Gis-Hedlund-Russland

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MONTAG, 3. OKTOBER 2016
Russlands kurzfristige Widerstandsfähigkeit hat ihren Preis
Experte
Professor
Stefan Hedlund
Region:
Russland
Zentralasien
Die russischen Herrscher und die einfachen Menschen, wie diese Fleischverkäuferin in
Smolensk, haben seit dem Zusammenbruch des Rubels im Jahr 2014 eine gewaltige
Überlebensfähigkeit an den Tag gelegt (Foto: dpa)
Die Aussichten für die russische Wirtschaft sind düster und der Kreml ist eindeutig besorgt über die möglichen politischen Auswirkungen. Aber wie
schlimm ist die Situation wirklich – und welche Folgen könnte sie haben?
Westliche Analysten überschätzen oft das Ausmaß der Wirtschaftskrise in Russland. Diese Tendenz wurde in Medienberichten deutlich, die oft von einer Sensationsgier beeinflusst wurden, welche an Wunschdenken grenzt. Besonders auffällig
ist die mangelhafte Unterscheidung zwischen der kurzfristigen Finanzkrise Russlands, die durch den Zusammenbruch der Ölpreise zustande kam, und den chronischen strukturellen Problemen der Wirtschaft des Landes.
Um mit dem Offensichtlichen zu beginnen: In der russischen Wirtschaft dreht sich
alles ums Öl, und ihre wichtigsten wirtschaftlichen Indikatoren folgen alle dem Ölpreis. Per Definition bedeutet dies, dass jeder Versuch, Russlands Wirtschaftsentwicklung für die nächsten Jahren zu prognostizieren, im Grunde einer Mutmaßung
über die Entwicklung des Ölpreises gleichkommt. Die Erfolgsbilanz solcher Prognosen ist nicht sehr inspirierend.
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Um einmal den unsicheren Aspekt solcher Projektionen zu illustrieren: Es ist durchaus möglich, dass ein schneller Anstieg des Ölpreises Russlands Finanzkrise abmildern und dem Kreml so einen erheblichen Spielraum im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2018 verschaffen kann. Der Preisanstieg im Jahr 2016, in
dessen Zuge sich der Brent-Rohölpreis von 28,94 Dollar im Januar auf 50,88 Dollar
Mitte August erhöhte, führte zu höheren Reallöhnen und zu einem optimistischen
Ruck in der gesamten russischen Wirtschaft. Aber es ist ebenso möglich, dass ein
weiterer Rückgang der Ölpreise die Erschöpfung der russischen Devisenreserven
beschleunigen und das Haushaltsloch vergrößern wird. Diese Einschränkung sollte
immer im Auge behalten werden.
Dunkle Vorahnungen
Es gibt immer die Versuchung, die negativen Aussichten weiter zu verdüstern,
wenn die Emotionen hochkochen – vor allem heute, wo es gang und gäbe ist,
schlecht über Russland zu reden. Aber eine Atmosphäre der Bestrafung und der
Düsterheit kann verschleiern, was wirklich los ist, und die Politiker in eine Unkenntnis der Lage versetzen. Die Vereinigten Staaten haben stark unter diesem Problem
gelitten.
In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 2015 stellte US-Präsident Barack
Obama fest, dass „Russland isoliert ist, seine Wirtschaft liegt in Trümmern“. Diese
Behauptung kam in den Medien gut an, aber wie die Ereignisse zeigen sollten,
fundierte sie nicht auf einer ernsthaften Analyse. Die jüngste Häufung von Treffen
zwischen US-Außenminister John Kerry und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow widerspricht dem ersten Teil von Obamas Aussage, während ein Blick
auf die nachfolgende wirtschaftliche Entwicklung zeigt, dass auch ihr zweiter Teil
nicht der Realität entsprach.
Ende 2014 ließ es die russische Zentralbank zu, dass sich der starke Rückgang der
Preise für Öl in einen ebenso starken Rückgang beim Wert des Rubels übersetzte.
Diesen Markteinbruch werteten einige Beobachter als Beweis dafür, dass die russische Wirtschaft zusammenbrach, einige prognostizierten, dass die Wirtschaft im
Jahr 2015 um mehr als 10 Prozent einbrechen würde. Eine solche Argumentation
förderte den unbegründeten Glauben, der auch in Obamas Aussage so offensichtlich war, dass die wirtschaftliche Schwäche den Kreml zugänglicher machen würde.
