Katalogisierung – Tiefenerschließung – Digitalisat. Das Projekt »KoFIM Berlin« im Kontext neuer Perspektiven der Erschließung und Vermittlung von Musikquellen im digitalen Zeitalter1 Roland Dieter Schmidt-Hensel (Berlin) I In den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich hinsichtlich der Erschließung von Musikhandschriften ein durchaus fühlbarer Wandel vollzogen, der sich nicht auf einen Medienbruch vom konventionellen hin zum elektronischen Katalog beschränkt, sondern zugleich auch organisatorische Aspekte hat. Während RISM für die Erschließung von Musikhandschriften in der Serie A/II schon früh mit EDV-Lösungen arbeitete, um 1990 das Erfassungsprogramm PIKaDo einführte2 und die Erschließungsergebnisse seit 1995 auf jährlich aktualisierten CD-ROMs publizierte,3 folgte die Handschriftenkatalogisierung durch Bibliotheken und Bibliothekare noch um das Millenniumsjahr 2000 herum vielfach überlieferten Bahnen und manifestierte sich vorwiegend in Zettelkatalogen, maschinenschriftlichen Listen und/oder gedruckten Katalogbänden. Mit der gemeinsam von der Staatsbibliothek zu Berlin und der RISM-Zentralredaktion in den Jahren 2004 bis 2006 betriebenen Entwicklung des neuen Erfassungsprogramms Kallisto,4 das eine dezentrale Online-Erfassung ermöglicht, sowie mit dem kostenfreien RISM-OPAC, der 2010 von der BSB München in Kooperation mit RISMZentralredaktion und Staatsbibliothek zu Berlin freigeschaltet werden konnte, wurden jedoch in den letzten Jahren wesentliche technische Voraussetzungen geschaffen, um die Erschließungsarbeiten von RISM-Ländergruppen, Bibliotheken und speziellen Erschließungsund Forschungsprojekten stärker zu bündeln. Tatsächlich katalogisieren mittlerweile nicht nur die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, sondern auch die SLUB Dresden, die BSB München sowie einige weitere Bibliotheken direkt in der RISM/Kallisto-Datenbank und tragen somit dazu bei, die Bedeutung von RISM als zentralem Nachweisinstrument für Musikhandschriften weiter zu stärken. 1 Der vorliegende Beitrag stellt die leicht überarbeitete Fassung des Vortrags dar, den der Verfasser am 07.09.2012 bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung gehalten hat. Gegenüber dem Vortragsmanuskript wurden einige weiterführende Literaturhinweise und Links sowie ausgewählte Abbildungen eingefügt und einzelne Wendungen neu gefasst; insgesamt wurde jedoch der Vortragsduktus beibehalten. Eine inhaltliche Aktualisierung konnte nicht vorgenommen werden; alle Angaben insbesondere zum Stand des Projektes KoFIM Berlin beziehen sich somit auf Anfang September 2012. 2 Einen knappen Abriss der EDV-Katalogisierung durch RISM bis in die mittleren 1990er Jahre hinein gibt A. Hartmann, Die Richtlinien zur Katalogisierung von Musikhandschriften des Internationalen Quellenlexikons der Musik. Konstruktive Analyse eines speziellen Katalogisierungsregelwerks (Berliner Handreichungen zur Bibliothekswissenschaft 44), Berlin 1998; http://www.ib.hu-berlin.de/~kumlau/handreichungen/h44 [10.03.2013], S. 15f. 3 Répertoire international des sources musicales (RISM), Serie A/II: Musikhandschriften nach 1600, München [u.a.] 1995-2008; vgl. auch http://www.rism.info/de/publikationen/cd-rom-publikationen.html [10.03.2013]. 4 Vgl. hierzu auch R. D. Schmidt-Hensel, Erschließung von Nachlässen, Briefen und Musikhandschriften mit Kalliope und Kallisto, in: Forum Musikbibliothek 26 (2005), S. 381-395. 