IST DAS GANZE GRÖßER ALS SEIN TEIL ?EINIGE ANMERKUNGEN ZUR GESCHICHTE EINES SCHEINBAR EVIDENTEN PRINZIPS Klaus VOLKERT Seminar für Mathematik und ihre Didactik, Universität zu köln, köln, Allemagne Dominique Flament (dir) Série Documents de travail (Équipe F2DS) Histoires de géométries : textes du séminaire de l’année 2003, Paris, Fondation Maison des Sciences de l’Homme, 2004 Ist das Ganze größer als sein Teil? – Einige Anmerkungen zur Geschichte eines scheinbar evidenten Prinzips (Klaus Volkert, Frankfurt a. M.)1 Für das Verständnis der Grundlagen der Geometrie ist es sehr vorteilhaft, Euklid gründlich zu lesen und seine Methoden mit den heutigen zu vergleichen. (Max Dehn)2 Einen hervorragenden Platz in Jürgen Schönbecks Schaffen nimmt die Auseinandersetzung mit Euklid, insbesondere mit dessen „Elementen“, ein. Seine Veröffentlichungen zu diesem Thema machen deutlich, wie relevant auch heute noch die Beschäftigung mit Euklid ist. Die folgende Abhandlung möchte einen bescheidenen Beitrag zu dem großen Projekt leisten, Euklid zu verstehen und seine Wirkung auf die weitere Mathematik nachzuvollziehen. Hierzu wurde das achte Axiom gewählt, das bislang recht wenig Beachtung gefunden hat. Dabei schwang aber auch eine weitere Überlegung mit: Für die Didaktik der Mathematik, ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld von Jürgen Schönbeck, ist gerade die Untersuchung von scheinbar oder wirklich Selbstverständlichem in seinem Spannungsverhältnis zum mathematisch Beweisbaren von großer Wichtigkeit: Soll man Alles beweisen, was man beweisen kann? Oder ist der Rückgriff auf Selbstverständliches erlaubt, vielleicht sogar für die Schule unumgänglich? Gegenüber stehen sich hier die Strengewelle einerseits – paradigmatisch vertreten einst durch die Neue Mathematik – und die Haltung des gesunden Menschenverstandes andererseits – heute besonders aktuell im Gewande von Computer- und Anwendungsorientierung. Einen praktikablen Mittelweg zu finden, ist eine wichtige Aufgabe der Didaktik der Mathematik, der sich Jürgen Schönbeck u.a. in dem von ihm herausgegebenen Schulbuch „Plus“ immer wieder gestellt hat. Das achte Axiom in Euklids „Elementen“ Das achte Axiom des ersten Buchs der „Elemente“ des Euklid lautet in der Übersetzung von Clemens Thaer so: Das Ganze ist größer als der Teil.3 Dieses Axiom enthält offenkundig drei zentrale Begriffe: Ganze, Teil und größer, die von Euklid an dieser Stelle ohne explizite Definition eingeführt werden. Bekanntlich finden sich zu den beiden erstgenannten Termini ausführliche Überlegungen im Werk des Aristoteles, insbesondere in dessen „Metaphysik“. Dort geht es hauptsächlich um verschiedene Arten des Ganzen, welche unterschieden werden durch ihren Aufbau aus den Teilen: Das „Ganze“ ist abzugrenzen gegenüber dem „Gesamten“, wobei bei ersterem die Relationen zwischen den Teilen wichtig ist, diese also im Allgemeinen nicht austauschbar sind (Beispiel: das Gewand), während das letztere gegenüber den Relationen zwischen seinen Bestandteilen gleichgültig ist, diese also austauschbar sind (Beispiel: das gesamte Wachs).4 Das Ganze ist inhomogen zusammengefügt aus seinen Teilen, das Gesamte homogen. Nur in seinem Falle macht es Sinn, das Ganze durch einen seiner Teil messen zu wollen: Wir können fragen, wie oft passt dieser Teil Wachs in jenes 1 M. Reményi (Heidelberg) gilt mein Dank u.a. für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Beschaffung von Material. R. Hartshorne (Berkeley) danke ich für eine interessante Diskussion zum Thema “Axiom von de Zolt”, insbesondere für einige wichtige Hinweise (siehe unten). 2 Dehn 1976, 186 n. 2. 3 Heath bemerkt zum achten Axiom: The axiom appears to be an abstraction or generalisation substituted for an immediate inference from a geometrical figure, but it takes the form of a sort of definition of whole and part. The probabilities seem to be against its being genuine, notwithstanding Proclus’ approach of it. (Heath 1956, I 232) Auf die Frage, ob das achte Axiom wirklich von Euklid stammt oder erst später eingefügt wurde, möchte ich hier nicht näher eingehen; man vgl. hierzu die Diskussion bei Mueller 1980, 35f. 4 Vgl. Aristoteles 1999, 160f. 67 Gesamt von Wachs, nicht aber, wie oft passt der Ärmel in das Hemd.5 Kurz: Die Ganzen der Mathematik, insbesondere der Geometrie, sind Gesamtheiten im Sinne des Aristoteles. In Euklids achtem Axiom wird die Relation6 „Teil-Ganzes“ kombiniert mit einer Ordnungsrelation, der Grösserbeziehung. Der Begriff des Teiles wird bei Euklid in der ersten Definition des fünften Buches wieder aufgegriffen: Teil einer Größe ist eine Größe, die kleinere von der größeren, wenn sie die größere genau misst. Dies würde man heute als „Teiler“ oder als „aliquoten Teil“ bezeichnen.7 Die Beziehung „Teil-Ganzes“ ist eng verbunden mit der Beziehung „ein Verhältnis haben“, die im fünften Buch eine wichtige Rolle spielt. Dass sie ein Verhältnis zueinander haben, sagt man von Größen, die vervielfältigt einander übertreffen können. (V, Def. 4).8 Geht man davon aus – was plausibel erscheint – dass ein Teil und das zugehörige Ganze stets ein Verhältnis zueinander haben sollten, folgt hieraus eine gewisse Einschränkung bezüglich dessen, was Teil genannt werden kann. Nimmt man beispielsweise ein Dreieck und die Größe Flächeninhalt, so wird man ein echtes Teildreieck9 desselben als Teil bezeichnen, nicht aber einen Punkt oder eine Kante. Die letzteren scheiden aus, denn einem Punkt oder einer Kante müsste man – wenn überhaupt – den Flächeninhalt Null zuschreiben; das Verhältnis von Inhalt des Dreiecks zu Inhalt des Teiles wäre dann eines einer endlichen Größe zu Null, also etwas Undefiniertes.10 Offenkundig ergeben sich Schwierigkeiten, wenn es auch Teildreiecke mit verschwindendem Inhalt geben sollte – und damit sind wir bei einem wichtigen Aspekt unserer Geschichte angelangt. Wollen wir Genaueres über Euklids achtes Axiom erfahren, so müssen wir, in Ermangelung von kommentierenden Ausführungen, auf dessen Verwendung in den „Elementen“ zurückgehen.11 Es gibt zwei Typen von Verwendungen des Axioms 8: Zum einen wird es in Widerspruchsbeweisen verwendet, zum andern, um die Monotonie von Größenbeziehungen bei Winkeln zu begründen. Die Argumentationsstrategie im ersten Sinne verläuft so: Sei T ein Teil von G. Nach Axiom 8 ist dann T < G.12 Aus geometrischen Gründen ergibt sich aber 5 Doch wird wohl Teil in verschiedenen Bedeutungen gebraucht, von denen die eine die ist, dass er das Maß der Quantität nach bezeichnet. (Aristoteles 1999, 197) 6 Auf das große Interesse, das diese Relation für sich beanspruchen darf, und auf die Tatsache, dass die hiermit zusammenhängenden Probleme keineswegs durch die moderne Mengenlehre alle erledigt werden, hat mich vor vielen Jahren Kuno Lorenz (Saarbrücken) aufmerksam gemacht, dem ich für manche Anregung im Bereich der Philosophie der Mathematik verpflichtet bin. 7 Teil heißt in einer Bedeutung dasjenige, in welches das Quantitative irgendwie geteilt werden kann; denn was vom Quantitativen als solchem genommen wird, heißt immer Teil desselben; von der Zahl Drei z. B. heißt in gewissem Sinne Zwei ein Teil. In einem andern Sinne heißt unter diesem nur dasjenige Teil, welches das Quantitative misst; daher heißt in dem einen Sinne zwei ein Teil von drei, in dem andern nicht. (Aristoteles 1999, 160) 8 Größen, die ein Verhältnis zueinander haben, heißen in der Tradition gleichartig oder homogen; heute spricht man davon, dass sie demselben Größenbereich angehören. 