Vorsichtiger Optimismus
Die Realität ist, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2015 um 3,7 Prozent
sank, und in diesem Jahr wird es vermutlich um weitere 1,2 bis 1,6 Prozent
schrumpfen. Dies sind eindeutig keine schönen Aussichten, aber sie sind dennoch
weit entfernt von einer Wirtschaft, die „in Fetzen“ liegt.
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Auf dem G20-Treffen vergangenen Monat in Hangzhou gab Präsident Wladimir Putin eine optimistische Einschätzung über die Wirtschaft Russlands, er behauptete,
diese hätte sich stabilisiert mit einem „kleinen, aber stetigem Wachstum in der industriellen Produktion und anderen Bereichen“. Moskau plane „weiterhin, das
Haushaltsdefizit zu reduzieren“, sagte er, während er eine „ausgewogene“ Politik
versprach, um die Wirtschaft stabil zu halten und um das Geschäftsklima zu verbessern.
Einige wichtige Indikatoren bestätigen Putins vorsichtigen Optimismus. Russland
wird voraussichtlich im nächsten Jahr mit einem Plus von etwa 1 Prozent beim BIP
auf den Wachstumskurs zurückkehren. Die Staatsschulden des Landes belaufen
sich im Verhältnis zum BIP nur auf 12,5 Prozent, was im Vergleich zu vielen europäischen Volkswirtschaften ein Klacks ist. Die Zentralbankreserven blieben in den
vergangenen zwei Jahren stabil. Ende August beliefen sie sich auf 395,2 Milliarden
Dollar, am Jahresende 2014 waren es nur 385,4 Milliarden Dollar. Die zweistellige
Inflation, die im Jahr 2015 gemessen wurde, sank im Juli 2016 auf 7,2 Prozent und
bis Jahresende könnte sie sich auf 4 bis 5 Prozent verlangsamen.
Es ist also fair zu sagen, dass sich die russische Wirtschaft als weitaus stabiler erwiesen hat, als die Verfechter der westlichen Wirtschaftssanktionen geglaubt
hatten, als diese Russland für seine Aggression gegen die Ukraine bestrafen wollten. Selbst als die Sanktionen eingeführt wurden, war bereits an den offiziellen
Zahlen ersichtlich, dass die Abwehrkräfte des Kremls ausgeprägt waren. Die beiden Staatsfonds – der Reservefonds und der Nationale Vermögensfonds (NVF) –
hielten zusammen etwa 175,2 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Wie die Ereignisse zeigen sollten, war dies ausreichend, um sogar den massiven Schlag
durch die niedrigen Öleinnahmen abzufedern. Hätten die Ölpreise nicht so einen
Sturzflug hingelegt, wäre der Kreml sogar in der Lage gewesen, den Strafmaßnahmen eine lange Nase zu drehen.
Clevere Handhabung
Es ist wahr, dass der Reservefonds jetzt trockenläuft. Er sollte den Haushalt
stützen, und diesen Zweck hat er nun erfüllt, nachdem er von 87,9 Milliarden Dollar
zum Jahresbeginn 2015 auf 50 Milliarden Dollar in diesem Januar bis auf 32,2
Milliarden Dollar Ende August ausgedünnt wurde. Ob er vollkommen aufgebraucht
wird, hängt von den weiteren Bewegungen des Ölpreises ab. Die Ökonomen der
Moskauer „Higher School of Economics“ befürchten, dass dies zum Jahresende
2016 passieren könnte, was durchaus möglich wäre – doch es scheint ein wenig
spekulativ.
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Sobald der Reservefonds aufgebraucht wäre, hätte Russland jedoch noch immer
die Möglichkeit, den Nationalen Vermögensfonds (NVF) anzuzapfen. Obwohl dieser
geschaffen wurde, um das Rentensystem zu stützen, ist der Kreml bereit, zumindest einen Teil dieses Fonds für andere Zwecke zu verwenden. Trotz anhaltender
Gerüchte, dass er bereits an bedürftige Kreditnehmer verpfändet wurde, insbesondere an den Ölriesen Rosneft, scheint der NVF weitgehend intakt zu sein. Ende
August 2016 hielt er stabil 72,7 Milliarden Dollar in Vermögenswerten, im Januar
2015 waren es 78 Milliarden Dollar.
