediven hat man ein
Riff teilweise weggebaggert, um Platz für
Boote zu machen“, erzählt Leinfelder.
Kurz darauf sei der Sandstrand von den
Wellen fortgespült worden. „Das trifft die
Tourismuswirtschaftdoppelt: Taucher haben weniger zu erkunden und selbst diejenigen, die nur am weißen Strand unter
Palmen liegen möchten, bleiben weg.“
Sogar Mediziner ziehen Nutzen aus
den Riffen. So fanden sie im Gift der Kegelschneckengattung Conus chemische
Verbindungen, die als Vorbild für starke
Schmerzmittel dienten. Vor allem Krebspatienten im Endstadium und chronisch
Kranken, bei denen andere Therapien
nicht mehr wirken, könnten diese Conotoxine helfen.
Auch andere Wirkstoffe werden von
Biologen und Pharmazeuten untersucht.
Es gibt noch viel zu entdecken, denn mit
schätzungsweise weit mehr als einer Million Spezies sind Riffe die marinen Lebensräume mit der größten Artenvielfalt
– und ein Reservoir, das gerade erst erschlossen wird. Der Großteil der Arten
sind Mikroorganismen, dennoch macht
die Zahl deutlich, wie komplex diese Unterwasserwelt ist. Ihr Rückgrat sind die
Korallen: Dabei handelt es sich nicht um
Pflanzen, wie ihre Gestalt vermuten
lässt, sondern um winzig kleine Nesseltiere, die am Fuß Kalk abscheiden. Im
Lauf der Zeit bilden sich so gewaltige
Strukturen, die zahlreiche Nischen für Fische, Kraken und andere Schwimmer bieten. Am Boden wiederum finden Muscheln und Schnecken ein Zuhause. Auch
BAUMEISTER
Korallen sind keine Pflanzen, sondern Kolonien winziger Nesseltiere, die Kalk ablagern. Im Lauf der Zeit entstehen so riesige
Riffe.
BRUTSTÄTTE
Riffe machen nur 0,1 Prozent der von
Ozeanen bedeckten Fläche aus. Aber sie
sind eine wichtige Quelle neuer Arten, liefern der Menschheit Fische und Medikamente und schützen die Küste.
BLEICHE
Fischfang, Tourismus und Klimawandel
bedrohen die Riffe in ihrer Existenz. Die
wärmer werdenden Ozeane lassen etwa
die Korallen sterben. Zurück bleiben bleiche, tote Riffe.
Sie sind Schatzkammern
der Ozeane. Doch der
Klimawandel bedroht die
Riffe. Löst sich
Kohlendioxid im Wasser,
wird das Meer saurer.
Das erschwert die Arbeit
der Tiere, die die
Korallenstädte erbauen
Von Ralf Nestler
die Korallen selbst haben sich im Lauf
der Erdgeschichte immer weiter entwickelt. Derzeit ist bei den meisten eine
Wohngemeinschaft mit kleinen Einzellern in Mode, die Photosynthese betreiben. Steinkorallen, die einen Großteil tropischer Riffe bilden, lassen diese primitiven Lebewesen, Zooxanthellen genannt,
auf ihrer Oberfläche siedeln und erhalten
im Gegenzug Zucker und Stärke.
Wie in jeder WG gibt es auch dort immer wieder Stress. Wird das Wasser zu
warm, werfen die Korallen die Zooxanthellen raus, weil diese im Hitzestress Giftstoffe produzieren. Mit den Einzellern
verlieren die Wirtstiere ihre bunte Färbung, übrig bleiben die hellen Kalkstrukturen. „Korallenbleiche“ wird das Phänomen genannt.
„Im Zuge der Erderwärmung wird es
häufiger zu bedrohlichen Temperatursteigerungen des Meerwassers kommen, die
wiederum zu mehr Korallenbleichen führen“, sagt der Riffexperte Leinfelder. Offenbar können sich die Korallen aber in
gewissem Maße selbst helfen, fügt er
hinzu. „Man hat beobachtet, dass sie
nach einer Bleiche bevorzugt jene Zooxanthellen hereinholen, die mit hohen
Temperaturen besser zurechtkommen.“
Das allein genügt in der Regel nicht.
