Harpfe 3/11 Andres C. Pizzinini Thema Pustertal Puschtra Häuser Das Erscheinungsbild des Pustertales ist von der traditionellen Bauweise des Einund Paarhofes geprägt. Andererseits ist es durch neue Architektur bestimmt. Eine Übersicht und die Antwort auf die Frage, wie das eine zum anderen passt. Allgemeines zum Pustertaler Hof Der Pustertaler Hof ist verhältnismäßig schmucklos. Das wichtigste Ornament ergibt sich im Sinne der Moderne aus dem konstruktiven Verfahren selbst: dem traditionellen Bundwerk im Ständerbau. Besonders im Haupttal herrscht der Bohlenständerbau vor, bei dem Holzbohlen den Raum zwischen dem tragenden Ständerwerk ausfüllen. In höher gelegenen Gebieten wie in den steilen Hängen des Ahrntals und im östlichen Pustertal findet sich häufig der Blockbau, der gelegentlich den unteren Teil des Gebäudes bildet und im oberen Stockwerk als Bohlenständerbau fortgesetzt wird. Unter dem First verläuft oft eine verschalte Galerie, die von außen nicht sichtbar ist. Das Dach ist im gesamten Pustertal samt den Seitentälern das alpine Satteldach, das häufig gewalmt ist. Es kann mehr oder weniger steil sein und wurde früher meist mit Holzschindeln und später mit Brettern gedeckt. Das Pustertal erstreckt sich von der Mühlbacher Klause im Westen bis zur Lienzer Klause im Osten. Bis zum Brunecker Becken sprechen wir vom westlichen Pustertal. Vom Brunecker Becken bis zur Lienzer Klause vom östlichen Teil. Das westliche Pustertal Das weite, grüne Tal sowie die ausladenden Paarhöfe aus Holz mit ihren großzügigen, gewalmten Dächern verleihen dem westlichen Pustertal sein ruhiges und behäbiges Gepräge. (Abb.1) Abb. 1 1 Paarhöfe in Pfunders 9 10 Der vorherrschende Paarhof ist durch die Trennung zweier Gebäude, dem Wohnhaus und dem Wirtschaftsgebäude gekennzeichnet – auch Feuer- und Futterhaus genannt. Die Namensgebung finden wir bereits in einer Urkunde aus dem adeligen Frauenstift Sonnenburg bei St. Lorenzen aus dem Jahr 1534.i Diese Trennung ist eine Fortentwicklung der Streusiedlung, die heute als ursprüngliches Besiedelungsmodell des gesamten Alpenraumes angenommen wird. Auch die Bajuwaren, die ins Pustertal einzogen, kannten die Streusiedlung. Dies geht aus der Lex Baiuwarorum hervor, der ältesten erhaltenen Sammlung bayerischen Stammesrechts aus dem 8. Jahrhundert.ii Die Streusiedlung, oder „Mehrhof“, wie sie auch genannt wird, sieht für die unterschiedlichen Zweckbestimmungen je ein eigenes Gebäude vor, was wahrscheinlich auf die konstruktive Einfachheit dieses Modells zurückzuführen ist. Ein seltenes erhaltenes Beispiel ist die Fanealm im Valser Tal. Konrad Bergmeister hat in seiner Untersuchung nachgewiesen, dass der Paarhof im unteren Pustertal mehr als die Häfte aller Höfe ausmacht.iii Diese Bauform kennt unterschiedliche Lagen der beiden Gebäude zueinander. Die häufigste ist die Nebeneinanderstellung, wobei die Giebelseiten talwärts ausgerichtet sind und das Wirtschaftsgebäude mit den Stallungen gelegentlich etwas vorgesetzt ist. Dadurch wird für das Wohngebäude ein vorteilhafter Windschatten erzeugt. Die beiden Gebäude liegen oft sehr nahe aneinander, Im unteren Pustertal tritt folgende Besonderheit zutage: Bei Terenten fanden sich bis vor wenigen Jahrzehnten noch strohgedeckte Steildächer, wie sie vor allem im Sarntal und am Ritten häufig vorkamen. Durch das steile Dach konnte das Stroh schwer auflasten, sodass es nicht vom Wind weggeblasen wur- Abb. 2 Abb. 3 2 Futterhaus mit steilem strohgedecktem Satteldach bei Terenten zuweilen wurden sie auch zusammengebaut, ohne dabei unter einem Dach versammelt zu sein. Dadurch wird der Weg vom Feuer- zum Futterhaus verringert. Diese