Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1949 Kleine Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini. -21949 Peter Dürrenmatt Dürrenmatt Peter: Kleine Geschichte der Schweiz um 2. Weltkrieges. Schweizer Spiegel Verlag Zürich. 1949. 111. Seiten. Kleine Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg -3- Kleine Geschichte der Schweiz während des zweiten Weltkrieges. Weltkrieges. Inhaltsverzeichnis: Vorwort Seite 5 1. Kapitel: Im Sturm der Geschichte Seite 7 2. Kapitel: Von der Mobilmachung zur «drôle de guerre» Seite 33 3. Kapitel: Widerstehen! Seite 59 4. Kapitel: Durchhalten bis zum Frieden Seite 85 S. 5: Vorwort Der Verfasser des vorliegenden kleinen Buches über die «Geschichte der Schweiz im zweiten Weltkrieg» ist vom Schweizer Spiegel Verlag angeregt worden, es zu schreiben. Diese «Schweizer Geschichte der neuesten Zeit ist kein wissenschaftliches Werk, und wenn sich der Verfasser entschloss, die Bezeichnung «Geschichte» dafür in Anspruch zu nehmen, die im Sprachgebrauch einen gelehrsamen Anstrich hat, so deswegen, weil er sie einfach in einem ursprünglichen Sinn verstanden wissen möchte: Auf den Seiten seines Büchleins wird das Geschehen erzählt, wie es ein Zeitgenosse gesehen und erlebt hat. Es soll vornehmlich der jungen Generation, die Manches nur noch vom Hörensagen kennt, der Ablauf der Dinge im Zusammenhang geboten werden. Die «Geschichte der Schweiz im zweiten Weltkrieg» ist ein Erinnerungsbuch, ein Glied in der Kette der Überlieferung, wie sie bei uns von Geschlecht zu Geschlecht reicht und einen der Gründe für die innere Festigkeit des Schweizertums bildet. Der Verfasser legte grosses Gewicht darauf, die Atmosphäre jener Tage festzuhalten und darzutun, wie die unpathetische schweizerische Nüchternheit sich im übrigen Chaos der Zeit als grosse Kraft erwies. Der Verfasser ist ein zuinnerst überzeugter Anhänger der Kleinstaatlichkeit schweizerischer Prägung. Er glaubt, dass diese im heutigen Zeitalter der Grossraumstaaten ihre besondere geschichtliche Aufgabe zu erfüllen hat. -4- Sollte es ihm auf den folgenden Seiten gelungen sein, dem Leser zu zeigen, wie das Wunder geschehen konnte, dass der S. 6: föderalistische Alpenzwerg dem nördlichen Giganten und dem von ihm angezettelten Geschehen widerstehen konnte, so ist der Zweck des Werkleins erreicht. Was das Quellenmaterial anbelangt, so benützte der Verfasser, ausser dem, einem Zeitungsschreiber zugänglichen Material, hauptsächlich eigene Aufzeichnungen. Riehen bei Basel, im Juni 1949. S. 7: Der Verfasser. 1. KAPITEL Im Sturm der Geschichte Ein bundesrätliches Wort zündet - Von den Befehlen eines Diktators, den Wallfahrten von Staatsoberhäuptern und wachsender Unruhe - Tiefere Ursachen des zweiten Weltkrieges: Versailles, Wirtschaftskrise, Gewaltgeist und Hitlerei - Die Wirtschaftskrise bricht herein - Die Schweiz nach dem ersten Weltkrieg - Wirkungen der Krise - Hitlers Aufstieg - Gefahr für die Schweiz Der Frontenfrühling, Oberwindung der Krise und nationale Bereitschaft. S. 8: Es kommt gewiss nicht oft vor, dass im Schweizervolk das Wort eines Bundesrates von Mund zu Mund gegeben und wie eine befreiende Tat empfunden wird. Aber im spannungsreichen, mit aussenpolitischen Vermutungen und Gerüchten erfüllten Frühjahr 1939 ist so etwas vorgekommen. Damals sagte es einer dem andern: «Hast du gehört, was Bundesrat Obrecht an einer öffentlichen Versammlung in Basel gesagt hat? Wir Schweizer würden nicht wallfahrten gehen, und wir würden gegen jeden kämpfen, der uns angriffe.» Jeder, der dieses Wort vernahm, fand, es sei ausserordentlich gut gesprochen und war höchlich befriedigt. Was war passiert? Warum stimmte das Volk diesem bundesrätlichen Wort zu, als ob es darauf gewartet hätte? Am 15. März 1939 hatte der deutsche Reichskanzler und «Führer» Adolf Hitler seinen Divisionen den Befehl erteilt, in die Tschechoslowakei einzumarschieren, -5- die Hauptstadt Prag zu besetzen, und das, was der sogenannte «Münchner Friede» vom 29. September 1938 von diesem unglücklichen Land übrig gelassen hatte, in zwei Hälften zu trennen: In das Protektorat Böhmen und Mähren, das künftig ein Teil des «Grossdeutschen Reiches» sein sollte, und in einen unabhängigen Staat Slowakei. Während die deutschen Truppen bereits marschierten, bekam der tschechoslowakische Staatspräsident Hacha von Hitler den Befehl, sich in Berlin einzufinden. Hacha fuhr hin: er gab seine Zustimmung zum vollendeten Gewaltstreich gegen sein Land. Ohne Blutvergiessen, ohne Kämpfe war der S. 10: zwanzig Jahre alt gewordene tschechoslowakische Staat von der europäischen Landkarte getilgt. England und Frankreich aber, die ein halbes Jahr zuvor die Unterschrift ihrer Staatsmänner unter den Münchner Vertrag gesetzt hatten, antworteten auf den neuen, frechen, ja zynischen Wortbruch Hitlers mit einem Protest. In der Schweiz wie im Ausland spürten indessen die Menschen, dass Europa nun unmittelbar in das Vorfeld eines neuen Krieges eingetreten war. Der Bundesrat befahl, die Minenobjekte an der Schweizergrenze zu laden. Zwei Tage nach dem Gewaltstreich sprach Bundesrat Obrecht in Basel, eingeladen von der dortigen Gruppe der «Neuen Helvetischen Gesellschaft» über Probleme der Arbeitsbeschaffung. Er begann seinen Vortrag mit den Worten: «Jedermann muss wissen, dass dem, der uns angreift, der Krieg wartet. Wir werden nicht ins Ausland wallfahrten gehen, um Hilfe zu suchen, sondern wir werden uns selbst und auf uns selbst gestellt unserer Haut zu wehren wissen.» Das Wort also war das Wort vom Wallfahrten, das Aufsehen erregte, es war nicht genau so gesprochen worden, wie es nachher umging. Das Volk hatte ihm jenen Akzent gegeben, den es ihm geben wollte. Gerade diese leichte Sinnverschiebung zeigte deutlicher als alles andere, wie entschlossen die 'Volksstimmung war, wie sehr sie darauf gewartet hatte, durch ein Wort von oben beides zu bekommen, einen Ausdruck für das, was auf jedermanns Zunge lag und einen Richtpfahl für die eigene Haltung. Befohlene Wallfahrten von Staatsoberhäuptern zu Hitler und kampflose Kapitulationen waren damals bereits zu einem Begriff geworden. Ein Jahr vor dem Einmarsch in Prag hatte sich mit fast haargenau gleichem Verlauf die -6- S. 11: Kapitulation Österreichs abgespielt. Ende Februar 1938 hatte Hitler den österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg nach Berchtesgaden kommen lassen und ihm befohlen, den österreichischen Nationalsozialisten Seyss-Inquart in sein Kabinett aufzunehmen. Schuschnigg hatte gehorcht - und zwei Wochen später marschierten Hitlers Bataillone in Oesterreich ein. Schon damals hatten Frankreich und England protestiert. Dessen ungeachtet gliederte Hitler die "Ostmark", wie er Österreich nannte, in das Deutsche Reich ein. Beide Ereignisse, die Art und Weise, wie Österreich eingegliedert und die Tschechoslowakei zerstört wurden, leiteten den zweiten Weltkrieg unmittelbar ein. Sie hoben das Gleichgewicht in Europa endgültig auf. Sie trieben die allgemeine Unruhe in der Weltpolitik, die 1935 mit dem Ausbruch des italienisch-abessinischen Krieges und 1936 mit dem Bürgerkrieg in Spanien begonnen hatte, auf den Höhepunkt. Der spanische Krieg wuchs sich zu einem Interventionskrieg aus, bei dem deutsche, italienische und russische Kontingente, sowie Freiwillige aus der ganzen Welt die modernen Waffen und ein neues Kampfverfahren ausprobierten. Versuchen wir zunächst, so gedrängt wie möglich, die tieferen Ursachen herauszuarbeiten, die den zweiten Weltkrieg ausgelöst haben. Wir werden dabei erkennen, dass sich in Europa nach dem ersten Weltkrieg die äusseren Verhältnisse und die politischen Auffassungen der Menschen veränderten. Wir