36 Aus der Erschließung von Musikhandschriften mittels einer internetfähigen Erfassungsdatenbank sowie eines Online-Katalogs resultiert indes nicht nur ein Effizienzgewinn bei der kooperativen Erschließung der relevanten Quellenbestände. Vielmehr eröffnen sich auch neue, über die bloße Katalogisierung im traditionellen Sinne hinausweisende Möglichkeiten der Datenanreicherung und Informationsverknüpfung, beispielsweise die Ergänzung der Katalogisate durch zusätzliche Bilddaten. Prinzipiell ist hier ein breites Spektrum möglicher Aspekte des sogenannten „Catalogue enrichment“ denkbar. Es liegt indes auf der Hand, dass insbesondere visuelle Dokumentationen solcher Aspekte einen echten Mehrwert bedeuten, die sich rein verbal nur näherungsweise beschreiben lassen oder sich gar einer verbalen Beschreibung gänzlich entziehen. Genau an dieser Stelle setzt das Projekt „KoFIM Berlin - Kompetenzzentrum Forschung und Information Musik“ an der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin an, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms „Förderung herausragender Forschungsbibliotheken“ gefördert wird. Gegenstand des Projektes ist die wissenschaftliche Tiefenerschließung des Kernbestandes von Musikautographen der Staatsbibliothek zu Berlin in der Datenbank RISM/Kallisto unter Einschluss einer digitalen Dokumentation der Schreiberhände sowie der wichtigsten Wasserzeichen, die in diesem Bestand begegnen. Dies mag auf den ersten Blick nicht allzu spektakulär klingen, zumal sich bereits seit einiger Zeit vereinzelt Bilder von Wasserzeichen im RISM-OPAC finden5 und das Dresdner Schrank-II-Projekt bei den meisten Quellen Durchlichtaufnahmen der Wasserzeichen an die Digitalisate der Handschrift angehängt hat.6 Das Neue und Zukunftsweisende des Berliner Projektes liegt aber zum einen in dem flächendeckenden Ansatz einer digitalen Dokumentation von Schreiberhänden und Wasserzeichen in einem umfassenden, heterogenen Bestandssegment, zum anderen in der systematischen Verknüpfung und Kontextualisierung der Beispielbilder in übergeordnete, über die jeweilige Handschrift hinausweisende Recherchezusammenhänge, durch die die Ergebnisse des Projektes auch für andere Institutionen und Bestände fruchtbar gemacht werden können. Hiermit verbunden sind auch die Entwicklung und Etablierung entsprechender standardisierter Arbeitsabläufe sowie nicht zuletzt der Einsatz innovativer technischer Verfahren. II Insgesamt ist das Projekt KoFIM Berlin7 auf 6 Jahre ausgelegt und mit 3,25 wissenschaftlichen Stellen ausgestattet, die mit vier Mitarbeitern besetzt sind; hinzu kommt ein Stellenanteil für einen Fotografen für die Aufnahme der Wasserzeichen. Projektstart war am 1. Februar 2012, was erklärt, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt [Anfang September 2012] an einigen Stellen nur Vorläufiges zu berichten ist, da noch nicht alle technischen Anpassungen erfolgt sind. Das Mengengerüst sieht rund 7500 autographe oder teilautographe Quellen mit schätzungsweise 12.000 Werken vor, die von ca. 1600 Komponisten des 17. bis mittleren 5 Beispielsweise in den Datensätzen http://opac.rism.info/search?documentid=455032525 und http://opac.rism.info/search?documentid=455032533 (D-B Mus.ms. 30205 bzw. 30206 [10.03.2013]). 6 Vgl. W. Eckhardt, Über die in den Manuskripten aus dem ‚Schranck No: II’ verwendeten Papiersorten, in: Schranck No: II. Das erhaltene Instrumentalrepertoire der Dresdner Hofkapelle aus den ersten beiden Dritteln des 18. Jahrhunderts (Forum Mitteldeutsche Barockmusik 2), hrsg. von G. Poppe [u.a.], Beeskow 2012, S. 231253, hier S. 234f. Vgl. auch www.schrank-zwei.de sowie als Beispiel für die Wiedergabe eines Wasserzeichens http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/15055/13/cache.off [23.02.2013]. 7 Zum Projekt KoFIM Berlin vgl. ausführlich: W. Eckhardt / D. Fromme / J. Neumann / T. Schwinger, Das DFG-Projekt ›Kompetenzzentrum Forschung und Information Musik‹ (KoFIM) an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, in: Forum Musikbibliothek 34 (2013), S. 12-21. 