Variante, der halbvollendete Einhof, findet sich vor allem in der Gegend um Pfalzen und St. Lorenzen. Das untere Pustertal kennt schließlich noch den Einhof, der nicht häufig, doch gelegentlich vorkommt. Vor allem zwischen Mühlbach und Vintl ist diesbezüglich auf den Talhöhen der Einfluss aus dem Wipptal erkennbar. Der Wipptaler Hof hat sich aus dem frühen Mittertennenhof heraus entwickelt. In dieser alten Typologie wurde das Gebäude längs durch eine Tenne, die als Durchfahrt diente, in Wirtschafts- und Wohnhaus getrennt. Der Wipptaler Einhof befindet sich allerdings im Unterschied zum ursprünglichen Mittertennenhof vor allem im Steilhang, weshalb er keine Durchahrt mehr aufweist und die Tenne in die Labe umgewandelt wurde.iv Der Paarhof ist auch in den Seitentälern des Pustertals wie im Antholzer Tal, im Pfunderer Tal, in Olang und im Gadertal die häufigste Typologie.v Das Dach im westlichen Pustertal 3 Futterhaus mit steilem Walmdach in der Nähe von Bruneck de. (Abb. 2) Nachfolger dieses Steildaches finden sich in der Gegend um Bruneck, wo vor allem die Wirtschaftsgebäude noch gelegentlich ein steiles Dach aufweisen, das allerdings nicht mehr mit Stroh gedeckt ist.vi (Abb.3) Darüber hinaus tritt hier sehr häufig das einseitig oder zweiseitg gewalmte Dach auf – im ersten Falle heißt der Walm Schopf. Obwohl diese Dachform vom östlich gelegenen Kärnten aus ins Pustertal vorgedrungen ist, tritt sie am häufigsten im westlichen Pustertal von Bruneck bis Mühlbach auf.vii Es taucht auch in den städtischen Zentren auf, was als Einluss der bäuerlichen auf die städtische Bauweise gilt. Insgesamt finden sich Walmdach und Satteldach in unterschieldicher Häufigkeit im gesamten Pustertal samt den Seitentälern. Von Holz und Mauer Der größte Teil des Hauses besteht im gesamten Pustertal aus Holz und hat eine rechteckige Form. Baumstämme sind eben nicht rund. Allgemein können wir sagen, dass das Pustertaler Haus im Vergleich zu anderen Tiroler Typologien, z.B. den Höfen im Inntal, ziemlich schmucklos ist, besonders im westlichen Pustertal. Seine Schönheit liegt vornehmlich in seiner Funktionalität. Die konstruktive Anordnung der Stützen und Bohlen im hölzernen Bundwerk erscheinen als das, was Architektur wesentlich ist, nämlich als ausgeglichene Beziehung zwischen Last und Stütze. Das Bundwerk ist das primäre Ornament des Pustertaler Hofes. Das Holz ist nicht nur im tektonischen Aufbau, sondern auch in der Oberflächenstruktur ein Merkmal bäuerlicher „Ästhetik“. Man denke an das tiefe Braun von der Sonne verbrannter Bohlen und Balken, vor allem beim Lärchenholz. Gelegentlich wurde der untere hölzerne Teil des Gebäudes mit Kalkmörtel verputzt, sodass er das Aussehen eines Mauerwerkes aufweist. Dies ist zuweilen nur bei den äußeren Stallwänden der Fall, zuweilen erstreckt sich der Verputz über die ganze Fassade, wobei er durch Querlatten am Blockwerk gestützt wird.viii In der Zeit der Pest, in der frühen Neuzeit, hatten der Wandverputz und die Tünche eine hygienische Funktion. Später spielten sie eine ästhetische Rolle, wobei sich dieses barocke Stilmittel am gemauerten Stadthaus orientierte. Wir sehen, dass solche architektonischen Täuschungen nicht erst in der „Fassadenarchitektur“ des Historismus im 19. Jahrhundert auftreten.ix Das moderne Postulat der Materialechtheit steht dieser Tradition der „Illusion“ klar entgegen. Eine Tradition, die hohe und niedere Kunst in Europa in der Vergangenheit stets bestimmt hat. Im unteren Pustertal wie z.B. Beispiel in Terenten, in Olang sowie in der Nähe von Bruneck findet sich häufig auch das gemauerte Hausx – diesmal nicht als Täuschung. (Abb. 4) Auch weisen