werden erst dann verstehen, was für ein Wunder es gewesen ist, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft, mitten in diesem von Unruhe erfüllten Kontinent gelegen, zwei Kriege und eine zwischen ihnen liegende schwere Wirtschaftskrise überstehen konnte. Ein wenig vereinfachend könnte man sagen, der zweite S. 12: Weltkrieg sei aus vier Gründen entstanden: Erstens aus dem unausrottbaren Gewaltgeist, wie er hauptsächlich im 19. Jahrhundert die Politik der europäischen Grossstaaten auszeichnete, zweitens aus dem zwiespältigen Charakter des Friedens von Versailles, drittens durch den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland, und viertens aus der Glaubensschwäche der westeuropäischen Staatenlenker gegenüber jenen Grundwerten der Politik, die zu verteidigen sie vorgaben. - Als am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles der Friede unterzeichnet wurde, der den ersten Weltkrieg abschloss, zahlten die damaligen Alliierten den Deutschen ihre politische -7Gewaltverherrlichung, die sie zwei Jahre zuvor besonders gegenüber den Russen im Frieden von Brest-Littowsk bewiesen hatten, mit gleicher Münze heim. In Versailles wurde nicht mehr verhandelt, wie etwa noch ein Jahrhundert vorher in Wien, es wurde diktiert. Der Geist eines Clemenceau und Poincare gab anderthalb Jahrzehnte nach Versailles den deutschen Nationalisten den Vorwand für ihre eigene Politik, die nichts gelernt und nichts vergessen hatte. Indessen: Wir nannten den Versailler Frieden zwiespältig. Dicht neben seinem Gewaltgeist enthielt er das andere, die Idee des nordamerikanischen Präsidenten Wilson, einen Völkerbund zu errichten und auf diese Weise zu versuchen, eine neue Legitimität in den Beziehungen der Völker zu schaffen. Wilsons Idee entstammte einer bedeutsamen Erkenntnis: Der Krieg war ein Weltkrieg gewesen, kein europäischer Krieg. Also musste der Friede auf einer die Welt umfassenden Grundlage gesucht werden. Die amerikanischen Isolationisten verdarben dem Präsidenten diesen Plan, Nordamerika trat dem Völkerbund nicht bei. Die europäischen Nationalisten aber, vor S. 13: allem in Deutschland und in Italien, die Europa immer noch mit der Welt verwechselten, waren entschlossen, den Völkerbund zu zerstören, und der übrige europäische Westen war zu müde und im entscheidenden Augenblick zu glaubenslos, um den Völkerbund entschlossen zu verteidigen. Stärker als die Idee des Völkerbundes war die beharrende Kraft des Macht- und Gewaltdenkens. Das deutsche Volk war vom inneren Umschwung betäubt, den die Niederlage von 1918 im Gefolge hatte, aber von den politischen Neuerungen, die er brachte, keineswegs überzeugt. Es nahm Republik und Demokratie hin, ohne in seiner Mehrheit von diesen Einrichtungen innerlich ergriffen zu sein. Aktiv waren allein seine Nationalisten und ihre verhängnisvollen Gegenspieler, die Kommunisten. 1925, sechs Jahre nach der Niederlage, gelang den Nationalisten in Deutschland ihr erster Erfolg: Generalfeldmarschall von Hindenburg wurde als Reichspräsident gewählt. Frankreich, die Siegermacht auf dem Kontinent, täuschte sich selbst darüber hinweg, dass der Krieg es in mancher Beziehung geschwächt hatte. Es sah, trotz seiner Siegessicherheit, voll Furcht, wie rasch die Deutschen sich erholten und errichtete gegen sie an seiner Ostgrenze den Wall der Maginotlinie. Italien wurde unmittelbar nach Kriegsende von sozialen Unruhen geschüttelt und floh aus ihnen in das nationalistische Extrem des Faschismus. -8- Seine Faschisten träumten davon, das «Imperium Romanum», das einstige Römische Reich wieder auferstehen zu sehen. Auch für die italienischen Nationalisten war der Krieg ein europäischer alten Stils, nur kein Weltkrieg gewesen. S. 14: Neben diesen drei Grossen gab es auf dem Kontinent den Kranz der kleinen neuen Staaten im europäischen Osten, die, wie Finnland und die Baltischen Staaten, die Gelegenheit der russischen Revolution benützt hatten, um unabhängig und souverän zu werden, oder, wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien, aus der Konkursmasse der österreichischen Donaumonarchie hervorgegangen und jetzt Frankreichs Verbündete waren. Die einstige Donaumonarchie war neben der Schweiz das letzte Staatengebilde in Europa gewesen, das die verschiedensten Nationalitäten in seinen Grenzen vereinigt hatte. Der letzte Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph I., hatte das Reich an die Machtpolitik des wilhelminischen Deutschland gekettet. Das gab den Siegern von 1918 den Vorwand, das alte Österreich nach dem Krieg zu zerstören und damit auch das ewig schwankende Gleichgewicht in Europas Osten erst recht unsicher werden zu lassen. Es ist möglich, dass im Streit und Widerstreit zwischen den Kräften des alten Machtgeistes und den Versuchen, eine Weltsicherheit zu schaffen, vielleicht doch die letzte sich durchgesetzt hätte. Da brach ein Ereignis herein, das die geistig-politische Krise in Europa offen ausbrechen liess. Das war die Weltwirtschaftskrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach im Jahr 1929 ihren Anfang nahm. Es war eine umfassende Krise, die das Gefüge der Weltwirtschaft erschütterte. Sie brach mit ähnlicher Wucht über Europa herein, wie in alten Zeiten etwa die grossen Seuchenzüge. Handel und Wandel stockten. Die Arbeitslosen sammelten sich in den Städten wie verzweifelte Heerscharen. Bankkrache, massenhafte Geltstage und wirtschaftliche Zusammenbrüche ereigneten sich in allen Ländern. Es zeigte sich jetzt, dass die rasche Wirtschaftsblüte, die S. 15: Mitte der zwanziger Jahre begonnen hatte, eine hektische Scheinblüte gewesen war. Jedes Volk, das von der Krise befallen wurde, reagierte verschieden auf sie, je -9- nach dem seelischen und geistigen Gesundheitszustand, in dem es sich befand. Die Krise zwang aber auch jedes Volk zu nationalen Abwehrmassnahmen. Damit zerstörte sie die kleinen Anfänge der neuen, allmählich in der Nachkriegszeit entstandenen wirtschaftlichen und geistigen Weltverbundenheit. überall dort, wo seit dem Frieden von 1919 das Gleichgewicht nicht wieder oder nur scheinbar gefunden worden war, verlor es sich jetzt, ob der Wucht der Wirtschaftskrise, von neuem. Der nationale Egoismus, vom Völkerbund mühsam gedämpft, brach ob der Notwendigkeit eines jeden Landes, die Krise bekämpfen zu müssen, wieder offen durch. Dort, wo die geistigen Voraussetzungen dafür erfüllt waren, nahm der nationale Egoismus die Formen eines überhitzten Nationalismus an. Da die üblichen Mittel, mit denen man der Krise beizukommen suchte, zu versagen schienen, und da meistens zu lange Zeit gewartet worden war, bis man eingriff, gewannen die politischen und die sozialen Scharlatane an Boden. Es war die Zeit, da in Deutschland der Österreicher Adolf Hitler, ein fanatischdämonischer Mensch, der schon vor dem Kriegsausbruch von 1914 keine bürgerliche Existenz gefunden hatte, mit seiner «Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei» zusehends an Boden gewann. In Frankreich und England mühten sich die Regierungen mit den folgen der Krise ab. Einsichtige Männer hatten früh schon erkannt, dass das System der deutschen finanziellen Reparationen, das 1919 eingesetzt worden war, S. 16: die Weltwirtschaft daran verhinderte, sich zu erholen. Zugleich bewirkte indessen der steigende deutsche Nationalismus, dass die beiden Westmächte nur zögernd den verschiedenen Erleichterungen zustimmten, die in bezug auf die deutsche Reparationspflicht vorgeschlagen wurden. So spielten sich das internationale politische Misstrauen, der unerhörte Umfang der Wirtschaftskrise und die steigende nationalistische Erregung der Völker zur Vollendung des Unglücks