9 Was man modern präzisieren würde durch die Forderung „mit nichtleerem Inneren“. Durch Beschränkung auf „echte“ Teile (im Sinne von Teile, die selber Polygone sind) werden auch Paradoxien im Stile von BanachTarski vermieden (vgl. Guinot 1991). 10 Abstrakter betrachtet könnte man daran denken, dass die obigen Überlegungen so etwas wie unendlich kleine Größen ausschließen. In dieser Hinsicht bemerkenswert ist, dass das Archimedische Axiom bei Hilberts Überlegungen zum Teil-Ganze-Problem eine wichtige Rolle spielt; siehe unten. Im Übrigen ist die Frage, wie die Teile zueinander liegen, insbesondere, ob sie eine gemeinsame Grenze besitzen oder nicht, bei Aristoteles konstitutiv für die fundamentale Unterscheidung zwischen diskreten und kontinuierlichen Größen (vgl. Aristoteles 1974, 52 –56). 11 Wir werden uns hier auf das erste Buch beschränken; herangezogen habe ich neben den gängigen EuklidAusgaben von Heath und Thaer Mueller 1980 sowie Neuenschwander 1972/73. 12 Genau genommen müsste man aus unserer heutigen Sicht unterscheiden zwischen den Objekten (z.B. Dreiecke) und den ihnen zugeordneten Größen (etwa Flächeninhalt). Bezeichnet man mit kleinen griechischen Buchstaben die zugeordneten Größen, so schriebe sich obige Überlegung so: T Teil von G ⇒ τ < γ. Naheliegend ist es ferner für uns, „ist Teil von“ im Rahmen der Geometrie als „ist Teilmenge von“ zu lesen. Das führt zu der 68 auch T = G. Widerspruch! Die zweite Argumentation sieht so aus: T ist ein Teil von G , folglich ist T < G. Das achte Axiom wird erstmals im Beweis von Satz 6, der Umkehrung des Basiswinkelsatzes13 für gleichschenklige Dreiecke, verwendet: Wenn in einem Dreieck zwei Winkel einander gleich sind, müssen auch die den gleichen Winkeln gegenüber liegenden Seiten einander gleich sein. Der Beweis14 verläuft so: Seien die Winkel bei B und C gleich. Angenommen, die Seite AB wäre ungleich der Seite AC, etwa größer. Dann trage man auf AB von B aus AC ab und erhalte den Endpunkt D. Nun verbinde man D mit C. Das Dreieck ABC ist kongruent dem Dreieck BCD nach SWS, das kleinere dem größeren (Ax. 8); dies wäre Unsinn; also kann AB nicht ungleich AC, ist ihm also gleich. Untersucht man diesen Beweis näher, so fällt folgendes auf (wenn man entsprechend sensibilisiert ist!). Erstens verwendet Euklid stillschweigend eine Ordnungsrelation für Strecken, die Folgendes sicherstellt: Ist AC < AB15, so liegt der Endpunkt D der zu AC kongruent abgetragenen Strecke BD im Innern von AB, ist also von A verschieden16. Dann aber ist das Dreieck BCD – ebenso natürlich auch sein Komplement ADB - tatsächlich ein Teil und damit Axiom 8 anwendbar. Der Widerspruch ist nun nicht einfach, dass das Ganze (Dreieck ABC) seinem Teil (Dreieck BCD) kongruent sein solle, sondern erst, dass Kongruentes „gleich“ ist17 und deshalb das Ganze seinem Teil gleich wäre. Anders gesagt: Nimmt man vom Ganzen den Teil ADC weg, so kann der Rest – Teil BCD – nicht dem Ganzen gleich sein (und damit a fortiori auch nicht kongruent!). Läßt man einen Teil weg, so verändert dies die Größe! Der Euklidische Beweis von I 6 lässt sich leicht so modifizieren, dass die indirekte Form und die Argumentation über den Flächeninhalt vermieden wird. Hierzu konstruiert man Punkt D nebst Dreieck BCD wie eben, schließt aber aus der Kongruenz der Dreiecke ABC und BCD und der Eindeutigkeit der Winkelantragung auf ∠ BCD = ∠ BCA und damit auf A = D (vgl. Hartshorne 2000, 98). Die indirekte Verwendung – wieder in Verbindung mit Winkeln - von Axiom 8 findet sich auch im nachfolgenden Satz 7, der wesentlichen Vorbereitung des Kongruenzsatzes SSS (Satz 8 bei Euklid)18. griffigen aber reichlich ahistorischen Formulierung: T ⊂ G ⇒ τ < γ. Im Allgemeinen werde ich auf solche Modernismen verzichten. 13 Dieser Satz wird in unserer Geschichte noch einmal eine wichtige Rolle spielen, nämlich in Hilberts Abhandlung Über den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck (Hilbert 1972a). 14 Proklos bemerkt hierzu: Dieser Lehrsatz lässt zum ersten Mal zwei Dinge in Erscheinung treten, die Umkehrung und die Hinausführung auf etwas Unmögliches. (Proklos 1945, 342) Das Auftreten von Axiom 8 war Proklos anscheinend nicht der ausdrücklichen Erwähnung wert. 15 Vgl. Fußnote 11 von oben. 16 Man wird also davon ausgehen, dass bei Euklid nur abgeschlossene Strecken auftreten, denn sonst hätte man ja mit Phänomenen zu kämpfen wie der Tatsache, dass eine offene Strecke in der entsprechenden abgeschlossenen enthalten ist. 17 Das besagt gerade Axiom 7 (Was einander deckt, ist einander gleich), wenn man „decken“ als „kongruent sein“ liest. Die im Text von mir betonte Unterscheidung wird allerdings von Mueller als überflüssig erklärt; vgl. Mueller 1980, 35f. 18 Allerdings lässt sich abweichend von Euklid der Kongruenzsatz SSS auf SWS zurückführen, also Axiom 8 an dieser Stelle vermeiden; vgl. etwa Hilbert 1972, 20f. 69 Im Sinne der Monotonie wird Axiom 8 erstmals direkt im Beweis von Satz 16 – dem schwachen Außenwinkelsatz – verwendet. Da dieser Satz ein Eckstein in der Architektur des ersten Buches ist, hängen über ihn viele Sätze dieses Buches vom Axiom 8 ab. Sei ABC ein Dreieck; wir wollen beweisen, dass der Winkel bei A kleiner ist als der Außenwinkel ACD. Dazu halbiere man AC in E und trage auf der Verlängerung von BE über E hinaus die Strecke BE nochmals ab; ihr Endpunkt sei F. Dann sind die Dreiecke ABE und CFE nach SWS kongruent (hier gehen die Scheitelwinkel bei E ein), also sind insbesondere die Winkel BAE und ECF gleich. Aber ∠ ECD > ECF (Ax. 8); also ist ACD > BAE. Modern würde man diese Überlegung so durchführen, dass man zeigt, der Schenkel CF liegt im Innern des Winkel(feldes) ACD. Man bemerkt, dass Axiom 8 hier relativ einfach durch etwas anders geartete Überlegungen ersetzt werden kann. Dies liegt allerdings nicht an der direkt genannten Vorgehensweise, sondern daran, dass das Axiom hier auf Winkel angewandt wird. In