1949-Kleine Geschichte der Schweiz im 2 Weltkrieg

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Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1949
Kleine Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
-21949
Peter Dürrenmatt
Dürrenmatt Peter: Kleine Geschichte der Schweiz um 2. Weltkrieges.
Schweizer Spiegel Verlag Zürich. 1949. 111. Seiten.
Kleine Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg
-3-
Kleine Geschichte der Schweiz während des zweiten Weltkrieges.
Weltkrieges.
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort
Seite 5
1. Kapitel:
Im Sturm der Geschichte
Seite 7
2. Kapitel:
Von der Mobilmachung zur «drôle de guerre»
Seite 33
3. Kapitel:
Widerstehen!
Seite 59
4. Kapitel:
Durchhalten bis zum Frieden
Seite 85
S. 5:
Vorwort
Der Verfasser des vorliegenden kleinen Buches über die «Geschichte der
Schweiz im zweiten Weltkrieg» ist vom Schweizer Spiegel Verlag angeregt
worden, es zu schreiben. Diese «Schweizer Geschichte der neuesten Zeit ist
kein wissenschaftliches Werk, und wenn sich der Verfasser entschloss, die
Bezeichnung «Geschichte» dafür in Anspruch zu nehmen, die im
Sprachgebrauch einen gelehrsamen Anstrich hat, so deswegen, weil er sie
einfach in einem ursprünglichen Sinn verstanden wissen möchte: Auf den
Seiten seines Büchleins wird das Geschehen erzählt, wie es ein Zeitgenosse
gesehen und erlebt hat. Es soll vornehmlich der jungen Generation, die
Manches nur noch vom Hörensagen kennt, der Ablauf der Dinge im
Zusammenhang geboten werden. Die «Geschichte der Schweiz im zweiten
Weltkrieg» ist ein Erinnerungsbuch, ein Glied in der Kette der Überlieferung,
wie sie bei uns von Geschlecht zu Geschlecht reicht und einen der Gründe für
die innere Festigkeit des Schweizertums bildet. Der Verfasser legte grosses
Gewicht darauf, die Atmosphäre jener Tage festzuhalten und darzutun, wie die
unpathetische schweizerische Nüchternheit sich im übrigen Chaos der Zeit als
grosse Kraft erwies.
Der Verfasser ist ein zuinnerst überzeugter Anhänger der Kleinstaatlichkeit
schweizerischer Prägung. Er glaubt, dass diese im heutigen Zeitalter der
Grossraumstaaten ihre besondere geschichtliche Aufgabe zu erfüllen hat.
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Sollte es ihm auf den folgenden Seiten gelungen sein, dem Leser zu zeigen, wie
das Wunder geschehen konnte, dass der
S. 6:
föderalistische Alpenzwerg dem nördlichen Giganten und dem von ihm
angezettelten Geschehen widerstehen konnte, so ist der Zweck des Werkleins
erreicht.
Was das Quellenmaterial anbelangt, so benützte der Verfasser, ausser dem,
einem Zeitungsschreiber zugänglichen Material, hauptsächlich eigene
Aufzeichnungen.
Riehen bei Basel, im Juni 1949.
S. 7:
Der Verfasser.
1. KAPITEL
Im Sturm der Geschichte
Ein bundesrätliches Wort zündet - Von den Befehlen eines Diktators, den
Wallfahrten von Staatsoberhäuptern und wachsender Unruhe - Tiefere
Ursachen des zweiten Weltkrieges: Versailles, Wirtschaftskrise, Gewaltgeist
und Hitlerei - Die Wirtschaftskrise bricht herein - Die Schweiz nach dem ersten
Weltkrieg - Wirkungen der Krise - Hitlers Aufstieg - Gefahr für die Schweiz Der Frontenfrühling, Oberwindung der Krise und nationale Bereitschaft.
S. 8:
Es kommt gewiss nicht oft vor, dass im Schweizervolk das Wort eines
Bundesrates von Mund zu Mund gegeben und wie eine befreiende Tat
empfunden wird. Aber im spannungsreichen, mit aussenpolitischen
Vermutungen und Gerüchten erfüllten Frühjahr 1939 ist so etwas
vorgekommen. Damals sagte es einer dem andern: «Hast du gehört, was
Bundesrat Obrecht an einer öffentlichen Versammlung in Basel gesagt hat?
Wir Schweizer würden nicht wallfahrten gehen, und wir würden gegen jeden
kämpfen, der uns angriffe.» Jeder, der dieses Wort vernahm, fand, es sei
ausserordentlich gut gesprochen und war höchlich befriedigt. Was war
passiert? Warum stimmte das Volk diesem bundesrätlichen Wort zu, als ob es
darauf gewartet hätte?
Am 15. März 1939 hatte der deutsche Reichskanzler und «Führer» Adolf Hitler
seinen Divisionen den Befehl erteilt, in die Tschechoslowakei
einzumarschieren,
-5-
die Hauptstadt Prag zu besetzen, und das, was der sogenannte «Münchner
Friede» vom 29. September 1938 von diesem unglücklichen Land übrig
gelassen hatte, in zwei Hälften zu trennen: In das Protektorat Böhmen und
Mähren, das künftig ein Teil des «Grossdeutschen Reiches» sein sollte, und in
einen unabhängigen Staat Slowakei. Während die deutschen Truppen bereits
marschierten, bekam der tschechoslowakische Staatspräsident Hacha von
Hitler den Befehl, sich in Berlin einzufinden. Hacha fuhr hin: er gab seine
Zustimmung zum vollendeten Gewaltstreich gegen sein Land. Ohne
Blutvergiessen, ohne Kämpfe war der
S. 10:
zwanzig Jahre alt gewordene tschechoslowakische Staat von der europäischen
Landkarte getilgt. England und Frankreich aber, die ein halbes Jahr zuvor die
Unterschrift ihrer Staatsmänner unter den Münchner Vertrag gesetzt hatten,
antworteten auf den neuen, frechen, ja zynischen Wortbruch Hitlers mit einem
Protest.
In der Schweiz wie im Ausland spürten indessen die Menschen, dass Europa
nun unmittelbar in das Vorfeld eines neuen Krieges eingetreten war. Der
Bundesrat befahl, die Minenobjekte an der Schweizergrenze zu laden. Zwei
Tage nach dem Gewaltstreich sprach Bundesrat Obrecht in Basel, eingeladen
von der dortigen Gruppe der «Neuen Helvetischen Gesellschaft» über
Probleme der Arbeitsbeschaffung. Er begann seinen Vortrag mit den Worten:
«Jedermann muss wissen, dass dem, der uns angreift, der Krieg wartet. Wir
werden nicht ins Ausland wallfahrten gehen, um Hilfe zu suchen, sondern wir
werden uns selbst und auf uns selbst gestellt unserer Haut zu wehren wissen.»
Das Wort also war das Wort vom Wallfahrten, das Aufsehen erregte, es war
nicht genau so gesprochen worden, wie es nachher umging. Das Volk hatte ihm
jenen Akzent gegeben, den es ihm geben wollte. Gerade diese leichte
Sinnverschiebung zeigte deutlicher als alles andere, wie entschlossen die
'Volksstimmung war, wie sehr sie darauf gewartet hatte, durch ein Wort von
oben beides zu bekommen, einen Ausdruck für das, was auf jedermanns Zunge
lag und einen Richtpfahl für die eigene Haltung.
Befohlene Wallfahrten von Staatsoberhäuptern zu Hitler und kampflose
Kapitulationen waren damals bereits zu einem Begriff geworden. Ein Jahr vor
dem Einmarsch in Prag hatte sich mit fast haargenau gleichem Verlauf die
-6-
S. 11:
Kapitulation Österreichs abgespielt. Ende Februar 1938 hatte Hitler den
österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg nach Berchtesgaden
kommen lassen und ihm befohlen, den österreichischen Nationalsozialisten
Seyss-Inquart in sein Kabinett aufzunehmen. Schuschnigg hatte gehorcht - und
zwei Wochen später marschierten Hitlers Bataillone in Oesterreich ein. Schon
damals hatten Frankreich und England protestiert. Dessen ungeachtet gliederte
Hitler die "Ostmark", wie er Österreich nannte, in das Deutsche Reich ein.
Beide Ereignisse, die Art und Weise, wie Österreich eingegliedert und die
Tschechoslowakei zerstört wurden, leiteten den zweiten Weltkrieg unmittelbar
ein. Sie hoben das Gleichgewicht in Europa endgültig auf. Sie trieben die
allgemeine Unruhe in der Weltpolitik, die 1935 mit dem Ausbruch des
italienisch-abessinischen Krieges und 1936 mit dem Bürgerkrieg in Spanien
begonnen hatte, auf den Höhepunkt. Der spanische Krieg wuchs sich zu einem
Interventionskrieg aus, bei dem deutsche, italienische und russische
Kontingente, sowie Freiwillige aus der ganzen Welt die modernen Waffen und
ein neues Kampfverfahren ausprobierten.
Versuchen wir zunächst, so gedrängt wie möglich, die tieferen Ursachen
herauszuarbeiten, die den zweiten Weltkrieg ausgelöst haben. Wir werden
dabei erkennen, dass sich in Europa nach dem ersten Weltkrieg die äusseren
Verhältnisse und die politischen Auffassungen der Menschen veränderten. Wir
werden erst dann verstehen, was für ein Wunder es gewesen ist, dass die
Schweizerische Eidgenossenschaft, mitten in diesem von Unruhe erfüllten
Kontinent gelegen, zwei Kriege und eine zwischen ihnen liegende schwere
Wirtschaftskrise überstehen konnte.
Ein wenig vereinfachend könnte man sagen, der zweite
S. 12:
Weltkrieg sei aus vier Gründen entstanden: Erstens aus dem unausrottbaren
Gewaltgeist, wie er hauptsächlich im 19. Jahrhundert die Politik der
europäischen Grossstaaten auszeichnete, zweitens aus dem zwiespältigen
Charakter des Friedens von Versailles, drittens durch den Sieg des
Nationalsozialismus in Deutschland, und viertens aus der Glaubensschwäche
der westeuropäischen Staatenlenker gegenüber jenen Grundwerten der Politik,
die zu verteidigen sie vorgaben. - Als am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des
Schlosses zu Versailles der Friede unterzeichnet wurde, der den ersten
Weltkrieg abschloss, zahlten die damaligen Alliierten den Deutschen ihre
politische
-7Gewaltverherrlichung, die sie zwei Jahre zuvor besonders gegenüber den
Russen im Frieden von Brest-Littowsk bewiesen hatten, mit gleicher Münze
heim. In Versailles wurde nicht mehr verhandelt, wie etwa noch ein
Jahrhundert vorher in Wien, es wurde diktiert. Der Geist eines Clemenceau und
Poincare gab anderthalb Jahrzehnte nach Versailles den deutschen
Nationalisten den Vorwand für ihre eigene Politik, die nichts gelernt und nichts
vergessen hatte.
Indessen: Wir nannten den Versailler Frieden zwiespältig. Dicht neben seinem
Gewaltgeist enthielt er das andere, die Idee des nordamerikanischen
Präsidenten Wilson, einen Völkerbund zu errichten und auf diese Weise zu
versuchen, eine neue Legitimität in den Beziehungen der Völker zu schaffen.
Wilsons Idee entstammte einer bedeutsamen Erkenntnis: Der Krieg war ein
Weltkrieg gewesen, kein europäischer Krieg. Also musste der Friede auf einer
die Welt umfassenden Grundlage gesucht werden. Die amerikanischen
Isolationisten verdarben dem Präsidenten diesen Plan, Nordamerika trat dem
Völkerbund nicht bei. Die europäischen Nationalisten aber, vor
S. 13:
allem in Deutschland und in Italien, die Europa immer noch mit der Welt
verwechselten, waren entschlossen, den Völkerbund zu zerstören, und der
übrige europäische Westen war zu müde und im entscheidenden Augenblick zu
glaubenslos, um den Völkerbund entschlossen zu verteidigen.
Stärker als die Idee des Völkerbundes war die beharrende Kraft des Macht- und
Gewaltdenkens. Das deutsche Volk war vom inneren Umschwung betäubt, den
die Niederlage von 1918 im Gefolge hatte, aber von den politischen
Neuerungen, die er brachte, keineswegs überzeugt. Es nahm Republik und
Demokratie hin, ohne in seiner Mehrheit von diesen Einrichtungen innerlich
ergriffen zu sein. Aktiv waren allein seine Nationalisten und ihre
verhängnisvollen Gegenspieler, die Kommunisten. 1925, sechs Jahre nach der
Niederlage, gelang den Nationalisten in Deutschland ihr erster Erfolg:
Generalfeldmarschall von Hindenburg wurde als Reichspräsident gewählt.
Frankreich, die Siegermacht auf dem Kontinent, täuschte sich selbst darüber
hinweg, dass der Krieg es in mancher Beziehung geschwächt hatte. Es sah,
trotz seiner Siegessicherheit, voll Furcht, wie rasch die Deutschen sich erholten
und errichtete gegen sie an seiner Ostgrenze den Wall der Maginotlinie. Italien
wurde unmittelbar nach Kriegsende von sozialen Unruhen geschüttelt und floh
aus ihnen in das nationalistische Extrem des Faschismus.
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Seine Faschisten träumten davon, das «Imperium Romanum», das einstige
Römische Reich wieder auferstehen zu sehen. Auch für die italienischen
Nationalisten war der Krieg ein europäischer alten Stils, nur kein Weltkrieg
gewesen.
S. 14:
Neben diesen drei Grossen gab es auf dem Kontinent den Kranz der kleinen
neuen Staaten im europäischen Osten, die, wie Finnland und die Baltischen
Staaten, die Gelegenheit der russischen Revolution benützt hatten, um
unabhängig und souverän zu werden, oder, wie die Tschechoslowakei und
Jugoslawien, aus der Konkursmasse der österreichischen Donaumonarchie
hervorgegangen und jetzt Frankreichs Verbündete waren. Die einstige
Donaumonarchie war neben der Schweiz das letzte Staatengebilde in Europa
gewesen, das die verschiedensten Nationalitäten in seinen Grenzen vereinigt
hatte. Der letzte
Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph I., hatte das Reich an die
Machtpolitik des wilhelminischen Deutschland gekettet. Das gab den Siegern
von 1918 den Vorwand, das alte Österreich nach dem Krieg zu zerstören und
damit auch das ewig schwankende Gleichgewicht in Europas Osten erst recht
unsicher werden zu lassen.
Es ist möglich, dass im Streit und Widerstreit zwischen den Kräften des alten
Machtgeistes und den Versuchen, eine Weltsicherheit zu schaffen, vielleicht
doch die letzte sich durchgesetzt hätte. Da brach ein Ereignis herein, das die
geistig-politische Krise in Europa offen ausbrechen liess. Das war die
Weltwirtschaftskrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach im Jahr 1929 ihren
Anfang nahm. Es war eine umfassende Krise, die das Gefüge der
Weltwirtschaft erschütterte. Sie brach mit ähnlicher Wucht über Europa herein,
wie in alten Zeiten etwa die grossen Seuchenzüge. Handel und Wandel
stockten. Die Arbeitslosen sammelten sich in den Städten wie verzweifelte
Heerscharen. Bankkrache, massenhafte Geltstage und wirtschaftliche
Zusammenbrüche ereigneten sich in allen Ländern. Es zeigte sich jetzt, dass die
rasche Wirtschaftsblüte, die
S. 15:
Mitte der zwanziger Jahre begonnen hatte, eine hektische Scheinblüte gewesen
war.
Jedes Volk, das von der Krise befallen wurde, reagierte verschieden auf sie, je
-9-
nach dem seelischen und geistigen Gesundheitszustand, in dem es sich befand.
Die Krise zwang aber auch jedes Volk zu nationalen Abwehrmassnahmen.
Damit zerstörte sie die kleinen Anfänge der neuen, allmählich in der
Nachkriegszeit entstandenen wirtschaftlichen und geistigen
Weltverbundenheit. überall dort, wo seit dem Frieden von 1919 das
Gleichgewicht nicht wieder oder nur scheinbar gefunden worden war, verlor es
sich jetzt, ob der Wucht der Wirtschaftskrise, von neuem. Der nationale
Egoismus, vom Völkerbund mühsam gedämpft, brach ob der Notwendigkeit
eines jeden Landes, die Krise bekämpfen zu müssen, wieder offen durch.
Dort, wo die geistigen Voraussetzungen dafür erfüllt waren, nahm der
nationale Egoismus die Formen eines überhitzten Nationalismus an. Da die
üblichen Mittel, mit denen man der Krise beizukommen suchte, zu versagen
schienen, und da meistens zu lange Zeit gewartet worden war, bis man eingriff,
gewannen die politischen und die sozialen Scharlatane an Boden. Es war die
Zeit, da in Deutschland der Österreicher Adolf Hitler, ein fanatischdämonischer Mensch, der schon vor dem Kriegsausbruch von 1914 keine
bürgerliche Existenz gefunden hatte, mit seiner «Nationalsozialistischen
Deutschen Arbeiterpartei» zusehends an Boden gewann.
In Frankreich und England mühten sich die Regierungen mit den folgen der
Krise ab. Einsichtige Männer hatten früh schon erkannt, dass das System der
deutschen finanziellen Reparationen, das 1919 eingesetzt worden war,
S. 16:
die Weltwirtschaft daran verhinderte, sich zu erholen. Zugleich bewirkte
indessen der steigende deutsche Nationalismus, dass die beiden Westmächte
nur zögernd den verschiedenen Erleichterungen zustimmten, die in bezug auf
die deutsche Reparationspflicht vorgeschlagen wurden. So spielten sich das
internationale politische Misstrauen, der unerhörte Umfang der
Wirtschaftskrise und die steigende nationalistische Erregung der Völker zur
Vollendung des Unglücks verhängnisvoll in die Hand. In der Zeit von wenigen
Jahren wurde es offenbar, dass Europa zu einem Pulverfass geworden war, das
explodieren musste, sobald Unverantwortliche einen Funken hineinwarfen. Die
geistigen Werte in der Politik, von denen die Menschen nach 1919 gehofft
hatten, sie seien europäisches Gemeingut geworden - das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Gedanke der Volksherrschaft, das
Aufhören der Geheimdiplomatie, die
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Völkerverständigung auf der Grundlage des Völkerbundes - widerstanden dem
Sturm nicht. Ihre Wurzeln waren zu jung, ihre noch schwachen Stämme
zerbrachen. über Europa begann sich ein geistiges Chaos auszubreiten.
Mitten drin in diesem Europa und seinen Wirren lag unsere Schweizerische
Eidgenossenschaft. Ohne äusseren Schaden hatte sie den ersten Weltkrieg
überstanden. Aber dieser hatte ihr Wesen verändert. Der Kriegsausbruch von
1914 hatte unser Volk mit einem Schlag geistig auf sich selbst gestellt. Heute
finden wir daran nichts Besonderes. Wir haben bereits vergessen, wie eng die
Deutschschweizer vor 1914 mit dem deutschen, die Welschen mit dem
französischen Geistesleben verbunden waren. So eng war die Bindung, dass
wir Schweizer in den ersten Monaten des Krieges drauf und dran waren, der
nationalistischen
S. 17:
Propaganda beider Lager der Kriegführenden zu erliegen, dass wir
leidenschaftlich Partei ergriffen und ein gefährlicher Graben zwischen Deutsch
und Welsch aufgerissen wurde. Damals standen hüben und drüben Männer auf,
die die Gefahr erkannten. Sie riefen dazu auf, wir Schweizer sollten uns nicht
der nationalistischen Propaganda aussetzen, sondern sich auf uns selbst und auf
das, was Recht war, besinnen. Die «Helvetische Gesellschaft» von einst begann
als «Neue Helvetische Gesellschaft» wieder ihre Tätigkeit aufzunehmen. Die
Besten unter den Schweizern aller Lager erkannten, dass wir, obgleich vier
Sprachstämme sich in der Eidgenossenschaft begegneten, ein Volk von eigener
politischer Kultur und eigenem politischem Lebenswillen waren. Der Graben
wurde überbrückt und zugeschüttet, die geistige Krise war beschwört.
Nicht weniger gefährlich war die soziale Spannung, die sich von der zweiten
Hälfte des ersten Weltkrieges bis zum Kriegsende ausbreitete. Sie wurde durch
verschiedene Umstände ausgelöst und erhielt ihren besonderen Charakter nicht
zuletzt daher, dass die Völker rings um unser Land in schwere soziale Krisen
gerieten. Die Schweiz war 1914 vom Krieg überrascht worden. Zwar verlief
die Mobilisation der Armee rasch und reibungslos. Es gelang uns, der Welt zu
zeigen, dass wir bereit waren, für die Unabhängigkeit des Landes und den
Schutz der Neutralität zu kämpfen. Aber die Rüstung hätte niemals gereicht,
um einen langen Krieg zu führen. Viel ärger stand es damals um die
wirtschaftliche und soziale Rüstung. Kein Mensch ahnte, was für Formen ein
moderner Krieg annehmen würde.
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Einen kriegswirtschaftlichen Apparat wie im zweiten Weltkrieg gab es nicht.
Das wirtschaftliche Leben spielte sich fast ungehemmt ab. Die Preise aller
Erzeug-
S. 18:
nisse, an denen Mangel herrschte, stiegen rasch und hoch. Auf dem
Lebensmittelmarkt herrschte empfindliche Teuerung. Die Löhne hielten mit ihr
bei weitem nicht Schritt. Streiks, Aussperrungen und Unzufriedenheit der
breiten Massen war die Folge. Dazu kam, dass der Soldat, der zum Dienst an
der Grenze aufgeboten war, kaum einen sozialen Schutz genoss, es gab weder
Lohn- noch Verdienstausfallkassen. Dienst von Vater und Söhnen für die
Heimat bedeutete für viele Familien Not und Entbehrung. Gewiss lief viel Geld
im Land um, aber es war ungleich verteilt. Obendrein fehlte ein brauchbares
politisches Ventil, durch das sich der angestaute Unwille hätte entladen
können. Die organisierte Arbeiterschaft, zur Hauptsache vertreten durch die
Sozialdemokratische Partei, verfügte nur über wenige Mandate im Nationalrat,
da dieser nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt wurde, das die grossen
Parteien begünstigte und die kleinen noch kleiner machte. Daher stand, die
Sozialdemokratische Partei in scharfer politischer Opposition. Mitten im Krieg
verweigerten ihre Abgeordneten die Militärkredite. Das erboste ihre Gegner. Es
zog sich ein politisch-soziales Gewitter über der Schweiz zusammen, das sich
im November 1918 entlud, als das Deutsche Reich zusammenbrach, die
Revolution, die in Russland begonnen hatte, das deutsche Kaiserreich
hinwegfegte und die deutsche Sozialdemokratie an die politische Macht kam.
In der Schweiz brach der Generalstreik aus. Dieser fiel nach drei Tagen in sich
zusammen und hatte keine revolutionären Folgen. Er löste indessen bestimmte
Reformen aus, unter denen die wichtigste und wahrscheinlich auch
folgenreichste für die weitere innenpolitische Entwicklung die Einführung des
proportionalen Wahlverfahrens für
S. 19:
den Nationalrat war. Im neu gewählten Nationalrat des Jahres 1919 hatte die
Freisinnige Partei die Mehrheit verloren. Es gab jetzt überhaupt keine
Mehrheitspartei mehr. Das politische Kräftespiel der Schweiz hatte sich
verändert.
Die Zeit zwischen 1920 und 1933 war ein Abschnitt, in dem sich allmählich
die Folgen der Veränderungen zeigten, die die Schweiz im ersten Weltkrieg
durchgemacht hatte. Die soziale Bewegung, die im Krieg begonnen hatte,
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setzte sich vorerst noch fort. 1922 wurde der Achtstundentag gesetzlich
eingeführt, und 1925 stimmte das Volk einem Verfassungsartikel zu, der
bestimmte, dass eine allgemeine Alters- und Hinterbliebenenversicherung
geschaffen werden sollte. In den Gemeinden und Kantonen wuchs indessen die
Sozialdemokratie aus der blossen Opposition heraus und in die politische
Mitverantwortung hinein. Die Arbeiterschaft suchte ihren Platz in der
schweizerischen Gemeinschaft.