37 19. Jahrhunderts stammen. Die zeitliche Eingrenzung ergab sich zum einen aus der praktischen Notwendigkeit einer mengenmäßigen Beschränkung; sie bezeichnet aber zugleich auch den zeitlichen Schwerpunkt der Autographen-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin und trägt überdies der Tatsache Rechnung, dass nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die handschriftliche Überlieferung von musikalischen Werken zusehends an Bedeutung verliert und Papiere ab ca. 1840/1850 in aller Regel ohnehin keine Wasserzeichen mehr aufweisen. Ausgeklammert bleiben bei diesem Projekt einige herausragende Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber oder die Familie Bach. Zum einen sind die entsprechenden Bestände bereits durch gedruckte Kataloge erschlossen8 oder stehen – im Falle der Bach-Sammlung – in der Datenbank Bach-Digital9 vollständig digitalisiert zur Verfügung. Zum anderen liegen zu diesen Komponisten vielfach bereits umfangreiche Spezialforschungen zu Schriftentwicklung und Papiersorten vor, die einfach zu reproduzieren oder zu doppeln wenig sinnvoll erschiene. Vielmehr ist das Projekt KoFIM ganz bewusst auf die vielleicht nicht ganz so bekannten, aber nicht notwendigerweise weniger interessanten Komponisten fokussiert, weil gerade hier die Tiefenerschließung der Autographen wirklichen Mehrwert generiert. Oder um es etwas plakativ auszudrücken: Abbildungen der Handschrift Johann Sebastian Bachs sowie der Wasserzeichen seiner Autographen finden sich in jeder Bibliothek, die die entsprechenden Bände der Neuen Bach-Ausgabe besitzt, Abbildungen der Handschrift beispielsweise eines Antonio Caldara aus unterschiedlichen Jahren dürften hingegen bislang eher schwer greifbar sein. Ungeachtet dessen bemüht sich die Staatsbibliothek zu Berlin aber selbstverständlich, auch die sogenannten „Spitzen-Autographen“ mittelfristig in RISM nachzuweisen, und namentlich im Falle Beethovens und Mendelssohns sind bereits etliche Autographenbände dort recherchierbar. Die Autographenerschließung des Projektes KoFIM Berlin folgt dem üblichen Datenset der international verbreiteten RISM-Erschließungsrichtlinien (vgl. Abb. 1). Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Ermittlung und Erfassung von Vorbesitzern und Provenienzen gerichtet, wobei nicht nur Provenienzhinweise in den Bänden selbst dokumentiert werden, sondern soweit möglich auch die Akzessionsjournale der Bibliothek herangezogen werden. Auf diese Weise werden durch das Projekt KoFIM einige große Autographensammlungen des 19. Jahrhunderts, die in den Bestand der damaligen Königlichen Bibliothek eingingen, zu erheblichen Teilen wieder rekonstruierbar. Zu nennen sind hier insbesondere die Sammlungen von Georg Poelchau (1773–1836; erworben 1841), Ludwig Landsberg (1807–1858; erworben 1861), und Aloys Fuchs (1799-1853; erworben 1879 mit der Sammlung von Friedrich August Grasnick), innerhalb derer z.T. wiederum Provenienzgruppen aus Vorgänger-Sammlungen erkennbar werden. 8 Vgl. die Übersicht auf http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/musik/recherche-undressourcen/gedruckte-kataloge/. 9 www.bach-digital.de. 38 Abb. 1: Antonio Caldara, Achille in Sciro / D-B Mus.ms.autogr. Caldara, A. 1 (Vollanzeige im RISM-OPAC) III Angereichert werden die Handschriftenbeschreibungen wie bereits erwähnt mit digitalen Abbildungen von Schriftproben und Wasserzeichen. Ziel ist dabei allerdings nicht, aus jeder Quelle eine Beispielseite der Handschrift sowie sämtliche Wasserzeichen abzubilden; vielmehr erfolgt in beiden Fällen eine Auswahl insbesondere unter dem Blickwinkel der Relevanz über das betreffende Manuskript hinaus. Für Schriftproben bedeutet dies: nicht aus jeder Handschrift, aber zu jedem Komponisten, der im Bestand vertreten ist, ferner zu wichtigen Kopisten wird mindestens eine repräsentative Beispielseite ausgewählt, die typische