die Gebäude hier gelegentlich einen Erker auf. Dieses Element ist ein weiterer Einfluss der städtischen auf die ländliche Bauweise, wobei der Erker zuweilen den Balkon ersetzt. Ein ausgeprägtes Mauerwerk war ein Zeichen von Reichtum und der heutige Pusterer figuriert als wohlhabender Städter oder gar als Adeliger, da er an allen Ecken und Enden seines Hauses Erker und schlossartige Türmchen anbringt. Abb. 4 4 Gemauertes Haus in Olang mit traditionell gemalten Eckquadern 11 Abb. 5 Ahrntal und Gadertal Die Seitentäler erfordern eine gesonderte Untersuchung. Es sei lediglich auf das Ahrntal und das Gadertal verwiesen, weil sie sehr anschauliche Varianten zum Haupttal darstellen. Wer das Ahrntal besucht, scheint wie die Romanfigur Alice eine Schwelle zu übertreten, die ins Wunderland führt. Ein Gebäude, das aussieht wie das Weiße Haus, ein Altbau, der in einen Glaskasten eingefasst ist und ein Indianerzelt mit dazugehörigem Wolf. (Abb. 5/Abb. 6) Die Meinung des Autors: Sofern Extravaganz eine Ausnahme bildet, ist sie willkommen. Auf den steilen Hängen des Tales finden sich sowohl der Einhof als auch der Abb. 8 Abb. 6 12 5 In Glas eingefasstes altes Haus in St. Jakob/Ahrntal Abb. 7 6 Nachbildung des Weißen Hauses bei Sand in Taufers/ Ahrntal 7/8 Entlegener Einhof in steilem Hang oberhalb von Gais/Ahrntal Paarhof. Der urige Ahrntaler Einhof, der bereits ab Gais auftritt, liegt anders als der Wipptalerhof nicht parallel zum Tal, sondern ist ihm giebelseitig zugewandt. Dementsprechend ist das Gebäude kurz und Wohnteil und Wirtschaftstrakt sind hintereinander befindlich. Weiters ist er zumeist als Blockbau errichtet. (Abb. 7/Abb. 8) Auffällig sind die pitoresken Dachreiter mit Glocke, die heute noch viele Häuser im Tale nach oben hin abschließen. Das Gadertal kennt zwei wichtige Unterschiede zum Pustertal: Die Gebäude, vor allem das Feuerhaus, sind hier auf drei Seiten auskragend und nehmen dadurch eine Pilzform an. Die Anordnung der Häuser rührt noch von der urtümlichen Streusiedlung her, wofür die Gadertaler den Namen viles verwenden. (Abb. 9) Im auffälligen Unterschied zum Ahrntal weist das Gadertaler Futterhaus großzügig ausladende Balkone mit Trockengestänge auf – parincinc genannt. Der rauhe Westwind des Ahrntales erlaubt keine solchen offenen Konstruktionen. Abb. 9 Das östliche Pustertal Vom umlaufenden Söller bekränzt und mit geschweiftem Giebel dekoriert, verleiht der Osttiroler Einhof dem Tal sein feierliches und frisches Erscheinungsbild. (Abb. 10) Ein weiteres landschaftsprägendes Merkmal ist das Trockengerüst Harpfe.xi Von einem Einhof sprechen wir, wenn Wohnhaus, Stall, Stadel und andere Zweckbauten unter einem First versammelt sind. Dieser Hoft tritt ca. ab Welsberg in Richtung Osten als häufigste Typologie auf. Hermann Wopfner stellte die Beobachtung an, dass von Welsberg bis Sillian unvermittelt eine Variante dieses Hofes auftritt, die auch im mittleren Inntal und im Wipptal erscheint: Ein stirngeteilter Einbau, dessen Wohnteil talseitig liegt und der Stall mit seiner Längsseite dem Berg zugekehrt ist.xii Kurz nach Welsberg in Richtung Osten prägt dieser Hof auch heute noch das Erscheinungsbild des Südhanges. Zwischen Abfaltersbach und Mittewald findet sich die Abb. 10 stärkste Konzentration des Einhofes. Ab Mittewald tritt wieder der Paarhof in Erscheinung, ohne dabei den Einhof zu verdrängen, der aus dem ursprünglicheren Paarhof hervorgegangen ist.xiii In dieser Mischung findet sich der Einhof auch im Gsieser und im Pragser Tal.xiv Das Seitental Villgraten kennt indes 9 Weiler (Vila) Seres bei St. Martin in Gadertal 10 Pitoreske Einhöfe in Vierschach/östliches Pustertal 