Medizin | Ovarielle Stimulation bei IVF | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 52 • 04/2017 Für Sie gelesen Ovarielle Stimulation bei IVF Vorteile durch neuen Dosis-Algorithmus fotolia/ akf Körpergewicht der Frau und prätherapeutischer AMH-Spiegel bestimmen die individuelle Dosierung eines neuen GonadotropinWirkstoffs. Im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) werden exogene Gonadotropine mit dem Ziel verabreicht, die Eierstöcke zu stimulieren und eine adäquate Anzahl von Eizellen für die Befruchtung zu gewinnen. Die ovarielle Reaktion auf eine Standarddosierung zeigt große interindividuelle Schwankungen, gleichzeitig ist sie eine kritische Determinante sowohl für die Rate an Lebendgeburten nach IVF als auch für das Risiko eines ovariellen Überstimulationssyndroms (OHSS). Es stellt sich daher die Frage, ob eine Biomarker-gesteuerte, individuell adaptierte Hormonstimulation das Outcome einer IVF-Behandlung optimieren könnte. Vielversprechende Antworten dazu liefert die kürzlich publizierte ESTHER*-1 Studie unter Verwendung des neuen Wirkstoffes Follitropin delta und des Biomarkertests Elecsys® AMH Plus.1 10 Bisher existieren keine offiziellen Empfehlungen, auf Basis welcher Faktoren sich die Startdosis an Gonadotropinen bestmöglich individualisieren lässt. In der Praxis verlassen sich Reproduktionsmediziner daher auf eigene Erfahrungen und entscheiden subjektiv, welche prädiktiven Parameter sie für die Steuerung erwünschter (adäquate Oozytenausbeute) bzw. unerwünschter (OHSS) Outcomes einer IVF heranziehen. Lange Zeit galten das Alter der Frau und die antrale Follikelzahl (AFC) als vertrauenswürdigste Parameter für die prospektive Abschätzung eines Behandlungserfolges. Basierend auf der zwischenzeitlich gesicherten Erkenntnis einer unmittelbaren Korrelation zur Anzahl reifender Follikel, ist heute jedoch das „Anti-Müller-Hormon“ (AMH) der prädiktive Parameter der Wahl. AMH kann zu jeder Zeit des Menstruationszyklus mit automatisierten Tests im Serum gemessen werden, es ist damit ein robuster und objektiver Marker der ovariellen Funktionsreserve. Mit nachlassender ovarieller Funktionsreserve sinken die AMH-Konzentrationen ab. Das Studienkonzept Die ESTHER-1 Studie1 verglich zwei Behandlungskonzepte zur Eierstockstimulation vor IVF: ODie Prüfgruppe erhielt eine individualisierte Dosierung des neuartigen Wirkstoffs Follitropin delta (FE 999049, Zulassungsinhaber Ferring Pharmaceuticals, Kopenhagen), einem humanen, rekombinanten Follikel-stimulierenden Hormon (hrFSH). Verabreicht wurde eine gleichbleibende tägliche Dosis, die sich nach einem festge- Diagnostik im Dialog • Ausgabe 52 • 04/2017 | Ovarielle Stimulation bei IVF | Medizin legten Algorithmus für jede Frau individuell aus ihrem prätherapeutischen AMHSpiegel (Elecsys® AMH-Test) und ihrem Körpergewicht ableitete (Tab. 1). ODie Vergleichsgruppe wurde konventionell behandelt. Alle Frauen erhielten Follitropin alpha in einer Standarddosis von 150 IU über die ersten 5 Tage. Danach konnte die Dosis in Abhängigkeit von dem Therapieansprechen nach oben oder unten angepasst werden (max. 450 IU/Tag) (s.u.). Abgesehen vom beschriebenen, unterschiedlichen Stimulationskonzept verlief die Behandlung aller Frauen gleich und nach etablierten Procedere. Therapieziel waren 8–14 gewonnene Oocyten. Bei ESTHER-1 handelt es sich um eine prospektive, multizentrische (37 Prüfstellen in 11 Ländern), kontrollierte, randomisierte, Behandler-verblindete, sog. „NichtUnterlegenheitsstudie“. Dabei ging es im primären Endpunkt um den Nachweis der vergleichbaren Wirksamkeit des neuen mit einem etablierten Präparat hinsichtlich fortlaufender Schwangerschafts- und