Aspekte der Handschrift wie Schlüssel, Taktsignaturen, Akkoladenbezeichnungen etc. zeigt. Sofern inhaltlich geboten, können auch zwei oder drei zusammengehörige, sich ergänzende Beispielseiten zu einer Schriftprobe zusammengefasst werden – z.B. aus einer Oper eine Seite Rezitativ und der Beginn einer Arie oder bei Stimmensätzen je eine Seite aus Violin-, Viola und Bass-Stimme. Sind von einer Person unterschiedliche Schriftstadien wie z.B. Früh- und Spätschrift oder Konzept- und Reinschrift zu differenzieren, werden diese jeweils gesondert dokumentiert, indem in diesem Falle mehrere separate Schriftproben-Objekte erstellt werden. Da es sich bei Schriftproben zum einen um Beispielseiten aus einer Handschrift, zum anderen aber um charakteristische Attribute einer Person handelt, werden alle Schriftproben sowohl mit der betreffenden Quellenbeschreibung als auch mit dem Normdatensatz der betreffenden Person verlinkt. Sind aus einer Handschrift mehrere Schriftproben entnommen, so finden sich entsprechend auch mehrere Links (vgl. Abb. 2): 39 Abb. 2: Verlinkung zweier Schriftproben aus einer Handschrift (RISM-OPAC) Sind umgekehrt zu einer Person mehrere Schriftproben aus verschiedenen Handschriften dokumentiert, sind alle diese Schriftproben mit dem Personendatensatz verlinkt, so dass sich ggf. die Schriftentwicklung einer Person leicht nachvollziehen lässt (vgl. Abb. 3): Abb. 3: Verlinkung mehrerer Schriftproben zu einem Personensatz (Kallisto) Auf diese Weise entsteht innerhalb der Datenbank RISM/Kallisto eine virtuelle Schriftproben-Kartei, die über die in der Datenbank angelegte Verknüpfungsstruktur zwischen Personen- und Handschriftendatensätzen weit über das Projekt und den Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin nutzbar gemacht werden kann: Wie alle anderen in den Personendatensätzen erfassten Informationen stehen nämlich auch die Links zu den Schriftproben prinzipiell in allen Handschriftendatensätzen zur Verfügung, in denen die betreffende Person beispielsweise als Komponist oder Kopist erfasst ist. Auch wenn man also im RISM-OPAC beispielsweise ein Caldara-Autograph in Münster oder Dresden gefunden hat, ist man nur 40 wenige Klicks von den aus Berliner Quellen entnommenen Schriftproben entfernt. Es ist allerdings anzumerken, dass dieses Szenario momentan noch etwas Zukunftsmusik ist, da die Links in den Personendatensätzen zwar bereits erfasst sind, im RISM-OPAC aber derzeit noch nicht angezeigt werden. Es ist aber zu hoffen, dass es dank der bewährten Zusammenarbeit mit der RISM Zentralredaktion und der BSB München in absehbarer Zukunft möglich sein wird, diese Links dann auch in dem Info-Feld für die Personen einzublenden, wie die Montage in Abb. 4 andeutet: Abb. 4: angestrebte Einbindung der Links zu den Schriftproben im RISM-OPAC (Entwurf) Erstellt werden die Schriftproben-Digitalisate im Digitalisierungszentrum der Staatsbibliothek zu Berlin auf modernen Aufsichtscannern, wie sie auch für die Digitalisierung vollständiger Musikhandschriften zum Einsatz kommen. Die Produktion der Bilder ist in den normalen Digitalisierungs-Geschäftsgang der Staatsbibliothek eingebettet, so dass für die Anzeige (vgl. Abb. 5), aber auch für Speicherung und Langzeitarchivierung der Masterdateien auf die etablierten Verfahrensweisen der „Digitalisierten Sammlungen“ der Staatsbibliothek zurückgegriffen werden kann. Eine formalisierte Titelzeile stellt dabei sicher, dass auf den ersten Blick deutlich wird, die Handschrift welches Komponisten zu welcher Zeit das oder die betreffenden Bilder wiedergeben. Ferner ist den Digitalisaten neben der Signatur auch ein Kurztitel der Handschrift, aus dem sie entnommen sind, beigegeben, der allerdings momentan in den „Digitalisierten Sammlungen“ der Staatsbibliothek noch nicht angezeigt wird; im Zuge des in Bälde zu erwartenden Relaunch der „Digitalisierten Sammlungen“ soll aber auch dieses Problem gelöst werden. 