Ein anderes, grosses Problem bildete die Bauernfrage. Sie hatte schon vor dem
ersten Weltkrieg bestanden, als die allgemeine Freizügigkeit des
internationalen Handels die Preise für Erzeugnisse der einheimischen
Landwirtschaft zerfallen liess. Der Krieg brachte unseren Bauern einen
unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung. Die Preise stiegen, und der Bauer
verdiente ein schönes Stuck Geld. Indessen stiegen nicht nur die Preise der
Erzeugnisse, sondern auch diejenigen des Bodens. Die jungen Bauern mussten
ihre Heimet teuer bezahlen. Als der Krieg vorbei war und die Konkurrenz des
Welthandels wieder einsetzte, sanken die Produktenpreise, indes die hohen
Bodenpreise und die hohen Zinse blieben. Der Bund griff nur zögernd ein, um
zu helfen, er besass dazu kein verfas-
S. 20:
sungsmässiges Recht. Die Bauern, die sich in verschiedenen Kantonen 1919
zur eigenen Partei zusammengeschlossen hatten, forderten Hilfe gegen die
wirtschaftliche Verschlechterung. Sie verlangten ein Mitglied im Bundesrat.
Ende 1929 wählte die Bundesversammlung den bernischen Bauernführer
Rudolf Minger zum Bundesrat. In diesem waren jetzt drei Parteien vertreten.
Mingers Wahl bewies, wie stark der Einfluss wirtschaftlicher Fragen auf die
schweizerische Politik geworden war. Die Weltwirtschaftskrise, die bald darauf
ausbrach, verstärkte diesen Einfluss, denn sie zwang den Bund, mit grösseren
Massnahmen in den wirtschaftlichen Ablauf einzugreifen, sie zwang ihn aber
damit auch, die Verfassung zu verletzen.
Hatte sich also die Schweiz mit dem ersten Weltkrieg innenpolitisch verändert,
indem die beiden Gruppen der Bauern und der sozialdemokratischen
Industriearbeiterschaft grösseren Einfluss auf die Politik bekamen als bisher, so
ergab auch die aussenpolitische Lage des Landes ein anderes Bild. Auf den
ersten Blick beurteilt kein ungünstiges.
- 13 -
Der Sieg der Entente über die Mittelmächte war ein Sieg der liberalen und
demokratischen Gedankenwelt. Der Völkerbund wollte vor aller Welt
bezeugen, dass das Recht sich auch in den Beziehungen zwischen den Staaten
entwickeln werde. Die Schweiz wurde eingeladen, bei dieser Entwicklung des
Völkerrechtes mitzutun. Am 20. Mai 1920 billigte das Schweizervolk in der
Volksabstimmung den Beitritt zum Völkerbund, wenn schon nach
leidenschaftlicher Diskussion und mit einer hohen Zahl von ablehnenden
Stimmen. Der Beitritt zum Völkerbund bedeutete, dass sich das Wesen der
schweizerischen Neutralität veränderte. Diese wurde zwar von den
Grossmächten ausdrücklich anerkannt, sie enthob uns aber
S. 21:
nicht der Pflicht, mitmachen zu müssen für den Fall, dass der Völkerbund
gegen einen Staat wirtschaftliche Sanktionen beschloss.
Man darf wahrscheinlich feststellen, dass der Beitritt zum Völkerbund zunächst
die aussenpolitische Wachsamkeit im breiten Volk beeinträchtigte. Kaum je
zuvor war es so schwer, von der Bundesversammlung jene Gelder bewilligt zu
bekommen, die die Armee brauchte, um einigermassen kriegstüchtig zu
bleiben. Grosse Kreise unseres Volkes glaubten eben in jener Zwischenzeit
zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges und der Machtübernahme des
Nationalismus in Deutschland, der Krieg werde allmählich als Mittel der
Politik ausgeschaltet werden. Sie wähnten, das Macht- und Gewaltdenken sei
nun gebändigt. Der Glaube an die Möglichkeit, den Krieg durch das Recht zu
überwinden, war in jenen Jahren hoch und rege.
Waren die aussenpolitischen Sorgen gering, so schien es manchen kritischen
Zeitgenossen, als ob damals die schweizerische Politik zunehmend zu einem
blossen Spiel der wirtschaftlichen Interessen entartete, bei dem geistige
Auseinandersetzungen und geistiges Bemühen überhaupt keine Rolle mehr
spielten. Der Zürcher Literaturhistoriker Emil Ermattinger schrieb in seiner
1933 erschienenen Darstellung der Dichtung und des Geisteslebens der
Schweiz, es sei eine gefährliche Kluft zwischen dem geistigen und dem
politischen Teil des Volkes entstanden. Der Geist habe sich aus der Politik, die
Politik vom Geist zurückgezogen. Heute dürfen wir vielleicht richtiger sagen,
die Schweiz sei im Begriff gewesen, sich über die ungebrochene, unterirdische
Kraft der gewalttätigen Macht im
- 14 -
S. 22:
internationalen Geschehen vom Frieden täuschen zu lassen, sie leistete es sich,
die geistigen Kräfte in der Politik in Reserve zu halten, wie sie das in ihrer
langen Geschichte oft getan hat. Als aber der geschichtliche Ablauf mit einem
Schlag eine neue Wendung nahm, erwies es sich, dass die Schweiz aus dem
Geist zu widerstehen vermochte.
Die Krise von 1929/30 breitete sich in der Schweiz allmählich aus, zuerst
nahmen sie einzelne wahr, dann spürte sie das ganze Volk. Empfindlich wurde
sie vornehmlich durch zwei Gruppen von Ereignissen, einmal durch
verschiedene Bankkrache, unter denen der Zusammenbruch der
Schweizerischen Volksbank der am weitesten reichende war. Diese
Zusammenbrüche hingen mit der umfangreichen Kreditgabe an deutsche
Unternehmen und Gemeinden zusammen, sie traten ein, als die deutschen
Schuldner nicht mehr bezahlten, Deutschland die Guthaben sperrte und die
Zinszahlungen einstellte. Das andere empfindliche Ereignis war die wachsende
Arbeitslosigkeit als Folge der schrumpfenden Ausfuhr, mit allen sozialen und
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie im Gefolge hatte. Jetzt stellte sich die
gebieterische Frage, ob und wie weit der Bund helfen sollte. Sie wiederum
verband sich sofort mit den innenpolitischen Strömungen, wirkte auf das
innenpolitische Kräfteverhältnis zurück. Es begann eine Zeit grosser politischer
Aktivität. Das neu erwachende innenpolitische Leben erhielt seinen besondern
Hintergrund durch die gleichlaufende Entwicklung im Ausland. Dort, vor allem
in Deutschland, wurde schliesslich aus der Wirtschaftskrise eine Krise der
Politik. Dieser Übergang wiederum führte direkt in den zweiten Weltkrieg
hinein. Daher müssen wir uns jetzt
S. 23:
wieder dem Gang der Dinge ausserhalb der Schweiz zuwenden.
Es erwies sich nämlich, dass der Kriegsdämon in Europa keineswegs gebannt
war. Er wartete nur auf den rechten Augenblick und den geeigneten
Ausgangsboden, um den alten Kontinent heimzusuchen. Die neue Unruhe ging
von Deutschland aus, wo die wirtschaftliche Krise die schärfsten Formen
annahm. Sie erzeugte soziales Elend und warf das deutsche Volk, dessen
Gleichgewicht ohnehin gering war, in innere Wirren. Kommunisten und
Nationalisten, Monarchisten und alle möglichen Unzufriedenen, Wirrköpfe
aller Spielarten, hieben auf die unpopuläre, von geringem politischen Willen
erfüllte Republik ein, verhöhnten ihre Schwäche angesichts der steigenden Not
und riefen mit zunehmender Lautstärke nach totalem Umsturz.
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Das Unglück brach in verschiedenen Schüben herein. Am 30. Januar 1933
erreichte es seinen Höhepunkt. An diesem Tag ernannte der 85jährige deutsche
Reichspräsident von Hindenburg den Führer der «Nationalsozialistischen
Deutschen Arbeiterpartei», Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Noch hat die
Forschung nicht abgeklärt, ob diese verhängnisvolle Ernennung der
Altersschwäche des Präsidenten, seiner Einsichtslosigkeit oder der raffinierten
Intrige seiner Umgebung zu verdanken war. Jedenfalls aber vollzog sich nun
das Schicksal in ähnlich grausigen Formen wie 19 Jahre zuvor, beim Ausbruch
des ersten Weltkrieges: Die jubelnd-gröhlende Menge erfüllte Berlins Strassen,
Hysterie vertrieb die Kräfte des Verstandes. Hitler, der deutsche Trommler, wie
er sich nannte, der gebürtige Österreicher, aufgestiegen aus den tiefsten
Schichten des Volkes, übernahm die Macht über 80 Millionen Menschen,
bejubelt von der Masse, unterstützt von
S. 24:
verblendeten Politikern und einflussreichen Männern der Schwerindustrie und
des Grundbesitzes. Um sich scharte er eine Gruppe von zum Teil
hochintelligenten, zum Teil höchst primitiven Elementen, von Männern des
Nichts und Fanatikern der Gewalt. Hitlers politisches Rezept war so einfach
wie brutal: Das deutsche Volk, von dem grosse Teile die Niederlage von 1918
innerlich nie angenommen hatten, sollte in einen nationalen Rausch versetzt
werden. Es sollte darob das Elend des Tages vergessen. Es sollte Arbeit und
Verdienst bekommen. Diese wiederum mussten dadurch beschafft werden,
dass inm grossen Stil aufgerüstet wurde. Mit der Rüstung als Waffe und dem
Glauben des Volkes im Hintergrund, diese Rüstung habe ihm Arbeit gebracht,
sollte nachher ein aussenpolitisches Programm verwirklicht werden, das
zunächst einfach lautete: «Abschaffung von Versailles», später aber
«Vorherrschaft in Europa» und schliesslich «totale Gewalt über die Welt»
hiess. Das Unerhörte war nur, dass Hitler in seinem Buch «Mein Kampf»
dieses Programm offen bekannt gegeben hatte, dass er sofort daran ging, es
Zug um Zug zu verwirklichen - und ihn doch niemand ernst nahm.
1934 liquidierte Hitler durch die grossen Morde vom 30. Juni seine inneren
Gegner. Alsbald begann er mit der grauenvollen Ausrottung der Juden, die er
vor dem deutschen Volk als die Hauptschuldigen für dessen Not hingestellt
hatte. Im Frühjahr 1935 erklärte er, Deutschland nehme seine Wehrhoheit
zurück und begann, das Heer von 100'000 Mann in eine grosse,
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moderne Armee zu verwandeln. Daraufhin liess er, abermals ein Jahr später,
seine Regimenter in die entmilitarisierten Zonen des linksrheinischen Gebietes
einmarschieren. Und nun griff er über Deutschland hinaus. Jeder neuen
Vertragsverletzung
S. 25:
folgte ein Protest der Franzosen und Engländer, jedem Protest ein Versprechen
und jedem Versprechen ein neuer Wortbruch. Im Jahr 1938 schien die
aussenpolitische Krise ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Im März zogen
deutsche Truppen in Österreich ein und vereinigten das Land mit dem
Deutschen Reich. Im Herbst begann die tschechische Krise. Hitler begehrte die
sudetendeutschen Gebiete für Deutschland. Er setzte sich auch da durch. Am
29. September 1938 gaben die Freunde und Verbündeten der
Tschechoslowakei, England und Frankreich, diese preis und schlossen mit
Hitler einen Teilungsvertrag, den Mussolini vermittelt hatte. Das war der
sogenannte Münchner Friede. Dieser Erfolg lähmte zugleich die letzten Kräfte
des innerdeutschen Widerstandes gegen das Gewaltregime. Hitlers Erfolg
schien seine Politik vor dem deutschen Volk zu rechtfertigen. Die freie Presse
hatte er längst mundtot gemacht. Der Diktator orientierte seine Untertanen in
der Weise, wie es ihm nützlich erschien.
So sehen wir, wie im aussenpolitischen Geschehen zwischen 1933 und 1938
immer deutlicher Hitler das Handeln an sich riss. England und Frankreich
hatten sich mühsam aus der wirtschaftlichen Krise herausgerissen. Diese
Völker wünschten den Frieden. In Frankreich glomm die soziale Krise fort. Sie
schwächte das Land. Es wünschte nicht nur den Frieden, sondern den Frieden
um jeden Preis. In Italien aber bekam das Gewaltregime der Faschisten durch
Hitlers Erfolge seine Rechtfertigung. Die führenden Faschisten schlossen sich
immer enger an Hitler und seine Politik an. Seine Methoden machten Schule.
Die Faschisten behaupteten jetzt, sie seien die Nachfahren der alten Römer,
und sie erklärten, in Afrika ein Impe-
S. 26:
rium schaffen zu wollen. Im Herbst 1935 liess Mussolini die Abessinier
überfallen. Der Völkerbund, der das Recht gegen diesen Gewaltstreich hätte
wahrnehmen sollen, erwies sich als ohnmächtig.
Alles, was sich da vollzog, war für die Schweiz in höchstem Grad bedrohlich.
Die Ohnmacht des Völkerbundes bedeutete, dass der Wille, ein verbindliches
neues Völkerrecht finden zu wollen, rasch zerfiel.
- 17 -
Völkerrechtliche Anarchie aber war für jeden Kleinstaat eine Gefahr. Die
neuen politischen Lehren, die verkündet wurden: Diktatur der Führer, blinde
Gefolgschaft ihrer Helfershelfer, Totalität der Staatsgewalt, Unterdrückung der
Freiheit, widersprachen auf das entschiedenste schweizerischer politischer
Lebensform.
Der neue Nationalismus, der forderte, dass Sprachen und Staatsgrenzen gleich
zu verlaufen hätten, richtete sich gegen die schweizerische Vielfalt. Der
aufkommende Wahn, grossräumige Staaten seien fortschrittlicher als
Kleinstaaten und allein imstande, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme
zu lösen, griff an die eigentliche politische Existenz der föderalistischen und
kleinstaatlichen Schweiz. Der nihilistisch-umstürzlerische Geist in Deutschland
und Italien stand in scharfem Gegensatz zur geschichtsbetonten,
schweizerischen Existenz.
Die Gefahr war um so grösser, als die Eidgenossenschaft in tiefgehenden
inneren Auseinandersetzungen sich befand, die sich darum drehten, wie die
Folgen der Wirtschaftskrise bekämpft werden sollten. Es schien, dass das Volk
bei uns überhaupt nur die innere, wirtschaftlichsoziale Sorge ernst nahm und
nicht spürte, was für elementare Dinge sich inzwischen in der Aussenpolitik
Europas vollzogen.
S. 27:
Die Probleme des Krisenausbruchs von 1929/30 mussten sich bald zu
politischen, und zwar zu geistig-politischen Fragen auswachsen, weil die Krise
nur mit Hilfe des Staates und des Bundes überwunden werden konnte. Die
Bundesverfassung sah indessen keine derartigen Hilfsmöglichkeiten vor. Es
ergab sich, dass die gefährdeten Schichten des Volkes, die Bauern, die
Industriearbeiter und der untere Mittelstand nicht bereit waren, die Folgen der
Krise einfach als Schicksal ergeben hinzunehmen. So entspann sich eine breite
und leidenschaftliche Diskussion, ob und welche staatlichen Mittel und Wege
es gebe, um Krisen zu verhindern oder zum mindesten zu mildern. Die
Versicherungskassen gegen Arbeitslosigkeit erwiesen sich den Anforderungen,
die an sie gestellt wurden, bei weitem nicht gewachsen. Sie verschlangen
staatliche Zuschüsse. War es sinnvoll, so fragten die einen, Millionen und
Millionen auszugeben, um Arbeiter durchzuhalten, die keine Arbeit finden
konnte, anstatt diese Millionen in arbeitsbeschaffende Aufträge zu verwandeln?
- 18 Jawohl, behaupteten die andern, denn Arbeitsbeschaffung führe zum
Staatseingriff in die Wirtschaft und dieser widerspreche dem Wesen der
Verfassung und zerstöre die Freiheit! Worauf die ersten wieder entgegneten,
Freiheit ohne bürgerliche Existenz sei Schall und Rauch.
Es ging ja nicht nur um die Löhne der Industriearbeiter. Das Gewerbe kam und
wies nach, dass es durch die Krise zugrundegerichtet werde. Die Bauern
wiesen nach, dass mit einem Schlag die Schulden drückend geworden waren
und die Geltstage unerhört zunahmen. Die Exportindustrie erklärte, die fremde
Konkurrenz sei drückend, weil im Ausland der Staat den Export fördere.
S. 28:
Rasch weitete sich die Diskussion jetzt zur allgemeinen politischen
Auseinandersetzung aus. Der Staat sei unter dem vorherrschenden liberalen
Denken eben meisterlos geworden, wage nicht mehr durchzugreifen und
bedürfe wieder der Autorität, sagten die Konservativen. Nein, entgegneten
ihnen die Sozialisten, es bedürfe bloss einer neuen Volksmehrheit, in der «die
Werktätigen», d. h. die Industriearbeiter, die Schuldenbauern und die kleinen
Leute des Gewerbes zu befehlen hätten, dann könne man mit grossen
Zuschüssen aus Bundesgeldern, die durch Steuern den «Kapitalisten»
abgenommen worden seien, die Wirtschaft wiederum ankurbeln. «Das hätte
uns gerade noch gefehlt», entgegneten jetzt die Alt-Liberalen, «nachdem die
Verschuldung der Eidgenossenschaft schon derart horrent geworden ist. Was
wir brauchen, ist schärfste Sparsamkeit.» Und sie wiesen auf die miserablen
Abschlüsse der Bundesbahnen und die jährlichen Bundesdefizite hin.
Längst schon hatten sich junge Gruppen in die Diskussionen eingemischt.
Unter ihnen waren die Jungliberalen und die Jungkonservativen, ursprünglich
auch die Jungbauern die lebendigsten. Die beiden ersten verlangten, von
verschiedenen Grundüberzeugungen ausgehend, eine Reform an Haupt und
Gliedern, das heisst die Totalrevision der Bundesverfassung. Vom Beginn der
dreissiger Jahre an, stark von der Entwicklung in Deutschland beeinflusst,
griffen neue politische Gruppen in die Diskussion ein. Es entstanden im
Frühjahr 1933 die Fronten und Bünde, als erste die «Nationale Front», die sich
von der jungliberalen Bewegung ablöste. Bald gab es davon eine Vielzahl. Die
Fronten und Bünde waren nicht alle
S. 29:
geistig von Deutschland oder von Italien her beeinflusst. In ihrem Kreise
wurden zunächst einfach die Probleme diskutiert, die am brennendsten
erschienen:
- 19 jenes der Staatsautorität im Kampf gegen die Krise, das andere, wie eine
bessere soziale Ordnung zu finden sei, ohne den marxistischen Sozialismus,
und endlich die Frage, ob der Parteienstaat noch geeignet sei, die Aufgaben der
Gegenwart zu lösen. Bald vermengten sich aber mit diesem Streben bei
einzelnen Gründungen eindeutig ausländische Nachäffereien: Es wurden
Parteiuniformen eingeführt, Massenmärsche inszeniert, und anstelle des
nationalsozialistischen Antisemitismus das Antifreimaurertum als Mittel
benützt, an die niederen Instinkte der Masse zu rühren. Die Begabung der
schweizerischen Politik zum Kompromiss, die nüchtern praktische Auffassung
vom Wesen der Politik, wurden jetzt geradezu als minderwertig abgelehnt.
Schwung und idealistische Begeisterung, so hiess es, seien das, was der
Schweiz not täten.
Die Frontenbewegung, vereinigt mit jungliberalen und jungkonservativen,
brachte eine Initiative auf Totalrevision der Bundesverfassung zustande. Da
sich aber um das Begehren unvereinbare, geistige Gegensätze vereinigten,
gelang es nicht, mit ihm im Volk ein Echo zu finden. Das Volk wollte nur
revidieren, wenn man ihm sagen konnte, was an die Stelle der alten Verfassung
treten werde. Diese Antwort blieb man ihm schuldig. So wurde im September
1935 das Volksbegehren wuchtig verworfen. Damit war jener Abschnitt der
Frontenbewegung zu Ende. In den kantonalen und den eidgenössischen
Wahlen erlangten die Frontisten nur wenige Sitze und längst nicht in allen
Kantonen. Sie waren politisch vom Volk erledigt, lange bevor sie verboten
werden mussten, weil der nächste Entwick-
S. 30:
lungsabschnitt beschleunigt in den Landesverrat hinein führte.
Die Frontenbewegung erschöpfte sich nicht zuletzt deshalb so rasch, weil
inzwischen die aussenpolitische Entwicklung Formen angenommen hatte, die
alarmierten. Die Schweizer erkannten, dass sie gut daran taten, sich zu
verständigen, den Graben zwischen Links und Rechts, zwischen Liberalen und
Sozialisten, zwischen Staatsführung und Opposition, zwischen solchen, die die
Staatshilfe verlangten und solchen, die sie ablehnten, nicht zur Kluft
aufzureissen. Die Aussenpolitik meldete ihre Vorzugsstellung an. Ihr Ablauf
mahnte die Eidgenossen, nicht zu vergessen, dass der Bund zur
Schicksalsgemeinschaft geworden war. Die innere Entwicklung der Schweiz in
den dreieinhalb Jahren vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ist unter
diesem Vorrang der aussenpolitischen Mahnung zu verstehen.
- 20 -
Im September 1936 beschloss der Bundesrat, den Franken abzuwerten und
damit den Anschluss der schweizerischen Wirtschaft an das internationale
Preisgefüge zu ermöglichen. Damit war die Krise, oder doch wenigstens ihre
verheerende Seite, abgeschlossen. Von jetzt an wurde mit grosser Konsequenz
das Land in den Verteidigungszustand gebracht. Die Jugend fand für ihr
nationales Wollen eine Aufgabe in den neuen, grösseren Forderungen der
Wehrbereitschaft. Wer die Jahre zwischen 1936 und 1939 bewusst miterlebt
hat und sie im geschichtlichen Rückblick noch einmal überschaut, staunt ob
der. inneren Folgerichtigkeit dessen, was damals vorgekehrt worden ist. Als
sich der Knoten geschürzt hatte, als die Hoffnungen und Illusionen von
München zerbrachen, als der Westen trotz allem Widerwillen Hitler den Krieg
erklären musste, erwies es sich, dass die kleine
S. 31:
Schweiz, diese umständliche Demokratie und föderalistische Republik, auf
militärischem, aussenpolitischem, wirtschaftlichem, sozialem und geistigem
Gebiet überraschend gerüstet war. Bundesrat Obrecht hatte allen Grund gehabt,
als er in Basel so deutlich gesprochen und das «Wallfahrten» so kraftvoll
abgelehnt hatte. - Von diesen unmittelbaren Kriegsvorkehren, und wie sie sich
bewährten, wird das nächste Kapitel erzählen.
S. 33:
2. KAPITEL
Von der Mobilmachung zur «dröle de guerre»
guerre»
Der festfreudige Sommer 1939 - Rückblick auf das, was vorgekehrt war Uneingeschränkte Neutralität - Die Wehranleihe - Die nationalsozialistische
Organisation der Deutschen in der Schweiz breitet sich aus - Wachsender Sinn
für wirtschaftliche und soziale Solidarität - Kampf um die geistige Freiheit Der Sturm bricht los - Mobilmachung und Generalswahl - Der Aufmarsch der
Armee - Die innere Front - Lohnausgleichskassen - Kriegswirtschaft Finnenbegeisterung - drôle de guerre - Erhöhte Bereitschaft im November 1939
- Oberfall auf Dänemark und Norwegen - Alarmbereit
S. 35:
Der Krieg, der am 1. September 1939 ausbrach, als in der Morgenfrühe Adolf
Hitlers Divisionen die polnische Grenze überschritten, traf die Welt nicht
überraschend.