13 ausschließlich den Einhof.xv Dieser tritt auch im Gsieser und im Pragser Tal auf. Mit der von Wopfner erwähnten Ausnahme ist der Einhof in Osttirol stets giebelseitig dem Tal zugewandt.xvi Der vorherrschende Bautypus ist hier der Blockbau.xvii In seinem Inneren entspricht er einem Mittelflurhaus, d.h. dass von einem mittleren Flur aus, Labe genannt, die Wohnräume rechts und links zugänglich sind.xviii Der Balkon ist beim Osttiroler Einhof ein stark ausgeprägtes Bauelement und erstreckt sich zuweilen um eine, zuweilen um zwei oder um drei Seiten des Hauses. Es handelt sich nicht um einen Verbindungsweg, sondern um einen Ort zum Trocknen verschiedener Feldfrüchte wie auch von Wäsche. In der Brüstung des Balkons sowie im kunstvoll geschweiften Giebel tritt die Liebe des Osttiroler Bauern fürs Ornament zutage. Vereinheitlichung Das Pustertal ist von alters her ein verkehrsoffenes Gebiet und weist bereits in früher Zeit Bestandteile unterschiedlicher Kulturen wie z.B. von Slaven und Romanen auf. Auch wenn von einem Pustertaler Hof gesprochen werden kann, finden sich gerade in jüngerer Zeit im Tal starke externe bauliche Einflüsse. Ein Beispiel ist die talübergreifende spätbarocke Gepflogenheit, die gemauerten Wände mit ockerbräunlichem Ton einzufärben, wobei die weiß belassenen Fenster- und Türprofile als Blendrahmen in den Vordergrund treten. Dieses malerische Stilmittel verleiht den Wänden weitere Profilierung, was aufgrund gewandelter Schönheitsvorstellungen heute Abb. 12 etwas ältlich erscheint. (Abb. 11) Ein weiteres architektonisches Merkmal aus barocker Zeit, das weite Verbreitung fand, ist das Futterhaus mit gemauerten Pfeilern und hölzernen Wänden. Diese statische Neuerung kann besonders im Etschtal, Eisacktal und Pustertal, aber auch weiter entfernt in Graubünden in der Schweiz festgestellt werden. Ein Ornament, das von außen ins Pustertal importiert wurde, ist weiters der horizontale Spannriegel vor dem Giebel. Vor allem Häuser jüngeren Alters in ländlicher Gegend mit städtischem Erscheinungsbild weisen dieses ortsuntypische Ornament auf, das traditionell im Inntal und im Wipptal auftritt. (Abb. 12) Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Erstellung einer Gebäudetypologie zeitbedingte Unterschiede berücksichtigen sollte.xix Besonders ältere Literatur übersieht gelegentlich diesen Aspekt; nicht zuletzt aus dem Grund, da die archäologische Methode der Dendrochronologie zur Datierung von Holzbauteilen erst seit wenigen Jahrzehnten nutzbar gemacht werden konnte. Architektur in der Gegenwart Was von der Vereinheitlichung in barocker Zeit gesagt wurde, gilt in noch größerem Maß in der Gegenwart. Besonders jene Gebäude, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, können nur unter Berücksichtigung internationaler Architektur- Abb. 11 14 11 Futterhaus im unteren Pustertal. Die Jahrhunderte haben in unterschiedlichen Schichten dem Gebäude sein jetztiges Gepräge verliehen: traditionelles Bundwerk, barocke Wandbemalung sowie Mauerpfeiler und die Frucht der Gegenwart: eine Werbetafel. 12 Neubau bei Vintl mit untypischem Spannriegel strömungen verstanden werden. Dieses weite Thema wird hier anhand von drei „Baugeschichten“ des Pustertales zur Sprache gebracht, die eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit kulturell Gewachsenem darstellen. Die sozialen Umstände sowie die Haltung der Besitzer und Planer der Gebäude werfen weiteres Licht aufs Thema. Zuvor sei kurz ein Baustil angesprochen, der in der zweiten Jahrhunderthälfte auftaucht und auch im Pustertal häufig vorkommt: der so genannte „Alpine Lederhosenstil“. Es handelt sich um weitgehend gemauerte