41 Abb. 5: Anzeige einer Schriftprobe in den „Digitalisierten Sammlungen“ der Staatsbibliothek zu Berlin IV Ist auf dem Gebiet der Schriftproben im Grundsatz eine vollständige Berücksichtigung aller im Bestand begegnenden Komponisten vorgesehen, so erfolgt bei den Wasserzeichen eine Auswahl unter qualitativen und Relevanz-Kriterien. Zwar werden selbstverständlich bei allen Quellen alle zu erkennenden Wasserzeichen im Katalogisat verbal beschrieben; für die bildliche Dokumentation werden aber in erster Linie solche Wasserzeichen ausgewählt, die in sicher datierbaren Quellen begegnen, die gut und vollständig zu erkennen sind und/oder eher seltene und daher umso charakteristischere Motive aufweisen. Auf den ersten Blick mag dieses Verfahren vielleicht etwas willkürlich erscheinen; indes dürfte doch leicht nachvollziehbar sein, dass ein vollständiges Wappen mit mehrfach geteiltem Schild aus einer exakt datierten Handschrift ungleich mehr Aussagekraft hat und wesentlich wichtigere Anhaltspunkte für die zeitliche und räumliche Einordnung von Vergleichshandschriften bietet als eine schwer überschaubare Anzahl mehr oder weniger gleichförmiger, horizontal geteilter „Allerweltszeichen“ wie „Tre lune“ oder „C & I HONIG“. Die Aufnahme der Wasserzeichen erfolgt nicht mit einem herkömmlichen Scanner, sondern mit einer Thermographiekamera. Diese Technik, die vom Fraunhofer-Institut für Holzforschung in Braunschweig an die Erfordernisse der Wasserzeichenerfassung angepasst wurde und im Projekt KoFIM erstmals für die Erfassung von Wasserzeichen in Musikhandschriften herangezogen wird, arbeitet mit mittelwelliger Infrarot-Strahlung und macht sich die unterschiedliche Dichte und die dadurch bedingte unterschiedliche Wärmedurchlässigkeit des Papiers im Bereich der Wasserzeichen und Stege zu Nutze. Hierdurch entstehen Bilder, bei denen die in normalen Durchlichtaufnahmen häufig störende Tinte der Schrift 42 weitestgehend unsichtbar bleibt.10 Die Ergebnisse ähneln somit denjenigen radiographischer Verfahren, erfordern aber wesentlich geringeren technischen Aufwand. Das in Abb. 6 gezeigte Beispielbild des Wasserzeichens aus einem Autograph von Johann Christoph Bodinus ist allerdings in gewisser Weise noch vorläufig, da es aus einer ersten Testserie stammt; bis die Kamera endgültig installiert und im Regelbetrieb ist, werden noch einige Monate verstreichen. Abb. 6: Thermographie-Aufnahme eines Wasserzeichens (aus D-B Mus.ms.autogr. Bodinus, J. A. 1 N) Auch diese Bilder werden mit der betreffenden Handschriftenbeschreibung verknüpft. In diesem Falle verweisen die Links jedoch nicht auf die „Digitalisierten Sammlungen“ der Staatsbibliothek zu Berlin; vielmehr werden die Wasserzeichen-Bilder in die vom Landesarchiv Baden-Württemberg betriebene Datenbank „Wasserzeichen-Informationssystem Deutschland“ (WZIS) eingepflegt und somit in einen übergeordneten, interdisziplinären Kontext und nicht zuletzt in eine differenzierte Klassifikation eingebunden (vgl. die Anzeige des obigen Wasserzeichens in WZIS). Die Kooperation des Projektes KoFIM mit dem „Wasserzeichen-Informationssystem“ steht im Übrigen im Kontext genereller Bestrebungen, diese ursprünglich vor allem auf Papier des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts zentrierte Datenbank um Nachweise aus dem 17. bis frühen 19. Jahrhundert zu erweitern und so zu einem zentralen Nachweis- und Dokumentationssystem für Wasserzeichen insgesamt zu machen.11 10 Zum Thermographie-Verfahren bei Wasserzeichen vgl. auch P. Meinlschmidt / C. Kämmerer / V. Märgner: Thermographie – ein neuartiges Verfahren zur exakten Abnahme, Identifizierung und digitalen Archivierung von Wasserzeichen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Papierhandschriften, -zeichnungen und –drucken, in: Kodikologie und Paläographie im digitalen Zeitalter 2, hrsg. von F. Fischer [u.a.] (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 3), Norderstedt 2010, S. 209-226 (Online-Fassung 2011: http://kups.ub.unikoeln.de/4351/ [10.03.2013]). 