der direkten Verwendungsweise tritt das achte Axiom im ersten Buch weiterhin explizit auf in den Sätzen 18, 20 und 24 – und zwar immer in Verbindung mit Winkeln. In der Art des indirekten Beweises hingegen tritt es auf im Beweis des dritten Kongruenzsatzes, erster Teil (WSW – bei Euklid Satz 26). Hier ergibt sich der Widerspruch aus der Tatsache, dass ein Teilwinkel dem ganzen Winkel gleich sein soll. Für uns interessanter ist das Auftreten von Axiom 8 im Beweis des 39. Satzes: Auf derselben Grundlinie nach derselben Seite gelegene gleiche Dreiecke liegen auch zwischen denselben Parallelen. Gleiche Dreiecke meint hier flächengleiche Dreiecke nicht etwa kongruente19. Seien also ABC und DBC flächengleich mit gemeinsamer Grundseite BC. Ihre Lage sei wie folgt: 19 Der Begriff des Flächeninhaltes wird bei Euklid nicht explizit definiert; aus moderner Sicht könnte man ihn über die Relation „ergänzungsgleich“ oder auch „zerlegungsgleich“ definieren als Äquivalenzklasse bzgl. derselben. Vgl. etwa Hartshorne 2000, 196 – 205; unter historischem Aspekt hierzu Volkert 1999. 70 Zu zeigen ist: AD ist parallel BC. Angenommen, dies wäre nicht der Fall. Dann ziehe man die Parallele zu BC durch A. Diese schneide BD im Punkt E.20 Dann sind die Dreiecke ABC und EBC flächengleich, da sie eine gemeinsame Grundseite besitzen und ihre Spitzen auf ein und derselben Parallelen zu dieser Grundseite liegen (I 37). Nach Voraussetzung sind aber auch die Dreiecke ABC und DBC flächengleich, folglich, Transitivität der Relation „ist flächengleich“ unterstellt, gilt auch: Dreieck DBC ist flächengleich Dreieck EBC, das größere dem kleineren; dies ist aber unmöglich. Anders gesagt, kann ein Teildreieck nicht denselben Flächeninhalt haben wie das es umfassende Gesamtdreieck. Wäre dem so, hätte das Komplementdreieck einen verschwindenden Flächeninhalt – intuitiv eine wahrlich absurde Vorstellung! Schließlich sei noch auf den letzten Satz des ersten Buches verwiesen: Hier geht es um die Umkehrung des Satzes des Pythagoras. Da sich die gesamte Flächeninhaltslehre bei Euklid völlig zahlfrei verstehen lässt und wohl auch so gemeint war, sollte man die Umkehrung des Pythagoras als reinen Satz über Flächeninhalte arithmetikfrei interpretieren. Dies wird durch die gängigen Darstellungen des Beweises dieses Satzes erschwert, die es für uns sehr nahe legen, an (nicht-negative reelle) Zahlen (als Maßzahlen der Seiten des fraglichen Dreiecks) zu denken21: Wenn an einem Dreieck das Quadrat über einer Seite den Quadraten über den beiden übrigen Seiten zusammen gleich ist, dann ist der von diesen beiden übrigen Seiten des Dreiecks umfasste Winkel ein Rechter. Euklids Beweis lässt sich fast wörtlich übernehmen: Sei ABC des fragliche Dreieck, wobei die Quadrate über AC und AB zusammen gleich dem Quadrat über BC sein sollen. Dann konstruiere man das Vergleichsdreieck DAC mit einem rechten Winkel in A und DA = AB. Nach Pythagoras (I 47) gilt, dass das Quadrat über CD flächengleich den beiden Quadraten über DA und AC ist. Da DA = AB, sind auch die Quadrate über diesen Seiten kongruent, insbesondere flächengleich. Folglich ist das Quadrat über CD flächengleich den Quadraten über AB und über AC zusammen. Also sind die Quadrate über CD und über CB flächengleich und damit auch deren Kanten CD bzw. CB kongruent. Also sind die Dreiecke DAC und BAC nach SSS kongruent, weshalb letzteres rechtwinklig ist. Der geschilderte Beweis enthält eine Lücke: Wieso sollen flächengleiche Quadrate kongruente Kanten besitzen? Arithmetisch gesehen ist dies einfach: Aus DC_ = BC_ schließt 20 Der Punkt E kann natürlich auch anders liegen als in der Abbildung angegeben. Dann muss man das Argument modifizieren. Wie immer in solchen Fällen sagt Euklid hierzu nichts, während Proklos ausdrücklich darauf hinweist und den von Euklid nicht behandelten Fall in seinem Kommentar diskutiert. 21 Man vergleiche auch Hartshorne 2000, 196 zu I 48 und ganz allgemein zum Verhältnis von Geometrie und Zahlen. Überhaupt verdanken meine Ausführungen viel diesem Buch, das die Problematik des „Axioms von de Zolt“ detailliert behandelt. 71 man sofort auf DC = BC. Geometrisch lässt sich diese Eigenschaft22, nennen wir sie im Anschluss an Hartshorne Q, so beweisen: Es seien die Quadrate über DC und BC flächengleich. Angenommen aber DC ≠ BC, etwa DC > BC. Dann trage man die Strecke BC auf DC von D aus ab; der Endpunkt sei E. Errichtet man über DE das Quadrat auf der Seite, auf der auch das Quadrat über DC liegt, so entsteht ein Teilquadrat des Quadrates über DC, das diesem aber flächengleich wäre. Widerspruch zu Axiom 8! Etwas raffinierter als dieser Beweis von Q ist derjenige, den Proklos in seinem Kommentar zu I, 47 gibt23: Es ist aber auch die Umkehrung richtig: Wenn nämlich zwei Quadrate gleich sind, dann sind die Geraden, mit denen sie gezeichnet sind, gleich. (Proklos 1945, 461f) Es seien ABDF und GEBC die beiden flächengleiche Quadrate, die man ohne Beschränkung der Allgemeingültigkeit in der abgebildeten Lage annehmen kann: Weil die Quadrate flächengleich sind, gilt dies auch für ihre Hälften, also für die Dreiecke ABF und BGC. Fügt man beiden das Dreieck BCF hinzu, so erhält man die flächengleichen Dreiecke AFC und FGC. Deren Grundseiten sind identisch und sie liegen in einer Halbebene bezüglich derselben. Folglich müssen nach I,39 die Spitzen A und G auf einer Parallelen zur Grundseite liegen. Ferner gilt, dass die Winkel BAF, AFB, BCG und BGC alle vier kongruent sind, weshalb die Geraden durch A und F sowie durch G und C parallel sind (nach I, 29). Folglich ist das Viereck AGFC ein Parallelogramm (I, 33) und dessen Kanten AF und GC sind gleichlang. Damit sind die Dreiecke ABF und CBG kongruent (nach WSW [I, 26]) also auch die Kanten der beiden Quadrate. Dieser Beweis hängt von Axiom acht über I,39 ab. Neben der Eigenschaft Q wird von Euklid im ersten Buch das folgende Axiom verwendet, das von Axiom acht abhängt: Die Hälften von demselben sind einander gleich. (Axiom 6)24 Im Anschluß an Euklid lassen sich einige Fragen stellen: 1. Wie ist der Begriff „Flächeninhalt“ zu definieren?25 2. Wie lässt sich die Vergleichsrelation für Polygone definieren, die zu 1. erforderlich ist? 3. Welche Eigenschaften können/sollen in die allgemeine Definition des Größenbegriffs eingehen, welche hingegen können konkreten Größenbereichen vorbehalten werden? Wie wir sehen werden, spielten diese Frage in der späteren Entwicklung eine wichtige Rolle. Bis hin zum 19. Jh. scheint das achte Axiom des Euklid wenig Beachtung gefunden zu haben. So geht Proklos nur kurz auf dieses ein, wobei er hervorhebt, dass es sich hier sehr wohl um 22 Proklos übergeht dieses Problem in seinem Kommentar zu I, 48 stillschweigend: Es ist also das Quadrat über EC gleich dem Quadrat über AC, und folglich ist EC gleich AC. (Proklos 1945, 466). Allerdings kommt er schon bei I, 47 auf die Eigenschaft Q zu sprechen, wie wir sofort sehen werden. 