- 21 -
Alle Illusionen über die wahren Absichten des deutschen "Führers» waren seit
dem 15. März vernichtet. Die Menschen wussten, dass Hitler jedes Wort brach
und den Krieg wollte. Der Druck dieser Gewissheit lag seit Wochen über den
Völkern. Wann kam das Entsetzliche, aber unvermeidbare? Ein Fremder, der
die Schweiz in jenem Sommer 1939 besuchte, mochte vielleicht die Meinung
bekommen, die Eidgenossen hätten überhaupt noch nichts begriffen. Unsere
Schweiz war von festlicher Hochstimmung erfüllt. Im April hatte die grosse
Schweizerische Landesausstellung in Zürich, die «Landi», ihre Tore aufgetan.
Im Juni fand das Eidgenössische Schützenfest in Luzern statt. Gleichzeitig
begingen die Berner in grossartiger Weise den 600. Jahrestag der Schlacht von
Laupen, ein Festzug von unerhörter Pracht begeisterte Tausende von
Zuschauern aus der ganzen Schweiz.
Wer indessen mehr als den äusseren Glanz sehen wollte, erkannte bald, dass
hinter diesen Feiern doch auch der Wunsch des Volkes zu spüren war, sich
selbst, sein Wesen und Wollen in diesem Augenblick und angesichts der
geschichtlichen Lage irgendwie zur Geltung zu bringen. Jedermann fühlte es,
dass ein neuer Abschnitt der Geschichte begonnen hatte, in dem Macht, Gewalt
und Recht sich messen würden, die überwiegende Mehrzahl aller
Volksschichten begann zu merken, dass in dieser Epoche der
S. 36:
Gewalttat und des Rechtsbruchs der Fall Schweiz zum Sonderfall geworden
war. Heimlich fragten sich Tausende, ob wir wohl die Kraft aufbrächten,
standzuhalten, wenn es uns ergehen würde wie den Tschechen oder den
Österreichern. Aus diesem Grund war die Festfreudigkeit jenes Sommers,
unmittelbar auf der Schwelle zwischen Krieg und Frieden, doch ein wenig
mehr als gedankenloser Genuss. Sie war auf ihre Art ein Bekenntnis, wir seien
bereit, den Gang der Geschichte zu erwarten. Am klarsten aber fand dieses
Bewusstsein der Bereitschaft seinen Ausdruck im Höhenweg der
Landesausstellung, jener staatsbürgerlichen Schau, die den Menschen aus allen
Tälern der Schweiz sagte: Das sind wir. So denken wir. Dafür leben wir, und
dafür sind wir bereit zu sterben, wenn man uns diese Wesensart je streitig
machen sollte.
Wir stellten im ersten Kapitel fest, dass es rückblickend erstaunlich ist, was in
den dreieinhalb Jahren vor Kriegsausbruch alles zur Verteidigung der
Eidgenossenschaft bereitgestellt worden war.
- 22 -
Überblicken wir kurz die Massnahmen. Aussenpolitisch war es Bundesrat
Motta gelungen, nach langen Verhandlungen und nachdem bereits ein
Volksbegehren
- 23 -
vorgesehen worden war, die uneingeschränkte Neutralität der Schweiz
zurückzugewinnen. Alle Mächte, auch Italien und Deutschland, gaben die
Zusicherung, dass sie diese Neutralität anerkennen würden. Der Vorgang, die
uneingeschränkte Neutralität zurückzugewinnen, war ebenso heikel wie
wichtig. Heikel, weil sich darin unser schweizerisches Misstrauen gegenüber
der tatsächlichen Schwäche der Liga der Nationen offenbarte, wichtig, weil der
Zerfall des Völkerbundsgedankens uns aus ureigenstem Selbsterhaltungstrieb
zwang, die aussenpolitische Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen. Am 14.
S. 37:
Mai 1938 war das Verfahren abgeschlossen. Die Völkerbundsmächte
anerkannten die uneingeschränkte schweizerische Neutralität. Die Schweiz
brauchte fortan nicht mehr an wirtschaftlichen Sanktionen teilzunehmen.
Der Rückzug auf die uneingeschränkte Neutralität verlangte die entsprechend
entschlossene Bereitschaft, sie zu verteidigen. Das. ist die andere Linie der
staatspolitischen Entwicklung! die sich in der zweiten Hälfte der dreissiger
Jahre, seit Hitler das deutsche Staatsruder führte, in der schweizerischen Politik
nachweisen lässt: Die Armee wird höchst populär und bekommt was sie nötig
hat in einem Umfang, wie es ein halbes Dutzend Jahre früher undenkbar
gewesen wäre. Der Umschwung vollzieht sich elementar im Volk selbst und
wird nicht befohlen. Das zeigte sich besonders deutlich in der
Sozialdemokratischen Partei. Das Gefühl in den breiten Volksmassen, die
Schweiz müsse, angesichts des Gewaltgeistes, der im Süden und vor allem im
Norden unter den Nachbarvölkern aufkam, militärisch stark werden, war derart
durchschlagend, dass die Partei ihre grundsätzliche Ablehnung des Militärs
aufgeben musste. Es war die Zeit, da der Chef des Eidgenössischen
Militärdepartements, Bundesrat Minger, in Arbeiterversammlungen persönlich
als Redner auftrat und mit volkstümlicher Beredsamkeit darstellte, warum wir
ein Heer brauchten. Von 1936 an wurden Reformen in der Truppenausbildung
eingeführt, die Rekrutenschulen verlängert und eine neue Truppenordnung
angenommen, die 1938 in Kraft trat. Die Dauer der Wiederholungskurse stieg
von zwei auf drei Wochen. Am 30. März 1936 schrieb der Bundesrat eine
Wehranleihe zur öffentlichen Zeichnung aus und forderte 235 Millionen
Franken. Da ging eine eigentliche Opferwelle durch das Volk. Es wurden
- 24 -
S. 38:
kleine und kleinste Beträge neben grossen und grössten gezeichnet. Schon ein
halbes Jahr später ergab sich, dass die Wehranleihe um 100 Millionen Franken
überzeichnet worden war. Die Armee hatte jetzt die Finanzen bekommen,
deren sie bedurfte, um das zu werden, was die Zeit verlangte.
Der Erfolg der Wehranleihe bewies bereits, wie vorzüglich der Geist in den
breiten Schichten des Volkes geblieben war. Nur ein verschwindend kleiner
Teil, Menschen aus dem Bodensatz des Volkes, verharrte als Anhang und
Mitläufer bei dem immer offenkundiger in die abschüssige Bahn des Verrates
hineingleitenden Frontismus. Trotzdem erwies sich jetzt, um wieviel schwerer
als die materielle Sicherheit, in der Form von Wehrkrediten und einer
geschickten Aussenpolitik, die geistige Verteidigung aufzubauen war. Das
Volk hielt an der alten Abneigung gegen Polizeigesetze fest. Es wollte nichts
wissen von Maulkrätten und Gesinnungsschnüffelei: Es wollte Vertrauen!
Verschiedene Vorstösse in den eidgenössischen Räten, die darauf abzielten,
den polizeilichen Staatsschutz zu erweitern, mussten fallen gelassen werden.
Das Volk fühlte sich, trotz allen Umbrüchen, seiner selbst sicher.
Es erwies sich freilich, dass unsere freiheitlichen Einrichtungen für Faschismus
und Nationalsozialismus höchstens als die günstige Möglichkeit betrachtet
wurden, um sich unbehindert breit zu machen. Im eigenen Volke waren zwar
die neuen Lehren auf unfruchtbaren Boden gefallen. Sie wurden gleichsam
eingekapselt, wie Tuberkelbazillen von einem widerstandsfähigen Körper. Da
begannen die Deutschen (aber auch die Italiener taten das), die in der Schweiz
niedergelassenen Reichsdeutschen in nationalsozialistische
Organisationsformen zusammenzufassen.
S. 39:
Die Deutschen wurden gezwungen, diesen Organisationen sich anzuschliessen.
Manche machten von selbst mit. Mit deutscher Gründlichkeit und oft mit
herausfordernder Taktlosigkeit entstanden so im ganzen Land herum die
nationalsozialistischen Gruppen. Ein besonderer «Landesleiter» in Davos,
Gustloff, leitete den ganzen Aufbau. Da wurde am 4. Februar 1936 dieser
Landesleiter von David Frankfurter, einem jugoslawischen Staatsangehörigen
deutsch-jüdischer Abkunft, ermordet. Dieser politische Mord erregte in der
Schweiz wie im Ausland grosses Aufsehen. Die deutschen Machthaber
erhoben sofort erregt die Anklage, Frankfurter sei von der Schreibweise der
- 25 schweizerischen Presse aufgewiegelt gewesen und habe nur deshalb den
Anschlag verübt. Die schweizerische Presse wies diese Behauptung energisch
zurück. Der Bundesrat bestritt einen Zusammenhang zwischen der kritischen
Haltung der Schweizer Presse und jenem Mord. Wenige Tage nach Gustloffs
Ermordung beschloss er überdies, künftig in der Schweiz keine
nationalsozialistische Landesleitung und keine Kreisleiter mehr zuzulassen. Er
hielt vorerst an diesem Beschlusse auch dann noch fest, als die deutsche
Regierung dagegen protestierte. Aber am 23. Februar 1937 wurde altBundesrat Schulthess in Berlin von Hitler empfangen. Hitler erklärte bei
diesem Empfang, er werde die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz
stets respektieren. Wenige Wochen später kassierten die Deutschen diesen
Check auch schon ein: Sie schlugen dem Bundesrat vor, die Landesleitung der
nationalsozialistischen Organisation in der Form wieder zuzulassen, dass sie
von einem Diplomaten der Gesandtschaft besorgt werde. Der Bundesrat
stimmte zu. Die Nazi hatten ihre Organisation wieder. Gleich darauf verboten
sie alle schweize-
S. 40:
rischen Zeitungen in Deutschland. Auch Auslandschweizer konnten diese nicht
mehr beziehen. Nach wie vor konnten aber deutsche Blätter frei in der Schweiz
verkauft werden. Die Angelegenheit leuchtete wie ein Schlaglicht auf die
geistig-politische Lage des Landes. Sie bewies, dass die altüberlieferte Freiheit
jedenfalls nur Bestand haben konnte, wenn sie wachsam behütet und wenn
gegenüber dem Missbrauch jede Schwäche vermieden wurde.
Ein rabiates Gegenstück zur nationalsozialistischen Organisation der
Deutschen bildete im Tessin und in Graubünden die Tätigkeit der italienischen
Irredenta, einer Bewegung, die - offener und unverfrorener als die
Nationalsozialisten - für den Anschluss der italienisch sprechenden Landesteile
an Italien Propaganda machte.
Der Bundesrat begegnete der verschärften Lage dadurch, dass er im Frühjahr
1936 einen besonderen Polizeizweig, die Bundespolizei, schuf und der
Bundesanwaltschaft unterstellte.
Es war unter solchen Umständen eine grosse Leistung, dass es gelang, die
geistige Einheit im Volk zu bewahren, ja zu verstärken. Heute erscheint uns
auch das selbstverständlich. Es kommt uns indessen vielleicht nur deshalb
selbstverständlich vor, weil die ursprünglichen politischen Kräfte im Volk, sein
Wille zur inneren Freiheit und zur Unabhängigkeit nach aussen,
- 26 -
lebensstark geblieben waren, so dass die Massnahmen der Behörden einfach
aus dem hervorwuchsen, was das Volk allgemein erwartete, sie mussten
diesem Volk nicht zu seinem eigenen Schutz aufgezwungen werden. Das
grosse innenpolitische Problem war dagegen der wachsende Gegensatz
zwischen den Geboten der Verfassung und dem äussern Zwang, gegen diese
Gebote regieren zu müssen. Auf allen Gebieten stand die
S. 41:
Eidgenossenschaft in der Verteidigung. Das Ausland kehrte, als die grosse
Wirtschaftskrise abflaute, nicht zur internationalen Freizügigkeit zurück, es
begann sich jenes System eines internationalen Tauschhandels einzubürgern,
bei dem von den Partnern genau abgemacht wurde, wieviel Ware jeder dem
andern abnahm, wieviel er als Gegenrecht dafür bezog. Das Gold wurde jetzt
endgültig entthront und der internationale Zahlungsverkehr in vom Staat genau
geregelte Bahnen übergeführt. So entstand eine geschlossene, schweizerische
Volkswirtschaft, bei der sich der Bund bestimmend in den Aussenhandel
einschaltete.
Zugleich wachten die einzelnen Wirtschafts- und Sozialgruppen seit der Krise
eifersüchtiger als früher darüber, dass der Kuchen, den man das
Volkseinkommen nennt, gerecht verteilt wurde. Bedrohte Wirtschaftszweige,
wie das Kleingewerbe oder die Bauern, forderten Schutz gegenüber den
Finanzmächten und der Exportindustrie. Weil aber jedermann spürte, die
Schweizerische Eidgenossenschaft sei zu einer Schicksalsgemeinschaft'
geworden, so konnten die Behörden solche Forderungen nicht einfach mit dem
Hinweis ablehnen, sie seien gegen den Geist und den Buchstaben der
Verfassung. Diese zu revidieren hatte aber das Volk ausdrücklich abgelehnt. So
ergab sich eine Kluft zwischen dem Wunsch nach Schutz und Solidarität auf
der einen, und der Notwendigkeit, die Freiheit durch eine klare Rechtsordnung
zu sichern, auf der andern Seite. Das Gefühl für die Grösse dieser Kluft wurde
durch die drohende äussere Gefahr daran verhindert, sich in offenes Unbehagen
zu verwandeln. Erst nach dem Kriege brach dieses offen durch, offenbarte sich
die andere Seite des schweizerischen Durchhalteproblems.
S. 42:
Einen bedeutenden Schritt weiter kam das soziale Leben. Die grosse
Wirtschaftskrise hatte bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Gefühl dafür
verstärkt, dass es sinnlos sei, sich gegenseitig zu bekämpfen.
- 27 Das erste, wegweisende Ergebnis dieser Einsicht war das Friedensabkommen
in der Metallindustrie, das am 19. Juli 1937 zwischen den Spitzen der
Metallarbeitergewerkschaft und dem Arbeitgeberverband der
Metallindustriellen geschlossen wurde. 'Beide Gruppen verpflichteten sich
darin, alle Differenzen des Arbeitsverhältnisses auf dem Weg von
Verhandlungen zu lösen, sie legten bestimmte Grundsätze über die Lohn-,
Ferien- und Freizeitgestaltung etc. fest. Jeder Partner des Abkommens
hinterlegte auch eine Kaution als gegenseitige Sicherung gegen Vertragsbrüche. Dieses Abkommen erregte weit über die Landesgrenzen hinaus
Aufsehen. Zum erstenmal hatten sich Arbeiter und Unternehmer als
Gleichberechtigte gefunden und die gegenseitigen Positionen grundsätzlich
anerkannt. Der Wille, praktisch aufzubauen, wurde über die doktrinäre
Verbissenheit gestellt. Das Friedensabkommen bewährte sich. Es bildete den
Beginn einer neuen Entwicklung des schweizerischen Arbeitsrechtes und der
Gesamtarbeitsverträge. Dieser bedeutenden Wandlung im sozialen Denken
dürfen wir es massgeblich zuschreiben, dass die Schweiz den zweiten
Weltkrieg ohne gefährliche soziale Spannungen überstanden hat.
Endlich sei, wenn wir diesen Gang der geistig-politischen Entwicklung
überblicken, der Kampf um die Pressefreiheit erwähnt. Dieser Kampf musste
vornehmlich gegenüber Deutschland ausgetragen werden. Man muss, will man
seine. ganze Bedeutung ermessen, sich vergegenwärtigen, wie eng die
kulturellen Beziehungen zwischen der
S. 43:
Schweiz und Deutschland noch nach dem ersten Weltkrieg geblieben waren,
wenn sie schon damals längst nicht mehr jene Dichte aufwiesen, wie in der Zeit
vor 1914. Immer noch verbrachten aber die schweizerischen Studenten ein oder
mehrere Semester an deutschen Universitäten, immer noch war der deutsche
Büchermarkt der Rückhalt für schweizerische Autoren, immer noch verfügten
die deutschen Zeitungen und Zeitschriften über eine gewichtige schweizerische
Kundschaft. Aus all diesen Gründen war die Anteilnahme gerade der deutschen
Schweiz am Umschwung in Deutschland rege und lebendig. Als gar die
deutsche Presse der Zensur unterstellt, «gleichgeschaltet» wurde, wie der
Ausdruck lautete, stieg der Absatz schweizerischer Blätter, in denen die
Wahrheit noch ungeschminkt zu lesen war, in Deutschland rapid. Da verboten
die Nazi die Einfuhr schweizerischer Zeitungen nach Deutschland. Zugleich
versuchten sie in steigendem Ausmass über die schweizerischen Behörden
einen Druck auf die
- 28 Schweizer Presse auszuüben, um sie daran zu hindern, frei über innerdeutsche
Verhältnisse zu berichten. Ähnlich wie den deutschen Machthabern das in
Österreich gelungen war, gedachten sie, mit der Schweiz ein Presseabkommen
abzuschliessen. Mit diesem hätten die Zeitungen bei uns mundtot gemacht
werden sollen, und obendrein hätte es ein wirksames Mittel gebildet, um sich
mit dem Vorwand, Abmachungen seien verletzt worden, in
innerschweizerische Verhältnisse einzumischen.
Die schweizerische Presse hat all diese Versuche entschlossen zurückgewiesen.
Manche glaubten damals, die Presse überschätze ihre Bedeutung in diesem
Abwehrkampf. In der rückblickenden Schau ergibt sich jedoch, dass gerade
dieser Teil der inneren Besinnung wesentlich
S. 44:
war. Ohne das uneingeschränkte freie Wort unserer Zeitungen wäre es viel
leichter gewesen, das Schweizervolk in jenen Jahren der geistigen Abwehr
gegen die deutsche Macht mürbe zu machen.
Zusammenfassend ergibt sich, dass das Schweizervolk und der eidgenössische
Bund gerüstet waren, als die aussenpolitische Krise sich zum Krieg ausweitete.
Gewiss erwies sich nachher in den fünfeinhalb Jahren alles als viel schwerer
und viel gefährlicher, als es sich die Menschen im Frieden vorgestellt hatten.
Aber diese Menschen waren auch fähiger geworden im Ertragen unerwarteter
Dinge.
Im März des europäischen Schicksalsjahres 1939 hatte die Schweiz durch den
Mund eines Bundesrates der Welt kundgetan, wir würden nie wallfahrten
gehen. Gleichlaufend mit den äusseren Ereignissen traf der Bundesrat jene
Massnahmen, die der Welt bewiesen, dass hinter dem Wort von Basel ein
Wille zur Tat stand. Seit dem 24. August, dem Tag, da Hitler mit Stalin den
deutsch-russischen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, der den geheimen
Zusatzvertrag für eine Teilung Polens enthielt, falls Deutschland Polen mit
Krieg überziehen würde, lag der Krieg spürbar in der Luft. Nach allem Hohn,
den Hitler den Briten und Franzosen mit seinen verschiedenen Wortbrüchen
zugefügt hatte, schien es undenkbar, dass die beiden Staaten einem überfall auf
das verbündete Polen zusehen durften, ohne den Deutschen den Krieg zu
erklären. Da aber gerade jetzt, seit Augustbeginn 1939, die Hetzereien in der
deutschen Presse gegen den polnischen Staat und die Ausschreitungen
zwischen deutschen Minderheiten und Polen täglich zunahmen, vermutete man
darin eine Absicht, erkannte man, dass Hitler auch diesen Krieg wollte.
- 29 -
S. 45:
Am 25. August, am Tag nachdem das deutsch-russische Bündnis bekannt
geworden war, wandte sich der Bundesrat mit einer Erklärung an das
Schweizervolk. Er wies darauf hin, dass die Möglichkeit eines
Kriegsausbruches nahegekommen war und ermahnte es, ruhig und würdig den
Ereignissen entgegenzublicken. Wenige Tage später, am 28. August, wurden
die gesamten Grenzschutztruppen aufgeboten. Diese Verbände bestanden erst
seitdem die neue Truppenordnung in Kraft war, also seit Anfang 1938. Ihre
Mobilmachung vollzog sich reibungslos innerhalb weniger Stunden. Das
stärkte die Selbstsicherheit des ganzen Volkes.
Von jetzt an folgten sich die Ereignisse Zug um Zug. Die Deutschen
mobilisierten. Franzosen und Engländer antworteten mit der gleichen
Massnahme. Am gleichen 28. August, da der Grenzschutz aufgeboten worden
war, berief der Bundesrat die Bundesversammlung auf den 30. August zu einer
Sondersitzung ein, mit folgender Tagesordnung: l. Erteilung von Vollmachten
an den Bundesrat, 2. Wahl des Generals. Für das ganze Gebiet der
Eidgenossenschaft wurde der Aktivzustand erklärt.
Am Mittwoch, den 30. August, abends 5 Uhr, begannen die Verhandlungen der
Vereinigten Bundesversammlung. Dem Bundesrat wurden Vollmachten
übertragen, die ihm erlaubten, über Verfassung und Bundesversammlung
hinweg Massnahmen zu beschliessen, die für die Verteidigung des Landes
notwendig erschienen, und die jeweilen erst nachträglich von den
eidgenössischen Räten gebilligt werden mussten. 181 National- und 42
Ständeräte stimmten dem Vollmachtenbeschluss zu. Nun erfolgte die
Generalswahl. Zwei Kandidaten standen im Vordergrund, der jüngere,
Oberstdivisionär Borel, und der ältere, Oberstkorpskommandant Guisan. Beide
waren welscher Zunge, unter
S. 46:
schieden sich aber im Temperament. Der Neuenburger Borel war ein forscher
Draufgänger, Guisan mehr der bedächtige Waadtländer. Die Vereinigte
Bundesversammlung entschied sich mit 204 von 229 Stimmen für Guisan.
Oberstdivisionär Borel erhielt 21 Stimmen. General Guisan erschien sofort
nach der Wahl, allein, ohne Adjutanten, im Nationalratssaal und legte vor dem
stehenden Plenum der Versammlung, bei überfüllten Tribünen, den Eid ab.
Hierauf empfing ihn draussen, auf dem Bundesplatz in Bern, eine frohe,
wogende, jubelnde Menge. Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten fuhr er im
- 30 -
- 31 -
offenen Auto durch Berns Strassen, vom lauten Beifall aus den dichtbesetzten
Lauben der alten Stadt begleitet. Als Generalstabschef hatte die
Bundesversammlung Oberstkorpskommandant Labhardt bestätigt.
Im Augenblick der Generalswahl schien zunächst die internationale Lage eher
entspannt zu sein. Hitler hatte am gleichen Tage einen «Ministerrat für die
Reichsverteidigung» eingesetzt, und es gab sogar im Bundeshaus Stellen, die
dieses Ereignis dahin deuteten, gemässigte Kreise hätten in Deutschland sich
durchsetzen und Hitler unter ihre Kontrolle zu nehmen vermocht. Zwischen
Berlin, Rom und London wurde fieberhaft verhandelt. Im Verlauf des 31.
August erliess der Bundesrat indessen die Neutralitätserklärung der Schweiz, in
der er den Regierungen der Mächte mitteilte, die Schweiz werde sich im Fall
eines Kriegsausbruchs neutral verhalten. In der Nacht vom 31. August auf den
1. September überschritten Adolf Hitlers Heere die deutsch-polnische Grenze.
Während noch nach dem Einmarsch in Polen zwischen den grossen Kapitalen
die letzten Versuche hin und her gingen, Hitler dazu zu bewegen, die grosse
Wahnsinns tat rückgängig zu machen,
S. 47:
verfügte der Bundesrat auf den 2. September 1939 die allgemeine
Kriegsmobilmachung. Zugleich traten die vorsorglichen Massnahmen
kriegswirtschaftlicher Art, der Kriegsfahrplan für die Bahnen und bald auch die
kriegsgemässe Pressekontrolle in Kraft.