verhängnisvoll in die Hand. In der Zeit von wenigen Jahren wurde es offenbar, dass Europa zu einem Pulverfass geworden war, das explodieren musste, sobald Unverantwortliche einen Funken hineinwarfen. Die geistigen Werte in der Politik, von denen die Menschen nach 1919 gehofft hatten, sie seien europäisches Gemeingut geworden - das Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Gedanke der Volksherrschaft, das Aufhören der Geheimdiplomatie, die - 10 - Völkerverständigung auf der Grundlage des Völkerbundes - widerstanden dem Sturm nicht. Ihre Wurzeln waren zu jung, ihre noch schwachen Stämme zerbrachen. über Europa begann sich ein geistiges Chaos auszubreiten. Mitten drin in diesem Europa und seinen Wirren lag unsere Schweizerische Eidgenossenschaft. Ohne äusseren Schaden hatte sie den ersten Weltkrieg überstanden. Aber dieser hatte ihr Wesen verändert. Der Kriegsausbruch von 1914 hatte unser Volk mit einem Schlag geistig auf sich selbst gestellt. Heute finden wir daran nichts Besonderes. Wir haben bereits vergessen, wie eng die Deutschschweizer vor 1914 mit dem deutschen, die Welschen mit dem französischen Geistesleben verbunden waren. So eng war die Bindung, dass wir Schweizer in den ersten Monaten des Krieges drauf und dran waren, der nationalistischen S. 17: Propaganda beider Lager der Kriegführenden zu erliegen, dass wir leidenschaftlich Partei ergriffen und ein gefährlicher Graben zwischen Deutsch und Welsch aufgerissen wurde. Damals standen hüben und drüben Männer auf, die die Gefahr erkannten. Sie riefen dazu auf, wir Schweizer sollten uns nicht der nationalistischen Propaganda aussetzen, sondern sich auf uns selbst und auf das, was Recht war, besinnen. Die «Helvetische Gesellschaft» von einst begann als «Neue Helvetische Gesellschaft» wieder ihre Tätigkeit aufzunehmen. Die Besten unter den Schweizern aller Lager erkannten, dass wir, obgleich vier Sprachstämme sich in der Eidgenossenschaft begegneten, ein Volk von eigener politischer Kultur und eigenem politischem Lebenswillen waren. Der Graben wurde überbrückt und zugeschüttet, die geistige Krise war beschwört. Nicht weniger gefährlich war die soziale Spannung, die sich von der zweiten Hälfte des ersten Weltkrieges bis zum Kriegsende ausbreitete. Sie wurde durch verschiedene Umstände ausgelöst und erhielt ihren besonderen Charakter nicht zuletzt daher, dass die Völker rings um unser Land in schwere soziale Krisen gerieten. Die Schweiz war 1914 vom Krieg überrascht worden. Zwar verlief die Mobilisation der Armee rasch und reibungslos. Es gelang uns, der Welt zu zeigen, dass wir bereit waren, für die Unabhängigkeit des Landes und den Schutz der Neutralität zu kämpfen. Aber die Rüstung hätte niemals gereicht, um einen langen Krieg zu führen. Viel ärger stand es damals um die wirtschaftliche und soziale Rüstung. Kein Mensch ahnte, was für Formen ein moderner Krieg annehmen würde. - 11 - Einen kriegswirtschaftlichen Apparat wie im zweiten Weltkrieg gab es nicht. Das wirtschaftliche Leben spielte sich fast ungehemmt ab. Die Preise aller Erzeug- S. 18: nisse, an denen Mangel herrschte, stiegen rasch und hoch. Auf dem Lebensmittelmarkt herrschte empfindliche Teuerung. Die Löhne hielten mit ihr bei weitem nicht Schritt. Streiks, Aussperrungen und Unzufriedenheit der breiten Massen war die Folge. Dazu kam, dass der Soldat, der zum Dienst an der Grenze aufgeboten war, kaum einen sozialen Schutz genoss, es gab weder Lohn- noch Verdienstausfallkassen. Dienst von Vater und Söhnen für die Heimat bedeutete für viele Familien Not und Entbehrung. Gewiss lief viel Geld im Land um, aber es war ungleich verteilt. Obendrein fehlte ein brauchbares politisches Ventil, durch das sich der angestaute Unwille hätte entladen können. Die organisierte Arbeiterschaft, zur Hauptsache vertreten durch die Sozialdemokratische Partei, verfügte nur über wenige Mandate im Nationalrat, da dieser nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt wurde, das die grossen Parteien begünstigte und die kleinen noch kleiner machte. Daher stand, die Sozialdemokratische Partei in scharfer politischer Opposition. Mitten im Krieg verweigerten ihre Abgeordneten die Militärkredite. Das erboste ihre Gegner. Es zog sich ein politisch-soziales Gewitter über der Schweiz zusammen, das sich im November 1918 entlud, als das Deutsche Reich zusammenbrach, die Revolution, die in Russland begonnen hatte, das deutsche Kaiserreich hinwegfegte und die deutsche Sozialdemokratie an die politische Macht kam. In der Schweiz brach der Generalstreik aus. Dieser fiel nach drei Tagen in sich zusammen und hatte keine revolutionären Folgen. Er löste indessen bestimmte Reformen aus, unter denen die wichtigste und wahrscheinlich auch folgenreichste für die weitere innenpolitische Entwicklung die Einführung des proportionalen Wahlverfahrens für S. 19: den Nationalrat war. Im neu gewählten Nationalrat des Jahres 1919 hatte die Freisinnige Partei die Mehrheit verloren. Es gab jetzt überhaupt keine Mehrheitspartei mehr. Das politische Kräftespiel der Schweiz hatte sich verändert. Die Zeit zwischen 1920 und 1933 war ein Abschnitt, in dem sich allmählich die Folgen der Veränderungen zeigten, die die Schweiz im ersten Weltkrieg durchgemacht hatte. Die soziale Bewegung, die im Krieg begonnen hatte, - 12 - setzte sich vorerst noch fort. 1922 wurde der Achtstundentag gesetzlich eingeführt, und 1925 stimmte das Volk einem Verfassungsartikel zu, der bestimmte, dass eine allgemeine Alters- und Hinterbliebenenversicherung geschaffen werden sollte. In den Gemeinden und Kantonen wuchs indessen die Sozialdemokratie aus der blossen Opposition heraus und in die politische Mitverantwortung hinein. Die Arbeiterschaft suchte ihren Platz in der schweizerischen Gemeinschaft. Ein anderes, grosses Problem bildete die Bauernfrage. Sie hatte schon vor dem ersten Weltkrieg bestanden, als die allgemeine Freizügigkeit des internationalen Handels die Preise für Erzeugnisse der einheimischen Landwirtschaft zerfallen liess. Der Krieg brachte unseren Bauern einen unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung. Die Preise stiegen, und der Bauer verdiente ein schönes Stuck Geld. Indessen stiegen nicht nur die Preise der Erzeugnisse, sondern auch diejenigen des Bodens. Die jungen Bauern mussten ihre Heimet teuer bezahlen. Als der Krieg vorbei war und die Konkurrenz des Welthandels wieder einsetzte, sanken die Produktenpreise, indes die hohen Bodenpreise und die hohen Zinse blieben. Der Bund griff nur zögernd ein, um zu helfen, er besass dazu kein verfas- S. 20: sungsmässiges Recht. Die Bauern, die sich in verschiedenen Kantonen 1919 zur eigenen Partei zusammengeschlossen hatten, forderten Hilfe gegen die wirtschaftliche Verschlechterung. Sie verlangten ein Mitglied im Bundesrat. Ende 1929 wählte die Bundesversammlung den bernischen Bauernführer Rudolf Minger zum Bundesrat. In diesem waren jetzt drei Parteien vertreten. Mingers Wahl bewies, wie stark der Einfluss wirtschaftlicher Fragen auf die schweizerische Politik geworden war. Die Weltwirtschaftskrise, die bald darauf ausbrach, verstärkte diesen Einfluss, denn sie zwang den Bund, mit grösseren Massnahmen in den wirtschaftlichen Ablauf einzugreifen, sie zwang ihn aber damit auch, die Verfassung zu verletzen. Hatte sich also die Schweiz mit dem ersten Weltkrieg innenpolitisch verändert, indem die beiden Gruppen der Bauern und der sozialdemokratischen Industriearbeiterschaft grösseren Einfluss auf die Politik bekamen als bisher, so ergab auch die aussenpolitische Lage des Landes ein anderes Bild. Auf den ersten Blick beurteilt kein ungünstiges. - 13 - Der Sieg der Entente über die Mittelmächte