23 R. Hartshorne hat mich auf diesen aufmerksam gemacht. 24 Vgl. Hartshorne 2000, 202. 25 Es empfiehlt sich hier und im Weiteren zwischen Flächeninhalt (im Sinne einer Vergleichstheorie) und Flächenmaß (Zuordnung einer Zahl zu einer Figur) zu unterscheiden. 72 ein Axiom und zwar ein echtes handele.26 Auch dessen Verwendung in den Beweisen des ersten Buches wird von Proklos nicht weiter kommentiert. In ähnlichem Sinne wie Proklos äußerte sich John Wallis, der zu Beginn seiner Untersuchung über das Parallelenpostulat (1663) zum Wesen von Axiomen ausführt: Auch bei Euklid selbst finden sich im Fortgange seines Werkes neben den ausdrücklich erwähnten Voraussetzungen (den wichtigsten und bemerkenswertesten) zuweilen noch andere, die entweder aus dem Anblicke der Figur oder anderswoher einleuchten, die aber niemand bestreiten wird. Eine solche Voraussetzung (die überall vorkommt) ist die, dass das Ganze genau dasselbe ist wie die Summe der Teile (woraus man schließt, dass, wenn sich zeigen lässt, etwas sei gleich der Summe der Teile, es auch dem Ganzen gleich ist),... (Stäckel-Engel 1895, 29). Und bei A. G. Kästner heißt es 1792 in seinen „Anfangsgründen“: 8. Das Ganze ist mit seinen Theilen einerley, oder man kann ohne Abgang der Grösse allezeit alle Theile statt des Ganzen oder umgekehrt, setzen; alle Theile des Zusammengesetzten aber sind mit dem Zusammengesetzten nicht einerley, wenn sie nicht in der gehörigen Verbindung stehen. (Kästner 1792, 4) Etwas später wird der in dem oben zitierten Abschnitt ausgesprochene Grundsatz folgendermaßen kommentiert: Aus den Erklärungen fliessen Grundsätze (axiomata), deren Wahrheit man einsieht, so bald man sie versteht. Der 8. Absatz enthält ein Exempel davon. (Kästner 1792, 14) Auch die sehr einflussreichen „Eléments de géométrie“ von Legendre (erste Auflage 1794) führen entsprechende Axiome auf: 2. Le tout est plus grand que sa partie. Und 3. Le tout est égal à la somme des parties dans lesquelles il a été divisé. (Legendre 1811, 6) Im Klügelschen Wörterbuch findet sich im Artikel „Theilung“ folgendes: Theilung, einer Größe, bedeutet jede Zerlegung derselben in zwey oder mehrere andere gleichartige Größen, auf eine solche Art, dass durch das Zusammennehmen der erhaltenen Größen die gegebene wieder erzeugt wird. Diese Größen nennt man dann Theile der gegebenen. Das Ganze ist allen seinen Theilen zusammengenommen gleich, aber größer als einer oder einige seiner Theile, sind bekannte Grundsätze der Größenlehre. (Klügel 1830, 64). Interessant ist schließlich die Sichtweise, die J.H.C. Duhamel in seinem wissenschaftstheoretischem Werk Des méthodes dans les sciences de raisonnement von 1866 einnahm. Dort plädiert er dafür, das achte Axiom als analytischen Satz anzusehen, was natürlich seine Einstufung als Axiom überflüssig machen würde: Ainsi, d’après le sens que nous attachons aux mots tout, partie, plus grand, plus petit, on voit qu’un tout est plus grand qu’une de ses parties, ou que la partie est plus petite que le tout. C’est donc à tort qu’on fait de cette proposition un axiome, fondamental que quelques auteurs des Traités de Géométrie demandent qu’on admette comme évident, et placent au milieu de leurs postulata ou vérités indémontrables. Cette méprise, un peu forte il est vrai, consiste à prendre pour une vérité de sentiment ce qui n’est qu’une vérité de définition. (Duhamel 1866, 7) Axiomatische Theorie der Größen und das Axiom von de Zolt Aufmerksamkeit fand das achte Axiom verstärkt in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Mehrere Gründe dürften hierfür ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen setzte das Bestreben ein, eine strenge Theorie des Flächeninhaltes zu entwickeln; hierzu mussten insbesondere die oben formulierten Fragen, die sich im Anschluss an Euklid stellten, geklärt werden. Zum anderen zeichnete sich allmählich die Erkenntnis ab, dass man zumindest für den Fall ebener Polygone den Flächeninhalt unabhängig vom Flächenmaß definieren kann, dass sich also die von Euklid vorgenommene Trennung von Geometrie und Arithmetik hier strikt durchhalten lässt. Hierfür war es vor allem notwendig, die grundlegenden Relationen „zerlegungsgleich“ 26 Vgl. Proklos 1945, 304. Auch in dem oben geschilderten Beweis von Q erwähnt Proklos das achte Axiom nicht explizit. 73 und „ergänzungsgleich“27 zu klären. P. Gerwien gelangte am Ende seiner Abhandlung von 1833 zu dem Schluß, dass sich die Gleichheit der geradlinigen Figuren folgendermaßen definiren lässt: Gleiche Figuren sind diejenigen, welche von denselben Stücken gebildet werden. (Gerwien 1833, 234)28 Damit war eine für die damaligen Verhältnisse brauchbare, wenn auch noch nicht im modernen Sinne strenge Definition29 gegeben. Schließlich setzte ab Mitte des 19. Jhs. eine Bewegung ein, die im Sinne einer axiomatischen Theorie versuchte, den für die damalige (wie für die Euklidische Mathematik auch) grundlegenden Begriff „Größe“ zu klären. Hier sind als frühe Beiträge Grassmanns „Ausdehnungslehre“ (1844) und Bolzanos unvollendete „Größenlehre“ zu nennen; breitere Beachtungen fanden aber erst die Versuche von Otto Stolz, Otto Hölder und anderen. Schließlich sei noch ein weiterer Aspekt erwähnt: Die im 19. Jh. zunehmende Sensibilität für die Unterscheidung zwischen endlichen und unendlichen Verfahren. Da das Zerlegen und Zusammenfügen immer nur endlich viele Teile erfordert, ist es ein typisch endliches Verfahren – weshalb man gegen Ende des Jhs. oft von „endlich gleich“ sprach, wohingegen die übliche Art und Weise, ein Maß für Figuren einzuführen, selbst im einfachsten Fall des Rechtecks ohne Grenzübergänge – also ohne unendliche Verfahren – nicht auskommt. Im Nachfolgenden werde ich mich hauptsächlich auf den ersten Band der „Allgemeinen Arithmetik“ von Stolz aus dem Jahre 1885 stützen. Dieses Werk beginnt mit einem programmatischen Satz: Die Grundlage der reinen Mathematik bildet das Rechnen, d.i. die Verknüpfung von Größen. (Stolz 1885, 1). Der Größenbegriff diente ja schon seit alters her als Grundbegriff der Mathematik, was etwa in Euklids „Elementen“ deutlich wird. Neu in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. ist, dass auf diesen bislang weitgehend undefiniert gebliebenen Begriff die axiomatische Methode angewandt wird, wofür nicht zuletzt der Name von Otto Stolz steht.30 Dieses Forschungsprogramm – die Mathematik auf einem präzisierten Größenbegriff aufzubauen - ist letztlich dem konkurrierenden Ansatz der Mengenlehre unterlegen, welche schließlich die bis heute fast ausnahmslos akzeptierte Grundlegung der Mathematik (und damit auch des Größenbegriffs) lieferte. Otto Stolz war ein Mathematiker, der sich intensiv mit der Geschichte seiner Disziplin auseinander setzte. So erstaunt es nicht, dass er seinen Größenbegriff aus einer Analyse des Werks Euklids gewinnt; als Charakteristika nennt er: • Größen lassen sich vergleichen; für zwei gleichartige Größen A und B gilt immer genau eine der Möglichkeiten: A < B oder A = B oder A > B (heute Trichotomiegesetz genannt)31; • gleichartige Größen lassen sich addieren und eventuell auch subtrahieren; die Addition ist kommutativ und assoziativ. 