Implantationsrate. Parallel wurde untersucht, ob das neue Konzept evtl. Vorteile bei sekundären Endpunkten zeigt (z. B. Anteil Patientinnen mit adäquater Anzahl von Oozyten, Praktikabilität der Handhabung). Eingeschlossen waren Frauen im Alter von 18–40 Jahren in einem ersten IVF/ICSI**Zyklus aufgrund nachgewiesener idiopatischer bzw. tubulär bedingter Unfruchtbarkeit, Endometriose im Stadium I/II oder infertilen männlichen Partnern. Darüber hinaus waren zusätzliche Ein- und Ausschlusskriterien definiert. Die Studienteilnehmerinnen wurden innerhalb der Altersgruppen < 35, 35–37 und 38–40 Jahre jeweils im Verhältnis 1:1 randomisiert. Insgesamt 1326 Frauen erhielten eine Gonadotropintherapie (Prüfgruppe n = 665, Vergleichsgruppe n = 661) und 1122 dieser Frauen AMHKonzentration im Serum (pmol/l) Fixe tägliche Dosis in ug/kg Körpergewicht (max. 12 ug/Tag) < 15 12 15–16 0,19 17 0,18 18 0,17 19–20 0,16 21–22 0,15 23–24 0,14 25–27 0,13 28–32 0,12 33–39 0,11 ≥ 40 0,10 Tab. 1: Individualisierte Dosierung von Follitropin delta auch einen Blastozystentransfer (Prüfgruppe n = 562, Vergleichsgruppe n = 560). Evtl. Empfehlungen zur Dosisanpassung (s. o.) erfolgten durch die Studienärzte ausschließlich auf Basis der von Tag 1–5 erzielten follikulären Entwicklung, d. h. ohne Kenntnis der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit der Patientin. Entsprechende Anweisungen wurden von einer (unverblindeten) Studienhelferin ausgeführt, sofern die Patientin der Vergleichsgruppe angehörte. Frauen der Prüfgruppe blieben weiterhin bei der anfänglich individuell festgelegten Dosierung. Primäre Endpunkte der Studie waren: OFortlaufende Schwangerschaftsrate, dabei war eine bestehende Schwangerschaft durch mindestens einen über Ultraschall intrauterin sichtbaren Fetus 10–11 Wochen nach Transfer definiert. OFortlaufende Implantationsrate, definiert als der Anteil intrauterin sichtbarer Feten 10–11 Wochen nach Transfer bezogen auf die Gesamtzahl transferierter Blastozysten. Vordefinierte sekundäre Endpunkte waren: OSchwangerschaftsoutcomes, speziell die Lebendgeburtrate (definiert als die Geburt mindestens eines lebenden Kindes) OErfolgsrate der Stimulationsbehandlung, definiert durch die Anzahl der Patientinnen mit 8–14 gewinnbaren Eizellen bzw. Anteil extremer ovarieller Reaktionen (< 4, ≥ 15 oder ≥ 20 Oozyten) OEmbryologie (Entwicklung der befruchteten Eizelle und des Embryos) OSicherheit der Behandlung bzw. Anteil unerwünschter Nebenwirkungen in Form von OHSS und/oder präventiv notwendiger Interventionen wegen frühem OHSS. Ergebnisse OB eide Behandlungskonzepte erwiesen sich als gleichwertig bezüglich der primären Endpunkte „Fortlaufende Schwangerschafts- und Implantationsrate“. Damit war die „Nicht-Unterlegenheit“ der individualisierten Follitropin delta-Behandlung gezeigt. OAuch bei den weiteren Schwangerschaftsoutcomes, der Lebendgeburtrate und der Anzahl lebender Neugeborener nach vier Wochen war kein Unterscheid festzustellen. ODemgegenüber erreichte die AMHbasierte Behandlung mit Follitropin delta signifikant häufiger den optimalen Zielwert von 8–14 Oozyten und induzierte weniger extreme ovarielle Reaktionen (Tab. 2), obwohl die anfängliche Dosis in keinem Fall nachjustiert worden war (bei Follitropin alfa Nachjustierung in 36,8 % der Fälle). ODas Auftreten von OHSS und/oder präventiver Maßnahmen wegen OHSS war bei der Follitropin delta-Behandlung signifikant niedriger (Tab. 2). In der Prüfgruppe wurden zwei Frauen wegen eines OHSS hospitalisiert (mittlere Hospitalisationsdauer 4,0 Tage), in der Vergleichsgruppe waren es sechs Frauen (mittlere Hospitalisationsdauer 8,7 Tage). Darüber hinaus gab es zwischen den Behandlungsgruppen