Gebäude mit lackierten, hölzernen Bauelementen, die vage an den alpinen Hof erinnern und mit übermäßigem Schmuck behangen sind. Diese Bauten genießen den Vorzug, dass der Betrachter weiß, sich im Alpenland zu befinden und den Nachteil, dass er lieber woanders wäre. Abb. 14 Eine Dachgeschichte aus Dietenheim Das erste Beispiel ist ein Gebäude in einer Wohnsiedlung in Dietenheim bei Bruneck; einer Ortschaft, in der das großzügig angelegte Walmdach älterer Gebäude noch mehr oder weniger vorherrscht. Ein Haus aus den 80er-Jahren wurde 2010 abgerissen und an dessen statt ein neues errichtet, in das die Besitzerin Carmen Junir zusammen mit ihrem Mann und ihren Eltern unlängst eingezogen ist. Der Baukörper weist ein Satteldach auf, einen offenen Giebel und eine hölzerne Verschalung in der Fassade. (Abb. Abb. 15 13) Der Bau sticht hervor, obwohl er in seiner Form an die Gebäude nebenan anschließt, zumindest teilweise. Die ursprüngliche Absicht war allerdings eine andere, nämlich ein Flachdach zu errichten. „Wir hatten irgendwie Angst vor schiefen Räumen“, erinnert sich Carmen. Ihr Mann Stefan gesteht, er habe sich „von der Moderne täuschen lassen“. Ihr Umdenken kam nicht aus Einsicht, sondern aus Notwendigkeit: Die Baukommission hat das Flachdach nicht genehmigt. Heute sind Carmen und Stefan sehr glücklich über diese Entscheidung und freuen sich über die Mansarde. Tatsächlich ist das Gebäude außen schlicht, luftig und zu den anderen Häusern passend. Innen ist es lichtdurchflutet und vermittelt einen gemütlichen, erhebenden Eindruck. (Abb. 14) Trotzdem ist im Kopf vieler Leute – mehr oder weniger explizit – die Vorstellung verankert, das Steildach sei überholt, Abb. 13 13 Gebäude mit Satteldach in der Wohnsiedlung in Dietenheim 14 Blick aus dem offenen Giebel auf die darunter befindlichen Flachdächer/ Wohnsiedlung Dietenheim 15 Lichtes Interieur der Mansarde/Wohnsiedlung Dietenheim 15 16 die Mansarde wirke bedrückend und gemahne an ärmliche Verhälnisse. Es sei daran erinnert, dass die Mansarde im 16. Jahrhundert als Luxuswohnung entstand. Das Beispiel von Carmens Haus ist positiv, doch das Umfeld wirft einige Fragen auf. Zur selben Zeit als Carmen umbaute, fand auch bei zwei Nachbarn eine Häuserzeile weiter in Richtung Tal ein Umbau statt. Doch hier entstanden zwei Flachdächer, obwohl derselbe Architekt wie bei Carmens Haus am Werk war, nämlich Gerd Forer. (Abb. 15) Die Baukommission hat kurioserweise dieses Flachdach-Projekt genehmigt, unter der Bedingung, dass der Nachbar in derselben Häuserzeile ebenfalls ein Flachdach errichten lasse, falls er gedenke umzubauen. Blicken wir ein Haus weiter in Richtung Westen, so ragt eine merkwürdige Mischung aus Pult- und Satteldach in den Himmel. Fazit: Auf hundert Quadratmetern finden sich vier gänzlich unterschiedliche Dachtypen, was bedeutet, dass von einem einheitlichen Erscheinungsbild nicht die Rede sein kann. Der Fraktionssprecher von Dietenheim Englbert Niederstätter erinnert an das „Mischmasch von Stilrichtungen“ der Wohnsiedlung Aufhofen, die unweit der besprochen Gebäude liegt und den Dietenheimern als abschreckendes Beispiel präsent ist. Doch angesichts der geschilderten Situation scheint der Schreck doch nicht so tief zu sitzen. Matthias Plaikner, Leiter der zuständigen Dienststelle für Raumordnung und Bauwesen, spricht sich grundsätzlich für ein einheitliches Erscheinungsbild der Siedlungen aus. Im Falle der Flachdach-Beispiele in Dietenheim sei es der Baukommission allerdings nicht gelungen, Projektanten und Bauherren von diesen Ideen zu überzeugen, so Plaikner. Trotzdem hat die Baukommission zugestimmt, anders als bei Carmens Haus, was