Zum einen brauchen Riffe nach einer Bleiche eine Verschnaufpause, um sich neu
aufzubauen. Kommen die Temperaturspitzen in dichter Folge, bleibt keine Zeit
zur Regeneration. Vor allem aber wirken
häufig mehrere Stressfaktoren auf das
Riff. Fischfang und Tourismus setzen
ihm zu, von Tropenstürmen aufgepeitschte Wellen können die filigranen
Korallenästchen bis in 40 Meter Tiefe hinab abbrechen. Auch die Überdüngung
macht dem eigentlich nährstoffarmen Lebensraum zu schaffen. Infolge von heftigen Niederschlägen, die Tropenstürme
häufig begleiten, wird fruchtbarer Boden
samt Dünger vom Festland ins Meer gespült. Dann vermehren sich Algen rapide
und bilden riesige Matten über den Korallen. Die Schwebstoffe der Flüsse legen
sich wie ein Schleier übers Riff und lassen kaum Licht hindurch. Senken sich die
Partikel, entsteht eine weiche Schlammschicht. „Die ortsfesten Riffbewohner
sind aber auf Hartgründe angewiesen,
die können sich im Schlamm einfach
nicht halten“, sagt Leinfelder
Nun ist es nicht so, dass ein heftiger
Tropensturm mit seinen Folgeerscheinungen ein Riff völlig zerstört. „Die halten schon einiges aus und brauchen auch
immer wieder ein bisschen Kahlschlag,
um sich zu verjüngen“, sagt der Forscher.
Schwierig werde es, wenn das Ökosystem zu stark aus der Balance gerät. Dann
fällt es auf eine niedrigere Stufe der Artenvielfalt. Drei bis vier solche Stufen unterscheiden Experten, am Ende stehen
schleimige Algenteppiche, in denen
kaum noch etwas lebt.
Leinfelder hat bei seinen Tauchgängen
selbst schon einige Beispiele des Verfalls
kennengelernt. „Solche angepassten
Riffe können nicht mehr alle Funktionen
erbringen, die sie zuvor innehatten“, sagt
er. „Sie bieten zum Beispiel kaum noch
Verstecke für die vielen Jungfische.“
Knallige Korallenwelt. Ein Pfauen-Kaiserfisch in der Unterwasserwelt des Roten Meeres.
KORALLENSTÄDTE
Foto: Georgette Douwma/SPL/Agentur Focus
D
Viel Licht, warmes Wasser – und wenig Nährstoffe
Tropische Korallenriffe benötigen warmes
Wasser und viel Licht. Das zeigt sich auf
der Karte ihrer Verbreitung: Riffe befinden
sich nahe das Äquators und dort, wo es
warme Meeresströmungen gibt. Überraschenderweise befinden sie sich in nährstoffarmen Gebieten. Gebe es zu viel Nährstoffe, würden massenhaft Algen wachsen
und das Riff ersticken. Die meisten Riffe
sind circa 8000 Jahre alt. So lange ist der
Meeresspiegel einigermaßen konstant. Zuvor war er rapide gestiegen, nachdem
große Eismassen geschmolzen waren. Die
damals vorhandenen Riffe mussten ständig landeinwärts „springen“, um dem steigenden Wasser auszuweichen und weiterhin genug Sonnenlicht zu erhalten.
Große Riffkomplexe gibt es aber schon länger. Das Great Barrier Reef vor der australischen Ostküste – eigentlich sind es rund
3000 Einzelriffe – gibt es beispielsweise
bereits seit 600 000 Jahren. „Erfunden“
hat die Natur diese Unterwasserstädte vor
knapp 500 Millionen Jahren, damals waren sie aber noch nicht so spezialisiert.
Mehrfach wurden Riffe durch gravierende
Umweltveränderungen nahezu ausgelöscht, kehrten mitunter erst Jahrmillionen
später auf die Bildfläche zurück und wurden dann teilweise von ganz anderen Artengemeinschaften aufgebaut als zuvor.
Die nächsten Riffe finden sich im Harz, der
Fränkischen Alb oder in den Dolomiten.
Sie wuchsen vor Jahrmillionen in tropischen Gewässern. Zumindest die harten
Teile der Riffbildner sowie Schnecken und
Muscheln kann man heute trockenen Fußes erkunden. Um lebendige Riffe zu sehen, muss man mindestens bis ans Rote
Meer reisen und abtauchen.
Beim Erkunden ist Obacht geboten. Zu
viele und vor allem unvorsichtige Besucher setzen dem Ökosystem ebenfalls zu.
Auf den Philippinen hat man testweise die
Besucherzahl per Reglement auf ein Zehntel reduziert und hohe Eintrittspreise verlangt, berichtet der Berliner Riffforscher
Reinhold Leinfelder. Mit Erfolg: Die Einnahmen erhöhten sich beträchtlich, die Zahl
der Fischarten verdreifachte sich binnen
Jahresfrist.
nes
Zahlreiche Fotos von Riffen unter
www.tagesspiegel.de/wissen
Riffe sind auch ein wichtiger Evolutionsmotor. Anhand einer umfangreichen
Fossildatenbank hat ein Team um den
Wissenschaftler Wolfgang Kießling errechnet, dass an Riffen rund 50 Prozent
mehr neue Gattungen entstehen als in
den übrigen tropischen Flachwasserzonen, ganz zu schweigen von kühleren Gewässern. „Die Erklärung dafür ist die
komplexe Struktur der Riffe“, sagt der Paläoökologe von der Universität Erlangen.