Kurz gesagt, scheint der Kreml seine kurzfristige Krise durch geschicktes Geldund Finanzmanagement überwunden zu haben. Wenn und falls Russland seine
finanziellen Reserven einmal ausgeschöpft haben sollte, dürfte Obama sein Amt
bereits seit über einem Jahr abgegeben haben und die europäischen Staats- und
Regierungschefs werden wahrscheinlich einen Vorwand gefunden haben, um die
Sanktionen aufzuheben. Der offensichtliche Joker hier sind die US-Präsidentschaftswahlen, aber weder Trump noch Clinton dürften eine Änderung an Russlands Steuerpolitik bewirken.
Die traurige Schlussfolgerung ist, dass die westlichen Sanktionen schweren wirtschaftlichen und politischen Schaden zugefügt haben, ohne viel zu erreichen,
außer, dass sie den Unmut der USA und der EU über die Aktionen des Kremls zum
Ausdruck gebracht haben. Es ist sehr fraglich, ob der hierfür gezahlte Preis auch
nur annähernd dafür angemessen war.
Finanzkrise
Bedeutet dies, dass es Russland gut geht? Offensichtlich nicht. Da die Finanzreserven zur Neige gehen und sich die politische Repression verschärft, wappnet
sich der Kreml für schwere Zeiten. Es ist jedoch zwingend notwendig, zwischen
den finanzpolitischen und den strukturellen Aspekten dieser Krise zu unterscheiden.
Der kurzfristige Ausblick ist durch eine Intensivierung der haushaltspolitischen
Krise geprägt, die durch Putins unverantwortliche Kopplung der Bundesausgaben
an die sehr hohen Ölpreise der letzten zehn Jahre zustande kam. In den frühen Tagen seiner Präsidentschaft lag der Break-Even-Point für den Bundeshaushalt bei
einem Preis für Brent-Rohöl von etwa 20 bis 40 Dollar pro Barrel; bis zum Jahr
2013 war er auf 117 Dollar angestiegen. Die Wurzeln der gegenwärtigen Krise sind
eine massive Erhöhung der Sozialausgaben und ein noch größeres Engagement
für die militärische Aufrüstung, die beide im Jahr 2010 beschlossen wurden.
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Die steigende Bedeutung von Waffenproduzenten, wie dieses Werk zum Bau des T-72B3Panzers in Jekaterinburg, ist ein weiterer Hinweis auf die wachsende Rückständigkeit und
Isolation der russischen Wirtschaft (Foto: dpa)
Der Rückgang der Ölpreise und der Umsätze fiel zeitgleich mit der Forderung nach
großen staatlichen Geldspritzen zur Stimulierung der Wirtschaft, die ein deutlich
größeres Defizit im Bundeshaushalt erforderlich gemacht hätten. Putin jedoch
erinnerte sich nur zu gut an die Zahlungsunfähigkeit und die Rubel-Abwertung im
Jahr 1998, und er ist entschlossen, dass das Haushaltsdefizit nicht größer als 3
Prozent des BIP werden darf. In der Folge hat das Finanzministerium zahlreiche
Vorschläge für Ausgaben-Programme abgelehnt, um die Wirtschaft wieder zu beleben. Dies war wohl die richtige Vorgehensweise. Angesichts der derzeitigen strukturellen Beschränkungen würden große Geldspritzen ohnehin nur verschwendet
werden.
Schmerzhafte Sparmaßnahmen
Die Politik der kommenden Jahre wird durch Einschränkungen gekennzeichnet
sein. Bezeichnenderweise werden hierzu auch Kürzungen bei den Militärausgaben
gehören. Als sich die Zentralbank dafür entschied, ihre Devisenbestände zu halten
anstatt den Rubel zu verteidigen, entfesselte sie die Inflation und die Regierung
reagierte darauf durch das Einfrieren der nominalen Staatslöhne und sie skalierte
die Lebenshaltungskosten-Erhöhungen für Renten herunter. Diese Maßnahmen
zwangen die Bevölkerung, den Schmerz der wirtschaftlichen Anpassung zu tragen.
2015 fielen die Reallöhne um 9,5 Prozent und der private Konsum sank um 9,6
Prozent. Die Regierung nahm frühere Zusagen an Rentner zurück, für das Jahr
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2016 führte sie eine teilweise Indexbindung ein und im Jahr 2017 werden die Altersbezüge komplett eingefroren. Premierminister Dmitri Medwedew kündigte an,
dass es am Jahresende 2016 eine Einmalzahlung in Höhe von 5.000 Rubel (77 Dollar) geben wird, so dass sich die alten Menschen zumindest etwas Schönes für
das Neujahrsfest kaufen können.