Für einige Wochen beherrschte die Armee ausschliesslieb das Bild des
öffentlichen Lebens in der Schweiz. Das zivile Leben erschien wie
ausgestorben. Es war eine Mobilmachung von anderem Stil und anderer
Stimmung als 25 Jahre zuvor. Der Krieg war nicht als Explosion gekommen,
sondern als die letzte Stufe einer zunehmenden Spannung. Diesmal verliessen
nicht Ströme von Fremden das Land, die Fremden waren im Sommer 1939 nur
spärlich eingetroffen. Die Armee aber hatte den Ruf erwartet und folgte ihm
gelassen, entschlossen und selbstverständlich.
Um den 5. September herum war der Aufmarsch unserer Armee beendet. Vorn,
in den eigentlichen Grenzbezirken, lagen die Grenzbrigaden. Hinter ihnen
stand das Gros des Heeres. Im Osten und im Norden des Landes befand sich
das dritte Armeekorps unter Oberstkorpskommandant Miescher. Vom Fricktal
bis in den Solothurner Jura schloss sich das zweite Armeekorps unter
Oberstkorpskommandant Prisi an.
- 32 -
Die eigentliche Westfront, im Neuenburger und Waadtländer Jura sowie im
«Gros de Vaud», hielt das erste Armeekorps unter Oberstkorpskommandant
Lardelli. Die Südfront, direkt unter dem Kommando des Generals stehend,
wurde am Simplon von der Gebirgsbrigade 11, unter Oberstbrigadier Bühler,
und am Gotthard von der neunten Division unter Oberstdivisionär Tissot
gehalten. Als Armeereserve verfügte der General über die dritte Division im
Raume von Bern und Murten und die achte Division unter Oberstdivisionär
Gübeli
S. 48:
im Wiggertal. Endlich lagen in Muri bei Bern, Murten und Dübendorf die
Kommandoposten der drei Fliegerregimenter. Das Armeekommando befand
sich in Spiez. Im Soldatenmund nannte man es, wegen des vielen militärischen
Goldes, bald «die Goldküste».
Der General hatte die Armee der Lage entsprechend aufgestellt. Noch gab es
unmittelbar an der Schweizergrenze keine kriegerischen Ereignisse. Die
Franzosen blieben in den Bunkern und Werken der Maginotlinie, ohne sich zu
rühren. Italien nannte sich «nichtkriegführend». In Polen aber vollzog sich der
Ablauf des Feldzuges rasch, brutal und in vernichtenden Schlägen. Schon am
17. September fielen die Truppen der Sowjetunion den Polen in den Rücken.
Ende September kapitulierte Warschau nach heldenhaftem Widerstand. Nun
traten die deutsch-russischen Abmachungen in Kraft: Polen wurde als Staat
zerstört, ein Teil kam als «Generalgouvernement» an Deutschland, die
östlichen Teile rissen die Russen an sich. Wäre es in den ersten Kriegstagen
möglich gewesen, dass französische Truppen den Durchgang durch die
Schweiz hätten fordern können - England zögerte, die Neutralität der Schweiz
anzuerkennen -, so stieg nach dem raschen polnischen Zusammenbruch die
Gefahr eines deutschen Angriffs auf unser Land. Die Aufmarschstellung der
schweizerischen Armee vom Herbst 1939 war daher so gewählt, dass sie es
ermöglichte, den Kampf in beiden Fällen, sowohl bei einem alliierten wie
einem deutschen Angriff, führen zu können. Es ergab sich indessen, dass nach
Polens Niederlage zunächst eine Ruhepause eintrat. Engländer und Franzosen
verharrten in ihren Stellungen am Rhein und in Lothringen, bis zur belgischen
Grenze. In Deutschland begann ein fieberhaftes Rüsten. Die unheim-
S. 49:
liche Stille des «drôle de guerre», des sonderbaren Krieges, wie die Franzosen
ihn nannten, legte sich auf Europa.
- 33 -
Am 2. September 1939 standen nach beendigter Mobilmachung, einschliesslich
dem bereits mobilisierten Grenzschutz, 450'000 Mann eidgenössischer Truppen
unter den Fahnen. Die Mobilmachung war eine imposante Kundgebung
nationaler Entschlossenheit gewesen. Jetzt galt es, mit den Kräften zu
haushalten. Das Leben musste weitergehen, trotz der Kriegsbereitschaft. Die
Industrie forderte Arbeiter, die Bauernhöfe brauchten Männer, Bauern und
Knechte, aber auch Pferde, um den Herbstsegen einzubringen und die Felder zu
bestellen.
Zahlreiche Kleinbetriebe bedurften ihres Meisters. Der General senkte
allmählich die Zahl der Aufgebotenen, bis zum Spätherbst 1939 umfasste sie
nur mehr die Hälfte des Einrückungsbestandes. Während ein Kern aller
Kompagnien, Batterien und Schwadronen am Standort mobilisiert blieb, löste
sich das Gros der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere in mehrwöchigen
Urlauben ab. Noch war die Arbeitslosigkeit nicht völlig verschwunden. Im
Dienst bleiben zu dürfen, bedeutete daher für manchen Wehrmann eine
durchaus willkommene Gelegenheit.
Jetzt stellten sich aber für Bundesrat und Armeeleitung die Probleme der
internen Front. Es galt, nicht nur mit den materiellen, sondern auch mit den
seelischen Kräften des Volkes zu haushalten. Mochte es in den ersten Wochen
des Polenkrieges noch einzelne gegeben haben, die wähnten, das Ende des
Feldzuges in Polen werde neue Verhandlungen und nachher den Frieden
bringen, so lag für alle Weiterdenkenden der Fall klar: Der neue Weltkrieg
würde sich zum harten, Jahre dauernden Ringen auswachsen. Da galt es denn,
nicht nur mit guten Waffen an der
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Grenze zu stehen, sondern all das zu vermeiden, was die Grenzbesetzung von
1914-18 verdüstert hatte: Ungenügende Fürsorge für die Wehrmänner, die im
Dienst für die Heimat ihre zivile Arbeit vernachlässigen mussten, Hamstertum
und Wucher in der Wirtschaft, schlechte Stimmungen unter der Truppe, mit der
man nichts Gescheites anzufangen gewusst hatte. Die leitenden Männer aller
Gruppen waren sich im klaren, was es bedeuten würde, wenn die
nationalsozialistische Propaganda eine innere Unzufriedenheit ausnützen
könnte. Als im Spätherbst 1939 die Russen Finnland überfielen und keine
Grossmacht für das kleine Volk einen Finger rührte, wurde uns Schweizern
von neuem bewusst, wie gefahrvoll die Lage eines Kleinstaates mitten in
Europa geworden war.
- 34 Obenan stand, sobald man daran ging, die innere Front zu stärken - das lehrten
die Erfahrungen des ersten Weltkrieges - die Forderung, den Soldaten des
Aktivdienstes vor dem Lohnausfall und damit seine Familie vor der Not zu
schützen. Gewiss gab es das System der Notunterstützung für Wehrmänner. Es
war ein Almosensystem, behaftet mit demütigenden Bestimmungen. Wer seine
Hilfe anrief, musste seine Not belegen. Manch aufrechter Bürger hütete sich
deshalb, diese Notunterstützung zu fordern, weil er nicht wollte, dass ihm und
seinen Kindern womöglich das später noch vorgehalten würde. Nach
gründlicher Vorbereitung, bei der die Spitzenverbände der Arbeitgeber und
Arbeitnehmer mitgewirkt hatten, verordnete der Bundesrat am 20. Dezember
1939 auf dem Vollmachtenweg die Einführung der Lohn- und
Verdienstersatzordnung. Es wurden Kassen errichtet, in die Arbeiter,
Angestellte und Unternehmer sowie der Bund und die Kantone gemeinsam ihre
Beiträge leisteten, und zwar
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unter den erwerbstätigen Personen alle, also auch jene, die keinen Militärdienst
zu leisten hatten. Die Verordnung wurde im Juni 1940 ergänzt und auf die
Selbständigerwerbenden ausgedehnt. Mit den Lohn- und
Verdienstausfallkassen erhielt nun jeder Wehrmann, unabhängig von seinem
Grad in der Armee und seiner zivilen Stellung, vom ersten Tag an, da er unter
den Fahnen stand, einen Beitrag ausbezahlt, der nach dem Einkommen
abgestuft war, aber eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte. Das
Problem des Verdienstausfalles für die Mobilisierten war durch ein Werk der
Solidarität gelöst. Es bewährte sich ausgezeichnet und bildete später die
Grundlage der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Es war ein sichtbarer
Ausdruck dafür, dass der Geist der Zusammengehörigkeit in allen
Volksschichten geweckt war. Zeugten die Lohn- und Verdienstausgleichskassen von lebendiger Solidarität, so bewies die Organisation der
Kriegswirtschaft, die das Verdienst von Bundesrat Obrecht war, und auf die
wir in anderem Zusammenhang zurückkommen werden, dass Demokratie
schweizerischer Prägung und planende Voraussicht im Augenblick der Not und
der äusseren Bedrohung durchaus miteinander zu vereinbaren waren. Die
Grundüberlegung der kriegswirtschaftlichen Organisation war die Einsicht, der
Krieg werde auf allen Gebieten einen Mangel an Gütern mit sich bringen. Er
werde deshalb die Preise rasch in die Höhe schnellen lassen, den
Gutbemittelten viel, den Armen wenig zu kaufen erlauben und auf diese Krise
die Ungerechtigkeit laut und am Ende schreiend
- 35 werden lassen. Das war die Erinnerung, die vornehmlich die Jahre 1917 und
1919 hinterlassen hatten. Hier beugte der Bundesrat diesmal gründlich vor. Er
S. 52:
befahl die «kriegswirtschaftliche Milizpflicht»: Führende Männer des
wirtschaftlichen Lebens traten an die Spitze der Kriegswirtschaftsämter.
Kriegswirtschaft - das hiess im übrigen, dass die knapp werdenden Güter von
Bundes wegen verwaltet und verteilt wurden. Sie wurden, wie die
Fachausdrücke lauteten, rationiert und kontingentiert. Es mussten für alle
Zweige der Wirtschaft Schlüssel gefunden werden, die jedem das Seine
garantierten, es ging nicht ohne Erhebungen, Statistiken und viel Papier, nicht
ohne einen Stab von neuen Beamten, aber dafür gelang es, eine
durchschnittliche und brauchbare Gerechtigkeit zu finden. Aber nicht nur die
Güter wurden von zentraler Stelle bewirtschaftet: es wurden gewisse
Schlüsselerscheinungen des wirtschaftlichen Lebens reguliert, z. B. die Preise
oder die Mietzinse für Wohnungen.
Später, als der Krieg gar zu lange dauerte und der Friede nicht einkehren
wollte, selbst als der Kampf mit den Waffen vorüber war, empfand die
Mehrheit des Volkes jene Einrichtungen bald als Zwang und wünschte sie weg.
Dieser Stimmungsumschwung war begreiflich, er darf uns indessen nicht in der
Einsicht beirren, dass die kriegswirtschaftliche Organisation in den ersten
Kriegsmonaten voraussehend wirkte - sie förderte die Einfuhr aus Italien,
solange dieses noch nicht kriegführend war, und legte Vorräte an -, und sie
wirkte später als vielleicht oft grobschlächtige, unter den gegebenen
Verhältnissen aber einzig mögliche Form der wirtschaftlichen und sozialen
Gerechtigkeit. So kommt der kriegswirtschaftlichen Organisation ebenfalls ein
entscheidender Anteil zu, dass der Geist im Volk gesund und unangefochten
blieb.
Innenpolitisch verlief der erste Kriegswinter ruhig. Am letzten Sonntag im
Oktober 1939 fanden die Nationalrats-
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wahlen statt. Sie brachten einen leichten Ruck nach rechts. Der grössere Teil
der Stimmberechtigten stand unter den Fahnen und wählte vielleicht nach
etwas anderen Gesichtspunkten, als er es als Zivilist getan hätte. Als
bezeichnend war es zu betrachten, dass am 3. Dezember ein Bundesgesetz, das
die Besoldung der Beamten verbessert hätte, in der Volksabstimmung mit
grossem Mehr verworfen wurde: Noch war die Lohn- und
Verdienstersatzordnung nicht in Kraft.
- 36 -
Bereits drückte die Sorge um die zivile Existenz viele Eidgenossen im
Wehrkleid. Ihr Nein zum Beamtengesetz wollte sagen, sie hielten jene
Verbesserung für den an und für sich gesicherten Beamtenstand im Augenblick
nicht für zeitgemäss. War es nicht etwas Grosses, dass wir, mitten in der
Ungewissheit des Zeitalters, unser Volk über eine derartige Frage abstimmen
lassen konnten? Während des ganzen Krieges nahm - wenn schon in den
Gemeinden und Kantonen ausgesprochener als im Bund mit seinen
Vollmachten - das bürgerliche Leben mit den periodischen Wahlen und
Abstimmungen seinen Lauf.
Ein Ereignis im Kriegswinter 1939 auf 1940 darf nicht vergessen werden,
sobald man den innenpolitischen Strömungen und den Regungen der
Volksseele nachgeht: Die allgemeine Sympathiewelle für das finnische Volk,
die die Schweizer aller Schichten und Klassen erfasst hatte. Finnland war das
erste Opfer der deutsch-russischen Verständigung. Keine der grossen Mächte
rührte sich, als die Russen im Spätherbst die Finnen überfielen. Die Deutschen
sahen unbeteiligt zu, aus Rücksicht auf ihren jüngsten Bundesgenossen, die
alliierten Mächte, die eben erst von den Russen durch das Bündnis zwischen
Stalin und Hitler düpiert worden waren, hielten es für klüger, den Zorn des
S. 54:
Kremls nicht noch stärker auf sich zu ziehen. Nordamerika und die Schweiz
waren, neben den skandinavischen Ländern, die einzigen, die eine grosszügige
Finnenhilfe organisierten. Finnlands Heldenkampf gegen einen weit
überlegenen Feind erschien jedem Schweizer wie der Spiegel einer
Möglichkeit, die uns von einem Tag auf den andern treffen konnte. Indem er
für die Finnen spendete, half der Schweizer spontan einer kleinen Nation,
einem kleinen Brudervolk. Es kamen in jenem ersten Kriegswinter rund vier
Millionen Schweizerfranken zusammen! Jeder Schweizer, ob gross oder klein,
ob erwachsen oder noch Kind, ob reich oder arm, hatte im Durchschnitt einen
Franken für die Finnen geopfert. Die unmittelbare Kraft jenes Helferwillens ist
von keiner der späteren Hilfs- und Sammelaktionen mehr erreicht worden.
Inzwischen stand die Armee in ihren Räumen. Sie übte und sie schanzte. Noch
glaubte man an die Kraft von Festungen. Noch war ja der Maginotwall nicht
gefallen. Stellungen für Geschütze, Bunker für Maschinengewehre, Gräben für
Einzelschützen usw. erstanden als Feldbefestigungen in breitem Kranz im
schweizerischen Grenzraum, vom Osten bis zum Westen.
- 37 -
Der Krieg selbst aber schien eingeschlafen zu sein. Hüben und drüben lagen
Franzosen, Engländer und Deutsche. Man begegnete sich im Patrouillenkrieg
und in kleinen Stosstruppunternehmungen, daneben wusste die Kunde zu
berichten, es seien da und dort so etwas wie Verbrüderungsszenen zwischen
den Parteien vorgekommen. Jedenfalls schwiegen die schweren Geschütze der
Maginotlinie, und die deutschen Züge fuhren unbelästigt von Basel nach
Frankfurt. Von den Deutschen wusste man freilich, dass sie rüsteten, Truppen
aushoben und Rekruten drillten.
S. 55:
Hitler beschäftigte sich damals einen Augenblick lang mit dem Plan, noch im
Spätherbst die Offensive gegen Frankreich auszulösen und Belgien zu
überfallen. Am 8. November wurde in München ein Attentat gegen ihn
versucht, von dem bis zur Stunde nicht feststeht, ob es von einem wirklichen
Attentäter oder von einem bestellten unternommen worden ist, wobei in diesem
letzten Falle das Attentat den Sinn gehabt hätte, dem deutschen Volk die
Unverletzlichkeit des «Führers» zu beweisen. In der deutschen, offiziellen
Mitteilung über den Anschlag hiess es indessen, die Spuren der Organisation
des Attentates wiesen nach der Schweiz hin. Man wusste, was solche
Verdächtigungen zu bedeuten hatten. Überdies meldete der schweizerische
Nachrichtendienst Truppenansammlungen in Süddeutschland und im
Schwarzwald. Am 9. November wurden für die ganze Armee die erhöhte
Bereitschaft und für die Truppen im Norden und Osten des Landes, sowie an
der Grenze, die Alarmbereitschaft befohlen. Doch die Gefahr ging vorüber.
Hitler verschob seine Offensive auf den Frühling. Die ununterbrochenen
Angriffe deutscher Blätter auf die Haltung der Schweiz, vornehmlich der
Schweizer Presse, die während des ganzen Winters anhielten, liessen jedenfalls
keinen Zweifel aufkommen, dass der Fall Schweiz vor den Augen der
nationalsozialistischen Machthaber keineswegs Gnade gefunden hatte. Anfang
Dezember erliess der Bundesrat ein Verbot der staatsgefährlichen Propaganda
in der Armee. Es richtete sich gemeinsam gegen nationalsozialistische wie
kommunistische Umtriebe unter der Truppe.
Mit fortschreitendem Frühling stieg die Nervosität. Es wurde spürbar, dass
grosse Schläge nahe bevorstanden. Zunächst zwar - so im Februar und Anfang
März - tauch-
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ten Gerüchte auf, die von einem bevorstehenden Friedensangebot Hitlers an die
Westmächte raunten. Mit einem Schlag zerbrach dieser Wahn - nur fiel er in
- 38 ganz anderer Richtung, als man vermutet hatte. In der Morgenfrühe des 9.
April 1940 wurden gleichzeitig Dänemark und Norwegen von den Deutschen
überfallen. Militärisch war das Unternehmen tollkühn, und die Welt verfolgte
seinen Ablauf mit grösster Spannung. Aber es gelang. Dänemark und
Norwegen kapitulierten, das letzte nach hartnäckiger Gegenwehr seiner
ungenügend ausgerüsteten Truppe. Der Überfall auf die beiden
skandinavischen Länder offenbarte indessen mit besonderer Krassheit die
Methoden der nationalsozialistischen Kriegführung. Beide Länder wurden
ohne Kriegserklärung, ohne die geringste Ankündigung, überrumpelt. In
Norwegen bedienten sich die Deutschen landesverräterischer Gesellen, die im
entscheidenden Augenblick die Verteidigung sabotierten. Der Führer dieser
Verräter war der norwegische Offizier Quisling. Sein Name kam zu trauriger
Berühmtheit und wurde zum Begriff der verräterischen Zusammenarbeit mit
dem Feind. Der überfall auf Dänemark und Norwegen offenbarte, wie die
Nationalsozialisten sich gründlich und planvoll der sogenannten «Fünften
Kolonne», der Verräter und Saboteure zu bedienen wussten, wie sie es
verstanden, schon vor dem militärischen überfall die innere Front eines Staates
brüchig zu machen.
Die Armeeleitung war vom deutschen Schlag gegen die beiden
skandinavischen Staaten nicht überrascht worden. Seit den letzten Märzwochen
hatte der General die Bereitschaft der Armee erhöht, die Urlaube wurden rar,
der Tätigkeit der Fünften Kolonne wurde grösste Beachtung geschenkt. Bereits
trommelte die deutsche Presse wieder
S. 57:
mit schärferer Vehemenz auf die Schweiz los. Am 18. April 1940 erliess der
Bundesrat genaue Weisungen für die Kriegsmobilmachung bei überfall, für das
Verhalten gegen Luftangriffe, Saboteure, Fallschirmspringer und Elemente der
Fünften Kolonne. Diese Weisungen wurden öffentlich angeschlagen. In diesem
Fall war es erwünscht, dass der Feind «mithörte»!
Der Maueranschlag, der sich nüchtern, ja fast ein wenig pedantisch
«Weisungen des Bundesrates und des Generals über das Verhalten bei
feindlichem Überfall» nannte und in der Bundesratssitzung vom 18. April 1940
verabschiedet wurde, ist ein unvergängliches Dokument der Geschichte. Es
enthielt zunächst einfach Befehle, wie sich der auf Urlaub befindliche Soldat
zu verhalten habe, falls das Land überfallen werden sollte. Es folgten Angaben
über die praktische Gestaltung der Kriegsmobilmachung bei Überfall.
- 39 -
Dann aber hiess es: «Jeder Offizier hat die Pflicht, alle Wehrmänner zu
sammeln und mit ihnen in rücksichtsloser Schärfe gegen Fallschirmspringer,
Luftinfanterie und Saboteure vorzugehen. Wo keine Offiziere und
Unteroffiziere zugegen sind, handelt jeder Soldat unter Anstrengung aller
Kräfte aus eigener Initiative.
Sobald es sich zeigt, dass in einer Ortschaft die Angriffe des Feindes oder
seiner Mitläufer mit den Organisationen der Territorialtruppen und des
bewaffneten Hilfsdienstes bewältigt werden können, haben die übrigen
Wehrmänner mit allen Mitteln zu versuchen, ihren Stab oder ihre Einheit oder
den nächsten Korpssammelplatz zu erreichen. Es muss vermieden werden, dass
in Ortschaften allzu viele Leute in Bereitschaft bleiben und durch diese
Zersplitterung die Kräfte der Fronttruppen geschwächt werden.
S. 58:
Wenn durch Radio, Flugblätter und andere Mittel Nachrichten verbreitet
werden sollten, die den Widerstandswillen von Bundesrat und Armeeleitung
anzweifeln, so sind solche Nachrichten als Erfindung der feindlichen
Propaganda zu betrachten.
Unser Land wird sich gegen jeden Angreifer mit allen Mitteln und aufs
Äusserste verteidigen. Die Zivilbevölkerung hat in einer solchen Lage Ruhe
und Ordnung zu bewahren, sich in ihren Wohnungen oder Arbeitsplätzen
aufzuhalten, alle Strassen und Plätze zu räumen und den Anordnungen der
gesetzmässigen Behörden vollen Gehorsam zu leisten.»
Das war entschlossen und klar gesprochen! Es gab kein Zurück mehr.
Bundesrat und General hatten sich an die Spitze des Volkes gestellt. Zugleich
wurde alles vorgekehrt, um im Kriegsfall Evakuationen der Bevölkerung und
von Material vornehmen zu können. Kein Mensch zweifelte mehr daran, dass
der Krieg in eine neue und entscheidende Phase eingetreten war. Es erwies sich
indessen, dass die siebenmonatige Bereitschaft den Abwehrwillen von Volk
und Armee nicht geschwächt, sondern gestärkt, Selbstvertrauen und
Nervenkraft gehoben hatte.
- 40 -
S. 59:
3. KAPITEL
Widerstehen!
Die zweite Generalmobilmachung - Evakuationspanik, aber feste Haltung der
Armee - Der kritische Juni 1940 - Die Schweiz in einer neuen Lage - Der
Bundespräsident spricht, und der General hält Rapport auf dem Rütli - Der
Frontistenempfang beim Bundespräsidenten - Geistiger Widerstand und die
neuen Aufgaben von Heer und Haus - Kriegswirtschaft und Wahlen-Plan - Das
Finanzwunder - Beginnende Tätigkeit der Landesverräter Die vier Aufgaben
der Armee - In Erwartung der Dinge
S. 61:
Am 10. Mai zerbrach endgültig der faule Zauber des «merkwürdigen» Krieges:
Die Deutschen überfielen Holland, Belgien und Luxemburg. Die Front geriet in
Bewegung. Hitler schlug mit gewaltiger, während des ganzen Winters von
1939 auf 1940 aufgerüsteter Kriegsmacht auf den Westen los. Dem
Aprilunternehmen gegen Skandinavien folgte der Hauptschlag gegen
Frankreich.
Der Bundesrat verfügte am gleichen Tag die Generalmobilmachung. In einer
Radioansprache forderte er das Volk auf, ruhig und entschlossen zu bleiben.