11 Zu WZIS vgl. auch: http://www.landesarchiv-bw.de/web/50960 sowie 43 V Das Projekt KoFIM Berlin ist bewusst nicht als Digitalisierungsprojekt angelegt, sondern als wissenschaftliches Tiefenerschließungsprojekt mit digitalen Zusatzinformationen. Gleichwohl steht es – wie schon angedeutet – in mehrfacher Hinsicht im Kontext mit der Digitalisierung vollständiger Musikhandschriften und anderer musikhistorisch relevanter Quellen. Von der Einbettung des Projektes in die technische Infrastruktur der „Digitalisierten Sammlungen“ der Staatsbibliothek war bereits die Rede. Daneben hat sich im bisherigen Projektverlauf gezeigt, dass ein gewisser Anteil der für Schriftproben relevanten Quellen einen recht geringen Umfang aufweist, so dass es geboten erschien, hier pragmatisch vorzugehen und die betreffenden Handschriften komplett zu digitalisieren, anstatt aus einem Manuskript von wenigen Blättern ein oder zwei Beispielseiten herauszusuchen. Vor allem aber zeigt sich in diesem Projekt mehr und mehr, dass im beginnenden digitalen Zeitalter Handschriftenkatalogisierung, Catalogue enrichment und digitales Faksimile sehr viel stärker ineinander greifen als unter den Auspizien einer überwiegend papierbezogenen Erschließung: Während früher die Quellenbeschreibungen in Zettel- oder gedruckten Katalogen enthalten waren, Abbildungen von Schreiberhänden und/oder Wasserzeichen vielleicht im Anhang eines gedruckten Katalogbandes, vielleicht aber auch nur in kaum verbreiteten Spezialuntersuchungen greifbar waren und Sekundärformen als Mikrofilm oder gar als Faksimile ohnehin separate Medieneinheiten darstellten, die meist auch gesondert recherchiert werden mussten, bietet sich nun die Möglichkeit, zum einen die Handschriftenbeschreibungen – wie im Projekt KoFIM Berlin praktiziert – direkt mit relevanten Bildinformationen anzureichern, zum anderen aber auch vom Katalog direkt auf die digitalen Sekundärformen zu verlinken. Die Staatsbibliothek zu Berlin hat diesen Weg in den letzten Jahren konsequent verfolgt, indem strikt darauf geachtet wird, dass alle zu digitalisierenden Quellen in dem jeweils führenden Katalogsystem – und für Musikhandschriften ist dies eben die RISM-Datenbank – nachgewiesen sind und das Digitalisat dort mit einer persistenten URL verlinkt wird. Auf diese Weise sind dann Wissenschaftler oder Musiker, die eine bereits digitalisierte Handschrift im RISM-OPAC finden, nur noch einen Klick von der (virtuellen) Einsichtnahme der Quelle entfernt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat diesen Ansatz in der vor kurzem erfolgten Bewilligung des Projektes Bach Digital II ausdrücklich gewürdigt, und diese Bestärkung wird auch Ansporn sein, nicht nur bei der jetzt anstehenden Digitalisierung der frühen Abschriften von Werken Johann Sebastian Bachs die bislang isoliert in Bach Digital vorgehaltenen Metadaten nach RISM zu überführen, sondern dies im Nachgang mittelfristig auch für die Autographe Bachs vorzunehmen, bei deren Digitalisierung vor einigen Jahren eine solche Datenübernahme noch nicht hatte realisiert werden können. VI Zusammenfassend ist zu beobachten, dass Bibliotheken auch und gerade im beginnenden digitalen Zeitalter wichtige Bausteine zu einer Verbesserung der Forschungsumgebung für die Musikwissenschaft beitragen können. Dabei wird, wie das Projekt KoFIM zeigt, die hergebrachte Arbeitsteilung zwischen Bibliothek, die ihre Bestände formal beschreibt und zur Benutzung bereitstellt, und Fachwissenschaft, welche diese Quellen untersucht und auswertet, durchlässiger: Bestandskenntnis und Bestandsverfügbarkeit sowie die technische Infrastruktur setzen Bibliotheken und Bibliothekare in die Lage, beispielsweise virtuelle Schriftproben- und http://www.wasserzeichen-online.de/wzis/projekt/projektbeschreibung.php [23.03.2013]. 