PANORAMA 1|2007 B E R U F S B E R AT U N G 11 VOM GUTEN GEBRAUCH PSYCHOLOGISCHER TESTS Ethikregeln sorgen für Anonymität Ethische Probleme beschäftigen die Psychologinnen und Psychologen seit jeher, ein verstärktes Bedürfnis für präzise Regeln im Rahmen von eigentlichen Verhaltenscodices besteht jedoch nur in bestimmten Epochen . Zurzeit hat die Frage nach der Notwendigkeit der Evaluierung rein rhetorischen Charakter, da die Beurteilung allgegenwärtig ist. Es gilt daher, zu analysieren , welche Auswirkungen sie hat. Zur Zeit der Pharaonen beurteilte der Gott Osiris die Verstorbenen und entschied, ob sie in die Ewigkeit eingehen konnten. Die Sterbenden versuchten sich so gut wie möglich aus der Affäre zu ziehen und ihr Herz durch rituelle Formeln zum Schweigen zu bringen. Dieses galt als Sitz des Gedächtnisses, dessen indiskrete Aufrichtigkeit fatale Folgen haben könnte. Evaluierung war schon vor fünftausend Jahren eine prekäre Sache, denn schon damals war «niemand gezwungen, etwas über sich zu offenbaren».1 Das erleichtert die Aufgabe des Beurteilenden nicht gerade. 1 Französischer «Code de déontologie des psychologues» (www.sfpsy.org/index.htm), Prinzip 1: Wahrung der Persönlichkeitsrechte. 2 American Psychological Association (1953). Ethical Standards of Psychologists. (171 + 19 S.), Washington: A.P.A. 3 Lavallard M.-H. (2000), Evaluation et déontologie. Bulletin de Psychologie, 53, (1), 445, 101–105. 4 Französischer «Code de déontologie des psychologues», Artikel 9. 5 Französischer «Code de déontologie des psychologues», Prinzip 6: Zweckentsprechende Verwendung der Methoden. 6 Französischer «Code de déontologie des psychologues», Prinzip 6: Fortsetzung des Textes. 7 Französischer Codex, Prinzip 5: Wissenschaftliche Qualität. VON DER ETHIK ZUR DEONTOLOGIE Es ist wichtig, zwischen Ethik und Deontologie zu unterscheiden. Die Deontologie bezieht sich auf die Pflichten eines Berufsstands und die Regeln, denen sich seine Mitglieder zu unterwerfen haben. Ihr Ziel ist es, Patientinnen und Patienten und ihre Umgebung vor eventuellen Übergriffen zu schützen. Sie stützt sich auf moralische Prinzipien wie die individuelle Freiheit oder die Wahrung der Würde, die in den Bereich der Ethik fallen. Die für die Psychologie geltenden deontologischen Codices sind im Rahmen einer gerichtlichen Verfolgung nicht juristisch einklagbar. Die Erstellung des deontologischen Codex und seine Handhabung erfordern daher notwendigerweise ethische Überlegungen, die sowohl seinen Inhalt als auch dessen Anwendung betreffen. Normen für Tests wurden zum ersten Mal in den USA entwickelt. 1953 publizierte die American Psychological Association die «Ethical Standards of Psychologists»2, 1974 erschien eine Neuauflage, in der erstmals auf mögliche Verzerrungen der Ergebnisse eingegangen wurde, die den Wert und die Zuverlässigkeit eines Tests beeinträchtigen können. Erinnern wir uns kurz an einige Regeln und Vorsichtsmassnahmen, die bei jeder psychologischen Evaluierung zu beachten sind3: Pamela Cappello Roland Capel • Wenn die Evaluierung Tests beinhaltet, müssen diese von der evaluierenden Person selbst vorgenommen werden. • Die Evaluierung ist mehr als bloss ein Gutachten oder eine Beratung, sie erlaubt keine Mittelsperson: Sie kann sich daher nur auf Personen oder Situationen beziehen, die der Psychologe oder die Psychologin selbst prüfen konnte.4 • Nicht alle Evaluierungen sind von der gleichen Art. Es wird empfohlen, nur relevante Daten zu erheben, wobei entsprechende Tools und Methoden zu verwenden sind.5 • Die psychologische Fachkraft muss die möglichen Folgen ihrer Intervention bedenken, noch bevor diese stattfindet: Sie muss an mögliche unvorhergesehene Anwendungen ihrer Techniken denken.6 Nicht alle Praktiken sind zulässig: Der französische Codex verbietet unseriöse Techniken, um die wissenschaftliche Qualität zu sichern. Die Psychologin oder der Psychologe muss die gewählten Methoden gut begründen können und in der Lage sein, ihre theoretischen Grundlagen zu erklären. Alle Evaluierungen und Ergebnisse müssen einer kontradiktorischen Diskussion zwischen Fachleuten standhalten können.7 Für den Fall von Evaluierungen wird dieses Grundprinzip in einem gesonderten Artikel weiter ausgeführt: Die von den Psycholo- PANORAMA 1|2007 AR B ER BU E IFTSSBMEARRAT K TU N G 12 gen und Psychologinnen zu Diagnose-, Orientierungs- oder Selektionszwecken verwendeten Techniken müssen wissenschaftlich validiert sein.8 Dies schliesst somit Techniken wie Astrologie, Numerologie oder Grafologie aus. EINSTELLUNGSTESTS Im Zusammenhang mit Auswahltests legt der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte unter Berufung auf das Bundesgesetz über den Datenschutz (DSG) vom 19. Juni 1992 fest, es sei darauf zu achten, «dass nur objektive, zuverlässige