zumindest auf eine Unentschlossenheit der Behörde schließen lässt. Plaikner erinnert auch an die Schwierigkeiten, vor die sich Gemeinden gestellt sehen angesichts des Kubaturbonus’, da Bauherren und Planer jeden Quadratmeter ausnutzen wollen. Und „ausnutzen“ bedeutet offensichtlich in der Vorstellung vieler Leute ein Flachdach. Nach der Meinung des Planers, des Architekten Forer, sollte eine Baukommission keine verbindliche Typologie vorgeben. Dies sei keine Garantie für Qualität und hindere die Freiheit der Architektur, so Forer. Gleichzeitig beteuert er, dass Architektur ortstypischen Charakter haben solle. Man möchte als netter Mensch den Architekten ihre Freiheit und den Bewohnern ihre Gratis-Kubikmeter vergönnen, gleichzeitig möchte man lokale Identität bewahren und möglichst keine Bestimmungen „von Abb. 16 Abb. 17 16 Alter Bau vor der Sanierung in St. Sigmund 17/18 Moderner Bau, der sich an bereits Bestehendem orientiert/St. Sigmund Abb. 18 oben“ aufoktroiert bekommen. Ob all dies ohne Abstriche vereinbar ist, erscheint angesichts der Situation in Dietenheim und vor allem in Aufhofen zumindest fraglich. Dass die beiden Wohnsiedlungen nur ein Beispiel unter vielen sind, erinnert eine Aussage des Stiftungspräsidenten der Kammer der Architekten Luigi Scolari: „Die Planer unterstreichen meistens noch die Abgrenzung der neuen Zonen von den bestehenden Zentren: Jede wird unterschiedlich gestaltet, es gibt weder Vernetzungen noch formale, typologische und baumassenbezogene Kohärenzen.“xx St. Sigmund Das folgende Beispiel ist eine Sanierung eines älteren, architektonisch verhältnismäßig unbedeutenden Gebäudes. (Abb. 16) Das jetzige Wohnhaus ist allerdings fast bis auf die Grundmauern neu. Der zweistöckige schmucklose Mauerbau bildet zur gegenüberliegenden Scheune einen gewagten Kontrast, aber keinen Bruch. (Abb. 17/Abb. 18) In Maßen und Form entspricht der neue Bau genau dem alten, wodurch das Satteldach erhalten bleibt und auch der Verlauf der Gasse nicht gestört wird. Trotzdem finden sich Elemente der Moderne wie z.B. die Assymetrie in der Verteilung der Fenster sowie der nackte, unprofilierte Baukörper. Das Gebäude zeigt, dass es möglich ist, modern zu bauen, ohne auf jeglichen Ortsbezug zu verzichten, oder sich gar ostentativ davon abzugrenzen. (Abb. 19) Dem Bauherren Alfred Mutschlechner sei nach eigener Aussage der Ortsbezug wichtig. Der verantwortliche Architekt Bruno Rubner schließt sich dem an, was seiner Ansicht nach eine neue Gesinnung unter Planern sei: „Die Architekten werden allmählich ruhiger und demütiger.“ Der Ensembleschutz sei an diesem Umdenken wesentlich mitbeteiligt, so Rubner. Vierschach Die Familie Klocker ist vor genau 100 Jahren von Assling jenseits der heutigen Grenze zu Österreich nach Vierschach gezogen, um einen größeren Hof, namentlich den Valtnerhof, zu bewirtschaften. Es handelt sich um einen Einhof, der giebelseitig zum Tal liegt, wobei sich talseitig Küche und Stube befinden Abb. 19 19 Moderner Bau (rechts), der Bestehendes gänzlich ignoriert, Vintl 17 Abb. 20 18 und bergseitig der Stall. 1956, im Geburtsjahr von Raimund Klocker, dem jetztigen Bauern, wurde der Bau um einen Stock erhöht. Während der Umbauphase habe es damals in sein Zimmer geschneit, erinnert sich die Familie Klocker. Im Jahr 2006 wurde der Hof saniert. Ein Unterfangen, das finanziell nicht möglich gewesen wäre, wenn Raimund und sein Sohn Hannes nicht selbst Hand angelegt hätten. „Ein Neubau wäre wahrscheinlich billiger gewesen, doch der Hof ist ein Stück Geschichte“, begründet Hannes den vergossenen Schweiß. (Abb. 20/Abb. 22/ Abb. 23) Ein Bohlenständerbau auf einem darunterliegenden