Jedermann wusste, dass das, was jetzt begonnen hatte, sehr viel gefahrvoller
für die Schweiz werden musste, als es der polnische und der skandinavische
Feldzug gewesen war. Die zweite Kriegsmobilmachung spielte sich noch
reibungsloser ab als die erste. Die Stammtruppen übernahmen die zu ihren
Einheiten eilenden Urlauber. Ihre Stimmung war ausgezeichnet, ungeachtet des
Ernstes der Lage: Belgien und Holland, denen die Deutschen noch kurz vor
dem überfall zugesagt hatten, ihre Neutralität zu respektieren, standen über
Nacht in einem Kampf um Tod und Leben, der sich für die beiden kleinen
Völker bald als wenig hoffnungsvoll erwies. Mit furchtbarem Ungestüm
zerbrachen die Deutschen mit ihrer Luftwaffe und ihren Panzern, mit einer
unerhört draufgängerischen Kampfform die belgischen Grenzfestungen, von
denen einzelne als uneinnehmbar gegolten hatten. Heimlich fragte sich manch
einer, was da wohl unsere schweizerischen Feldbefestigungen, die die Truppe
den Winter über gebaut hatte, nützen
- 41 -
S. 62:
würden. Nirgends wuchs sich indessen dieses sorgenvolle Fragen zum
Kleinmut aus.
Während dessen blieb das Hinterland nicht ohne Zeichen von Aufregung. Im
Norden und Osten der Schweiz begann sich eine Evakuationsstimmung unter
der Zivilbevölkerung auszubreiten. Autokolonnen mit Flüchtenden bewegten
sich nach der Westschweiz oder in die Bergtäler der Innerschweiz und des
Berner Oberlandes. Zahlreiche falsche Gerüchte schwirrten in der Luft herum.
Sie wuchsen teils aus der Aufregung heraus, wie das Unkraut nach dem Regen,
zum Teil bestanden deutliche Anzeichen dafür, dass sie von dunkeln
Elementen absichtlich verbreitet wurden, im Streben, die innere Front zu
verwirren. «Erhitzte Gemüter», schreibt der General darüber in seinem Bericht
über den Aktivdienst, «witterten überall die Wirksamkeit der Fünften Kolonne
und verräterische Signale und Zeichen.»
Die Armee blieb von solchen gefährlichen Gemütserschütterungen, die das
Hinterland erfasst hatten, verschont. Sie war alarmbereit, wurde indessen
zunächst nicht aus den bisherigen Stellungsräumen herausgenommen. Noch
war nicht die ganze deutsche Heeresmacht gegen Frankreich angetreten. Erst
wenn auch die Front am Oberrhein in Bewegung geriet, konnten die deutschen
Absichten deutlicher werden. Dabei hing Entscheidendes davon ab, ob den
Deutschen der Durchbruch in Flandern und in Lothringen gelang, oder ob sie
dort festgehalten wurden und eine Überflügelung durch die Schweiz versuchen
würden. Eines wurde allerdings von Tag zu Tag klarer: Die französischenglischen Armeen befanden sich in völliger Verteidigung. Sie waren
ausserstande, eine Gegenoffensive durch die Schweiz vorzusehen. Daher gab
es in diesem
S. 63:
Augenblick für uns nur einen möglichen Kriegsfall: den eines deutschen
Überfalles.
Noch während sich die Ereignisse in Frankreich überstürzten und die
französische Armee, die für die stärkste des Kontinentes gehalten worden war,
von Tag zu Tag deutlichere Zeichen des Zusammenbruchs zeigte, bestrebte
sich die schweizerische Armeeleitung, aus den Ereignissen zu lernen. Es
entstanden, um die Wucht der motorisierten Angriffstruppen und Panzer zu
brechen, an allen Strassen und Übergängen von der Truppe gebaute schwere
Barrikaden.
- 42 Die Infanterie erhielt Minen zugeteilt und begann, den Angriffsgeist zu schulen
und den Nahkampf zu üben. In der Periode des winterlichen Baues von
Feldbefestigungen war beides vernachlässigt worden. Die deutsche
Kriegführung im Westen hatte alle hergebrachten Begriffe moderner Strategie
und Taktik im wörtlichen Sinn über den Haufen geworfen. Nun galt es für die
wehrhafte schweizerische Miliz, mitten im Ablauf der Ereignisse, sich
umzustellen.
Inzwischen vollzog sich Frankreichs Niederlage rasch und unerbittlich. Am 31.
Mai glückte es den Engländern, wesentliche Teile ihrer Kontinentalarmee dem
deutschen Zugriff zu entziehen und aus Dünkirchen nach England
hinüberzuschaffen. Mitte Juni fiel die Festung Verdun, die im ersten Weltkrieg
zum Begriff der Unüberwindbarkeit geworden war, bereits zogen die
Deutschen in Paris ein. Vier Tage zuvor hatten die Italiener den Briten und
Franzosen den Krieg erklärt. Sie wollten bei der neuen Verteilung der Welt
dabei sein. Während sich der Krieg bedrohlich der schweizerischen
Westgrenze näherte, musste der General nun auch an der Südgrenze vermehrt
auf der Hut sein. Zugleich nahmen die Zeichen deutscher Unge-
S. 64:
duld und nationalsozialistischen Übermuts gegenüber der Schweiz wieder zu.
Die deutsche Presse schlug einen scharfen Ton an, und am deutschen Radio
höhnten die Chöre der Hitlerjugend: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein,
das holen wir auf dem Rückweg heim!» Etwas hatten die Nazi also doch
gemerkt: Sie nannten das wehrhafte Alpenland ein «Stachelschwein»!
Die deutschen Flieger respektierten - mit Vorliebe, wenn sie aus Frankreich
zurückflogen - die Schweizergrenze nicht mehr. Unsere schweizerischen
Flieger griffen unerbittlich die deutschen Flugzeuge an, die den
schweizerischen Luftraum verletzten. Fünfmal kam es zu Luftkämpfen, gab es
auf beiden Seiten Abstürze und Tote. Die schweizerischen Piloten verteidigten
unser Hoheitsgebiet mit Erfolg. Diese Luftkämpfe führten schliesslich zu einer
Episode, die leicht ernste Konsequenzen hätte haben können. Der deutsche
Luftmarschall Göring beschloss nämlich, sich für die entschlossene Haltung
unserer Flieger zu rächen. Auf eigene Faust zog er ein Sabotageunternehmen
gegen die Schweiz auf. Am 14. Juni reisten 12 deutsche Saboteure auf
verschiedenen Wegen schwarz in die Schweiz ein. Sie waren reichlich mit
Sprengmitteln versehen und hatten verschiedene Aufträge. Diese richteten sich
hauptsächlich gegen Flugplätze.
- 43 -
Der Anschlag misslang. Er war zu dilettantisch aufgezogen, und die
schweizerische Wachsamkeit war zu entschieden. 24 Stunden nach ihrer
Einreise waren 10 Mann des bösen Dutzends verhaftet, 2 entkamen. Truppe,
Polizei und beherzte Zivilisten hatten einander in die Hände gearbeitet, um das
Bubenstück zu verhindern. Noch war die erhöhte Alarmbereitschaft, die im
Zusammenhang mit jenem Sabotageversuch befohlen worden
S. 65:
war, nicht aufgehoben, als der Armee eine neue Aufgabe harrte. Die
Operationen in Frankreich bewegten sich jetzt rasch der Schweizergrenze zu.
Im Raum von Belfort wurde ein ganzes französisches Armeekorps, dem eine
Division polnischer, den Deutschen und Russen entkommener Soldaten
zugeteilt war, nach der Schweiz hin abgedrängt. Am 20. Juni traten sie in den
Freibergen auf Schweizer Gebiet über und wurden entwaffnet. Am nächsten
Tag wurde im Walde von Compiegne zwischen Frankreich und Deutschland
ein Waffenstillstand geschlossen. Drei Tage später kam es zum
Waffenstillstand zwischen Frankreich und Italien. Der Krieg auf dem
Kontinent war fürs erste vorüber. Aber England war unbesiegt, entschlossen,
weiterzukämpfen.
Wahrscheinlich spielten sich in jenen Wochen unmittelbar vor und nach dem
französischen Zusammenbruch die für die Zukunft der Schweiz gefährlichsten
und entscheidensten Augenblicke des ganzen Krieges ab. Man muss sich, um
das zu verstehen, noch einmal die militärische und politische Lage unseres
Landes in jenem Augenblick vergegenwärtigen. Auf dem europäischen
Kontinent herrscht jetzt eine Mächtegruppe uneingeschränkt, die sog. «Achse
Berlin-Rom». Innerhalb der Achse war das Deutsche Reich die
ausschlaggebende Macht. Diese seine Machtstellung beruhte auf beidem, auf
der unerhörten militärischen Überlegenheit als auch auf der beispiellos brutalen
Art und Weise, wie Hitler und seine Kumpane sie errungen hatten. Frankreich,
das wenige Wochen vorher als bedeutendste Militärmacht des festländischen
Europas beurteilt worden war, hatte sich als morsch, widerstandsschwach
erwiesen und war zusammengebrochen. Die Maginotlinie, ein Festungssystem,
von dem die meisten
- 44 -
Nationalsozialistische Kundgebung in Zürich aus dem Jahre 1942.
Die deutsche Kolonie feiert den Geburtstag des "Führers"
S. 66:
militärischen Fachleute gewähnt hatten, es sei praktisch uneinnehmbar, hatte
vollständig versagt. Festungen schienen überlebt zu sein! Im Osten Europas
hatte die Sowjetunion im Krieg gegen Finnland zwar Niederlage über
Niederlage erlitten, das kleine Volk aber doch geschwächt und es zu einem
ehrenvollen, wenn schon harten Frieden gezwungen. Niemand glaubte, dass
Russland ein Gegengewicht gegen den deutschen Koloss bilden konnte. Die
Sowjetunion bemühte sich denn auch auf das eifrigste, den deutschen
Machthabern alles erdenkliche Entgegenkommen zu beweisen. Die deutschrussische Zusammenarbeit musste die wirtschaftliche Lage Deutschlands
verbessern. - Nordamerika endlich, beeindruckt vom französischen
Zusammenbruch, schien weiter von einer Kriegsbereitschaft zu sein denn je.
Übrig geblieben war nur England. In bezug auf dessen Aussichten gingen aber
die Meinungen in der Schweiz auseinander. Jene, die das Inselreich und sein
zähes Volk kannten, glaubten weder an dessen Kapitulation noch an die
Möglichkeit der Deutschen, in Grossbritannien landen und das Volk militärisch
besiegen zu können. Andere zweifelten, sie vermuteten, die Deutschen, die
bisher den Krieg mit technischen und methodischen Überraschungen
gewonnen
- 45 -
Infanterie auf dem Marsch (Photo: Hans Baumgartner)
hatten, würden auch den Engländern gegenüber mit gefährlichen
Überraschungen aufwarten und sie vernichten.
Mitten in diesem «Neuen Europa,., wie die Deutschen die von ihnen mit Feuer
und Schwert gewonnene Ordnung bezeichneten, lag die Schweiz, klein,
freiheitlich, vom Volk regiert, mit ihren vier Millionen Einwohnern. Ihre
Armee hatte an der Grenze den Zusammenbruch einer berühmten Armee
erlebt, der deutsche Nachbar, dessen
S. 67:
führende Männer jederzeit und ungeschminkt kundgetan hatten, dass sie die
Schweiz hassten, war unumschränkter Gebieter über Europa. Würde er jetzt auf
uns losgehen? Würde er sich zusammentun mit Italien, wo es nicht an
einflussreichen und ungeduldigen Stimmen gebrach, die die «Rückkehr» der
italienischschweizerischen Talschaften zu Italien forderten? Oder - falls die
neuen Herren Europas doch -einen Gewaltstreich zu vermeiden gedachten würden sie versuchen, unserem Volk mit raffinierter Propaganda den Kopf zu
verdrehen? Würden sie versuchen, die Propaganda dadurch zu unterbauen, dass
sie uns die Zufuhr sperren würden? Und wie würde das Schweizervolk auf das
alles reagieren?
- 46 Für die schweizerischen Behörden galt es in jenen Wochen nach Frankreichs
Zusammenbruch, das fast Unmögliche zu tun: Sie mussten genügend Truppen
unter den Fahnen behalten, um bereit zu sein, falls Adolf Hitler in
überraschendem Schlag die Schweiz zu liquidieren versuchte. Sie mussten
zugleich aber vermeiden, dieses fortdauernde Aufgebot so stark bleiben zu
lassen, dass es den deutschen Diktator reizen und ihm einen Vorwand geben
konnte. Das Gegenstück war auf geistig-politischem Gebiet zu tun. Wenn je, so
war gerade jetzt Aufklärung des Volkes dringendes Gebot der Stunde. Man
musste dieses Volk aufrichten, sein Selbstvertrauen stärken, es in
geschichtlichen Zeiträumen denken lernen, ihm sagen, dass der Krieg in
Europa nicht entschieden sein konnte, solange England weiterkämpfte - aber
man musste es so sagen, dass man auch da dem übermut der Sieger keinen
Vorwand gegen uns lieferte. Mit einem Wort: Wir mussten klug sein wie die
Schlangen, aber ohne Falsch wie die Tauben.
S. 68:
Wir mussten mit einem Mindestmass an Zugeständnissen widerstehen.
Wir hatten kaum Pfänder in der Hand, aber neben den vielen schlechten gab es
auch einige gute Möglichkeiten. Da war einmal Italien, das dem deutschen
Machtzuwachs unter Zittern und Hoffen zugesehen hatte. Die gemässigteren
Elemente des Faschismus begehrten keine weitere unmittelbare Nachbarschaft
mit Deutschland, wie sie sich ergeben hätte, sobald die Schweiz aufgeteilt
worden wäre. Der Brenner genügte ihnen. Es war daher von dieser Seite mit
einer gewissen, wenn schon nicht sehr entschiedenen Unterstützung zu
rechnen. Eine andere Möglichkeit lag in der internationalen Stellung der
neutralen Schweiz. Diese kam im «Internationalen Roten Kreuz» zum
Ausdruck, dessen führende Persönlichkeiten Schweizer waren, und in den
Interessenvertretungen für die Kriegführenden. Unser Land hatte es
nacheinander übernommen, für fast alle am Krieg beteiligten Staaten beider
Lager die Vertretung der diplomatischen Interessen zu besorgen. Auch das wog
bei den Nationalsozialisten nicht schwer, aber immerhin, es wog. Die dritte
Möglichkeit endlich war einfach der Kampf um Zeitgewinn: Die Deutschen
mussten zum Kampf gegen England antreten. Ohne Sieg über England gab es
keinen Frieden. Dieser Kampf bedurfte riesiger Vorbereitungen. Es bestand
daher die Aussicht, dass Hitler diese Vorbereitungen nicht durch ein
militärisches Unternehmen gegen die Schweiz stören wollte, das, wie die
Dinge nun einmal lagen, eine Vielzahl von Divisionen, eine Menge Blut
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und Eisen gekostet hätte. Gerade diese letzte Überlegung sprach natürlich erst
recht dafür, die Pause, die mit der französischen Niederlage eingetreten war,
nicht mit dem Frieden zu verwechseln. Die Schweiz musste mili-
S. 69:
tärisch stark bleiben. So begann jetzt der Kampf darum, den Widerstand
entschieden und auf neue Weise zu organisieren.
Es wäre Geschichtsfälschung, wollte man behaupten, der Umschwung im
festländisch-europäischen Kräfteverhältnis hätte das Volk innerlich unbeteiligt
gelassen. Vielmehr beschäftigte die Frage «was nun» alle Volksschichten. Die
Menschen riefen nach Zusammenschluss. Neben ehrlichem Bemühen wurden
allerlei Pläne von politischen Konjunkturrittern herumgeboten. Die
nationalsozialistisch eingestellten Bewegungen, die sich bis dahin stillgehalten
hatten, wagten sich wieder hervor. Die in Sprache und Bildern mächtig
aufgedonnerte deutsche Propagandazeitschrift «Signal» musste unter
deutschem Druck in hoher Auflage in der Schweiz zugelassen werden. Sie
arbeitete mit dem einfachsten Werbemittel, mit dem Erfolg des deutschen
Soldaten. Das alles wirkte. Für viele schien es jetzt nicht mehr zu genügen, die
nationalsozialistischen Führer nicht zu reizen: Sollten wir nicht versuchen, sich
mit ihnen zu verständigen? Nein, beschworen wieder andere das Volk: Jede
Verständigung wäre Selbstmord. Jüngere Offiziere, beeindruckt vom
moralischen Versagen mancher Kader in den von den Deutschen überfallenen
Ländern und beunruhigt ob diesen Diskussionen, in denen sie bereits ein
Nachgeben herausfühlten, schlossen sich zusammen und gaben sich das Wort,
einem allfälligen Kapitulationsbefehl nicht Folge zu leisten und den Kampf um
jeden Preis fortzusetzen. Diese «Verschwörung» wurde aufgedeckt. Die
Teilnehmer wurden bestraft, aber des sauberen Zieles wegen, das sie verfolgt
hatten, nur leicht.
Anlass zu erregten, allerdings kaum öffentlich geführten Debatten gab die
Frage der Pressefreiheit. Die Deut-
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schen nahmen freimütige Äusserungen der Schweizer Presse immer wieder
zum Vorwand, um oft, scheinbar wohlwollend, meistens aber unverhüllt
drohend, darauf hinzuweisen, wie gefährlich es sei, mit einem zu offenen Wort
«den Führer zu reizen». Da überdies manche Blätter allzu sicher auf die
französische Stärke gesetzt und sich getäuscht hatten, so war es jetzt leicht zu
versuchen, Presse und Volk gegeneinander aufzubringen.
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Endlich drohte eine andere, grosse Gefahr: Es wurden Truppen entlassen.
Würden die heimkehrenden Soldaten auch alle Arbeit finden?
So lebte in jenen Wochen des Sommers 1940 das Volk in einem Dunst des
Unausgesprochenen, des Hoffens und Abwägens. Aber es blieb nicht lange
darin. Am 25. Juni ergriff Bundespräsident Pilet am Radio das Wort. Manche
Teile seiner Rede sind später als zweideutig und zu diplomatisch angefochten
worden. Sie enthielt indessen einen wesentlichen Punkt. Bundespräsident Pilet
erklärte, niemand werde arbeitslos sein. Der Bundesrat werde «für
Arbeitsbeschaffung um jeden Preise» sorgen. Es blieb nicht beim Versprechen.
Alles wurde vorgekehrt, um die Einfuhr der Rohstoffe zu sichern, die
Verteilung gerecht zu gestalten. Um düsteren Elementen ihren Handel zu
legen, wurden alle politischen Versammlungen polizeilich überwacht.
Und die Armee? Sie erwies sich in jenen Tagen als der eigentliche nationale
Rückhalt. Der General zögerte nicht lange, um ihre Aufgabe in der neuen Lage
klar zu umreissen. Auf den 25. Juli bot er sämtliche Kommandanten der
Armeekorps, Divisionen, Regimenter, Bataillone und Abteilungen zu einem
Rapport auf das Rütli auf. Dort, im Herzen der Schweiz, verpflichtete er sie auf
den Widerstandsgedanken, entwickelte er den neuen Verteidigungs-
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gedanken des Réduits. Der General beschreibt in seinem Bericht an den
Bundesrat über seine Kommandoführung im Aktivdienst diesen eindrücklichen
und unvergesslichen Akt: «Gegen Mittag des sehr schönen Tages hatte ich alle
höheren Offiziere der Armee vor meinen Augen. Auf der Rütliwiese, wo die
Fahne des Urnerbataillons 87 stand, hatten sie einen Halbkreis gebildet, mit
dem Blick gegen den See, die Armeekorpskommandanten im ersten Glied, und
hinter ihnen die Divisions-, Brigade-, Regiments-, Bataillons- und
Abteilungskommandanten. Ich erläuterte kurz und in grossen Zügen die
Massnahmen, die für den Widerstand im Réduit getroffen worden waren und
gab ihnen die folgende doppelte Parole: Wille zum Widerstand gegen jeden
Angriff von aussen und gegen die verschiedenen Gefahren im Innern, wie
Erschlaffung und Defaitismus, Vertrauen in die Kraft dieses Widerstandes.»
Der General fasste seine Worte in den Satz zusammen. «Es geht um die
Existenz der Schweiz.» Hierauf übergab er den hohen Offizieren den neuen
Verteidigungsbefehl. Er beruhte auf dem Gedanken, das Zentralmassiv der
Alpen
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zu einer Festung auszubauen, die befähigt war, der motorisierten Wucht und
technischen Überlegenheit der Deutschen widerstehen zu können.
Die Bundesratsverordnung vom 18. April 1940 über das Verhalten gegenüber
Gerüchten, Spionen und Saboteuren, und der Réduitbefehl des Generals vom
25. Juli des gleichen Jahres, sind die beiden grossen und unvergänglichen
Zeugnisse des schweizerischen Widerstandswillens in jenem geschichtlichen
Augenblick. Gewiss war das Réduit zunächst einfach eine militärische
Verteidigungsidee. Darüber hinaus aber war es sichtbarer Ausdruck unserer
Entschlossenheit. Das Réduit besagte: Es gibt keine Kapitu-
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lation, wenn wir überfallen werden, sondern nur Kampf, unbekümmert um
Erfolg oder Misserfolg. Es bedeutete, dass wir entschlossen waren, das flache
Land dem Eindringling zerstört zu überlassen und ihn in den Bergen, wo
Gelände und Witterung unsere Verbündeten waren, mit der Waffe zu erwarten.
Während in Berlin «Unter den Linden» die Siegesparade furchtbar und
aufgedonnert vor Hitler vorüber rollte, während Europa der Tyrannei verfallen
schien, entschloss sich der General der schweizerischen Milizarmee, in der
Réduitstellung zu halten und vor aller Welt zu bekunden, die Schweiz denke
nicht daran, sich den neuen Machthabern in Europa zu fügen. So wurde das
Réduit zum Begriff des nationalen Widerstandes. Mit ihm aber auch die Gestalt
des Generals! Auch er war zu einem nationalen Symbol geworden. Diese
Tatsache hat nichts mehr zu zerstören vermocht. Die Person des Generals blieb
gegenüber allen Angriffen gefeit.
Die Nazi haben übrigens gewusst, was für eine entscheidende Bedeutung
General und Réduit für den schweizerischen Widerstandsgeist hatten. Das
Réduit versuchten sie durch intensive Spionage zu entwerten. Gegen den
General aber spannen sie eine Intrige. Im Winter 1940 auf 1941 wurde von
Berlin aus ein lebhaftes Treiben inszeniert, das dem Bundesrat empfahl, den
General zu ersetzen, da er sich 1939 in militärischen Besprechungen mit den
Franzosen, für den eventuellen Fall eines deutschen Angriffs, zu weit
hervorgewagt habe. Die Deutschen fanden Kanäle in der Schweiz, die ihre
Anschuldigungen weitertrugen. Aber der Bundesrat blieb fest. Er wusste, was
der General in den Augen des Volkes geworden war!
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In der Folge erwies es sich, dass der Rütlirapport des Generals zur rechten Zeit
gekommen war. Der General
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durfte in der schwierigen Lage als Soldat offener, weniger von diplomatischen
Rücksichten belastet, reden als irgendein Bundesrat, dessen Worte mit dem
Gewicht der Regierungsverantwortung belastet. waren. Die Summe der
vaterländischen Hoffnungen und des nationalen Willens aller Schweizer
vereinigte sich über dem Begriff der Armee. Die aber war in der monatelangen
Aktivdienstzeit innerlich fest zusammengewachsen. Der Geist des
Rütlirapports strömte in alle Einheiten des Heeres, er teilte sich von da aus dem
Volke selbst mit. Das war um so notwendiger, als nun die Politik selbst in eine
Krise zu geraten drohte.
Der Bundesrat, der durch die Vollmachten vom 30. August 1939 zur eigentlich
bestimmenden Behörde der Schweiz geworden war, hatte sich seit
Kriegsausbruch, was seine Zusammensetzung anbelangt, verändert. Am 23.