27 Diese Termini gehen erst auf Hilbert zurück; in der ersten Hälfte des 19. Jhs. sprach man meist anschaulich von „in dieselben Stücke zerschneiden“ (Gerwien) und dergleichem. Ähnliche Überlegungen wie Gerwien stellte auch W. Bolyai in seinem Hauptwerk, dem „Tentamen“, von 1832 an. 28 Ausführlich wird diese Abhandlung in Volkert 1999 untersucht. 29 Aus heutiger Sicht würde man definieren: Ein Flächeninhalt ist eine Äquivalenzklasse in der Menge der ebenen einfachen Polygone bezüglich der Äquivalenzrelation „ist zerlegungsgleich“ (oder auch „ist ergänzungsgleich“). Dieser Stand der Dinge wird selbst in Hilberts „Grundlagen“ noch nicht vollständig erreicht. Für die Entwicklung der Begrifflichkeit interessant ist Duhamel 1865 und Duhamel 1866; vgl. auch Volkert 1999, 17f. 30 F. Klein, der Stolz 1869/70 in Berlin kennen lernte und mit diesem im Sommer 1871 in Göttingen zusammenwohnte (vgl. Klein 1975, I 133), charakterisiert den Tiroler Stolz als Logiker par excellence (Klein 1979, 152) und schreibt über dessen „Allgemeine Arithmetik“: Es ist ein Buch, dass sich durch grosse Gewissenhaftigkeit in der Darstellung auszeichnet und in ganz Weierstraßscher Art auf die Elemente eingeht. (Klein 1979, I 291). 31 Traditionell galt die Möglichkeit der Vergrößerung und Verkleinerung als wichtigstes Merkmal von Größen; man vgl. etwa den Anfang von Eulers „Algebra“: 1. Erstlich wird alles dasjenige eine Größe genannt, was einer Vermehrung oder einer Verminderung fähig ist oder wozu sich noch etwas hinzusetzen oder wovon sich etwas hinwegnehmen läßt. (Euler 1959, 41). Ähnlich schon bei Aristoteles: Sonach dürfte es dem Quantitativen am meisten eigentümlich sein, dass es gleich und ungleich genannt wird. (Aristoteles 1974, 56) 74 • Ist A > B, so gibt es stets eine Größe X mit A + X = B (heute Lösbarkeitsgesetz genannt); • Größen sind teilbar: zu jeder Größe A und jeder natürlichen Zahl n gibt es eine gleichartige Größe B mit nB = A. • Archimedizität32: Ist A > B, so gibt es eine natürliche Zahl p mit pB > A. Ein System33, das alle diese Eigenschaften besitzt, heißt nach Stolz ein System absoluter Größen (heute Größen eines Größenbereich genannt, wobei allerdings die beiden letzten Axiome nicht allgemein gefordert werden)34; das Paradigma eines solchen waren für ihn die Proportionen aus dem fünften Buch der „Elemente“. Auf Grund der oben genannten Eigenschaften lassen sich viele Sätze über Größen beweisen, unter anderem der folgende: Sind A und B Größen eines Größenbereichs, so gilt stets: A + B > A. Diesen Satz interpretiert Stolz als Formulierung von Euklids achtem Axiom (Stolz 1885, 70). In ihm kommt zum Ausdruck, dass es in einem absoluten Größenbereich keine Null35 gibt. Es folgt eine äußerst interessante Passage bei Stolz: Abgesehen von Bedenken, welche sich auf die exacte Definition der geometrischen Größen an sich beziehen, vermissen wir bald das Verfahren, nach welchem die Vergleichung je zweier unter ihnen durchzuführen ist. Euclid’s 7. Grundsatz („Was einander deckt ist gleich“) und der 8. („Das Ganze ist größer als sein Theil“) reichen für die geometrische Erklärung der Gleichheit und des Größerseins für das System der geradlinigen Strecken und der Winkel aus. Aber man sucht bei ihm [Euklid; Einfügung von K. V.] und seinen Nachfolgern vergebens nach Aufschluß darüber, was unter zwei gleichen Flächen und Körpern, die nicht congruent sind, zu verstehen sei. Handelt es sich um ebene Polygone, so ist es, wie wir sehen werden, sehr leicht diese Frage zu beantworten. (Stolz 1885, 73) Man muss berücksichtigen, dass Stolz noch kein vollständiges Axiomensystem für die euklidische Geometrie kannte, weshalb seine Ausführungen etwas der Konkretion bedürfen. Gesagt wird, dass für Strecken und Winkel die Inzidenz-, Anordnungs- und Kongruenzaxiome hinreichen36, um die Eigenschaften eines Größenbereiches – mit Ausnahme der Archimedizität natürlich – zu garantieren, dass aber für geradlinig begrenzte Figuren eine explizite Definition der Vergleichsrelation (und der Addition) unumgänglich ist, welche dann auch den Nachweis der postulierten Eigenschaften nach sich ziehen muss. Die Vergleichsrelation37 definiert Stolz folgendermaßen: Zwei Polygone sind einander gleich, wenn sie entweder congruent oder aus gleich vielen Stücken bestehen, die paarweise congruent sind. Ein Polygon ist größer als ein anderes, wenn es neben Stücken des letzteren noch andere enthält. (Stolz 1885, 75) In dieser harmlos erscheinenden Definiton verbirgt sich ein Problem, das Stolz aber erst rund 10 Jahre später gewürdigt hat. Da jedes Polygon A zu sich selbst kongruent ist, gilt natürlich A = A („=“ bedeutet jetzt: gleichen Inhalt haben!). Hätte man nun eine Zerlegung von A in Teilpolygone Ai (i = 1, ..., n) und könnte man A aus den Ai rekonstruieren unter Weglassung 32 Stolz war einer der ersten Mathematiker, der nach der Antike auf dieses Axiom aufmerksam machte; vgl. Stolz 1883. In diesem Artikel findet sich auch eine Analyse des Größenbegriffes. Man bemerkt im Übrigen, dass der heute in der deutschen Mathematikdidaktik gängige Größenbegriff (vgl. Kirsch 1987) im Wesentlichen bei Stolz vorweggenommen ist. Stolz weist ausdrücklich darauf hin, dass die Archimedizität nicht aus den anderen Eigenschaften folge. Als Beleg zitiert er eine Konstruktion von P. du Bois-Reymond (das Unendlich der Functionen [Stolz 1885, 70]). 33 So weit ich sehe, gibt es bei Stolz keinen Oberbegriff, unter den Größen noch subsumiert würden. Sie sind eben die nur noch implizit zu definierenden Grundbegriffe der Mathematik: „Wir denken uns ein System von Dingen, Größen eines Größenbereichs genannt, ...“ (frei nach Hilbert). 34 Daneben gibt es auch relative Größen, bei denen es zu jeder eine Gegengröße gibt. 35 Die modernen Theorien von Größenbereichen sind sich in diesem Punkt nicht einig; vgl. etwa Kirsch 1987, 53f. 36 Also die Axiome einer Hilbert-Ebene bei Hartshorne 2000, 96f. 37 Im Folgenden wird diese auch als Multikongruenz bezeichnet; gängig ist daneben „Zerlegungsgleichheit“. 