war ein Sieg der liberalen und demokratischen Gedankenwelt. Der Völkerbund wollte vor aller Welt bezeugen, dass das Recht sich auch in den Beziehungen zwischen den Staaten entwickeln werde. Die Schweiz wurde eingeladen, bei dieser Entwicklung des Völkerrechtes mitzutun. Am 20. Mai 1920 billigte das Schweizervolk in der Volksabstimmung den Beitritt zum Völkerbund, wenn schon nach leidenschaftlicher Diskussion und mit einer hohen Zahl von ablehnenden Stimmen. Der Beitritt zum Völkerbund bedeutete, dass sich das Wesen der schweizerischen Neutralität veränderte. Diese wurde zwar von den Grossmächten ausdrücklich anerkannt, sie enthob uns aber S. 21: nicht der Pflicht, mitmachen zu müssen für den Fall, dass der Völkerbund gegen einen Staat wirtschaftliche Sanktionen beschloss. Man darf wahrscheinlich feststellen, dass der Beitritt zum Völkerbund zunächst die aussenpolitische Wachsamkeit im breiten Volk beeinträchtigte. Kaum je zuvor war es so schwer, von der Bundesversammlung jene Gelder bewilligt zu bekommen, die die Armee brauchte, um einigermassen kriegstüchtig zu bleiben. Grosse Kreise unseres Volkes glaubten eben in jener Zwischenzeit zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges und der Machtübernahme des Nationalismus in Deutschland, der Krieg werde allmählich als Mittel der Politik ausgeschaltet werden. Sie wähnten, das Macht- und Gewaltdenken sei nun gebändigt. Der Glaube an die Möglichkeit, den Krieg durch das Recht zu überwinden, war in jenen Jahren hoch und rege. Waren die aussenpolitischen Sorgen gering, so schien es manchen kritischen Zeitgenossen, als ob damals die schweizerische Politik zunehmend zu einem blossen Spiel der wirtschaftlichen Interessen entartete, bei dem geistige Auseinandersetzungen und geistiges Bemühen überhaupt keine Rolle mehr spielten. Der Zürcher Literaturhistoriker Emil Ermattinger schrieb in seiner 1933 erschienenen Darstellung der Dichtung und des Geisteslebens der Schweiz, es sei eine gefährliche Kluft zwischen dem geistigen und dem politischen Teil des Volkes entstanden. Der Geist habe sich aus der Politik, die Politik vom Geist zurückgezogen. Heute dürfen wir vielleicht richtiger sagen, die Schweiz sei im Begriff gewesen, sich über die ungebrochene, unterirdische Kraft der gewalttätigen Macht im - 14 - S. 22: internationalen Geschehen vom Frieden täuschen zu lassen, sie leistete es sich, die geistigen Kräfte in der Politik in Reserve zu halten, wie sie das in ihrer langen Geschichte oft getan hat. Als aber der geschichtliche Ablauf mit einem Schlag eine neue Wendung nahm, erwies es sich, dass die Schweiz aus dem Geist zu widerstehen vermochte. Die Krise von 1929/30 breitete sich in der Schweiz allmählich aus, zuerst nahmen sie einzelne wahr, dann spürte sie das ganze Volk. Empfindlich wurde sie vornehmlich durch zwei Gruppen von Ereignissen, einmal durch verschiedene Bankkrache, unter denen der Zusammenbruch der Schweizerischen Volksbank der am weitesten reichende war. Diese Zusammenbrüche hingen mit der umfangreichen Kreditgabe an deutsche Unternehmen und Gemeinden zusammen, sie traten ein, als die deutschen Schuldner nicht mehr bezahlten, Deutschland die Guthaben sperrte und die Zinszahlungen einstellte. Das andere empfindliche Ereignis war die wachsende Arbeitslosigkeit als Folge der schrumpfenden Ausfuhr, mit allen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie im Gefolge hatte. Jetzt stellte sich die gebieterische Frage, ob und wie weit der Bund helfen sollte. Sie wiederum verband sich sofort mit den innenpolitischen Strömungen, wirkte auf das innenpolitische Kräfteverhältnis zurück. Es begann eine Zeit grosser politischer Aktivität. Das neu erwachende innenpolitische Leben erhielt seinen besondern Hintergrund durch die gleichlaufende Entwicklung im Ausland. Dort, vor allem in Deutschland, wurde schliesslich aus der Wirtschaftskrise eine Krise der Politik. Dieser Übergang wiederum führte direkt in den zweiten Weltkrieg hinein. Daher müssen wir uns jetzt S. 23: wieder dem Gang der Dinge ausserhalb der Schweiz zuwenden. Es erwies sich nämlich, dass der Kriegsdämon in Europa keineswegs gebannt war. Er wartete nur auf den rechten Augenblick und den geeigneten Ausgangsboden, um den alten Kontinent heimzusuchen. Die neue Unruhe ging von Deutschland aus, wo die wirtschaftliche Krise die schärfsten Formen annahm. Sie erzeugte soziales Elend und warf das deutsche Volk, dessen Gleichgewicht ohnehin gering war, in innere Wirren. Kommunisten und Nationalisten, Monarchisten und alle möglichen Unzufriedenen, Wirrköpfe aller Spielarten, hieben auf die unpopuläre, von geringem politischen Willen erfüllte Republik ein, verhöhnten ihre Schwäche angesichts der steigenden Not und riefen mit zunehmender Lautstärke nach totalem Umsturz. - 15 - Das Unglück brach in verschiedenen Schüben herein. Am 30. Januar 1933 erreichte es seinen Höhepunkt. An diesem Tag ernannte der 85jährige deutsche Reichspräsident von Hindenburg den Führer der «Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei», Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Noch hat die Forschung nicht abgeklärt, ob diese verhängnisvolle Ernennung der Altersschwäche des Präsidenten, seiner Einsichtslosigkeit oder der raffinierten Intrige seiner Umgebung zu verdanken war. Jedenfalls aber vollzog sich nun das Schicksal in ähnlich grausigen Formen wie 19 Jahre zuvor, beim Ausbruch des ersten Weltkrieges: Die jubelnd-gröhlende Menge erfüllte Berlins Strassen, Hysterie vertrieb die Kräfte des Verstandes. Hitler, der deutsche Trommler, wie er sich nannte, der gebürtige Österreicher, aufgestiegen aus den tiefsten Schichten des Volkes, übernahm die Macht über 80 Millionen Menschen, bejubelt von der Masse, unterstützt von S. 24: verblendeten Politikern und einflussreichen Männern der Schwerindustrie und des Grundbesitzes. Um sich scharte er eine Gruppe von zum Teil hochintelligenten, zum Teil höchst primitiven Elementen, von Männern des Nichts und Fanatikern der Gewalt. Hitlers politisches Rezept war so einfach wie brutal: Das deutsche Volk, von dem grosse Teile die Niederlage von 1918 innerlich nie angenommen hatten, sollte in einen nationalen Rausch versetzt werden. Es sollte darob das Elend des Tages vergessen. Es sollte Arbeit und Verdienst bekommen. Diese wiederum mussten dadurch beschafft werden, dass inm grossen Stil aufgerüstet wurde. Mit der Rüstung als Waffe und dem Glauben des Volkes im Hintergrund, diese Rüstung habe ihm Arbeit gebracht, sollte nachher ein aussenpolitisches Programm verwirklicht werden, das zunächst einfach lautete: «Abschaffung von Versailles», später aber «Vorherrschaft in Europa» und schliesslich «totale Gewalt über die Welt» hiess. Das Unerhörte war nur, dass Hitler in seinem Buch «Mein Kampf» dieses Programm offen bekannt gegeben hatte, dass er sofort daran ging, es Zug um Zug zu verwirklichen - und ihn doch niemand ernst nahm. 1934 liquidierte Hitler durch die grossen Morde vom 30. Juni seine inneren Gegner. Alsbald begann er mit der grauenvollen Ausrottung der Juden, die er vor dem deutschen Volk als die Hauptschuldigen für dessen Not hingestellt hatte. Im Frühjahr 1935 erklärte er, Deutschland nehme seine Wehrhoheit zurück und begann, das Heer von 100'000 Mann in eine grosse, - 16 - moderne Armee zu verwandeln. Daraufhin liess er, abermals ein Jahr später, seine Regimenter in die entmilitarisierten Zonen des linksrheinischen Gebietes einmarschieren. Und nun griff er über Deutschland hinaus. Jeder neuen Vertragsverletzung S. 25: folgte ein Protest der Franzosen und Engländer, jedem Protest ein Versprechen und jedem Versprechen ein neuer Wortbruch. Im Jahr 1938 