Januar 1939 war Bundesrat Motta gestorben, der zwischen dem ersten und dem
zweiten Weltkrieg die Aussenpolitik der Schweiz geleitet hatte und grosses
internationales Ansehen genoss. Sein Nachfolger wurde der Waadtländer PiletGolaz, der vom Post- und Eisenbahndepartement auf das Politische
Departement hinüberwechselte. Am 21. Juni 1940 trat ferner Bundesrat
Obrecht wegen schwerer Krankheit von seinem Amte zurück. An seine Stelle
wählte die Bundesversammlung am 18. Juli den freisinnigen solothurnischen
Wirtschaftsmann Walther Stampfli. Im November 1940 gaben endlich die
Bundesräte Minger und Baumann ihren Rücktritt bekannt. Die
Bundesversammlung ersetzte sie am 10. Dezember 1940 durch Dr. Karl Kobelt
von St. Gallen, der das Militärdepartement übernahm, und den bernischen
Regierungsrat Eduard von Steiger, der Chef des Justiz- und
Polizeidepartements wurde. Innerhalb
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Jahresfrist hatte also, in schwierigster Zeit, der Bundesrat als Körperschaft sich
wesentlich verändert.
Nun aber zurück zur politischen Krise. Sie wurde ausgelöst durch die Affäre
der Audienz von nationalsozialistisch eingestellten Schweizern bei
Bundespräsident Pilet. Drei «Führer» der NBS (Nationale Bewegung der
Schweiz), von denen der eine, der Ingenieur Max Leo Keller, einige Jahre
später wegen
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landesverräterischer Umtriebe im Zuchthaus landete, ferner der Schriftsteller
Jakob Schaffner und der Führer einer Gruppe, die sich ESAP nannte
(Eidgenössische Sozialistische Arbeiterpartei), wurden vom Bundespräsidenten
empfangen, um ihm ihre Wünsche zu unterbreiten. Die drei veröffentlichten
über den Empfang ein Communique, in dem es u.a. hiess: «Die Vertreter der
NBS unterrichteten den Bundespräsidenten über deren politische Zielgebung
als der Trägerin des neuen politischen und sozialen Gedankens. Die
Unterredung, welche 1½ Stunden dauerte, stellt den ersten Schritt zur
Befriedung der politischen Verhältnisse der Schweiz dar.»
Was Wunder, dass dieses in anmassendem Tone gehaltene Communique,
dessen Verfasser kaum bekannt waren, besonders in der deutschen Schweiz das
grösste Aufsehen erregte? Es fiel in den Augenblick breiter propagandistischer
Entfaltung des Nationalsozialismus, da die Luftschlacht um England auf dem
Höhepunkt stand und der Widerstandswille im breiten Volk die schwersten
Proben durchmachte. Zwar erklärte der Bundesrat einige Tage nach dem
Empfang, am 12. September, die Pressemitteilung der NBS sei irreführend.
Allein es blieb ein Missbehagen, Zweifeln und Unsicherheit. Schon die
Tatsache, dass drei Vertreter von politischen Bewegungen, die das Volk als
landesverräterisch einschätzte, vom Bundespräsi-
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denten empfangen worden waren, erschien der durchschnittlichen
Volksmeinung unbegreiflich. Die Angelegenheit warf hohe Wellen. Sie wurde
in den parlamentarischen Kommissionen diskutiert und bot am 18. September
Anlass zu einer gründlichen Debatte im Nationalrat. Die Fraktionen stellten
dabei fest, dass die Affäre das Volk beunruhigt hatte. Im übrigen einigte man
sich aber zwischen Bundesrat und Parlament über die Grundlinien der
schweizerischen Aussenpolitik. Es ist nie völlig abgeklärt worden, wie viel
oder wie wenig in jener Aussprache (zu der der Bundespräsident keine Zeugen
bestellt hatte) geredet worden ist. Im Urteil des Volkes ist sie Bundesrat Pilet
nie verziehen worden. Nicht das, was gesprochen worden war, war letzten
Endes das Wesentliche. Viel gefährlicher war die Kluft, die sich jetzt mit
einem Mal zwischen Volk und Bundesrat aufzureissen drohte. Noch stand man
in der Periode wilder Gerüchtebildung drin. Unter solchen Umständen konnte
ein verfehlter Schritt eines einzelnen Magistraten unerwartete Folgen haben.
Die Verantwortlichen aller Gruppen und Parteien erkannten,
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dass es jetzt darum ging, nicht nur den militärischen, sondern auch den
geistigen Widerstand zielbewusst auszubauen.
Der Kampf um den geistigen Widerstand verband sich mit dem Kampf um die
Pressefreiheit, er wurde zugleich zu einem Suchen nach neuen Methoden der
Aufklärung. Abermals müssen wir uns in die Atmosphäre der Zeit versetzen.
Die Affäre des Empfanges beim Bundespräsidenten hatte bewiesen, dass der
Bundesrat der lebendigen Verbindung mit dem Volk bedurfte, wenn er seine
Massnahmen verständlich machen wollte. Sie hatte überdies bewiesen, dass die
öffentliche Diskussion heikler Fragen in einem Zustand, da überall «der Feind»
mithorchte und
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Misstrauen und Unsicherheit auszustreuen trachtete, nicht ungehemmt treiben
gelassen werden durfte. Dringlicher als je musste das Volk unterrichtet werden,
aber vorsichtiger als je musste die Auswahl dessen getroffen sein, was gesagt
werden konnte. So gerieten Wahrheit und Klugheit einander ins Gehege. Wenn
die Zeitungstexte sich nur mehr aus amtlichen Mitteilungen und Ermahnungen
zusammensetzten, war die Gefahr gross, dass sie vom Volk nicht mehr gelesen
und mit Misstrauen verfolgt würden. In diesem heiklen Moment begann die
Sektion «Heer und Haus» im Armeestab ihre bedeutsame Tätigkeit.
«Heer und Haus» bestand bereits seit dem November 1939. Als im Winter des
«drôle de guerre» der Aktivdienst sich auf unbegrenzte Dauer in den Winter
hineinzog, entstand der Gedanke, eine Organisation zu schaffen, die der Truppe
anregende und unterhaltende Stoffe vermitteln würde. Auch auf diesem Gebiet
hatte man nämlich aus den unbefriedigenden Verhältnissen des ersten
Weltkrieges gelernt. Die Sektion «Heer und Haus» knüpfte an die Pionierarbeit
der Landesausstellung in bezug auf die Darstellung des schweizerischen
Wesens an, sie entwickelte die «Höhenstrasse» weiter. Jetzt, im Herbst 1940,
setzte sie ihr Werk mit einer neuen Methode fort. «Heer und Haus»
veranstaltete Referenten und Informationskurse, zu denen aufrechte Männer
aus allen Parteien, aus allen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen des Volkes
als Redner herangezogen wurden. In diesen Kursen und ihren, ebenfalls aus
allen Volksschichten entnommenen Hörern, wurde den Teilnehmern die ganze
Wahrheit über die militärische, wirtschaftliche und politische Lage gesagt. Sie
konnten Fragen stellen und erhielten Antwort. Die Probleme wurden mit ihnen
durchgesprochen, sie selbst
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darin geschult, Zusammenhänge zu erkennen, und zu unterscheiden zwischen
Schein und Wirklichkeit.
Das Hauptverdienst am Aufbau dieser bedeutenden Aufklärungsarbeit kommt
dem kurz vor Kriegsende verstorbenen ehemaligen Kommandanten des Basler
Regimentes Oberst Oskar Frey zu. Unter seiner Leitung wurde «Heer und
Haus» zu einer geistigen Zellenorganisation, die unermüdlich und zielbewusst
der nationalsozialistischen Infiltration entgegenarbeitete, Tausende von
Schweizern aller Klassen in dem bestärkte, was das Schweizertum war und
sein wollte, und die dabei, nach aussen kaum sichtbar, ihr grosses Werk
vollbrachte. «Heer und Haus» war nicht abhängig von der Regierung, aber es
unterstützte sie, ohne plumpe Propaganda zu betreiben, es war nicht «die
Armee», aber von ihrem Geist der Kameradschaft und des Widerstandswillens
erfüllt.
Wenden wir uns jetzt wieder dem Gang der Dinge zu. Wir haben gesehen, dass
der General die Frage des militärischen Widerstandes durch die AlpenZentralstellung, das Réduit, löste. Wir sahen weiter, dass es die Aufgabe der
politischen Behörden blieb, das Land trotz der neuen Lage in Europa
unabhängig zu erhalten und im Innern für Ordnung, Arbeit und gerechten
Ausgleich zu sorgen, und endlich sahen wir, wie es auf geistig-politischem
Gebiet galt, dem Kleinmut entgegenzuwirken und das Volk bei kühlem Kopf
zu halten, angesichts der deutschen «schimmernden Wehr» und der
nationalsozialistischen Propaganda vom «neuen Europa».
Überblicken wir die Massnahmen, die zwischen der französischen Kapitulation
und dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges ergriffen worden sind, so
spiegeln sie die Sorge um das Durchhalten wieder. Der neue Chef des
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Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements, der energische, unabhängige
Bundesrat Stampfli, sah sich vor einen förmlichen Berg dringlichster Probleme
gestellt. Zweierlei wollte getan sein: Rohstoffe mussten hereingebracht werden,
damit die Fabriken arbeiten konnten, und die Ernährung musste sichergestellt
bleiben. In beiden Fällen, sowohl was die Versorgung mit Rohstoffen, wie was
die Versorgung mit Lebensmitteln anbetraf, war die Schweiz vom Ausland
abhängig. Es gab keine Möglichkeit, eine sich selbstgenügende schweizerische
Wirtschaft aufzubauen. Diese Abhängigkeit vom Ausland schloss indessen die
Gefahr in sich, dass sie von den Achsenmächten,
- 54 die jetzt (bis auf eine winzige Lücke bei Genf) die Schweiz mit einem eisernen
Gürtel umgaben, ausgenützt wurde, um ungebührliche Zugeständnisse von uns
zu fordern. Von vornherein war eines klar: Wir konnten uns unmöglich darauf
versteifen, jeden Handel mit der Achse abzulehnen. Wir mussten mit
Deutschen und Italienern die wirtschaftlichen Beziehungen weiter pflegen. Wir
mussten aber' auch und das war keineswegs einfach! - die Gegenseite von
diesem unumgänglichen Zwang überzeugen. Die leitenden Stellen der
kriegswirtschaftlichen Organisation hatten demnach zu planen, was für
Rohstoffe unsere Industrie in erster, zweiter und dritter Dringlichkeit brauchte,
was für Fertigfabrikate, um die Rohstoffe zu bekommen, wir anbieten durften,
ohne die militärischen Rüstungen der Achse zu begünstigen.
Die ersten kriegswirtschaftlichen Massnahmen nach der Kapitulation
Frankreichs verordneten die Bezugssperre für Güter der Ernährung und auf
dem Gebiet wichtiger industrieller Rohstoffe. Der Verbrauch von Brennstoffen
und Fetten wurde der Kontrolle durch den Bund unter
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stellt. Dann aber wurde vor allem die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln
und Rohstoffen neu überprüft und neu organisiert. Jedes kleinste Vorkommen
von Kohle und Eisen wurde untersucht. Wissenschaft und Praktiker der
Landwirtschaft entwarfen einen Anbauplan, der unter dem Namen seines
Hauptschöpfers, Professor Wahlens, in die Geschichte eingegangen ist. Er sah
systematisch sich folgende Anbauetappen vor, mit denen schliesslich eine
halbe Million Hektar offenes Ackerland gewonnen und dem Mehranbau zur
Verfügung gestellt werden konnten. Jeder kleinste Fleck Land, jede öffentliche
Anlage, verbesserungswürdige Moore usw. wurden in das Programm
einbezogen. Alle Familien und die privaten und öffentlichen Betriebe wurden
angehalten, anzupflanzen und zur Selbstversorgung mit beizutragen. Dabei
machten es zugleich die vorgesehenen Meliorationen von bisher nicht
genutztem Land möglich, Arbeit zu beschaffen. So ergab sich ein
wohldurchdachtes System der Zusammenarbeit von Mehranbau, Verteilung der
Güter und Arbeitsbeschaffung. Es entstand eine Übersicht über das, was wir
liefern konnten, was wir im äussersten Notfall bedurften, und was wir in jedem
Fall von aussen her einzuführen hatten. Schiffe wurden im Ausland gechartert,
um mit der eigenen Schweizer Flotte die Schwierigkeiten des Seekriegs zu
überwinden. Bauersame, Industrie und Gewerbe unterwarfen sich einer
strengen Arbeitsdisziplin,
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bei der es Aufgabe der militärischen Stellen blieb, durch sinnvolle Gestaltung
des Urlaubswesens in der Armee der Wirtschaft genügend Arbeitskräfte zur
Verfügung zu halten.
Die Idee des Wahlenplanes, zusammen mit der kriegswirtschaftlichen
Milizpflicht, dürften entscheidend mitgeholfen haben, noch 1940 die innere
Zuversicht im Volk
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zu stärken. Der Mehranbau besonders stellte dem Volk eine grosse, nur mit
zähem Fleiss zu lösende Aufgabe. Er verband es spürbar mit dem harten Geist
der Zeit und der Tatsache, dass es um die Existenz des Landes ging. Er
verlangte Opfer und fand deshalb Begeisterung.
Auf industriellem Gebiet waren die Kohle und die flüssigen Brennstoffe die
grossen Mangelposten. Aufträge gab es jetzt genug, denn die Réduitstellung
konnte nur durch enormes Bauprogramm verwirklicht werden, dieses nahm
alle wirtschaftlichen Kräfte in Anspruch. Das Réduit brauchte Zement und
Eisen, und beide erforderten Kohle. Eisen brauchte aber auch Adolf Hitler. Da
die Schweiz mit den Fricktalerzen, die kurz vor Kriegsausbruch entdeckt
worden waren, über bedeutende Eisenvorkommnisse verfügte, die sie nicht
verhütten konnte, gelang es, diese den Deutschen gegen Kohle abzutauschen.
Kohle brauchten wir für die Zementfabriken und Zement zum Bau neuer
Festungen, die wieder gegen Hitlers Armeen errichtet werden mussten. Das
war die harte Wirklichkeit. Sie ersparte dem Land die Arbeitslosigkeit, die im
Zeichen der siegesbewussten nationalsozialistischen Propaganda sich zur
gefährlichen inneren Belastungsprobe ausgewachsen hätte. Sie gab uns auch
Material, uns militärisch stark zu machen. Jetzt stieg das Selbstvertrauen des
Volkes, es erkannte, dass dem schweizerischen freiheitlichen Volksstaat die
Fähigkeit durchaus gegeben war, die Schwierigkeiten einer feindlichen Zeit zu
meistern. Indessen: Die ununterbrochene und gesteigerte Wehrbereitschaft, der
Ausbau der Réduitstellung, der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und der
Mehranbau verlangten Geld und nochmals Geld. Die grosse Frage erhob sich,
ob ein Staat von schweizerischer Kleinheit und ein Land von
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schweizerischer Armut je imstande wären, aus eigener Kraft die Finanzen
aufzubringen, die ein Durchhalteplan im Krieg verschlingen würde.
Tatsächlich gelang es, dieses Geld zu finden.
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Man hat das das eidgenössische Finanzwunder genannt. Noch im ersten
Weltkrieg hätte so etwas für unmöglich gegolten. Damals hatte die
Eidgenossenschaft teures Geld in den Vereinigten Staaten aufgenommen.
Diesmal hatte schon der Erfolg der Wehranleihe vor dem Krieg bewiesen, dass
der Bund im Inland reichlich Geld zur Verfügung erhielt. Damit stiegen
indessen die Schulden. Sie stellten sich dar als Verpflichtung der
Eidgenossenschaft gegenüber dem eigenen Volk. Auf diese Weise wurde sich
das Volk erst recht bewusst, wie eng es zusammengeschweisst worden war.
Jedenfalls aber: Es mussten neue Mittel her. Im Juli 1940 beschloss der
Bundesrat, ein allgemeines Wehropfer vom Vermögen zu erheben. Im
Dezember des gleichen Jahres wurden die Wehrsteuer als direkte Bundessteuer
und im Juli 1941 die Warenumsatzsteuer als indirekte Abgabe eingeführt. Die
ordentlichen Ausgaben der Eidgenossenschaft hatten auf Ende 1940 den Betrag
von über einer halben Milliarde erreicht. 1942 betrug das Defizit der
ordentlichen Rechnung fast 64 Millionen Franken, während der Fehlbetrag der
ausserordentlichen Rechnung auf 700 Millionen Franken gestiegen war.
Vom Herbst 1940 an mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die
nationalsozialistische Propaganda ihre Anstrengungen verdoppelte, und die
deutsche Heeresleitung die Spionage gegen die Schweiz eingehend betrieb. Am
25. Oktober unternahm die Bundespolizei eine erste grössere Razzia gegen
sogenannte «Erneuerer». Im November 1940 ermächtigte der Bundesrat das
Eidgenössische Justiz- und
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Polizeidepartement, Strafklage gegen zwei schweizerische Nationalsozialisten,
Leonhard und Burri, samt 30 Komplizen zu erheben. Es begann die Abwehr
gegen jene Landesverräter, die zuerst in der Schweiz, nachher von Deutschland
aus, die Unabhängigkeit des Landes bedrohten, und die sich schliesslich zu
Handlungen hinreissen liessen, die mit der Todesstrafe geahndet werden
mussten. Bald nachdem die Strafklage gegen Leonhard und Burri erhoben
worden war, wurde die NBS verboten. Anschliessend daran verbot der
Bundesrat auch die kommunistische Bewegung, die im Zeichen der deutschrussischen Freundschaft als besonders verdächtig gelten musste. Einen neuen
Höhepunkt erreichten die nationalsozialistischen landesverräterischen
Umtriebe im Frühsommer 1941. Am 10. Juni dieses Jahres wurden bei einer
Aktion der Bundespolizei über 100 Personen verhaftet.
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Es handelte sich bei diesen Elementen um Entwurzelte und Gestrandete, auf
keinen Fall um typische Repräsentanten des Volkes. Von aussen her betrachtet,
handelte es sich darüber hinaus um den Versuch, nationalsozialistische Zellen
im schweizerischen Volkskörper zu bilden und ideologische Vorkämpfer zu
werben. Unabhängig von der Bundespolizei hatte der General schon im
Sommer 1940 eine Untersuchung gegen Offiziere durchführen lassen, die
nationalsozialistischer Gesinnung verdächtigt worden waren. Von 124
Offizieren, die von der Untersuchung betroffen wurden, mussten 7 Fälle weiter
verfolgt werden. Auch da ergab sich das gleiche: Die Zahl jener, die ihren
politischen Kompass verloren hatten, war klein, die landesverräterische und
ideologisch verblendete Gesinnung einzelner war, neben der eindeutigen
Haltung der Mehrheit des Volkes, keine wesentliche Erscheinung.
Die Höhe des Truppenaufgebotes sank im Sommer 1940
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auf rund 150'000 Mann herab, und sie blieb bis zum Sommer 1941 ungefähr
auf dieser Zahl bestehen. Welches waren in der Zeit zwischen dem Ende des
Krieges mit Frankreich und dem Ausbruch des deutsch-russischen Krieges die
Aufgaben der Armee? Es zeichneten sich vier Hauptpflichten ab. Strategisch
betrachtet war die Schweiz bald wieder bedeutsam geworden, weil sich zwei
grosse Nord-Süd-Verbindungen, die Lötschberg-Simplon- und die der
Gotthardlinie innerhalb ihrer Grenzen befanden. Die Deutschen verfügten für
ihre Verbindung mit dem italienischen Partner nur über den Brenner. Je nach
den deutschen militärischen Plänen konnte die Gefahr entstehen, dass diese
versuchen würden, sich durch Überfall die beiden Linien zu sichern. Auf der
andern Seite konnte bei den Alliierten die Versuchung aufkommen, mit
Sabotageaktionen gegen Simplon und Gotthard den wirtschaftlichen
Durchgangsverkehr von Deutschland nach Italien und umgekehrt - den
zuzulassen der neutralen Schweiz völkerrechtlich erlaubt war - zu stören. So
verlangte unsere militärische Bereitschaft jenen Grad, der es möglich machte,
beidem zu begegnen.
Hitlers Gegner gaben uns insofern aktiver zu schaffen, als vom Spätsommer
1940 an die Engländer in wachsendem Umfang die Schweiz überflogen. Sie
wählten diesen kürzesten Weg nach Italien und nach Nordafrika. Alle
diplomatischen Demarchen des Bundesrates blieben erfolglos. Nun rückten die
Deutschen und Italiener mit der Forderung heraus,
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die Schweiz müsse ihr Gebiet nachts verdunkeln, denn sie diene mit ihren
Lichtern den Briten als Wegweiser, und dies sei unneutral. Am 6. November
1940 verfügte der General hierauf die Verdunkelung. Aber die Engländer
fuhren fort, über die Schweiz hinwegzuflie-
S. 84:
gen. Im Vorwinter 1940 wurden gar Bomben auf Basel und Umgebung und im
Dezember auf Zürich abgeworfen. Da setzte der General die
Fliegerabwehrkanonen ein.
Die dritte, wichtige Aufgabe der Armee in jenem Herbst und Winter war die
Bewachung der französischen und polnischen Internierten, sie brachte einen
ganzen Verwaltungsapparat. Im Januar kehrten die französischen Internierten
nach Frankreich zurück, während die Polen im Lande blieben. über allem
endlich stand die wichtigste Aufgabe der Armee: sie übte sich im neuen
Kampfverfahren, pflegte den Nahkampf, den Kampf mit Sprengmitteln und
machte sich vertraut mit der Verteidigung des Alpenzentralraumes.
Ende September 1940 stand fest, dass die Deutschen die Luftschlacht um
England verloren hatten. Der Winter würde kaum mehr grössere Aktionen
bringen, wohl aber fieberhaftes Rüsten. Plante Hitler einen Schlag zu Wasser
und in der Luft gegen England? Hatte er andere Eroberungspläne? War in
diesem Fall seiner Sowjetfreundschaft zu trauen? Alle diese Möglichkeiten
standen offen. Die Eidgenossen, die ihre innere Sicherheit wieder gewonnen
hatten, wagten es bereits wieder, unzeitgemäss zu sein. Am 1. Dezember 1940
verwarfen sie ein Bundesgesetz, das den militärischen Vorunterricht
obligatorisch erklären wollte. Jawohl, sagte sich der Mann aus dem Volk, man
war bereit, zu seinem Land zu stehen, man war wehrhaft, und es gab weder
Antimilitaristen noch Dienstverweigerer, aber trotzdem wollte dieser Mann aus
dem Volk keinen überbetonten Militärgeist. Er wollte die Schweiz verteidigen,
so wie sie war. Er hatte begreifen gelernt, dass am besten zu widerstehen war,
wenn die Freiheit gegenständlich, praktisch und spürbar blieb!
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S. 85:
4. KAPITEL
Durchhalten bis zum Frieden
Der kriegserfüllte Frühling 1941 - Wieder Pressekrieg mit Deutschland Deutscher Überfall auf Russland - Neue Lage für die Schweiz - Landesverräter
werden erschossen - Die Flüchtlingsfrage - El Alamein und Stalingrad - Die
schweizerische Nord-Süd-Verbindung und die «Aktion Schweiz» - Kein Asyl
für Kriegsverbrecher - Schwere Versorgungsprobleme - Wirtschaftsabkommen
mit den Alliierten - Bombardierungen - Die letzte Kriegsphase - Keine
Generalmobilmachung - Wieder Kämpfe an der Westgrenze Kriegsendprobleme - Die Sowjetunion lehnt Beziehungen ab - Die
Curriemission - Übergang zum Frieden - Schlussbetrachtungen
S. 87:
Das Jahr 1941 brachte jenes Ereignis, aus dem schliesslich die Wende im
zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, den überfall der Deutschen auf die
Sowjetunion. Dem überfall ging ein unruhiges, mit Kriegslärm erfülltes
Frühjahr voraus, wobei die Schweiz der Gefahrenzone wieder näher kam. Im
Februar 1941 begann die Offensive der Engländer gegen die Italiener in
Abessinien, Somaliland und Eritrea. Sie hatte Erfolg. überdies kämpften die
Italiener in Griechenland, das sie in ihrem Wahn, die Nachfahren der alten
Römer sein zu wollen, im Oktober 1940 überfallen hatten, schlecht. Der
britische Erfolg und die Misserfolge des italienischen Bundesgenossen
zwangen die Deutschen, sich den Dingen in Südosteuropa und dem Balkan
zuzuwenden. Dahinter stand natürlich bereits die Absicht, Russland zu
überfallen, wozu Voraussetzung war, des Balkans sicher zu sein.