Blockbau ist ein traditionelles Stilmittel in Tirol. So wirkt auch die Erhöhung des Hofes der Familie Klocker kompakt, harmonisch und hat nicht den An- schein eines Stückwerkes, was bei Erweiterungen am Land oft der Fall ist. Der Valtnerhof, der durch eine Tafelmalerei bereits vor 1742 zu datieren ist, steht heute unter dem Schutz der „Ortsprägung“. Durch die Erweiterung konnten einige Wohnungen für Feriengäste eingerichtet werden. Diese finanzielle Stütze ermöglicht Raimund und seinem Sohn Hannes weiterhin Bauern zu sein: ihr Fachgebiet, ihre Leiden- Abb. 21 Abb. 22 20 Alter Valtnerhof vor der Erweiterung in Vierschach 21 Kühe im Stall des Valtnerhofes 22 Neuer Valtnerhof in den fünfziger Jahren kurz nach der Erweiterung in Vierschach 23 Valtnerhof nach der Sanierung 2006 in Vierschach Abb. 23 Mag. Andres C. Pizzinini, Studium der Kunst in Urbino (Italien), Dissertant an der Philosophischen Fakultät in Innsbruck, Mitarbeiter „Harpfe“ Literatur I Vgl. Konrad Bergmeister, Volkstümliches Bauen und Wohnen im unteren Pustertal – Südtirol, Innsbruck 1985, S. 44. II Vgl. Konrad Bergmeister, Volkstümliches Bauen und Wohnen im unteren Pustertal – Südtirol, Innsbruck 1985, S. 42. III Vgl. Konrad Bergmeister, Volkstümliches Bauen und Wohnen im unteren Pustertal – Südtirol, Innsbruck 1985, S. 78. | IV Vgl. Konrad Bergmeister, Volkstümliches Bauen und Wohnen im unteren Pustertal – Südtirol, Innsbruck 1985, S. 62–63. | V Vgl. Maria Paola Paganini Alberti, La casa rurale nella Val Pusteria, Trieste 1975, S. 12. | VI Vgl. Hermann Wopfner, Bäuerliche Siedlung und Wirtschaft. In: Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte, Geistiges Leben, Hg. Hauptausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Band I, München 1933, S. 232–233. | VII Vgl. Maria Paola Paganini Alberti, La casa rurale nella Val Pusteria, Trieste 1975, S. 49–40. Vgl. auch Kunibert Zimmeter, Unser Tirol, Innsbruck 1919, S. 55–56. | VIII Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, S. 133. Vgl. auch Maria Paola Paganini Alberti, La casa rurale nella Val Pusteria, Trieste 1975, S. 43. | IX Der Volkskundler Hermann Wopfner spricht diesbezüglich von „einigen Ausnahmen“ zur übrigen Wahrhaftigkeit bäuerlicher Architektur, was vom Autor als eine Untertreibung im Stil der 30er-Jahre eingeschätzt wird. Vgl. Hermann Wopfner, Bäuerliche Siedlung und Wirtschaft. In: Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte, Geistiges Leben, Hg. Hauptausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Band I, München 1933, S. 235. | X Vgl. Maria Paola Paganini Alberti, La casa rurale nella Val Pusteria, Trieste 1975, S. 44. | XI Zur Entstehungsgeschichte und Verbreitung der Harpfe vgl. die einschlägigen Artikel von Egon Kühebacher und Karl C. Berger in Harpfe Nr. 1. | XII Vgl. Hermann Wopfner, Bäuerliche Siedlung und Wirtschaft. In: Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte, Geistiges Leben, Hg. Hauptausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Band I, München 1933, S. 233. | XIII Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, S. 18. | XIV Vgl. Maria Paola Paganini Alberti, La casa rurale nella Val Pusteria, Trieste 1975, S. 12. | XV Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, Karte, S. 14–15 sowie S. 26. | XVI Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, S. 27. | XVII Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, S. 71. | XVII Vgl. Alois Ebner, Hauskunde in Osttirol, Innsbruck 1971, S. 44. | XIX Auf dieses „chronologische Korrektiv“ wurde der Autor vor allem vom Archäologen Mag. Armin Torggler aufmerksam gemacht. | XX Luigi Scolari, Eine besondere Identität: Die Entwicklung der Raumplaung in Südtirol. In: Wohn Raum Alpen/ Katalog, Meran 2010, S. 275. 