und gültige Resultate berücksichtigt werden. Deshalb sind Einstellungstests (…) nur erlaubt, wenn sie (…) von Fachleuten durchgeführt und ausgewertet werden». Bei der Durchführung von Einstellungstests sind ethische Aspekte auf drei Ebenen zu berücksichtigen: Die erste Ebene betrifft den Test selbst. Das DSG legt fest, dass die Persönlichkeit der betroffenen Person nicht verletzt werden darf. Die Bewerbenden können daher die Beantwortung von Fragen verweigern, die sie als zu indiskret erachten. Die zweite Ebene ist die für die Durchführung des Tests verantwortliche Person oder Firma. Laut DSG darf kein Test stattfinden, ohne die Zustimmung der Bewerbenden einzuholen oder sie über dessen Zweck zu informieren; die Bewerbenden haben somit das Recht, sich über den Test zu erkundigen und ihn zu verweigern. Sie müssen auch Zugang zu den Ergebnissen haben. Dabei können sie zwar verlangen, über die Testresultate informiert zu werden, ein gutes Ergebnis verpflichtet jedoch ein Unternehmen nicht dazu, die betreffende Person anderen Bewerbenden mit schlechterem Resultat vorzuziehen. Die Resultate sind vertraulich zu behandeln. 8 9 Französischer Codex, Artikel 18. Committee on Professional Standards and Committee on Psychological Tests and Assessment (1986). Guidelines for computer-based tests and interpretations. Washington: American Psychological Association. Die dritte Ebene betrifft die Person der Bewerbenden. Diese sind möglicherweise versucht, nicht aufrichtig zu antworten. Einige Tests sind jedoch schwer zu überlisten, da sie die Kohärenz der Antworten prüfen oder Fragen ohne offensichtlichen Zusammenhang mit den getesteten Bereichen stellen. Doch es ist nicht sicher, ob es im Interesse der Bewerbenden ist, einen Arbeitsplatz zu erhalten, der nicht für sie geeignet ist (Unzufriedenheit, mangelnde Motivation, Depression usw.) oder zu beruflichem Misserfolg führt (Vertrauensverlust, schlechte Referenzen, Entlassung usw.). ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Psychologische Tests ermöglichen es, Informationen über Einzelne zu sammeln und an Dritte mit unterschiedlichsten Absichten und Zielen weiterzuleiten. Diese Tests sind daher als potenzielle Machtinstrumente zu beurteilen. Die in diesem Text diskutierten ethischen Regeln und Codices sollen daher nicht nur die Arbeit der Psychologen aufwerten, sondern auch ihr eventuelles «Übergriffspotenzial» einschränken. Diese Ethikregeln haben daher praktisch immer zum Ziel, strikte Anonymität für die Betroffenen sowie die bestmögliche Qualität des verwendeten Instrumentariums zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass die Tests stets von Fachleuten (Psychologe oder Psychologin mit Universitätsausbildung) zu interpretieren und anzuwenden sind, die die Funktionsweise der von ihnen verwendeten Instrumente verstehen. Nicht zuletzt sollten auch Überlegungen bezüglich der Verantwortung der Personen angestellt werden, die psychologische Tests aller Art ausarbeiten und verbreiten. Tatsache ist, dass es heute möglich ist, komplexe psychologische Tests über das Internet zu verbreiten. Dies führt zu einer «Globalisierung» der Veröffentlichung psychometrischer Instrumente und wirft die Frage nach einer Beschränkung ihrer Verbreitung und der Legitimität ihrer Anwendung auf. Welche psychologische Ethik beschäftigt sich mit diesem Markt? Mit Ausnahme der USA, wo dieses Thema durch einen von der A.P.A9 veröffentlichten speziellen Codex geregelt wird, herrscht diesbezüglich in allen Ländern ein recht bemerkenswertes rechtliches Vakuum. Bei all den zahlreichen komplexen und manchmal riskanten Methoden der Beurteilung von Menschen durch Menschen stellt sich die heikle Frage nach der Verantwortung der Beurteilenden gegenüber jenen Personen, die sich momentan – freiwillig oder unfreiwillig – in ihrer Macht befinden. Daher müssen wir auf eine harmonische Verbindung von Respekt vor dem Gegenüber, Kompetenz, Umsicht und Bescheidenheit achten. Dies sind unserer Ansicht nach vier wesentliche Qualitäten, durch die sich eine korrekte, d. h. unseren ethischen Massstäben entsprechende Arbeit einer psychologischen Fachkraft bei der Anwendung von Tests auszeichnet. Pamela Cappello ist diplomierte Psychologin. Ihr Spezialgebiet ist die Psychologie im schulischen Umfeld. Zurzeit ist sie Doktorandin an der Universität Lausanne. Roland Capel ist Doktor der Psychologie und Autor einer Dissertation auf dem Gebiet der Berufsberatung für Kinder und Jugendliche. Er unterrichtet und forscht an der Universität Lausanne, zusätzlich beschäftigt er sich mit der Erstellung und Verbreitung psychometrischer Tests (www.geca-psytest.com). Kontakt: [email protected], [email protected], Universität Lausanne, psychologisches Institut, Anthropole, 1015 Dorigny. Übersetzung: AHA Translations