So folgten sich die Ereignisse abermals Schlag auf Schlag. Im März 1941
besetzten die Deutschen Bulgarien, ohne Widerstand zu finden. Nun begann
ihre politische Tätigkeit gegen Ungarn und Südslawien. In Ungarn nahm sich
Ministerpräsident Teleki das Leben, als er sah, dass sein Land den Deutschen
verfallen werde. In Jugoslawien unternahmen in letzter Stunde Offiziere einen
Staatsstreich gegen den Prinzregenten Paul, der das Land der Achse
ausgeliefert hatte. Hitler antwortete darauf mit dem Einmarsch seiner Armeen,
diese warfen in wenigen Wochen das Land nieder. Darauf eilten die Deutschen
den Italienern in Griechenland zu Hilfe und erzwangen Ende April
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S. 88:
1941 dessen Kapitulation. Gleichzeitig besiegte das Afrikakorps des Generals
Rommel die Briten in Nordafrika und warf sie bis an die ägyptische Grenze
zurück. Zum vierten Male seit dem Kriegsausbruch schienen die deutschen
Waffen zu beweisen, sie seien unwiderstehlich.
Noch ist nicht abgeklärt, ob der deutsche Balkanfeldzug vom Frühjahr 1941
nicht eine grosse Improvisation gewesen ist, Hitler durch die Entwicklung
aufgezwungen, während er gehofft hatte, sich in dieser Ecke Europas ohne
Kampf durchsetzen zu können und so Zeit zu gewinnen für den gegen
Russland beschlossenen Krieg. Jedenfalls zeichnete sich im Frühjahr 1941 eine
vermehrte deutsche Reizbarkeit und Nervosität ab, die wir in der Schweiz
deutlich zu spüren bekamen. Als ein paar schweizerische Zeitungen sich
bewundernd und zustimmend zum jugoslawischen Offiziersputsch und zum
serbischen Widerstandswillen äusserten, reagierte das deutsche Auswärtige
Amt ungewöhnlich scharf. Die Schweizer Presse wurde an der Berliner
Pressekonferenz gehörig abgekanzelt, und auf offiziellen wie inoffiziellen
Wegen wurde dem Bundesrat von Berlin aus bedeutet, er könne sich eines
Tages bei «seinen Zeitungen» bedanken, wenn Hitler aus Wut über deren
Schreibweise den Krieg gegen die Schweiz befehlen sollte.
Die deutschen Angriffe auf die Schweizer Presse hatten zur Folge, dass die
Frage bei uns aufs neue diskutiert wurde, wie sich die Presse angesichts der
deutschen Macht zu verhalten habe. Natürlich bestand eine gewisse Kontrolle:
Die Zeitungsredaktionen mussten sich an bestimmte Verhaltungsmassregeln
halten. Kümmerte sich ein Blatt nicht um sie, so konnten Massnahmen gegen
es ergriffen werden, die von der wiederholten Verwarnung bis zum
S. 89:
Verbot reichten. Es gab indessen eine Gruppe von Schweizern, denen diese
Regelung viel zu wenig weit ging. Es gelang massgebenden deutschen Stellen,
auf einige führende Köpfe dieser Gruppe Einfluss zu bekommen. Es entstand
aus dieser vielfach verflochtenen Inspiration jene Eingabe an den Bundesrat,
die später als «Eingabe der Zweihundert» bekannt geworden ist und in der
unmittelbaren Nachkriegszeit eine Rolle gespielt hat. In dieser Eingabe war,
zuerst im Winter 1940 auf 1941 und nochmals während den
Auseinandersetzungen beim deutschen Einmarsch in Jugoslawien u.a. verlangt
worden, führende Zeitungsredaktoren grosser Schweizer Blätter abzusetzen
und das Presseregime wesentlich zu verschärfen.
- 61 -
Der Bundesrat lehnte diese von rund 200 Stimmberechtigten unterzeichnete
Eingabe ab. Sie geriet erst nach dem deutschen Zusammenbruch in die
allgemeine öffentliche Diskussion, als leidenschaftlich über die
nationalsozialistischen Einflussversuche der Kriegszeit diskutiert wurde. Die
Eingabe der Zweihundert - von der später Alt-Chefredaktor Dr. Schürch
schrieb, sie sei an und für sich nicht unrecht gewesen, habe aber Unrechtes
verlangt - war bezeichnend für die innere Auseinandersetzung über das Mass
dessen, was an Konzessionen möglich war, ohne dass die Würde des Landes
verletzt wurde, und ohne dass wir mit solchen Konzessionen einem raffinierten
System der Zersetzung von innen her einen kleinen Zipfel boten, den es
ergreifen und mit dem es schliesslich das Ganze packen konnte.
Der Krieg im Balkan verschlechterte die Versorgungslage der Schweiz spürbar.
Südosteuropa war für uns ein wichtiges Tauschgebiet gewesen. Wir bezogen
von dorther Schlachtvieh, Futtermittel und Getreide. Jetzt hatten die Deutschen
darauf gegriffen. Freilich bestand seit Ende
S. 90:
Februar ein umfangreiches Handelsabkommen zwischen der Schweiz und der
Sowjetunion. Es blieb aber wegen der Transportschwierigkeiten auf dem
Papier. Daher mussten jetzt weitere Lebensmittel in die Rationierung
einbezogen werden, im Mai 1941 wurden zwei fleischlose Tage in der Woche
verfügt. Im November kam ein dritter dazu. Gleichlaufend mit der schärferen
Rationierung wurden die Strafen gegen kriegswirtschaftliche Sünder
verschärft. Wirtschaftlich begann der Krieg jetzt für uns empfindlich zu
werden. Indessen: der Krieg im Südosten und im Balkan war nur Vorspiel. Der
Hauptschlag folgte erst noch: In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni
überschritten Hitlers Truppen die deutsch-russische Grenze. Der «Führer» hatte
seinen fünften überfall befohlen. Er wollte Napoleon verbessern. Alles
Entgegenkommen hatte Stalin nichts gefruchtet. Die furchtbare deutsche
Kriegsmaschine wandte sich jetzt gegen das russische Volk. Hitler hatte sich
aber einen Gegner ausgelesen, der das gesamte deutsche Kriegspotential in
Anspruch nahm, er lief in einen Raum hinein, dessen unheimliche und
verhängnisvolle Weite sich ihm noch bald genug offenbarte. Die Wendung
zum eigentlichen Weltkrieg war eingetreten. Sie brachte für die Schweiz neue
politische und wirtschaftliche Probleme, aber zugleich entspannte sie die
militärische Lage.
- 62 Verfolgen wir den Gang der äussern Ereignisse bis Ende 1941. Der deutsche
Feldzug gegen Russland wickelte sich zunächst mit jener Präzision ab, die man
bereits gewohnt war: Die Russen wurden geschlagen und wichen in die
Unendlichkeit ihres Raumes aus. Die deutschen Heere gelangten bis hart an
Moskau heran. Dort kam ihr Angriff zum Stehen, der russische Winter breitete
sich über die
S. 91:
Eindringlinge aus. Die gewaltigen deutschen Anfangserfolge hatten indessen
vermocht, in Japan die Kriegspartei an die Macht zu bringen. Wenn die Welt
neu verteilt werden sollte, so wollten die japanischen Nationalisten mit von der
Partie sein. Sie kopierten die deutschen Methoden bis ins letzte: Am 7.
Dezember 1941 überfielen sie den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl
Harbour auf den Hawaiinseln. Damit zwangen sie den Vereinigten Staaten den
Krieg auf, den das amerikanische Volk zu vermeiden versucht hatte. Hitler
musste den japanischen überfall mit der Kriegserklärung an Amerika
quittieren. Jedermann, der die Ereignisse mit wachem Verstand verfolgte,
wusste jetzt, dass es nur noch einen Frieden gab, wenn die eine oder die andere
Seite kapituliert hatte.
Für die militärische Bereitschaft der Schweiz, wie wir bereits sahen, bedeutete
der Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Russland eine Entlastung. Die
Deutschen hatten jetzt andere militärische Sorgen, als den schweizerischen
Alpenwall zu stürmen. Schon im Juli 1941 begann daher die Entlassung von
Truppen. Bis Ende des Jahres standen nur noch rund 70'000 Mann unter den
Fahnen. Es wurde ein Ablösungsturnus ausgearbeitet, der der Wirtschaft höchst
willkommen war, und bei dem die Auszugsund Landwehreinheiten
durchschnittlich einmal im Vierteljahr für die Dauer von fünfwöchigen
Diensten aufgeboten wurden. Dabei wurde unterschieden zwischen
Ausbildungs- und Bewachungsdiensten. In den ersten übte sich die Truppe im
Kampfverfahren, das ununterbrochen gemäss den Erfahrungen auf den
Kriegsschauplätzen verbessert wurde, während die Bewachungsdienste der
Sicherheit der Verbindungswege, der Flugplätze und anderer wichtiger
Anlagen dienten. Der Wehrmann hatte wieder
S. 92:
Zeit, Zivilist zu sein. Die Industrie fand die Arbeiter, die die Rüstung brauchte,
und der Bauer verwirklichte in überaus strenger Arbeitszeit den Anbauplan.
Die Versorgungslage verschlechterte sich rasch, seit Amerika in den Krieg
eingetreten war und seit sich der russische Feldzug für die Deutschen zum
- 63 gewaltigen, alles verschlingenden Moloch auszuwachsen begann. Im März
1942 wurde das Fleisch rationiert, und im Juli des gleichen Jahres musste sogar
während vierzehn Tagen der Verkauf von Fleisch in der ganzen
Eidgenossenschaft gesperrt werden. Schärfer als zuvor wurde gegen
Schwarzhändler durchgegriffen. Mit dem Mangel stiegen (obgleich es eine
Preiskontrolle gab) die Preise, und damit gerieten die Löhne ins Hintertreffen.
In der Septembersession 1941 fand im Nationalrat eine erste, grosse LohnPreis-Debatte statt. Härten waren nicht zu vermeiden, aber eigentliche
Ungerechtigkeiten konnten verhindert werden. Dennoch begriff man nicht
überall den Ernst der Lage. Als im September 1942 Beamte der
eidgenössischen kriegswirtschaftlichen Stellen aus Bern in Steinen im Kanton
Schwyz Schwarzschlächter festnehmen wollten, erhob sich die Bevölkerung
gegen sie. Trotz allem wich mit dem militärischen Druck der Druck von den
Gemütern. Das kam dem Festsommer 1941 zugute, als in Schwyz und auf dem
Rütli der 650. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft gefeiert wurde.
Das würdige Fest spielte sich in zwei Tagen ab. Es half in diesem Augenblick
mit, einen wichtigen Zweck zu erreichen: Das Volk zur Besinnung auf sich
selbst zu bringen. Man darf die Zeit zwischen dem Ausbruch des
deutschrussischen Krieges und den Entscheidungsschlachten von EI Alarnein
und Stalingrad als eine Einheit betrachten.
S. 93:
Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Belastung, die sie für die
innere Front bedeuteten, gesellten sich vom Winter 1941 auf 1942 zwei neue
Probleme: Die Umtriebe der verschiedensten nationalsozialistischen
Schweizerbünde, die ihren Standort nach Deutschland verlegt hatten, nahmen
in hohem Umfange zu. Sie waren jetzt ungeschminkt begleitet von eigentlichen
landesverräterischen Handlungen und offenem militärischem Verrat. Im Juni
1942 verlangte ein Interpellant im Nationalrat, es seien Landesverräter den
schärfsten Strafen zu unterstellen. Er forderte damit, dass für Landesverrat, wie
es im Militärstrafrecht für den Aktivdienst vorgesehen war, künftig die
Todesstrafe angewendet werden sollte. Der Bundesrat erliess darauf im August
verschärfte Strafbestimmungen. Bereits am 26. September 1942 verurteilte das
Divisionsgericht 8 zwei Fouriere wegen Landesverrats zum Tod durch
Erschiessen. Das Urteil wurde vollstreckt. Bis zum Kriegsende sind im ganzen
16 Landesverräter erschossen worden. Diese Zahl sagt ein Doppeltes aus: Sie
gibt Auskunft darüber, was für Anstrengungen Hitler unternahm, um die
Schweiz militärisch auszuspionieren,
- 64 -
und sie beweist, bis zu welchem Grad die Entschlossenheit in der Schweiz
gewachsen war, wenn die Todesstrafe wieder angewendet wurde, auf die das
Strafgesetzbuch verzichtet hatte.
Ein Problem anderer Art bildeten die Flüchtlinge. Bis zum Kriegsausbruch
waren aus Deutschland zahlreiche, meist jüdische Flüchtlinge nach der
Schweiz entkommen. Der Krieg unterbrach zunächst diese Entwicklung. Dann
setzte sie sich in neuer Form fort. Seit dem Winter 1941, der die ersten
Rückschläge der Deutschen in Russland gebracht hatte, begann zuerst zaghaft,
nachher immer spür-
S. 94:
barer der Widerstand der Bevölkerung in den besetzten Ländern gegen die
Besetzungsmacht. Er nahm die verschiedensten Formen an und entwickelte
sich zu einer Schraube ohne Ende. Auf jede Widerstandsaktion erwiderten die
Deutschen mit Gegenmassnahmen, und diese riefen neuem Widerstand. Als
vom Herbst 1942 an ganz Frankreich besetzt wurde und die Besetzungsmacht
anfing, französische Arbeiter für die Arbeit in Deutschland zu suchen und mit
mehr oder weniger Zwang anzuwerben, beschlossen manche zu fliehen.
Andere wiederum mussten fliehen, sei es als Menschen jüdischer Herkunft, sei
es, dass sie sich des Widerstandes gegen die Besetzungsmacht schuldig
gemacht hatten. - Aber auch aus andern Gegenden Europas begann ein Fliehen
nach dem neutralen schweizerischen Eiland: Alliierte Gefangene entkamen aus
Deutschland. Deportierte oder zur Deportation Verurteilte schlugen sich zur
Schweizergrenze durch.
Der Bundesrat verschärfte im August die Massnahmen gegen die illegalen
Grenzübertritte. Er tat es aus verschiedenen Erwägungen: Jeder Flüchtling war
ein neuer Esser, er brachte Schwierigkeiten für die Unterkunft und
Schwierigkeiten diplomatischer Art mit den Herren Europas. Und wer würde
einst für die Kosten aufkommen, die er verursachte? Die Zurückhaltung war
vielleicht erklärbar, aber sie ging oft zu weit und liess gelegentlich einen
befremdenden Polizeigeist durchblicken. Jedenfalls widersetzte sich die
öffentliche Meinung entschieden einer zu brüsken Ordnung gegenüber diesen
Gehetzten. Der Bundesrat milderte schon im September die ursprünglichen
Massnahmen und gab im Nationalrat eine Erklärung zum Grundsätzlichen des
Flüchtlingswesens ab. Bestraft wurden nun vor allem gewisse gewerbsmässig
betriebene Ver-
- 65 -
S. 95:
suche, Flüchtlingen zum Grenzübertritt zu verhelfen. Die Zahl der Flüchtlinge
betrug Ende September 1942 noch nicht ganz 12'000. Sie stieg später, wie wir
sehen werden, im Verlauf der Ereignisse noch beträchtlich.
Der Winter 1942 auf 1943 brachte den Umschwung auf den
Kriegsschauplätzen. Abermals änderte sich die Lage der Schweiz. Vorbote
dafür, dass die Dinge im Osten allmählich zu Ungunsten der Achse
umschlugen, und damit der Westen wieder wichtiger zu werden begann, war
die gesteigerte Spionagetätigkeit gegen unser Land und die neue Nervosität der
deutschen Stellen gegenüber der Schweizer Presse. Im Oktober 1942 liess sich
der Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin zur Bemerkung hinreissen, nach
dem Siege werde die deutsche Führung die schweizerischen Zeitungsschreiber
in die Steppen Asiens verbannen!
Vorläufig tobte allerdings in diesen «Steppen Asiens» noch ein Krieg auf Tod
und Leben. Hitlers Heere waren bis Stalingrad vorgedrungen. Vor dieser Stadt
wurde im Spätherbst 1942 der deutsche Angriff aufgehalten. Nun holten die
Russen zum gewaltigen Gegenschlag aus. In der Winterschlacht um Stalingrad,
die sich vom Dezember 1942 bis zum Februar 1943 hinzog, siegte die Rote
Armee. Viele Tausende deutscher Soldaten samt ihrem Marschall und ihren
Generälen wanderten in russische Kriegsgefangenschaft. Ebenso viele waren
umgekommen. Hitler hatte seine erste, vernichtende Niederlage erlitten. Sie
wirkte sich um so empfindlicher aus, als gleichzeitig der Rückschlag in
Nordafrika nicht mehr aufzuhalten war. Noch im Herbst 1942 schien der
Zeitpunkt angetreten, da das deutsche Afrikakorps bis Ägypten vordringen
würde. England machte die schwerste Krise seit Kriegsbeginn durch,
S. 96:
zumal es im Fernen Osten, durch den Fall von Singapore, eine
aufsehenerregende Niederlage erlitten hatte. Da begann Ende Oktober 1942
Montgomerys Gegenoffensive in Nordafrika. In der Schlacht von El Alamein
schlug er das deutsche Afrikakorps. Zugleich landeten die Amerikaner in
Marokko, wo grössere Teile der nordafrikanischen, französischen Truppen zu
den Alliierten übergingen. Italiener und Deutsche räumten Afrika. Der Sprung
nach Italien war offen. Das Kriegsglück hatte sich gedreht.
Damit veränderte sich abermals die strategische Lage der Schweiz. Seit dem
Herbst 1942 hatte sich das bereits angekündigt, denn die Verletzung des
neutralen schweizerischen Luftraumes,
- 66 -
vornehmlich durch englische Luftgeschwader, die sich nach Italien und Afrika
begaben, nahm ununterbrochen zu. Jetzt, im März 1943, als die Deutschen in
Russland den Rückzug antraten, die nordafrikanische Front zu wanken begann,
die Balkanpositionen mit einem Schlag unsicher schienen, die Kriegslust des
italienischen Bundesgenossen rapid abnahm, wuchs die Gefahr eines deutschen
Handstreiches gegen die Schweiz. Die Alpenverbindungen waren jetzt für
Adolf Hitler doppelt wichtig. Alle seine Positionen wankten. Musste es da für
die deutsche Kriegsführung nicht verlockend sein, sich des schweizerischen
Zentralmassivs zu bemächtigen? In bezug auf die zum Unternehmen
notwendigen Truppen konnten die Deutschen einen solchen überfall durchaus
noch wagen, eben erst hatten sie neue Jahrgänge ausgehoben, ausgerüstet und
gedrillt. Russland hatte sie unerhört geschwächt, aber immer noch waren sie zu
fürchten.
Dem Bericht des Generals kann entnommen werden, dass damals in der
deutschen Heeresleitung tatsächlich eine «Aktion Schweiz» erwogen worden
ist. Die beiden
S. 97:
wichtigen Linien des Nachrichtendienstes der Armee, von denen die eine in das
Führerhauptquartier selbst hineinreichte, während die andere mit einem andern
Zweig des komplizierten deutschen Nachrichtenapparates Verbindung hatte,
meldeten in der zweiten Märzhälfte 1943 übereinstimmend, die «Aktion
Schweiz» stehe unmittelbar bevor. Bereits um den 22. März herum war
indessen der Gedanke von Hitler wieder fallen gelassen worden. Die Aktion
war immerhin so weit gediehen gewesen, dass die deutschen Truppen für sie
bereitgestellt, die Kommandoübertragungen geregelt worden waren.
Die Spannung jener Tage und eine bestimmte Massnahme des Generals haben
nach dem Krieg Anlass zu grösseren polemischen Auseinandersetzungen
geboten. Der Chef des Nachrichtendienstes unserer Armee, Oberst Masson,
nahm im Frühjahr 1943 mit dem deutschen SS-General Schellenberg mit
Wissen des Generals direkte Verbindungen auf. Schellenberg erwähnte bei
einer Besprechung, eine Aktion könnte von der deutschen Armeeleitung
hauptsächlich dann gegen die Schweiz beschlossen werden, wenn die
deutschen Stellen kein Zutrauen haben könnten, dass die Schweizer
entschlossen seien, sich nach allen Richtungen, also auch gegenüber einem
allfälligen Angriff der Alliierten, zu verteidigen.
- 67 Schellenberg regte an, ob nicht General Guisan ihm zuhanden Hitlers eine
Erklärung abgeben könnte, in der der unbedingte und nach allen Seiten hin
wirksame Verteidigungswille der Schweiz ausgedrückt wäre. Damit würde es
möglich sein, das deutsche Oberkommando vom vorbehaltlosen
schweizerischen Neutralitäts- und Verteidigungswillen zu überzeugen. General
Guisan beschloss darauf, Schellenberg zu empfangen. Auf einer
Zusammenkunft im «Bären» zu
S. 98:
Biglen im Emmental gab er ihm die gewünschte Erklärung ab. Es ist nie
abgeklärt worden, ob dieser Schritt tatsächlich die erhoffte Wirkung gehabt hat.
Jedenfalls wurde die «Aktion Schweiz» im März 1943 abgeblasen. Die
Meinungen darüber aber, ob der General recht getan hatte, sich mit
Schellenberg einzulassen, blieben geteilt. Der Zwischenfall bewies, wie sehr
die Schweiz ins Blickfeld der internationalen Politik und Strategie gerückt war.
Der Zeitabschnitt, der mit dem März 1943 begann, erstreckte sich bis zur
Landung alliierter Truppen in Nordfrankreich im Juli 1944. Es stellten sich
dem Land keine neuen Probleme, wohl aber verschärften sich die alten. Der
Zusammenbruch des faschistischen Regimes in Italien im Juli 1943 liess den
Flüchtlingsstrom nach der Schweiz rasch ansteigen. Dabei ergab sich als neues
Problem, dass nun darauf geachtet werden musste, keinen Personen Asyl zu
gewähren, die von den Alliierten als Kriegsverbrecher verfolgt wurden. Die
Schweiz hatte ein moralisches und ein politisches Interesse daran, klar zum
Rechten zu sehen, um von vornherein ausländische Zumutungen zu vermeiden.
Schon im Sommer 1943 hatten nämlich die Alliierten in einer Note darauf
aufmerksam gemacht, sie würden es nicht hinnehmen, falls führende
Persönlichkeiten des Faschismus oder des Nationalsozialismus in der Schweiz
als Flüchtlinge aufgenommen würden. Der Bundesrat lehnte es in seiner
Antwortnote entschieden ab, den freien und souveränen Entscheid der Schweiz
über diese Dinge zur Diskussion stellen zu lassen. Er war indessen
entschlossen, keinem Unwürdigen Asyl zu gewähren. Trotzdem ging es nicht
ganz ohne Schönheitsfehler ab. Es gelang nämlich, unter grösstem Befremden
der breiten schweizerischen Öffentlichkeit, Mussolinis Tochter, der Gräfin
S. 99:
Edda Ciano, der politisierenden Gattin des italienischen Aussenministers, nach
der Schweiz zu entkommen. Aus Courtoisie, die der Frau galt, liessen sie die
Behörden in das Land. Es bedurfte der entschiedenen und geschlossenen
Ablehnung dieser Asylgewährung durch die Schweizer Presse,
- 68 -
um zu erreichen, dass die Ciano das Land wieder verlassen musste. - Anfang
Oktober 1943 betrug die Zahl der Flüchtlinge und Internierten rund 61'000. Sie
stieg bis zum Mai 1944 auf 75'000 und hatte gegen das Kriegsende 100'000
überschritten. Die Organisation, die die militärischen Internierten betreute, war
in mancher Hinsicht improvisiert, und sie litt unter dem Mangel an geeignetem
Personal. Das Ende der Internierung brachte einen Skandal. Es kam aus, dass
beträchtliche Summen veruntreut worden waren. Die Verantwortlichkeiten
waren unexakt geregelt. So gab es Untersuchungen, Prozesse und
militärgerichtliche Urteile. Der Internierungsskandal warf einen Schatten auf
das sonst makellose Bild des Aktivdienstes von 1939 bis 1945.