75 eines Ai (etwa A1), so wäre nach obiger Definition A < A. Also würde gelten: A = A und A > A im Widerspruch zum Trichotomiegesetz. Anschaulich gesehen erscheint es natürlich unmöglich, das Polygon unter Weglassung eines echten Teiles zu rekonstruieren, gefragt ist hier aber ein Beweis. Wir werden darauf zurückkommen. Der Vergleich wird von Stolz für Polygone folgendermaßen durchgeführt: Parallelogramme von gleichen Grundlinien und Höhen sind einander gleich (Euclid. I prop. 35) [Stolz 1885, 75]. Der Beweis38 ergibt sich aus der untenstehenden Figur: (BC wird in n Teile derart zerlegt, dass BC = BC’ kleiner ist als BG). Da jedes Polygon – so unterstellt Stolz ausdrücklich – in Dreiecke zerlegt werden kann, ist der nächste Schritt naheliegend: Man führe Dreiecke auf Parallelogramme zurück: Ein Dreieck ist gleich einem Parallelogramme von der selben Grundlinie und der halben Höhe. (Stolz 1885, 86)39 Der Beweis ergibt sich aus der untenstehenden Figur. Zieht man nun noch das erste Ergebnis in Betracht, so kann man ein Dreieck in ein flächengleiches Rechteck verwandeln.40 Um wirklich Vergleichbarkeit zu erreichen, fehlt noch der sogenannte Satz über Ergänzungsparallelogramme: In jedem Parallelogramme sind die Ergänzungen der um eine Diagonale liegenden Parallelogramme einander gleich. (Euclid. I prop. 43) [Stolz 1885, 76] Der Beweis ergibt sich aus der folgenden Figur: 38 Andere Beweismöglichkeiten findet man in Volkert 1999. Dieser Satz findet sich so nicht bei Euklid; am nächsten kommt ihm wohl I 34 (Dreieck als „halbes“ Parallelogramm). 40 Eine derartige Verwandlung ist natürlich auch ohne den Umweg über das Parallelogramm möglich, indem man die Gerade durch die Mittelpunkte gegenüber liegender Seiten des Dreiecks legt und auf diese Lote von den Eckpunkten fällt – eine Figur, die man etwa bei Bhaskara findet. Dieses Vorgehen hat aber den Nachteil, dass man mehrere Fälle unterscheiden muss, je nachdem, wo die Lotfußpunkte zu liegen kommen. 39 76 Fasst man die drei erhaltenen Ergebnisse zusammen, so kann man jedes Dreieck in ein ihm gleiches (d.h. multikongruentes) Parallelogramm mit vorgegebener Seite (also etwa eine Einheitsstrecke, die man vorher festgelegt hat) und mit einem vorgegebenen Winkel (etwa einem rechten – dann hat man es mit einem Rechteck zu tun) verwandeln. Will man zwei Dreiecke vergleichen, so verwandle man diese wie gerade angedeutet in Rechtecke mit Einheitsseite und vergleiche die Rechtecke: Sind diese kongruent oder ist eines von beiden kongruent einem echten Teil des anderen? Letzteres wiederum ist scheinbar ein lineares Problem, denn es kommt zur Beantwortung der Frage über Rechtecke mit Einheitsseite nur darauf an, wie deren „anderen“ Seiten (d.h. diejenigen, die nicht Einheitslänge besitzen) sich zueinander verhalten. Wie man den obigen Schritten entnehmen kann, ist der Weg vom Dreieck zum Rechteck mit Einheitsseite kanonisch, das heißt, es gibt hierbei – hält man sich an die von Stolz gewählte Vorgehensweise – immer nur eine Möglichkeit. Für Polygone allgemein löst man die Aufgabe durch Zerlegen in Dreiecke. Dabei wird natürlich die Additivität der Multikongruenz in Anspruch genommen. Hierbei geht aber die Eindeutigkeit der Vorgehensweise verloren, denn man kann ja i.a. ein Polygon auf viele verschiedene Weisen triangulieren. Schließlich bemerkt Stolz noch, dass man eine analoge Theorie für Prismen aufbauen kann.41 Betrachtet man die erste und die dritte Figur oben, so fällt auf, dass die in ihnen gewählte Vorgehensweise die Archimedizität voraussetzt. Dies war Stolz gewiss auch klar, allein ging es ihm nicht darum, Verfahren zu entwickeln, die deren Verwendung vermeiden. Solche Zielsetzungen hat erst Hilbert mit großem Erfolg (sieh unten) verfolgt. Das Offenkundige beweisen Der erste, der sich ausführlicher mit dem achten Axiom Euklids42 beschäftigte, scheint der italienische Mathematiker de Zolt gewesen zu sein, der 1883 ein Werk über Multikongruenz43 schrieb, in dem er das achte Axiom in der untenstehenden Form zum Axiom erhob Dies führte zu einer Diskussion vor allem unter Geometern in Italien, wobei es darum ging, ob sich dieses Axiom beweisen lässt oder nicht.44 Aufgrund der genannten Entwicklung wird heute das achte Axiom bezogen auf Flächeninhalte von Polygonen auch Axiom von de Zolt genannt; es lautete bei ihm so: Wenn ein Vieleck in einer beliebigen Weise in Teile zerlegt ist, so ist es nicht möglich, wenn man irgend einen seiner Teile weglässt, die übrigen in der Weise anzuordnen, dass sie das Vieleck ganz bedecken. (Amaldi 1923, 160).45 Otto Stolz schloss sich 1894 de Zolt an, insofern er dessen Axiom ebenfalls als solches akzeptierte. Den Satz a) zeigen wir mit Hilfe des folgenden Axioms: zerlegt man ein Polygon B durch Gerade in mehrere Theile und lässt auch nur einen von ihnen weg, so kann man mit den übrigen das Polygon B nicht mehr bedecken. (Stolz 1894, 234) Der erste stichhaltige Beweis des de Zoltschen Axioms geht auf Friedrich Schur zurück. Im Jahre 1892 hielt Schur in der Dorpater Naturforschenden Gesellschaft einen Vortrag mit dem Titel „Über den Flächeninhalt geradlinig begrenzter ebener Figuren“. Schur bezieht sich ausdrücklich auf Stolz’ Vorgehensweise, an der er kritisiert, dass es nicht klar sei, ob nicht 41 Ansätze hierzu gibt es bereits bei Euklid: Vgl. XI, 28 – 31. Obwohl das 8. Axiom bei Euklid allgemein auf Größen bezogen ist, wird im Folgenden nur der Größenbereich Flächeninhalt von Polygonen betrachtet. 43 „Principii della eguaglianza di poligoni“ (Mailand, 1883) gefolgt von „Principii della eguaglianza di poliedrie e di poligoni spherici” (Mailand, 1883) 44 Eine knappe Zusammenfassung derselben gibt Simon 1906, 116f, eine ausführliche Diskussion findet sich in Amaldi 1922. Natürlich spielen bei der Frage nach einem Beweis die zulässigen Hilfsmittel eine wesentliche Rolle; das wird spätestens bei Schur deutlich. 45 Die moderne Formulierung lautet so: Ist P eine Figur, die in der Figur Q derart enthalten ist, dass das Innere von Q – P nicht leer ist, so haben P und Q nicht gleichen Inhalt. (vgl. Hartshorne 2000, 201). 