schien die aussenpolitische Krise ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Im März zogen deutsche Truppen in Österreich ein und vereinigten das Land mit dem Deutschen Reich. Im Herbst begann die tschechische Krise. Hitler begehrte die sudetendeutschen Gebiete für Deutschland. Er setzte sich auch da durch. Am 29. September 1938 gaben die Freunde und Verbündeten der Tschechoslowakei, England und Frankreich, diese preis und schlossen mit Hitler einen Teilungsvertrag, den Mussolini vermittelt hatte. Das war der sogenannte Münchner Friede. Dieser Erfolg lähmte zugleich die letzten Kräfte des innerdeutschen Widerstandes gegen das Gewaltregime. Hitlers Erfolg schien seine Politik vor dem deutschen Volk zu rechtfertigen. Die freie Presse hatte er längst mundtot gemacht. Der Diktator orientierte seine Untertanen in der Weise, wie es ihm nützlich erschien. So sehen wir, wie im aussenpolitischen Geschehen zwischen 1933 und 1938 immer deutlicher Hitler das Handeln an sich riss. England und Frankreich hatten sich mühsam aus der wirtschaftlichen Krise herausgerissen. Diese Völker wünschten den Frieden. In Frankreich glomm die soziale Krise fort. Sie schwächte das Land. Es wünschte nicht nur den Frieden, sondern den Frieden um jeden Preis. In Italien aber bekam das Gewaltregime der Faschisten durch Hitlers Erfolge seine Rechtfertigung. Die führenden Faschisten schlossen sich immer enger an Hitler und seine Politik an. Seine Methoden machten Schule. Die Faschisten behaupteten jetzt, sie seien die Nachfahren der alten Römer, und sie erklärten, in Afrika ein Impe- S. 26: rium schaffen zu wollen. Im Herbst 1935 liess Mussolini die Abessinier überfallen. Der Völkerbund, der das Recht gegen diesen Gewaltstreich hätte wahrnehmen sollen, erwies sich als ohnmächtig. Alles, was sich da vollzog, war für die Schweiz in höchstem Grad bedrohlich. Die Ohnmacht des Völkerbundes bedeutete, dass der Wille, ein verbindliches neues Völkerrecht finden zu wollen, rasch zerfiel. - 17 - Völkerrechtliche Anarchie aber war für jeden Kleinstaat eine Gefahr. Die neuen politischen Lehren, die verkündet wurden: Diktatur der Führer, blinde Gefolgschaft ihrer Helfershelfer, Totalität der Staatsgewalt, Unterdrückung der Freiheit, widersprachen auf das entschiedenste schweizerischer politischer Lebensform. Der neue Nationalismus, der forderte, dass Sprachen und Staatsgrenzen gleich zu verlaufen hätten, richtete sich gegen die schweizerische Vielfalt. Der aufkommende Wahn, grossräumige Staaten seien fortschrittlicher als Kleinstaaten und allein imstande, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, griff an die eigentliche politische Existenz der föderalistischen und kleinstaatlichen Schweiz. Der nihilistisch-umstürzlerische Geist in Deutschland und Italien stand in scharfem Gegensatz zur geschichtsbetonten, schweizerischen Existenz. Die Gefahr war um so grösser, als die Eidgenossenschaft in tiefgehenden inneren Auseinandersetzungen sich befand, die sich darum drehten, wie die Folgen der Wirtschaftskrise bekämpft werden sollten. Es schien, dass das Volk bei uns überhaupt nur die innere, wirtschaftlichsoziale Sorge ernst nahm und nicht spürte, was für elementare Dinge sich inzwischen in der Aussenpolitik Europas vollzogen. S. 27: Die Probleme des Krisenausbruchs von 1929/30 mussten sich bald zu politischen, und zwar zu geistig-politischen Fragen auswachsen, weil die Krise nur mit Hilfe des Staates und des Bundes überwunden werden konnte. Die Bundesverfassung sah indessen keine derartigen Hilfsmöglichkeiten vor. Es ergab sich, dass die gefährdeten Schichten des Volkes, die Bauern, die Industriearbeiter und der untere Mittelstand nicht bereit waren, die Folgen der Krise einfach als Schicksal ergeben hinzunehmen. So entspann sich eine breite und leidenschaftliche Diskussion, ob und welche staatlichen Mittel und Wege es gebe, um Krisen zu verhindern oder zum mindesten zu mildern. Die Versicherungskassen gegen Arbeitslosigkeit erwiesen sich den Anforderungen, die an sie gestellt wurden, bei weitem nicht gewachsen. Sie verschlangen staatliche Zuschüsse. War es sinnvoll, so fragten die einen, Millionen und Millionen auszugeben, um Arbeiter durchzuhalten, die keine Arbeit finden konnte, anstatt diese Millionen in arbeitsbeschaffende Aufträge zu verwandeln? - 18 Jawohl, behaupteten die andern, denn Arbeitsbeschaffung führe zum Staatseingriff in die Wirtschaft und dieser widerspreche dem Wesen der Verfassung und zerstöre die Freiheit! Worauf die ersten wieder entgegneten, Freiheit ohne bürgerliche Existenz sei Schall und Rauch. Es ging ja nicht nur um die Löhne der Industriearbeiter. Das Gewerbe kam und wies nach, dass es durch die Krise zugrundegerichtet werde. Die Bauern wiesen nach, dass mit einem Schlag die Schulden drückend geworden waren und die Geltstage unerhört zunahmen. Die Exportindustrie erklärte, die fremde Konkurrenz sei drückend, weil im Ausland der Staat den Export fördere. S. 28: Rasch weitete sich die Diskussion jetzt zur allgemeinen politischen Auseinandersetzung aus. Der Staat sei unter dem vorherrschenden liberalen Denken eben meisterlos geworden, wage nicht mehr durchzugreifen und bedürfe wieder der Autorität, sagten die Konservativen. Nein, entgegneten ihnen die Sozialisten, es bedürfe bloss einer neuen Volksmehrheit, in der «die Werktätigen», d. h. die Industriearbeiter, die Schuldenbauern und die kleinen Leute des Gewerbes zu befehlen hätten, dann könne man mit grossen Zuschüssen aus Bundesgeldern, die durch Steuern den «Kapitalisten» abgenommen worden seien, die Wirtschaft wiederum ankurbeln. «Das hätte uns gerade noch gefehlt», entgegneten jetzt die Alt-Liberalen, «nachdem die Verschuldung der Eidgenossenschaft schon derart horrent geworden ist. Was wir brauchen, ist schärfste Sparsamkeit.» Und sie wiesen auf die miserablen Abschlüsse der Bundesbahnen und die jährlichen Bundesdefizite hin. Längst schon hatten sich junge Gruppen in die Diskussionen eingemischt. Unter ihnen waren die Jungliberalen und die Jungkonservativen, ursprünglich auch die Jungbauern die lebendigsten. Die beiden ersten verlangten, von verschiedenen Grundüberzeugungen ausgehend, eine Reform an Haupt und Gliedern, das heisst die Totalrevision der Bundesverfassung. Vom Beginn der dreissiger Jahre an, stark von der Entwicklung in Deutschland beeinflusst, griffen neue politische Gruppen in die Diskussion ein. Es entstanden im Frühjahr 1933 die Fronten und Bünde, als erste die «Nationale Front», die sich von der jungliberalen Bewegung ablöste. Bald gab es davon eine Vielzahl. Die Fronten und Bünde waren nicht alle S. 29: geistig von Deutschland oder von Italien her beeinflusst. In ihrem Kreise wurden zunächst einfach die Probleme diskutiert, die am brennendsten erschienen: - 19 jenes der Staatsautorität im Kampf gegen die Krise, das andere, wie eine bessere soziale Ordnung zu finden sei, ohne den marxistischen Sozialismus, und endlich die Frage, ob der Parteienstaat noch geeignet sei, die Aufgaben der Gegenwart zu lösen. Bald vermengten sich aber mit diesem Streben bei einzelnen Gründungen eindeutig ausländische Nachäffereien: Es wurden Parteiuniformen eingeführt, Massenmärsche inszeniert, und anstelle des nationalsozialistischen Antisemitismus das Antifreimaurertum als Mittel benützt, an die niederen Instinkte der Masse zu rühren. Die Begabung der schweizerischen Politik zum Kompromiss, die nüchtern praktische Auffassung vom Wesen der Politik, wurden jetzt geradezu als minderwertig abgelehnt. Schwung und idealistische Begeisterung, so hiess es, seien das, was der Schweiz not täten. Die Frontenbewegung, vereinigt mit jungliberalen und