Besonders schwierig gestaltete sich mit der wachsenden Desorganisation
Europas die schweizerische Versorgungslage. Noch vermochten zwar die
Deutschen zu liefern, aber sie verlangten dafür Gegenleistungen. Gerade diesen
gegenüber wiederum waren die Alliierten mit zunehmendem Misstrauen
erfüllt. Der Krieg kostete sie ungeheure Opfer an Gut und Blut. Sie wurden hart
und hatten Mühe, die schweizerische Lage verständnisvoll zu würdigen. Sie
sahen auch, dass durch die schweizerische Lücke den Deutschen
ununterbrochen Waren zugingen, die sie diesen sonst überall gesperrt hatten.
Die Lage unserer Unterhändler gestaltete sich heikel. Diese konnten allerdings
darauf hinweisen, dass der Umfang der schweizerischen Lieferungen
S. 100: an Deutschland höchstens ausreichte, um die deutsche Wirtschaft für 14 Tage
zu versorgen, so dass er zur Stärkung des deutschen Widerstandes praktisch
nicht ins Gewicht fiel. Auch betonten sie, dass die Selbsterhaltung der Schweiz
im Interesse der Alliierten lag. Schliesslich brachten sie das Kunststück fertig,
von den Deutschen die Zustimmung dafür zu bekommen, dass wir den
Alliierten durch das deutschbesetzte Ausland hindurch gewisse
Präzisionsinstrumente unserer Uhrenindustrie liefern durften, die jene für die
Kriegsführung nötig hatten. Diese Lieferungen vergalten uns die Alliierten mit
Brotgetreide.
Eine Hauptwaffe der Alliierten gegen uns bildeten die «Schwarzen Listen».
Auf diese setzten sie neutrale, also auch schweizerische Firmen, von denen sie
wussten, dass sie nach Deutschland lieferten. Solche Firmen sollten auch nach
dem Krieg von den Ländern der Allianz als Lieferanten nicht mehr
berücksichtigt werden.
- 69 -
Es gelang dem Bundesrat, sich mit Erfolg für die betroffenen Firmen
einzusetzen.
Die Schwierigkeiten der Ernährung und der Versorgung mit Rohstoffen und
Energie nahmen indessen unaufhaltsam zu. Die Rationen wurden weiter
gekürzt. Im Februar 1944 richtete Bundespräsident Stampfli einen Appell an
die Arbeitgeber und ermahnte sie, sich ihrer Solidarität mit der Arbeiterschaft
bewusst zu bleiben, sie sollten alles tun, damit Einschränkungen der Arbeit, die
wegen des Mangels an Strom oder Material eintreten konnten, ohne soziale
Härten vor sich gingen. In einer ähnlichen Kundgebung der Kommissionen der
eidgenössischen Räte wurde im Juni erklärt, das Kriegsende werde zugleich der
Schweiz die grössten Schwierigkeiten bringen, die sie im Krieg überhaupt zu
bewältigen gehabt hatte.
S. 101: Eine einigermassen befriedigende Lösung aller offenen Fragen der Wirtschaft
und der Versorgung wurde erst in einem umfassenden Abkommen mit England
und Amerika Mitte August 1944 erzielt. In diesem Abkommen anerkannten die
Alliierten die besondere Lage der Schweiz und billigten uns ein Mindestmass
von Lieferungen, selbstverständlich im Tausch gegen Schweizer Produkte, zu.
Das Abkommen brachte der Schweiz keine Fülle, aber eine gewisse
Möglichkeit zum Disponieren.
Die Feststellung der eidgenössischen Kommissionsherren, das Kriegsende
werde erst noch die grössten Schwierigkeiten bringen, hatte am l. April 1944
eine furchtbare Bestätigung auf Vorschuss erhalten, als amerikanische Bomber
die Stadt Schaffhausen am heiterhellen Tag bombardierten. Schöne alte Häuser
und wertvolle Kunstschätze wurden zerstört, und über hundert Menschen
kamen ums Leben. Die Bombardierung von Schaffhausen ist der grösste
Kriegsschaden, den die Schweiz im zweiten Weltkrieg erlitten hat.
Die Fliegertätigkeit hatte über der Schweiz, wie wir früher gesehen haben, seit
1942 beständig zugenommen. Zu den Überfliegungen gesellten sich bald
zahlreiche irrtümliche Bombenabwürfe. Im April 1943 wurde Zürich
bombardiert, im Juli Gebiete des Berner Oberlandes, im September Gegenden
in Graubünden. Die Zahl der Abschüsse durch unsere Fliegerabwehr, der
Notlandungen und irrtümlichen Landungen, später vornehmlich grosser
amerikanischer Bomber, nahm zu. Damit wuchs auch die bunte Auswahl der
Nationalitäten in unseren Internierungslagern.
- 70 Das wichtigste innenpolitische Ereignis des vorletzten Kriegsabschnittes waren
die Nationalratswahlen vom Ok-
S. 102: tober 1943. Es waren die zweiten Kriegswahlen. Sie brachten einen Ruck nach
links. Die sozialdemokratische Gruppe des Nationalrates stieg um 9 Mandate
auf 54 Sitze, womit diese Fraktion die stärkste des Nationalrates geworden war.
Als darauf im November der Chef des Eidgenössischen Finanzdepartements,
der Zürcher Dr. Ernst Wetter, aus dem Bundesrat zurücktrat, wählte die
Bundesversammlung als seinen Nachfolger den Sozialdemokraten Ernst Nobs.
Mit ihm zog der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat ein. Seine Wahl darf
man in die Reihe jener Zeugnisse einreihen, die Ausdruck des Gefühls dafür
waren, dass die grössten Schwierigkeiten erst noch zu erwarten waren, die
parteipolitische Verbreiterung der Zusammensetzung des Bundesrates schien
geboten.
Am 9. Juli 1943 waren die Alliierten in Italien gelandet. Ein Jahr später, am 6.
Juni 1944, begannen ihre Landungsoperationen in Frankreich. Der zweite
Weltkrieg war in seine letzte Phase eingetreten.
Was für alle zivile Gebiete galt, dass zunächst das Kriegsende die
Schwierigkeiten unserer Lage erst recht offenbaren werde, galt für das
militärische Gebiet nicht weniger. Es lag durchaus im unberechenbaren und
heimtückischen Charakter des deutschen Diktators, sich ob den bergsturzhaft
hereinbrechenden Misserfolgen zu Kurzschlusstaten hinreisen zu lassen, die
nicht mehr nach dem Sinn des Geschehens fragten, sondern bloss mehr von den
Gefühlen der Rache und der Vernichtung ausgelöst waren. Trotz unerhörten
Niederlagen war die deutsche Kriegsmacht immer noch ein fürchterliches
Instrument. Das bekam im März 1944 Ungarn zu spüren, als es versuchte, den
Anschluss an den Westen zu finden. Hitler überfiel den Verbündeten von
gestern blitzartig. Reichsverweser Horty
S. 103: wurde in ein deutsches Konzentrationslager entführt. Ungarn parierte.
Wahrhaftig, zur Sorglosigkeit war kein Anlass!
Als die Invasion des Kontinentes durch die alliierten Heere am 9. Juli 1944
begann, wollte der General die Generalmobilmachung der Armee verfügen.
Dies sollte, nach innen wie nach aussen, eine ernste Demonstration des
schweizerischen Wehrwillens sein. Der Bundesrat lehnte aus finanziellen und
wirtschaftlichen Erwägungen die Generalmobilmachung ab.
- 71 -
Es kam ob der Beurteilung der Lage zu Differenzen zwischen Bundesrat und
General, bei denen sich der Wille des Bundesrates durchsetzte, die
Generalmobilmachung unterblieb.
Die Invasion der Alliierten machte rasche Fortschritte, die offenbarten, dass
nun auch die innere deutsche Front erschüttert war. Am 20. Juli 1944 kam es in
Deutschland zu einem Aufstandsversuch. Er misslang. Hitler war entschlossen,
das ganze Volk in seinen Sturz mitzureissen. In Russland, im europäischen
Osten und in Frankreich waren die deutschen Heere auf dem Rückzug, zum
Teil auf der Flucht. Abermals näherte sich der Krieg, wie im Jahr 1940, der
schweizerischen Westgrenze, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Nun waren
die Deutschen auf dem Rückzug und die Alliierten in mächtigem Ansturm
hinter ihnen her. General und Bundesrat vermehrten die Zahl der aufgebotenen
Truppen. Im September 1944 ordnete der Bundesrat die
Teilkriegsmobilmachung der Grenztruppen an. Dazu rückten Feldtruppen ein.
Bis zum 5. September standen fünf Auszugsdivisionen unter den Fahnen,
vornehmlich im Nordwestjura und in der Ajoie. Näher und näher rückte der
Krieg. Ende September stiessen bei Damvant in der Ajoie die Fronten
zusammen: Von einem schweize-
S. 104: rischen Beobachtungsturm unmittelbar hinter dem Grenzstacheldraht aus
konnte man linker Hand die französischen, rechter Hand die deutschen
Vorpostierungen beobachten, während sich diese beiden, getrennt durch ein
Minenfeld, selbst nicht sehen konnten. Die schweizerischen Truppen hatten
den Auftrag, jeden Versuch der einen oder andern Seite, den Gegner durch
schweizerisches Gebiet zu umgehen, zu verhindern.
Bereits bereiteten die Alliierten den nächsten Stoss, Richtung Mülhausen und
den Rhein, vor. Tag und Nacht grollte der Kanonendonner, und die
schweizerischen Bataillone standen in jenen Novembertagen während drei
Wochen in dauernder Alarmbereitschaft. Mehr als einmal schlugen Granaten
der alliierten Artillerie in die schweizerischen Stellungen ein. Mitte November
wurde ein rekognoszierender Hauptmann bei Damvant erschossen. Am 16.
November begann die Offensive der Franzosen und Amerikaner gegen die
Burgundische Pforte. Die schwachen deutschen Stellungen wurden überrannt.
- 72 -
Nun waren es die Reste aufgeriebener deutscher Regimenter, die im Pruntruter
Zipfel auf Schweizer Gebiet übertraten, entwaffnet und interniert wurden.
Mitte Dezember erreichten die Alliierten den Raum von Mülhausen. Es dauerte
noch bis zum März 1945, bis sie den Rhein überschritten. Der Krieg war
entschieden.
Die letzte Kriegsphase hat dem Land indessen auch schwierige politische
Probleme gebracht. Sie waren aussenpolitischer Art. Mit einemmal schien es
nämlich, als ob die schweizerische Neutralität draussen, auf dem Welttheater,
nichts mehr gelten sollte. Deutlich liessen uns die Sieger spüren, neutral
gewesen zu sein, habe ein verächtliches Geschmäcklein an sich. Es zeigte sich
überdies, dass
S. 105: das Ausland sich keine rechte Vorstellung von unserer wirklichen Lage zu
machen vermochte. Die Schweiz erfuhr in zwei Fällen, mit was für schlechten
Noten man sie bedachte: Zuerst, als sie den Versuch machte, mit der russischen
Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, und
nachher bei den Verhandlungen mit der sogenannten Currie-Mission der
westlichen Alliierten vom Februar und März 1945.
Die Frage, ob die Schweiz nicht versuchen sollte, mit Russland den
diplomatischen Verkehr neu aufzunehmen, der 1918 abgerissen war, war
bereits in der Vorkriegszeit diskutiert worden. Als indessen Russland 1939 als
verbündete Macht an die Seite des nationalsozialistischen Deutschland trat,
stellte man diese Frage, als zu heikel, wieder in den Hintergrund. Erst nach
dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges wurde das Problem von neuem
aktuell. Im März 1944 nahm der Bundesrat ein Postulat im Nationalrat
entgegen, in dem die Wiederaufnahme des diplomatischen Verkehrs mit
Russland verlangt worden war. Es begannen Sondierungen, die dem Bundesrat
aussichtsreich schienen. Da teilte am 5. November 1944 die Sowjetunion der
Welt brüsk mit, sie denke nicht daran, mit der Schweiz in diplomatische
Beziehungen zu treten. Wenige Tage nach dieser sensationellen Wendung
demissionierte der Chef des Eidgenössischen Politischen Departements,
Bundesrat Pilet. Er sah den Fall für so ernst an, dass er sich entschloss, diese,
für schweizerische Verhältnisse ungewöhnliche Konsequenz zu ziehen.
- 73 -
Mit Bundesrat Pilet schied die am meisten angefochtene Gestalt der
schweizerischen Politik des zweiten Weltkrieges aus dem Bundesrat aus. Es
folgte auf ihn Ende 1944 der Neuenburger
S. 106: Max Petitpierre, dem es später gelang, die Beziehungen mit der Sowjetunion
wieder herzustellen.
Russlands Weigerung hatte im In- und Ausland sensationell gewirkt. Man
deutete sie dahin, sie beweise, wie einsam die neutrale Schweiz geworden sei,
und man prophezeite dem einsamen Land für die Friedenszeit wenig Gutes.
Glücklicherweise haben sich diese Propheten getäuscht.
Bedeutsam, und in ihren Auswirkungen bis in die Nachkriegszeit
hineinreichend, waren die Wirtschaftsverhandlungen, die am 12. Februar 1945
in Bern mit einer englisch-amerikanisch-französischen Delegation begannen,
an deren Spitze der Amerikaner Currie und der Brite Dingle M. Foot standen.
Den Hauptgegenstand der Verhandlungen bildeten die deutschen Guthaben in
der Schweiz, die die Alliierten für ihre Reparationsansprüche sicherstellen
wollten. Ferner behaupteten die Verbündeten, es befinde sich Gold in der
Schweiz, das von den Deutschen im besetzten Ausland gestohlen worden und
der Schweiz verkauft worden sei. Es sollte sich dabei vornehmlich um
französisches und holländisches Staatsgold handeln. Endlich bezogen sich die
Verhandlungen auf die weitere Versorgung der Schweiz mit Rohstoffen und
Lebensmitteln, denn wenn auch abzusehen war, dass der Krieg in Europa über
kurzem zu Ende gehen musste, so dauerte doch der Krieg im Fernen Osten
noch an.
Was den ersten Teil der Verhandlungen mit der Currie-Mission anbelangt, der
sich auf die deutschen Guthaben und das Raubgold bezog, so wurden deren
Gegenstände später wieder aufgegriffen und führten schliesslich zum heiss
umstrittenen Abkommen von Washington. Dagegen gelang es den
schweizerischen Unterhändlern, in bezug
S. 107: auf die Landesversorgung günstige Ergebnisse zu erzielen. Das Wichtigste an
jenen Berner Besprechungen war es, dass mit ihnen überhaupt zum erstenmal
seit Kriegsausbruch der unmittelbare, menschliche Kontakt mit den westlichen
Alliierten hergestellt werden konnte und diese sich ein Bild über unsere
tatsächliche Lage zu machen vermochten. Die Delegationsteilnehmer
besuchten das Réduit, sie liessen sich den Mehranbau darlegen - und sie
- 74 erhielten durch neue Bombardierungen von Basel, Zürich und weitem Orten in
der Ostschweiz, verschuldet von amerikanischen Luftgeschwadern, ein
anschauliches Bild davon, dass auch das schweizerische Eiland in der
Gefahrenzone des Krieges lag. Der Bann um die nichtverstandene neutrale
Schweiz zerbrach. Der englische Delegationschef Dingle Foot äusserte sich
sogar, er begreife nun, dass die Neutralität für die Schweiz die gleiche
politische Bedeutung habe wie die Freiheit der Meere für Englandl
Die Agonie des Nationalsozialismus zog sich noch bis zum 8. Mai 1945 hin.
An diesem Tag unterzeichnete eine aus den Fetzen der hitlerischen Macht
überhastet gebildete deutsche Regierung die bedingungslose Kapitulation
Deutschlands. Manch einer mochte sich gedacht haben, die Zeit werde für
einen Augenblick stillstehen, wenn einst der Moment der Kapitulation
gekommen sein würde. Aber sie stand nicht still. Im Fernen Osten tobten die
Kämpfe weiter. Die Schutt- und Trümmerhaufen - die geistigen und
moralischen so gut wie die materiellen -, die der Krieg in Europa hinterlassen
hatte, dämpften den lauten Jubel. Erschreckt waren die Völker im Spätsommer
1939 in den zweiten Weltkrieg eingetreten, mit Sorgen erfüllt sahen sie dem
Frieden entgegen.
Auch bei uns in der Schweiz änderte sich zunächst
S. 108: nichts, als dass der seelische Druck von den Menschen wich. Am 20. August
1945 schlossen General und Bundesrat, an einer ergreifenden Kundgebung in
Bern, bei der noch einmal sämtliche Bataillons- und Abteilungsfahnen des
Heeres an General Guisan vorüberdefilierten, feierlich den Aktivdienst. Es war
ein wirklicher aktiver Dienst gewesen. Nicht umsonst hörte man das
gemütlichere Wort von der Grenzbesetzung, das im ersten Weltkrieg gang und
gäbe gewesen war, im zweiten Weltkrieg selten. Die Eidgenossenschaft sah auf
die grösste militärische Kraftanstrengung ihrer ganzen bisherigen Geschichte
zurück. Bis zum Schluss verfügte sie über mehr als 800'000 ausgebildete
Soldaten, Ortswehrmänner und HilfsdienstpfIichtige, Männer und Frauen.
Diese Zahl war nicht nur an sich hoch, sondern sie war auch, verhältnismässig
betrachtet und beurteilt, höher als die Zahl der ausgebildeten Wehrpflichtigen
in den kriegführenden Ländern. Es war eine Zahl, die eindrücklich die
gewaltige Leistung eines freiheitlichen Volkes und eines kleinen
föderalistischen Volksstaates darstellte.
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Die schweizerische Armee hat die schwerste und letzte Probe nicht bestehen
müssen. Die Toten des zweiten Weltkrieges, die auch sie zählte, fielen für das
Vaterland, aber sie fielen nicht im Kampf. Trotzdem ist die militärische
Leistung der Schweiz in jenen fünfeinhalb Jahren ein Zeugnis von historischer
Grösse, eine Leistung, die vor dem Urteil der Geschichte Bestand haben wird.
Man wird immer wieder versuchen, sauber und verstandesklar die Gründe
herauszuarbeiten, wie es denn eigentlich kam, dass das kleine Land in der
unerhört ausgesetzten Lage, in der es sich befand, durchhalten und widerstehen
konnte. Gewiss lassen sich viele einleuch-
S. 109: tende Erklärungen finden: Die Interessenvertretungen, die Tätigkeit des
Internationalen Roten Kreuzes, die Erkenntnis der deutschen Machthaber, dass
die zerstörten Alpenverbindungen, die sie bei gewaltsamer Eroberung der
Schweiz vorgefunden hätten, für sie wertlos gewesen wären. Alle diese
Erklärungen vergessen das Wesentliche: Dass in den Schweizern ein Wille
lebte, vor der Macht der Tatsachen nicht zu kapitulieren. Ausdruck dieses
Willens war der wehrhafte Geist. Der Ursprung seiner Kraft aber war ein
überaus lebendiges Verhältnis zur Freiheit. Diese Freiheit lebte nicht in den
Köpfen und Theorien, sondern in den Herzen. Sie war die Luft, die das Volk
atmen wollte.
Daher besass dieses Volk die Fähigkeit, instinktiv das wahre Wesen des
Nationalsozialismus frühzeitig zu erkennen. In dem Augenblick, da die
Frontenbewegung in die Ausländerei abglitt, war sie im Urteil der breiten
Volksmassen gerichtet. Die Verbote, die später gegen sie ausgesprochen
werden mussten, trafen gar keine politische Bewegung mehr, sondern eine
verbrecherische Clique von Verrätern. Politisch hatte das Volk in der Mitte der
dreissiger Jahre sein Urteil gesprochen. Dank dieser politischen
Instinktsicherheit war es den Behörden möglich, von 1936 an das grosse
militärische Rüstungsprogramm zu verwirklichen. Die Rüstung war vom Volk
aller Schichten getragen. Die schweizerische Demokratie, die vielleicht
vertrauensseliger als andere Staaten an den Völkerbund geglaubt hatte und
deren umständliches Tempo gegenüber Neuerungen oft kritisiert worden ist,
bewies ein klareres Urteil über das Wesen des Nationalsozialismus als jene
Grossmächte, die er nachher in einen Krieg auf Tod und Leben gezwungen hat.
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S. 110: Fünfeinhalb Jahre Krieg und die Wirrnisse fast eines Jahrzehnts, die ihm
vorangegangen waren, hatten die Schweiz verändert. Nicht brüsk wie die vom
Krieg heimgesuchten Länder, aber nicht weniger tiefgehend. Die Menschen
waren sich näher gekommen. Die entsetzliche Totalität, mit der der Krieg
gewütet hatte, liess die Schweizer erkennen, dass der Bund zu einer
Schicksalsgemeinschaft geworden war. Alle Fragen der Politik, der Wirtschaft
und des sozialen Lebens standen unter diesem Eindruck der
Schicksalsverbundenheit. Deshalb fanden die Menschen den Weg über
Ideologien und Vorurteile, über Interessengruppen und Parteien zueinander.
Das Solidaritätsgefühl wuchs. Es suchte sich nach dem Krieg in zwei
Forderungen zu verwirklichen, von denen die eine, die Alters- und
Hinterlassenenversicherung, auch eingeführt, während die andere, das
Stimmrecht für die Frauen, als die natürliche Folge der gewaltigen Leistung,
die im Frauenhilfsdienst wie in der gesteigerten privaten und öffentlichen
Wirksamkeit von der Frau während des Krieges verlangt worden war, vom
konservativen Charakter des Schweizervolkes abgelehnt wurde.
Aber nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl hatte zugenommen. Auch der
Sinn für die Freiheit wuchs! Ungeduldig und oft ungerecht wünschte das Volk
im Frieden den Zwang von sich zu tun. Seine Reserven an freiwilliger
Einsatzbereitschaft waren erschöpft. Nun wünschte es Bewegungsfreiheit, um
sie neu zu äufnen.
Die Schweizer haben in den schweren Jahren des zweiten Weltkrieges in der
überwiegenden Mehrheit, unter Liberalen, Konservativen und Sozialisten,
unter Reichen und Armen, unter Reformierten und Katholiken, unter Deutsch-,
Welsch-, Italienisch- und Romanisch-Redenden
S. 111: nie an ihrem Recht gezweifelt, frei und unabhängig in der Geschichte stehen zu
dürfen und stehen zu wollen. Das politische Dasein war ihnen mehr als eine
Zweckorganisation, obschon sie das Zweckmässige in der Politik nie verachtet
hatten. Daher blieben sie im Gleichgewicht, und daher empfingen sie den
Glauben an ihr Recht. Wer aber den Glauben hat, ist befähigt für das Wunder.
Die Eingangsworte der Bundesverfassung «Im Namen Gottes des
Allmächtigen» hatten im schweren Geschehen ihren tiefen Sinn ein neues Mal
offenbart.
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In den kommenden Jahren werden die Veränderungen, die der Krieg von 1939
bis 1945 mit uns Schweizern vorgenommen hat, erst noch spürbar werden. Die
Schweiz von 1949 ist anders als die Schweiz von 1939 oder von 1941. Sie wird
aber die Schweiz bleiben, wenn das Volk jene Formen finden wird, die dem
gleichen Stamm entsprossen sind wie alle Formen, unter denen die
Eidgenossenschaft in den Jahrhunderten bestanden hat. Es ist der Stamm der
im Glauben gebundenen, gegenständlichen und praktischen Freiheit im Innern
und der Wille zur Unabhängigkeit nach aussen
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 06/2008
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