Sie bestehen oft aus vielen Einzelriffen,
die wiederum zahlreiche unterschiedliche Lebensräume bieten – jeder ist ein
potenzieller Evolutionsherd. „Man kann
sich das vereinfacht so vorstellen: Da
schwimmen einige Tiere in so eine Nische, verlieren den Anschluss an Artgenossen und entwickeln in der Isolation
bald eine neue Spezies.“ Das Entscheidende: Neue Arten werden langfristig in
die Umgebung exportiert. „Riffe sind
eine Quelle der Biodiversität auch für angrenzende Regionen“, betont Kießling.
All das ist gefährdet, wenn der globale
Wandel weiter voranschreitet. Wie groß
die Bedrohung für die Riffe genau ist,
kann niemand sagen. Neben den
Stressfaktoren wie
Rund eine
Nährstoffeintrag
Milliarde
und Erwärmung sorgen sich die ExperMenschen
ten vor allem um
sind auf Riffe den steigenden Geangewiesen halt an Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre. Ein Teil
des Gases löst sich im Meerwasser, bildet
dort Kohlensäure und führt so zur Ozeanversauerung. Die Folge: Es kann weniger
Kalk gebildet werden – das zentrale Baumaterial der Riffe.
Bislang spielt die Versauerung aber
noch eine untergeordnete Rolle, berichten Timothy Cooper und Kollegen vom
Australischen Institut für Meereswissenschaften. Sie haben bei Korallen vor der
Westküste Australiens in den vergangenenJahren sogareineerhöhte Kalkproduktion festgestellt – zumindest bei denen,
die weiter weg vom Äquator im Süden
wachsen und wo das Wasser nun wärmer
wurde. Offenbar nutzt den Riffen die Temperatursteigerung mehr als ihnen die beginnende Versauerung schadet. Auch bei
denäquatornahenRiffenging die Kalkproduktion vorerst nicht zurück. Allerdings
befinden sichdiesebereitsim Temperaturoptimum, so dass eine weitere Erwärmung zu Korallenbleichen führen kann.
Langfristig, sagt der Erlanger Forscher
Kießling, werden die Riffe wie viele andere Lebensräume vom Äquator weg in
Richtung der Pole wandern. Erste Anzeichen dafür haben er und Kollegen bereits
zusammengetragen, sie werden demnächst in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. „Mit dieser Wanderung ist das Problem aber nicht gelöst, der Indische
Ozean zum Beispiel ist nicht unendlich
groß, im Norden kommt irgendwann das
Festland, dort geht es nicht weiter.“
Hinzu kommt, dass Korallen sesshaft
sind und nicht so schnell ihren Ort wechseln.
Apokalyptische Warnungen sind dennoch übertrieben. „DieRiffe sind bedroht,
aber Prognosen, wonach es binnen Jahrzehnten zum weltweiten Kollaps kommt,
sind
wahrscheinlich
übertrieben“,
schreibt etwa John Pandolfi von der Universität Queensland in „Science“. Die Veränderungen werden zeitlich und örtlich
unterschiedlicher ausfallen als bisher vermutet. Auch solle man die AnpassungsfähigkeitderRiffbewohner nichtunterschätzen. Tatsächlich finden sich dafür immer
neueBelege. So zeigen junge Schwarzflossen-Anemonenfische nicht die typischen
Wachstumsprobleme durchhohe CO2-Gehalte, wenn schon ihre Eltern damit konfrontiert wurden. So als würden sie lernen, mit den schlechten Voraussetzungen
umzugehen. Und Leinfelders Kollegin Janina Seemann hat bei Fütterungsversuchen festgestellt, dass die Steinkoralle Porites furcata schwierige Zeiten durch eine
Art Fettpolster überstehen kann.
Mit solchen Experimenten wollen Forscher herausfinden, wie sie Riffen konkret helfen können. Letztlich gehe es darum, Korallen gezielt umzusetzen, um
die Regeneration in geschädigten Bereichen zu beschleunigen, erläutert Leinfelder. „Unsere Langzeitstudien in Panama
zeigen, dass gerade die Korallen robust
sind, die dort wachsen, wo es häufiger
Stress durch Nährstoffübersättigung
oder Schlammströme gibt“, sagt er. So als
würden sie immer wieder trainieren. Ob
sie den Wettkampf langfristig gewinnen?
„Ich hoffe es“, sagt Leinfelder.
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