19 EIN ARCHITEKTURMANIFEST Stil als Option Die Vertreter der Klassischen Moderne wollten den Stil eines Gebäudes seiner Funktion unterwerfen. Sie radikalisierten ihr Vorhaben, sodass der Stil schließlich überflüssig wurde und das Haus zur Maschine mutierte. Die Postmodernen stellen den Stil der Freiheit des einzelnen Architekten anheim, der mit ironischer Distanz stilistische Zitate verwendet. Beides hat dazu geführt, dass die Häuser im Alpenland gleich aussehen wie in den USA, in Russland oder in einem anderen beliebigen Ort unseres Planeten: das Ende regionaler Kulturen. Dagegen: Einst bestand die Ernährung aus den Früchten der umliegenden Felder. Wer sich im 21. Jahrhundert ernährt, trifft eine bewusste Selektion aus dem, was der Markt anbietet. Einst waren Gesundheit, Krankheit und Tod ein Schicksal der Natur. Im 21. Jahrhundert entscheiden wir bewusst, mit welchen Medikamenten wir Krankheiten bekämpfen. Die Möglichkeit lebensverlängernder Technik macht zuweilen sogar den Tod zur bewussten Entscheidung. Einst folgten Form und Stil des alpinen Hauses den zur Verfügung stehenden Materialien, der Funktion des Gebäudes und der Tradition. Im 21. Jahrhundert bieten uns die fortgeschrittene Technik sowie der liberale Gedanke zahlreiche formale und stilistische Möglichkeiten, das Haus so zu gestalten, wie es uns beliebt. Form und Stil unterliegen weder einem Funktions- noch einem Traditionszwang. Form und Stil sind eine freie Option. Passend und schön ist eine Architektur, wenn sie in einem formalen und stilistischen Verhältnis zur natürlich und kulturell gewachsenen Umgebung steht. Der zu beschreitende Weg ist eine Gratwanderung und führt zwischen der Skylla der unfunktionalen Täuschung und der Charybdis der formalen Willkür hindurch. Um diese Übel zu umschiffen, sind Wissen und Kreativität des Architekten erfordert. Zwei Beispiele: E F I 2) Es ist heute sinnvoll, ein Satteldach aus Holz zu errichten, wo dies als lokales Stilmittel gegeben ist. Im Unterschied zu früher ist heute ein hölzernes Satteldach eine freie Option und unterliegt keinem funktionalen Zwang, da Technik und Materialien ermöglichen, dieselbe Funktion auch durch ein Flachdach aus Zement zu erfüllen. Trotzdem handelt es sich nicht um eine Täuschung, da das Satteldach durchaus seine schützende Funktion erfüllt. Wird die Option fürs Satteldach für ein Haus in Griechenland getroffen, ist sie willkürlich – anders beim alpinen Haus, wo sie begründet ist, da es sich um ein lokales Stilmittel handelt. N A M Eine freie Option ist nicht weniger wert als ein Verhalten aus Notwendigkeit, sondern mehr. Denn die Freiheit ist das spezifische Merkmal des Menschen und eine Betätigung nach dem, was einem Wesen spezifisch eigen ist, bedeutet seine Vollendung. Dass eine Option frei ist, heißt aber nicht, dass sie richtig ist. Nicht jede Nahrung, die wir wählen, schmeckt gut und ist gesund. Nicht jedes Medikament ist gleich wirksam, nicht jeder Tod gleich würdig. Nicht jeder Stil ist gleich passend oder gar schön. 20 T S 1) Wer heute über die technischen Möglichkeiten verfügt, kann einen Balkon als freitragendes Bauelement errichten. Dabei soll dem Balkon keine Scheinstütze untergeschoben werden, nur weil Balkone früher Stützen hatten. Dies entspräche einer unfunktionalen Täuschung. Es gilt die Regel: Traditionelle Formen werden beibehalten, sofern sie nicht einer Täuschung gleichkommen oder unfunktional sind. Der alpine Stil des 21. Jahrhunderts entspringt somit einer freien und begründeten Option für die Tradition. Andres C. Pizzinini