jungkonservativen, brachte eine Initiative auf Totalrevision der Bundesverfassung zustande. Da sich aber um das Begehren unvereinbare, geistige Gegensätze vereinigten, gelang es nicht, mit ihm im Volk ein Echo zu finden. Das Volk wollte nur revidieren, wenn man ihm sagen konnte, was an die Stelle der alten Verfassung treten werde. Diese Antwort blieb man ihm schuldig. So wurde im September 1935 das Volksbegehren wuchtig verworfen. Damit war jener Abschnitt der Frontenbewegung zu Ende. In den kantonalen und den eidgenössischen Wahlen erlangten die Frontisten nur wenige Sitze und längst nicht in allen Kantonen. Sie waren politisch vom Volk erledigt, lange bevor sie verboten werden mussten, weil der nächste Entwick- S. 30: lungsabschnitt beschleunigt in den Landesverrat hinein führte. Die Frontenbewegung erschöpfte sich nicht zuletzt deshalb so rasch, weil inzwischen die aussenpolitische Entwicklung Formen angenommen hatte, die alarmierten. Die Schweizer erkannten, dass sie gut daran taten, sich zu verständigen, den Graben zwischen Links und Rechts, zwischen Liberalen und Sozialisten, zwischen Staatsführung und Opposition, zwischen solchen, die die Staatshilfe verlangten und solchen, die sie ablehnten, nicht zur Kluft aufzureissen. Die Aussenpolitik meldete ihre Vorzugsstellung an. Ihr Ablauf mahnte die Eidgenossen, nicht zu vergessen, dass der Bund zur Schicksalsgemeinschaft geworden war. Die innere Entwicklung der Schweiz in den dreieinhalb Jahren vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ist unter diesem Vorrang der aussenpolitischen Mahnung zu verstehen. - 20 - Im September 1936 beschloss der Bundesrat, den Franken abzuwerten und damit den Anschluss der schweizerischen Wirtschaft an das internationale Preisgefüge zu ermöglichen. Damit war die Krise, oder doch wenigstens ihre verheerende Seite, abgeschlossen. Von jetzt an wurde mit grosser Konsequenz das Land in den Verteidigungszustand gebracht. Die Jugend fand für ihr nationales Wollen eine Aufgabe in den neuen, grösseren Forderungen der Wehrbereitschaft. Wer die Jahre zwischen 1936 und 1939 bewusst miterlebt hat und sie im geschichtlichen Rückblick noch einmal überschaut, staunt ob der. inneren Folgerichtigkeit dessen, was damals vorgekehrt worden ist. Als sich der Knoten geschürzt hatte, als die Hoffnungen und Illusionen von München zerbrachen, als der Westen trotz allem Widerwillen Hitler den Krieg erklären musste, erwies es sich, dass die kleine S. 31: Schweiz, diese umständliche Demokratie und föderalistische Republik, auf militärischem, aussenpolitischem, wirtschaftlichem, sozialem und geistigem Gebiet überraschend gerüstet war. Bundesrat Obrecht hatte allen Grund gehabt, als er in Basel so deutlich gesprochen und das «Wallfahrten» so kraftvoll abgelehnt hatte. - Von diesen unmittelbaren Kriegsvorkehren, und wie sie sich bewährten, wird das nächste Kapitel erzählen. S. 33: 2. KAPITEL Von der Mobilmachung zur «dröle de guerre» guerre» Der festfreudige Sommer 1939 - Rückblick auf das, was vorgekehrt war Uneingeschränkte Neutralität - Die Wehranleihe - Die nationalsozialistische Organisation der Deutschen in der Schweiz breitet sich aus - Wachsender Sinn für wirtschaftliche und soziale Solidarität - Kampf um die geistige Freiheit Der Sturm bricht los - Mobilmachung und Generalswahl - Der Aufmarsch der Armee - Die innere Front - Lohnausgleichskassen - Kriegswirtschaft Finnenbegeisterung - drôle de guerre - Erhöhte Bereitschaft im November 1939 - Oberfall auf Dänemark und Norwegen - Alarmbereit S. 35: Der Krieg, der am 1. September 1939 ausbrach, als in der Morgenfrühe Adolf Hitlers Divisionen die polnische Grenze überschritten, traf die Welt nicht überraschend. - 21 - Alle Illusionen über die wahren Absichten des deutschen "Führers» waren seit dem 15. März vernichtet. Die Menschen wussten, dass Hitler jedes Wort brach und den Krieg wollte. Der Druck dieser Gewissheit lag seit Wochen über den Völkern. Wann kam das Entsetzliche, aber unvermeidbare? Ein Fremder, der die Schweiz in jenem Sommer 1939 besuchte, mochte vielleicht die Meinung bekommen, die Eidgenossen hätten überhaupt noch nichts begriffen. Unsere Schweiz war von festlicher Hochstimmung erfüllt. Im April hatte die grosse Schweizerische Landesausstellung in Zürich, die «Landi», ihre Tore aufgetan. Im Juni fand das Eidgenössische Schützenfest in Luzern statt. Gleichzeitig begingen die Berner in grossartiger Weise den 600. Jahrestag der Schlacht von Laupen, ein Festzug von unerhörter Pracht begeisterte Tausende von Zuschauern aus der ganzen Schweiz. Wer indessen mehr als den äusseren Glanz sehen wollte, erkannte bald, dass hinter diesen Feiern doch auch der Wunsch des Volkes zu spüren war, sich selbst, sein Wesen und Wollen in diesem Augenblick und angesichts der geschichtlichen Lage irgendwie zur Geltung zu bringen. Jedermann fühlte es, dass ein neuer Abschnitt der Geschichte begonnen hatte, in dem Macht, Gewalt und Recht sich messen würden, die überwiegende Mehrzahl aller Volksschichten begann zu merken, dass in dieser Epoche der S. 36: Gewalttat und des Rechtsbruchs der Fall Schweiz zum Sonderfall geworden war. Heimlich fragten sich Tausende, ob wir wohl die Kraft aufbrächten, standzuhalten, wenn es uns ergehen würde wie den Tschechen oder den Österreichern. Aus diesem Grund war die Festfreudigkeit jenes Sommers, unmittelbar auf der Schwelle zwischen Krieg und Frieden, doch ein wenig mehr als gedankenloser Genuss. Sie war auf ihre Art ein Bekenntnis, wir seien bereit, den Gang der Geschichte zu erwarten. Am klarsten aber fand dieses Bewusstsein der Bereitschaft seinen Ausdruck im Höhenweg der Landesausstellung, jener staatsbürgerlichen Schau, die den Menschen aus allen Tälern der Schweiz sagte: Das sind wir. So denken wir. Dafür leben wir, und dafür sind wir bereit zu sterben, wenn man uns diese Wesensart je streitig machen sollte. Wir stellten im ersten Kapitel fest, dass es rückblickend erstaunlich ist, was in den dreieinhalb Jahren vor Kriegsausbruch alles zur Verteidigung der Eidgenossenschaft bereitgestellt worden war. - 22 - Überblicken wir kurz die Massnahmen. Aussenpolitisch war es Bundesrat Motta gelungen, nach langen Verhandlungen und nachdem bereits ein Volksbegehren - 23 - vorgesehen worden war, die uneingeschränkte Neutralität der Schweiz zurückzugewinnen. Alle Mächte, auch Italien und Deutschland, gaben die Zusicherung, dass sie diese Neutralität anerkennen würden. Der Vorgang, die uneingeschränkte Neutralität zurückzugewinnen, war ebenso heikel wie wichtig. Heikel, weil sich darin unser schweizerisches Misstrauen gegenüber der tatsächlichen Schwäche der Liga der Nationen offenbarte, wichtig, weil der Zerfall des Völkerbundsgedankens uns aus ureigenstem Selbsterhaltungstrieb zwang, die aussenpolitische Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen. Am 14. S. 37: Mai 1938 war das Verfahren abgeschlossen. Die Völkerbundsmächte anerkannten die uneingeschränkte schweizerische Neutralität. Die Schweiz brauchte fortan nicht mehr an wirtschaftlichen Sanktionen teilzunehmen. Der Rückzug auf die uneingeschränkte Neutralität verlangte die entsprechend entschlossene Bereitschaft, sie zu verteidigen. Das. ist die andere Linie der staatspolitischen Entwicklung! die sich in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre, seit Hitler das deutsche Staatsruder führte, in der schweizerischen Politik nachweisen lässt: Die Armee wird höchst populär und bekommt was sie nötig hat in einem Umfang, wie es ein halbes Dutzend Jahre früher undenkbar gewesen wäre. Der Umschwung vollzieht sich elementar im Volk selbst und wird nicht befohlen. Das zeigte sich besonders deutlich in der