42 77 verschiedene Zerlegungen des Ausgangspolygons zu nicht-kongruenten Rechtecken, deren eine Seite Einheitslänge hat, führen könnten.46 Sein Motiv ist mögliche Strenge und Reinheit der Methode (Schur 1892, 2); auf diesem Hintergrund kritisiert er die Verwendung endloser Verfahren und: ..., so werden mit Unrecht allgemeine Grössenaxiome benutzt, die nur dann unmittelbar klar sind, wenn diese Grössen geradlinige Strecken sind, ihre Vergleichung also durch Aufeinanderlegen bewirkt werden kann. (Schur 1892, 2). Weiter heißt es bei Schur: Doch ist man hierbei über die Frage mit Stillschweigen hinweggegangen, ob dies Rechteck auch eindeutig bestimmt sei, ob nicht bei einer anderen Eintheilung der Figur in Dreiecke - ... – ein anderes Rechteck erhalten wird. Es kann das Stillschweigen nur so erklärt werden, dass die Annahme, ein Rechteck können einem seiner Theile flächengleich sein, ohne Weiteres als durch den allgemeinen Grössensatz ausgeschlossen betrachtet wird, der Theil könne dem ganzen nicht gleich sein, ... (Schur 1892, 4) Schur macht an dieser Stelle auf die Spannung zwischen dem (damals) modernen allgemeinen Größenbegriff (etwa dem von Stolz) und einzelnen konkreten Größenbereichen (etwa Länge, Flächeninhalt) aufmerksam: Ersterer garantiert nicht die Geltung von Z, erforderlich ist vielmehr, jeden konkreten Größenbereich einzeln auf die Geltung von Z hin zu untersuchen. Schur gibt nur eine knappe Beweisskizze47, wobei er sich wesentlich auf den planimetrischen Teil der Abhandlung „Ueber die Bestimmung des Inhaltes eines Polyeders“ (1865 = Möbuis 1886, 433 – 512) von Möbius beruft. Dort hatte Möbius das orientierte Flächenmaß für Polygone eingeführt und mit dessen Hilfe Folgendes bewiesen: Hat man ein ebenes einfaches Polygon P und einen Punkt O in dieser Ebene, so lässt sich das orientierte Flächenmaß von P über dasjenige von Dreiecken berechnen; letztere entstehen, indem man O mit den Eckpunkten von P verbindet. Dabei hängt das berechnete Flächenmaß nicht davon ab, welchen Punkt O man wählt (vgl. Möbius 1886, 485ff). Folglich ergibt sich für alle Wahlen von O innerhalb oder auf dem Rand von P dasselbe Rechteck mit Einheitsseite. Dieses einem Polygon eindeutig zugeordnete Rechteck können wir nun als Repräsentanten seines Flächeninhalts betrachten,... (Schur 1894, 5). Gerechtfertigt ist diese Behauptung Schurs allerdings erst durch folgende zusätzliche Erkenntnis: Nimmt man eine beliebige Triangulierung des Polygons P, so lässt sich mit der von Möbius gewählten Vorgehensweise zeigen, dass dessen orientiertes Flächenmaß unabhängig ist von der gewählten Triangulierung. Nach eventueller Verfeinerung derselben ergibt sich nämlich, dass sich alle Dreiecke, die sich aus einer Kante im Innern des Polygons sowie aus dem gewählten Grundpunkt O ergeben, wegheben. Schließlich bleiben nur noch solche Dreiecke übrig, die aus O und einer Polygonkante entstehen. Die Triangulierung geht hierbei überhaupt nicht mehr ein; vgl. Hilbert 1972, 76f (ohne Verweis auf Möbius!) oder Perron 1963, 89f. Schließlich folgt: Zerlegt man P durch eine Transversale, so ergeben die beiden Rechtecke mit Einheitsseite, die man den beiden Teilpolygonen getrennt eindeutig zuordnen kann, zusammen genau das Rechteck, das P eindeutig entspricht. Dieses Ergebnis lässt sich direkt auf endlich viele Teile von P verallgemeinern. Man beachte, dass Schurs Behandlung – wie jene von Möbius auch – die Existenz eines Maßes für die Dreiecksfläche stillscheigend voraussetzt. Kurz: Die Zusatzüberlegung mit dem orientierten Flächenmaß stellt sicher, dass beim Zerschneiden und Zusammenfügen des Polygons kein Stück verloren gehen kann. Das ließe sich natürlich auch über den üblichen maßtheoretischen Zugang beweisen; die Vorgehensweise von Möbius hat jedoch den großen Vorteil, dass sie sich (im Sine Hilberts; s. unten) elementarisieren lässt. Ausführlicher ausgearbeitet wurde Schurs Idee dann von Hilbert in seinen „Grundlagen der Geometrie“ (1899/1900) im vierten Kapitel „Die Lehre von dem Flächeninhalte in der Ebene“. Dabei spielt die Streckenrechnung eine wesentliche Rolle. Nachdem Hilbert 46 Eine ähnliche Kritik äußerte auch W. Killing (vgl. Killing 1893, 23). Eine ausführlichere Darstellung schloss sich der italienischen Übersetzung seines Artikels an; vgl. Amaldi 1922, 161 n. 3). 47 78 Zerlegungs- und Ergänzungsgleichheit48 eingeführt hat und die üblichen Sätze bewiesen hat, kommt er auf das Teil-Ganze-Problem zu sprechen. Anlaß hierfür ist die Frage: Könnten etwa alle Polygone ergänzungsgleich sein? Dies lässt sich leicht ausschließen, hat man Hilberts Satz 48 (=I,39 bei Euklid) zur Verfügung: Wenn zwei ergänzungsgleiche Dreiecke gleiche Grundlinien haben, so haben sie auch gleiche Höhen. (Hilbert 1972, 74) Hierzu schreibt Hilbert: Dieser fundamentale Satz 48 findet sich im ersten Buch der Elemente des Euklid als 39ster Satz; beim Beweise desselben beruft sich jedoch Euklid auf den allgemeinen Größensatz ... (Das Ganze ist größer als sein Teil) – ein Verfahren, welches auf die Einführung eines neuen geometrischen Axioms über Ergänzungsgleichheit hinausläuft. Es gelingt uns nun, ohne ein solches neues Axiom den Satz 48 und damit die Lehre von den Flächeninhalten auf dem hier in Aussicht genommenen Wege, d.h. lediglich mit Hilfe der ebenen Axiome und ohne Benutzung des Archimedischen Axioms, zu begründen. Um dies einzusehen, haben wir den Begriff des Inhaltsmaßes nötig. (Hilbert 1972, 74) Hilbert geht folgendermaßen vor. Im ersten Schritt definiert er das Inhaltsmaß eines Dreiecks als das halbe Produkt aus Grundseite und zugehöriger Höhe. Dieses ist orientiert zu nehmen, das heißt dieses Produkt49 ist positiv oder negativ, je nachdem, ob die Orientierung des Dreiecks mit derjenigen der Produktstrecke übereinstimmt oder nicht. Eine einfache auf ähnliche Dreiecke50 gestützte Überlegung zeigt, dass das Inhaltsmaß unabhängig von der ausgewählten Grundseite ist. Anschließend beweist Hilbert dann mit den Methoden von Möbius51, dass das Inhaltsmaß additiv ist: Zerlegt man ein Dreieck in Teildreiecke52, so ist das Maß des Gesamtdreiecks gleich der Summe der Maße der einzelnen Dreiecke. Hieraus folgt, da jedes Vieleck einem Dreieck ergänzungsgleich ist, dass ergänzungsgleiche Vielecke gleiches Inhaltsmaß besitzen müssen und damit auch Euklids Satz 39. Schließlich gilt: Zerlegt man ein Rechteck durch Geraden in mehrere Dreiecke und lässt auch nur eines dieser Dreiecke fort, so kann man mit den übrigen Dreiecken das Rechteck nicht mehr ausfüllen. (Hilbert 1972, 79) Hieraus folgt: Ein Polygon, das im Innern eines anderen Polygons liegt, hat stets ein kleineres Inhaltsmaß als dieses und ist ihm insbesondere nicht ergänzungsgleich. Also ist, wie Hilbert selbst betont (Hilbert 1972, 80), Euklids achtes Axiom zu einem beweisbaren Satz geworden! Insbesondere folgt noch, dass nicht alle Polygone ergänzungsgleich sind. Vermeidet Hilberts Beweis auch alle Grenzprozesse53, so bringt er doch in Gestalt des Inhaltsmaßes ein „nicht-geometrisches“ Moment in unsere Betrachtungen hinein. Die Frage, ob es einen Beweis für das de Zoltsche Axiom gibt, der ohne solche Umwege auskommt, ist bis heute offen.54 48 Ursprünglich sprach Hilbert von Inhalts- und von Flächengleichheit; die ausführliche Berücksichtigung der Ergänzungsgleichheit hängt bei Hilbert damit zusammen, dass er die Lehre vom Flächeninhalt unabhängig von der Archimedizität aufbauen möchte. Ohne Archimedizität lässt sich aber relativ einfach zeigen, dass es beispielsweise Dreiecke gleicher Grundseite und Höhe gibt, die nicht zerlegungsgleich sind (Beispiel bei Hilbert 1972, 72f). 