44 Wasserzeichenkarteien aufzubauen, die in der Breite weit über die Möglichkeiten eines auf ein abgegrenztes Repertoire spezialisierten Wissenschaftlers oder eines Forschungsinstitutes hinausgehen, gleichwohl aber in der Tiefe weiterhin und umso mehr der Ergänzung durch solche Spezialisten bedürfen. Hiermit erklärt sich denn auch der Begriff „Kompetenzzentrum“ im Namen des Projektes KoFIM Berlin: mit diesem Projekt bündelt und stärkt die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin fachliche Kompetenzen für die Bestimmung von Schreiberhänden und Wasserzeichen, und zwar sowohl individuell bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch prozedural, sozusagen als Kompetenz der Institution. Daneben ergibt sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung von Musikhandschriften mittel- und langfristig die Perspektive, den RISM-OPAC über seine Funktion als internationalem Katalog für Musikhandschriften hinaus auch zum zentralen „Access point“ für Digitalisate dieser Quellen zu entwickeln, um deren Auffindbarkeit und Sichtbarkeit zu verbessern. Voraussetzung ist natürlich, dass vorhandene Digitalisate systematisch in RISM verlinkt werden. Dies gilt auch und gerade für kleinere Sammlungen in Spezialbibliotheken und Forschungsinstituten, deren Digitalisate sonst Gefahr laufen, außerhalb eines kleinen Spezialistenzirkels weitgehend unbekannt zu bleiben, einfach weil es auf Dauer kaum möglich sein wird, einen Überblick zu behalten, welche Bibliothek und welches Institut welche Bestände unter welcher URL digitalisiert bereit hält. Ähnliches gilt mutatis mutandis natürlich auch für Musikdrucke, Theroretika und Musikerbriefe, nur dass hier andere Kataloge – beispielsweise die jeweiligen Verbundkataloge bzw. Kalliope – als „führende Nachweissysteme“ relevant sind. Catalogue enrichment und gebündelter Zugang zu Digitalisaten sind nur zwei Facetten eines vielschichtigen Wandels im Verhältnis zwischen Bibliotheken und Fachwissenschaft. Sie tragen indes dazu bei, dass sich große Musiksammlungen und -bibliotheken wie die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin stärker als bisher nicht nur als (passive) Forschungsstätte, sondern auch als aktive Partner für die quellenorientierte Musikwissenschaft profilieren. Umgekehrt ergeben sich für die Bibliotheken auch neue Möglichkeiten und Herausforderungen, flexibler auf Wünsche und Anforderungen der Forschung zu reagieren und diese wirkungsvoll zu unterstützen. Roland Schmidt-Hensel Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Schmidt-Hensel, Roland, geb. 1970: Studium der Musikwissenschaft und Geschichte in Augsburg und Hamburg, 2004 Promotion mit der Arbeit „La musica è del Signor Hasse detto il Sassone …“. J. A. Hasses Opere serie der Jahre 1730-1745. Quellen – Fassungen – Aufführungen“ (im Druck erschienen Göttingen 2009). 2001-2003 Bibliotheksreferendariat an der Staatsbibliothek zu Berlin und der Bayerischen Bibliotheksschule München. Seit 2003 wissenschaftlicher Bibliothekar in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, seit 2004 Leiter des der Abteilung angeschlossenen Mendelssohn-Archivs, seit 2008 auch stellvertretender Abteilungsleiter. Veröffentlichungen u.a. zu Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse und zur Familie Mendelssohn, ab Band 18 (erscheint 2013) Mitherausgeber der Mendelssohn-Studien. roland.schmidt-hensel[at]sbb.spk-berlin.de 45