keinen 11 Medizin | Ovarielle Stimulation bei IVF | Diagnostik im Dialog • Ausgabe 52 • 04/2017 fotolia/ Kitty Neuer Dosierungsalgorithmus: Gleiche Schwangerschaftsrate, einfachere Anwendung. Unterschied bei unerwünschten Nebenwirkungen. ODie Gesamtmenge der im Behandlungszyklus verabreichten Gonadotropine lag – bei vergleichbarer Stimulationsdauer – in der Prüfgruppe signifikant (p < 0,001) niedriger. Fazit Biomarker-gesteuerte Therapien sind bei etlichen medizinischen Fragestellungen, z. B. in der Onkologie etabliert, weil sie Patientenoutcomes verbessern können. Die vorgestellte Studie lässt auch in der Reproduktionsmedizin Vorteile einer solchermaßen individualisierten Behandlung vermuten. Basierend auf dem Marker der ovariellen Funktionsreserve AMH und dem Körpergewicht der Frau wurde mit dem neuen Wirkstoff Follitropin delta bei einfacherer Handhabung (keine Dosisnachjus- tierungen) der angestrebte Zielwert von 8–14 gewinnbaren Oozyten häufiger bei gleichzeitig weniger Interventionsbedarf erreicht. Das OHSS ist die relevanteste Nebenwirkung beim Einsatz von Gonadotropinen. Bis zur Stimulationsausbeute von 15 Eizellen besteht ein linearer Zusammenhang mit der Rate an späteren Lebendgeburten, darüber steigt das OHSS-Risiko überproportional an. Daraus resultiert der erwünschte Bereich von 8–14 Eizellen, dessen Erreichen allerdings bisher oft mit Dosisadaptierungen verbunden ist. Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse zeichnen sich mit dem individualisierten Behandlungskonzept, bei gleichwertigen Schwangerschafts- und Implantationsraten, eine zuverlässigere Vorhersage der ovariellen Reaktion und eine einfachere Anwendung (gleich- Individualisierte Dosis Follitropin delta (Prüfgruppe) Standarddosis Follitropin alfa (Vergleichsgruppe) Signifikanz Optimaler Zielwert gewonnener Eizellen (8–14) erreicht 43,3 % 38,4 % P = 0,019 Poor Response auf Stimulation (< 4 gewonnene Eizellen) bei Frauen mit entsprechendem Risiko 11,8 % 17,9 % P = 0,039 Exzessive Response auf Stimulation bei Frauen mit entsprechendem Risiko ≥ 15 Eizellen ≥ 20 Eizellen 27,9 % 10,1 % 35,1 % 15,6 % P = 0,038 P = 0,030 Präventive Interventionen 2,3 % 4,5 % P = 0,005 OHSS (moderat/schwer) und/oder präventive Maßnahmen 4,4 % 6,7 % P = 0,013 Outcome-Kriterium Tab. 2: Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen bei sekundären Endpunkten 12 bleibende Dosierung) durch die Patientinnen ab. Bei vergleichbarer Wirksamkeit könnte dies die Sicherheit der Behandlung verbessern und den Monitoringaufwand reduzieren. Im Rahmen einer kontrollierten ovariellen Stimulation mit Follitropin delta (Firma FERRING Arzneimittel GmbH) fungiert der Elecsys® AMH-Test als Begleitdiagnostikum (Companion Diagnostics) für die prätherapeutische Festlegung der Gonadotropindosierung zusammen mit dem Körpergewicht. Dieser Sachverhalt ist in der Fachinformation REKOVELLE®2 und des diagnostischen Tests3 entsprechend dokumentiert. * E STHER-1: The Evidence-based Stimulation Trial with Human rFSH in Europe and Rest of World **I SCI: Intraplasmic sperm injection (Intrazytoplasmatische Spermieninjektion) Literatur 1Andersen AN et al for the ESTHER-1 study group: „Individualized versus conventional ovarian stimulation for in vitro fertilization: a multicenter, randomized, controlled, assessor-blinded, phase 3 noninferiority trial." Fertility and Sterility (2016); epub ahead of print 2FERRING Arzneimittel GmbH, Fachinformation ­REKOVELLE® 12 Mikrogramm, 36 Mikrogramm, 72 Mikrogramm (Stand Dezember 2016) 3Packungsbeilage Elecsys® AMH Plus-Test (Stand Dezember 2016); Roche Diagnostics Dr. Frank Gast Leitung Medical & Scientific Affairs 0621 759-4618 frank.gast@ roche.com