Sozialdemokratischen Partei. Das Gefühl in den breiten Volksmassen, die Schweiz müsse, angesichts des Gewaltgeistes, der im Süden und vor allem im Norden unter den Nachbarvölkern aufkam, militärisch stark werden, war derart durchschlagend, dass die Partei ihre grundsätzliche Ablehnung des Militärs aufgeben musste. Es war die Zeit, da der Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Minger, in Arbeiterversammlungen persönlich als Redner auftrat und mit volkstümlicher Beredsamkeit darstellte, warum wir ein Heer brauchten. Von 1936 an wurden Reformen in der Truppenausbildung eingeführt, die Rekrutenschulen verlängert und eine neue Truppenordnung angenommen, die 1938 in Kraft trat. Die Dauer der Wiederholungskurse stieg von zwei auf drei Wochen. Am 30. März 1936 schrieb der Bundesrat eine Wehranleihe zur öffentlichen Zeichnung aus und forderte 235 Millionen Franken. Da ging eine eigentliche Opferwelle durch das Volk. Es wurden - 24 - S. 38: kleine und kleinste Beträge neben grossen und grössten gezeichnet. Schon ein halbes Jahr später ergab sich, dass die Wehranleihe um 100 Millionen Franken überzeichnet worden war. Die Armee hatte jetzt die Finanzen bekommen, deren sie bedurfte, um das zu werden, was die Zeit verlangte. Der Erfolg der Wehranleihe bewies bereits, wie vorzüglich der Geist in den breiten Schichten des Volkes geblieben war. Nur ein verschwindend kleiner Teil, Menschen aus dem Bodensatz des Volkes, verharrte als Anhang und Mitläufer bei dem immer offenkundiger in die abschüssige Bahn des Verrates hineingleitenden Frontismus. Trotzdem erwies sich jetzt, um wieviel schwerer als die materielle Sicherheit, in der Form von Wehrkrediten und einer geschickten Aussenpolitik, die geistige Verteidigung aufzubauen war. Das Volk hielt an der alten Abneigung gegen Polizeigesetze fest. Es wollte nichts wissen von Maulkrätten und Gesinnungsschnüffelei: Es wollte Vertrauen! Verschiedene Vorstösse in den eidgenössischen Räten, die darauf abzielten, den polizeilichen Staatsschutz zu erweitern, mussten fallen gelassen werden. Das Volk fühlte sich, trotz allen Umbrüchen, seiner selbst sicher. Es erwies sich freilich, dass unsere freiheitlichen Einrichtungen für Faschismus und Nationalsozialismus höchstens als die günstige Möglichkeit betrachtet wurden, um sich unbehindert breit zu machen. Im eigenen Volke waren zwar die neuen Lehren auf unfruchtbaren Boden gefallen. Sie wurden gleichsam eingekapselt, wie Tuberkelbazillen von einem widerstandsfähigen Körper. Da begannen die Deutschen (aber auch die Italiener taten das), die in der Schweiz niedergelassenen Reichsdeutschen in nationalsozialistische Organisationsformen zusammenzufassen. S. 39: Die Deutschen wurden gezwungen, diesen Organisationen sich anzuschliessen. Manche machten von selbst mit. Mit deutscher Gründlichkeit und oft mit herausfordernder Taktlosigkeit entstanden so im ganzen Land herum die nationalsozialistischen Gruppen. Ein besonderer «Landesleiter» in Davos, Gustloff, leitete den ganzen Aufbau. Da wurde am 4. Februar 1936 dieser Landesleiter von David Frankfurter, einem jugoslawischen Staatsangehörigen deutsch-jüdischer Abkunft, ermordet. Dieser politische Mord erregte in der Schweiz wie im Ausland grosses Aufsehen. Die deutschen Machthaber erhoben sofort erregt die Anklage, Frankfurter sei von der Schreibweise der - 25 schweizerischen Presse aufgewiegelt gewesen und habe nur deshalb den Anschlag verübt. Die schweizerische Presse wies diese Behauptung energisch zurück. Der Bundesrat bestritt einen Zusammenhang zwischen der kritischen Haltung der Schweizer Presse und jenem Mord. Wenige Tage nach Gustloffs Ermordung beschloss er überdies, künftig in der Schweiz keine nationalsozialistische Landesleitung und keine Kreisleiter mehr zuzulassen. Er hielt vorerst an diesem Beschlusse auch dann noch fest, als die deutsche Regierung dagegen protestierte. Aber am 23. Februar 1937 wurde altBundesrat Schulthess in Berlin von Hitler empfangen. Hitler erklärte bei diesem Empfang, er werde die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz stets respektieren. Wenige Wochen später kassierten die Deutschen diesen Check auch schon ein: Sie schlugen dem Bundesrat vor, die Landesleitung der nationalsozialistischen Organisation in der Form wieder zuzulassen, dass sie von einem Diplomaten der Gesandtschaft besorgt werde. Der Bundesrat stimmte zu. Die Nazi hatten ihre Organisation wieder. Gleich darauf verboten sie alle schweize- S. 40: rischen Zeitungen in Deutschland. Auch Auslandschweizer konnten diese nicht mehr beziehen. Nach wie vor konnten aber deutsche Blätter frei in der Schweiz verkauft werden. Die Angelegenheit leuchtete wie ein Schlaglicht auf die geistig-politische Lage des Landes. Sie bewies, dass die altüberlieferte Freiheit jedenfalls nur Bestand haben konnte, wenn sie wachsam behütet und wenn gegenüber dem Missbrauch jede Schwäche vermieden wurde. Ein rabiates Gegenstück zur nationalsozialistischen Organisation der Deutschen bildete im Tessin und in Graubünden die Tätigkeit der italienischen Irredenta, einer Bewegung, die - offener und unverfrorener als die Nationalsozialisten - für den Anschluss der italienisch sprechenden Landesteile an Italien Propaganda machte. Der Bundesrat begegnete der verschärften Lage dadurch, dass er im Frühjahr 1936 einen besonderen Polizeizweig, die Bundespolizei, schuf und der Bundesanwaltschaft unterstellte. Es war unter solchen Umständen eine grosse Leistung, dass es gelang, die geistige Einheit im Volk zu bewahren, ja zu verstärken. Heute erscheint uns auch das selbstverständlich. Es kommt uns indessen vielleicht nur deshalb selbstverständlich vor, weil die ursprünglichen politischen Kräfte im Volk, sein Wille zur inneren Freiheit und zur Unabhängigkeit nach aussen, - 26 - lebensstark geblieben waren, so dass die Massnahmen der Behörden einfach aus dem hervorwuchsen, was das Volk allgemein erwartete, sie mussten diesem Volk nicht zu seinem eigenen Schutz aufgezwungen werden. Das grosse innenpolitische Problem war dagegen der wachsende Gegensatz zwischen den Geboten der Verfassung und dem äussern Zwang, gegen diese Gebote regieren zu müssen. Auf allen Gebieten stand die S. 41: Eidgenossenschaft in der Verteidigung. Das Ausland kehrte, als die grosse Wirtschaftskrise abflaute, nicht zur internationalen Freizügigkeit zurück, es begann sich jenes System eines internationalen Tauschhandels einzubürgern, bei dem von den Partnern genau abgemacht wurde, wieviel Ware jeder dem andern abnahm, wieviel er als Gegenrecht dafür bezog. Das Gold wurde jetzt endgültig entthront und der internationale Zahlungsverkehr in vom Staat genau geregelte Bahnen übergeführt. So entstand eine geschlossene, schweizerische Volkswirtschaft, bei der sich der Bund bestimmend in den Aussenhandel einschaltete. Zugleich wachten die einzelnen Wirtschafts- und Sozialgruppen seit der Krise eifersüchtiger als früher darüber, dass der Kuchen, den man das Volkseinkommen nennt, gerecht verteilt wurde. Bedrohte Wirtschaftszweige, wie das Kleingewerbe oder die Bauern, forderten Schutz gegenüber den Finanzmächten und der Exportindustrie. Weil aber jedermann spürte, die Schweizerische Eidgenossenschaft sei zu einer Schicksalsgemeinschaft' geworden, so konnten die Behörden solche Forderungen nicht einfach mit dem Hinweis ablehnen, sie seien gegen den Geist und den Buchstaben der Verfassung. Diese zu revidieren hatte aber das Volk ausdrücklich abgelehnt. So ergab sich eine Kluft zwischen dem Wunsch nach Schutz und Solidarität auf der einen, und der Notwendigkeit, die Freiheit durch eine klare Rechtsordnung zu sichern, auf der andern Seite. Das Gefühl für die Grösse dieser Kluft wurde durch die drohende äussere Gefahr daran verhindert, sich in offenes Unbehagen zu verwandeln. Erst nach dem Kriege brach dieses offen durch, offenbarte sich die andere Seite des schweizerischen Durchhalteproblems. S. 42: Einen bedeutenden Schritt weiter kam das soziale Leben. Die grosse Wirtschaftskrise hatte bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Gefühl dafür verstärkt, dass es sinnlos sei, sich gegenseitig zu bekämpfen. - 27 Das erste, wegweisende Ergebnis dieser Einsicht war das Friedensabkommen in der Metallindustrie, das am 19. Juli 1937 zwischen den Spitzen der Metallarbeitergewerkschaft und dem Arbeitgeberverband der Metallindustriellen geschlossen wurde. 