49 Dies ist im Sinne der Streckenrechnung als orientierte Strecke zu nehmen und nicht etwa als Produkt von reellen Zahlen als Streckenlängen zu verstehen. 50 Hier muss man also das euklidische Parallelenaxiom (Axiom Nummer IV bei Hilbert) voraussetzen. Nimmt man dagegen das hyperbolische (elliptische) Parallelenaxiom, so wird man das Flächenmaß des Dreiecks über dessen Defekt (Exzess) definieren. 51 Hierbei ist es wichtig, dass das Inhaltsmaß orientiert ist. Im Übrigen erwähnt Hilbert Möbius nicht. 52 Hilbert arbeitet prinzipiell nur mit Zerlegungen in Dreiecke, was aber wegen der Triangulierbarkeit beliebiger Vielecke keine Einschränkung darstellt. 53 Wie sie unweigerlich in die Konstruktion von Maßen im Sinne der Analysis – paradigmatisch vertreten durch die Formel „Inhalt des Rechtecks ist Länge mal Breite“ – einfließen. Hilbert selbst weist ausdrücklich darauf hin, dass in seinem Ansatz der Satz von Pappus eine zentrale Rolle spielt (durch die Streckenrechnung nämlich); vgl. Hilbert 1972, 80. 54 Vgl. hierzu Hartshorne 2000, 201 – 204. Nach einer Mitteilung von R. Hartshorne gilt allerdings Z in jeder Hilbert-Ebene, weil in jeder Hilbert-Ebene ein Maß für die Dreiecksfläche definiert werden kann. Somit ist Z keine Einschränkung legt man den Begriff der Hilbert-Ebene zugrunde. 79 Hilbert ist noch einmal auf das Teil-Ganze-Problem zurückgekommen, nämlich im Anhang II Über den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck der „Grundlagen“: In der Tat wird im Anhang II eine Geometrie konstruiert, in der die hier zugrunde gelegten Axiome I - IV mit Ausnahme des Axioms III 5, für welches dort eine engere Fassung gewählt ist, sämtlich erfüllt sind und in der doch der Satz 48 und mithin auch der Satz „Das Ganze ist größer als sein Teil“ nicht gültig ist; ... (Hilbert 1972, 74 n. 1). Nicht-pythagoreische Geometrien Die Geometrie, welche Hilbert im obigen Zitat anspricht, ist eine nicht-archimedische. Sie wird konstruiert in einer Koordinatenebene über einem nicht-Archimedischen Körper; dessen mit , Elemente sind verallgemeinerte formale Potenzreihen wobei die Koeffizienten reelle Zahlen sein sollten und n eine ganze Zahl. Hinzu kommt noch die Nullfunktion. Ein solches Element wird positiv genannt, wenn die reelle Zahl positiv ist. Der entstehende Körper ist nicht-Archimedisch, denn es gilt einerseits x < 1 (d.h. 1 – x < 0), aber andererseits gibt es keine natürliche Zahl n (und auch keine positive reelle Zahl), so dass nx > 1 wäre, da 1 – nx immer negativ ist. Nun kann man über diesem Körper die zweidimensionale Koordinatenebene betrachten, die bei Hilbert komplex aufgefasst wird. Um wirklich eine Geometrie zu erhalten, schreibt Hilbert noch die Kongruenzabbildungen dieser Geometrie vor als wobei eine reelle Zahl sein soll, τ eine unendlich kleine Zahl und µ sowie λ beliebige Elemente des Grundkörpers. Nun kann man die Inzidenz-, Anordnungs- und Kongruenzaxiome überprüfen. Es stellt sich heraus, dass diese mit einer einzigen Ausnahme erfüllt sind. Das Kongruenzaxiom für Dreiecke, das eine leicht abgeschwächte Version des Kongruenzsatzes SWS ist und bei Hilbert die Nummer III 5 trägt, gilt nur noch eingeschränkt in dem Sinne, dass die beiden Dreiecke gleiche Orientierung haben müssen.55 Jetzt betrachte man das Dreieck mit den Eckpunkten O(0,0), P(cos t, -sin t) und Q(cos t, 0) sowie das Dreieck mit den Eckpunkten O(0,0), R(cos t, sin t) und Q(cos t, 0). Beide Dreiecke sind rechtwinklig bei Q, weshalb OPR wieder ein Dreieck ist. Weiterhin kann man beweisen, 55 Die von Hilbert konstruierte Ebene ist somit keine Hilbert-Ebene im Sinne von Hartshorne. 80 dass dieses große Dreieck kongruente Winkel bei P und R besitzt. Aber es ist nicht gleichschenklig, wie die folgenden Ergebnisse56 zeigen: |OP| = , |OR| = , |OQ| = cos t, |PQ| = |QR| = sin t Andererseits gilt in dieser Geometrie der Satz des Pythagoras in seiner ursprünglichen Euklidischen Form, denn in dessen Beweis gehen ja nur gleichsinnige Kongruenzen ein: Die Quadrate über den Katheten sind zusammen ergänzungsgleich dem Quadrat über der Hypotenuse57. Da die Katheten PQ und QR gleichlang, also kongruent sind, ergibt sich aus dem Pythagoras (wie in Euklids Beweis von I 47), dass die Quadrate über OP und OR ergänzungsgleich sind. Aber ihre Kanten besitzen unterschiedliche Längen: Also ist hier die oben Q genannte Eigenschaft verletzt! Zerlegt man die beiden Quadrate durch ihre Diagonalen, so erhält man auch ein Gegenbeispiel gegen Euklids Satz I 39.58 Dies hebt Hilbert selbst hervor: Der fundamentale Satz Euklids, wonach zwei ergänzungsgleiche Dreiecke mit gleicher Grundlinie stets von gleicher Höhe sind, hat in unserer Geometrie ebenfalls keine Gültigkeit. (Hilbert 1972, 152) Eine derartige Geometrie heißt nach Hilbert nicht-Pythagoreisch.59 Insgesamt zeigt Hilberts Beispiel60, dass das achte Axiom von Euklid keine Selbstverständlichkeit ist: Es gibt Situationen, wenn auch keine „gängigen“, in denen das Ganze gleichgroß seinem Teil ist, wo die geometrische Beziehung zwischen Figuren keine größenmäßige Entsprechung hat. Insofern könnte man sagen, dass Euklid zumindest in Bezug auf den Flächeninhalt ebener Polygone Recht hatte, als er sein achtes Axiom aufstellte, indem er eine Harmonie forderte, die nicht selbstverständlich ist. Literatur Amaldi, U. (1922): Über die Lehre von der Äquivalenz (Gleichheit). 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Da keine Archimedizität vorliegt, kann man nicht mit Multikongruenz alleine arbeiten. 58 Eine andere befremdliche Eigenart dieser Geometrie ist, dass das Maß für die Dreiecksfläche von der gewhlten Grundseite abhängen kann. 59 Die logischen Probleme, die sich aus dem Zusammenspiel der Axiome und der Eigenschaft der NichtPythagorizität ergeben, werden von Dehn 1976, 262 – 270 genauer untersucht. 60 Er konstruiert im genannten Anhang noch ein weiteres Beispiel, in dem die Archimedizität gegeben ist aber nicht das sogenannte Nachbarschaftsaxiom (ein Stetigkeitsaxiom). 57 81 Duhamel, J. H. C. (1865): Des méthodes dans les sciences de raisonnement. Première partie : Des méthodes communes à toutes les sciences de raisonnement (Paris). Duhamel, J. H. C. (1866): Des méthodes dans les sciences de raisonnement. Deuxième partie : Des méthodes générales à la science des nombres et à la science de l’étendue (Paris). Enriques, F. (1922): Fragen der Elementargeometrie. I. 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