Nach offiziellen Angaben leben rund 20 Millionen Russen, oder etwa 14 Prozent
der Bevölkerung jetzt unterhalb der Armutsgrenze, im Jahr 2014 waren es nur 16
Millionen. Solange es zu keinem erheblichen Anstieg der Ölpreise kommt, dürften
immer größere Teile der Bevölkerung eine bittere Not erfahren. Die neusten vom
Kreml eingeführten repressiven Maßnahmen zeigen deutlich, dass er mögliche
Reaktionen fürchtet, von Straßenprotesten wütender Rentner bis hin zu ausgewachsenen Unruhen in den Städten des „Rostgürtels“.
Strukturelle Zwänge
Selbst falls sich keine dieser Befürchtungen materialisiert (und bisher gibt es keine
klaren Anzeichen für Schwierigkeiten): Die Maßnahmen zur Verhinderung von Ausbrüchen der Unzufriedenheit dürften die Wirtschaft behindern. Vor allem werden
sie die strukturellen Beschränkungen verschärfen, die die Chancen für eine Rückkehr zu einer Politik des Wachstums und der globalen Integration abgewürgt haben, die so kennzeichnend für die frühe Putin-Präsidentschaft war.
Blickt man über die Präsidentschaftswahlen von 2018 hinaus, so dürfte der Kreml
mit einer strategischen Wahl von grundlegender Bedeutung konfrontiert werden.
Eine Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses dürfte einen zunehmend engen Fokus
auf die Sicherheit und das Militär bedeuten. Die Rückkehr zu einer Massenmobilisierungs-Armee sowjetischen Stils würde, im Gegensatz zur neueren Struktur kleiner Bereitschafts-Brigaden, unweigerlich eine Rückkehr zu den sowjetischen Mustern der „strukturellen Militarisierung“ in der Wirtschaft beinhalten. Das verarbeitende Gewerbe würde sich zunehmend auf militärische oder auf mehrfach zu verwendende Produkte konzentrieren, anstatt auf die zivilen Märkte. Dies wiederum
würde eine Rückkehr zu Russlands uralten Vorgehensweisen bedeuten, als man
Ressourcen für militärische Zwecke beschlagnahmte. Es käme zu einer Zunahme
der militärischen Stärke und zu einer noch umfassenderen Konzentration der politischen Macht. Doch all dies würde von der Vertiefung der Isolation, der technologischen Rückständigkeit und des Ausschlusses von den globalen Wertschöpfungsketten begleitet werden.
Die Alternative wäre, den Märkten und dem Klein-Unternehmertum mehr Spielraum zu geben. Dies würde ernsthafte Anstrengungen zur Bekämpfung der
Korruption auf den höchsten Ebenen erfordern – ein Krebsgeschwür, dessen
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Ausmaß vor kurzem ersichtlich wurde, als man in der Wohnung eines Polizeioberst
der Anti-Korruptions-Behörde 130 Millionen Dollar in bar fand. Noch wichtiger wäre, dass die räuberische Ausnutzung des Rechtssystems beendet würde. ScheinAnklagen sind derzeit das Lieblingswerkzeug für gut vernetzte Akteure, um feindliche Übernahmen von Privatunternehmen durchzuführen. Während diese und ähnliche Maßnahmen unbedingt notwendig wären, um die Wirtschaft zu beleben, würden sie jedoch zugleich die Maschinerie der Macht im Innersten bedrohen.
Sollte Putin auch nach 2018 im Amt bleiben wollen, dürfte sein wahrscheinlichster
Kurs darin bestehen, sich von den derzeit kursierenden Reformvorschlägen die
Rosinen herauszupicken – und dann das zu akzeptieren, was machbar erscheint,
und die riskanten Ideen abzulehnen. Solch halbherzige Maßnahmen haben kaum
eine Chance, irgendjemanden zufriedenzustellen. Stattdessen werden sie die
Rückständigkeit der russischen Wirtschaft erhöhen und die Isolierung der Präsidentschaft vertiefen, sowohl von der Gesellschaft im Allgemeinen als auch von den
rivalisierenden Eliten. Prozesse wie diese haben in der Regel keinen guten Ausgang.
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Maßnahmen, welche unbedingt notwendig wären, um
die Wirtschaft zu beleben, würden jedoch zugleich die
Maschinerie der Macht im Innersten bedrohen
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