'Beide Gruppen verpflichteten sich darin, alle Differenzen des Arbeitsverhältnisses auf dem Weg von Verhandlungen zu lösen, sie legten bestimmte Grundsätze über die Lohn-, Ferien- und Freizeitgestaltung etc. fest. Jeder Partner des Abkommens hinterlegte auch eine Kaution als gegenseitige Sicherung gegen Vertragsbrüche. Dieses Abkommen erregte weit über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen. Zum erstenmal hatten sich Arbeiter und Unternehmer als Gleichberechtigte gefunden und die gegenseitigen Positionen grundsätzlich anerkannt. Der Wille, praktisch aufzubauen, wurde über die doktrinäre Verbissenheit gestellt. Das Friedensabkommen bewährte sich. Es bildete den Beginn einer neuen Entwicklung des schweizerischen Arbeitsrechtes und der Gesamtarbeitsverträge. Dieser bedeutenden Wandlung im sozialen Denken dürfen wir es massgeblich zuschreiben, dass die Schweiz den zweiten Weltkrieg ohne gefährliche soziale Spannungen überstanden hat. Endlich sei, wenn wir diesen Gang der geistig-politischen Entwicklung überblicken, der Kampf um die Pressefreiheit erwähnt. Dieser Kampf musste vornehmlich gegenüber Deutschland ausgetragen werden. Man muss, will man seine. ganze Bedeutung ermessen, sich vergegenwärtigen, wie eng die kulturellen Beziehungen zwischen der S. 43: Schweiz und Deutschland noch nach dem ersten Weltkrieg geblieben waren, wenn sie schon damals längst nicht mehr jene Dichte aufwiesen, wie in der Zeit vor 1914. Immer noch verbrachten aber die schweizerischen Studenten ein oder mehrere Semester an deutschen Universitäten, immer noch war der deutsche Büchermarkt der Rückhalt für schweizerische Autoren, immer noch verfügten die deutschen Zeitungen und Zeitschriften über eine gewichtige schweizerische Kundschaft. Aus all diesen Gründen war die Anteilnahme gerade der deutschen Schweiz am Umschwung in Deutschland rege und lebendig. Als gar die deutsche Presse der Zensur unterstellt, «gleichgeschaltet» wurde, wie der Ausdruck lautete, stieg der Absatz schweizerischer Blätter, in denen die Wahrheit noch ungeschminkt zu lesen war, in Deutschland rapid. Da verboten die Nazi die Einfuhr schweizerischer Zeitungen nach Deutschland. Zugleich versuchten sie in steigendem Ausmass über die schweizerischen Behörden einen Druck auf die - 28 Schweizer Presse auszuüben, um sie daran zu hindern, frei über innerdeutsche Verhältnisse zu berichten. Ähnlich wie den deutschen Machthabern das in Österreich gelungen war, gedachten sie, mit der Schweiz ein Presseabkommen abzuschliessen. Mit diesem hätten die Zeitungen bei uns mundtot gemacht werden sollen, und obendrein hätte es ein wirksames Mittel gebildet, um sich mit dem Vorwand, Abmachungen seien verletzt worden, in innerschweizerische Verhältnisse einzumischen. Die schweizerische Presse hat all diese Versuche entschlossen zurückgewiesen. Manche glaubten damals, die Presse überschätze ihre Bedeutung in diesem Abwehrkampf. In der rückblickenden Schau ergibt sich jedoch, dass gerade dieser Teil der inneren Besinnung wesentlich S. 44: war. Ohne das uneingeschränkte freie Wort unserer Zeitungen wäre es viel leichter gewesen, das Schweizervolk in jenen Jahren der geistigen Abwehr gegen die deutsche Macht mürbe zu machen. Zusammenfassend ergibt sich, dass das Schweizervolk und der eidgenössische Bund gerüstet waren, als die aussenpolitische Krise sich zum Krieg ausweitete. Gewiss erwies sich nachher in den fünfeinhalb Jahren alles als viel schwerer und viel gefährlicher, als es sich die Menschen im Frieden vorgestellt hatten. Aber diese Menschen waren auch fähiger geworden im Ertragen unerwarteter Dinge. Im März des europäischen Schicksalsjahres 1939 hatte die Schweiz durch den Mund eines Bundesrates der Welt kundgetan, wir würden nie wallfahrten gehen. Gleichlaufend mit den äusseren Ereignissen traf der Bundesrat jene Massnahmen, die der Welt bewiesen, dass hinter dem Wort von Basel ein Wille zur Tat stand. Seit dem 24. August, dem Tag, da Hitler mit Stalin den deutsch-russischen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, der den geheimen Zusatzvertrag für eine Teilung Polens enthielt, falls Deutschland Polen mit Krieg überziehen würde, lag der Krieg spürbar in der Luft. Nach allem Hohn, den Hitler den Briten und Franzosen mit seinen verschiedenen Wortbrüchen zugefügt hatte, schien es undenkbar, dass die beiden Staaten einem überfall auf das verbündete Polen zusehen durften, ohne den Deutschen den Krieg zu erklären. Da aber gerade jetzt, seit Augustbeginn 1939, die Hetzereien in der deutschen Presse gegen den polnischen Staat und die Ausschreitungen zwischen deutschen Minderheiten und Polen täglich zunahmen, vermutete man darin eine Absicht, erkannte man, dass Hitler auch diesen Krieg wollte. - 29 - S. 45: Am 25. August, am Tag nachdem das deutsch-russische Bündnis bekannt geworden war, wandte sich der Bundesrat mit einer Erklärung an das Schweizervolk. Er wies darauf hin, dass die Möglichkeit eines Kriegsausbruches nahegekommen war und ermahnte es, ruhig und würdig den Ereignissen entgegenzublicken. Wenige Tage später, am 28. August, wurden die gesamten Grenzschutztruppen aufgeboten. Diese Verbände bestanden erst seitdem die neue Truppenordnung in Kraft war, also seit Anfang 1938. Ihre Mobilmachung vollzog sich reibungslos innerhalb weniger Stunden. Das stärkte die Selbstsicherheit des ganzen Volkes. Von jetzt an folgten sich die Ereignisse Zug um Zug. Die Deutschen mobilisierten. Franzosen und Engländer antworteten mit der gleichen Massnahme. Am gleichen 28. August, da der Grenzschutz aufgeboten worden war, berief der Bundesrat die Bundesversammlung auf den 30. August zu einer Sondersitzung ein, mit folgender Tagesordnung: l. Erteilung von Vollmachten an den Bundesrat, 2. Wahl des Generals. Für das ganze Gebiet der Eidgenossenschaft wurde der Aktivzustand erklärt. Am Mittwoch, den 30. August, abends 5 Uhr, begannen die Verhandlungen der Vereinigten Bundesversammlung. Dem Bundesrat wurden Vollmachten übertragen, die ihm erlaubten, über Verfassung und Bundesversammlung hinweg Massnahmen zu beschliessen, die für die Verteidigung des Landes notwendig erschienen, und die jeweilen erst nachträglich von den eidgenössischen Räten gebilligt werden mussten. 181 National- und 42 Ständeräte stimmten dem Vollmachtenbeschluss zu. Nun erfolgte die Generalswahl. Zwei Kandidaten standen im Vordergrund, der jüngere, Oberstdivisionär Borel, und der ältere, Oberstkorpskommandant Guisan. Beide waren welscher Zunge, unter S. 46: schieden sich aber im Temperament. Der Neuenburger Borel war ein forscher Draufgänger, Guisan mehr der bedächtige Waadtländer. Die Vereinigte Bundesversammlung entschied sich mit 204 von 229 Stimmen für Guisan. Oberstdivisionär Borel erhielt 21 Stimmen. General Guisan erschien sofort nach der Wahl, allein, ohne Adjutanten, im Nationalratssaal und legte vor dem stehenden Plenum der Versammlung, bei überfüllten Tribünen, den Eid ab. Hierauf empfing ihn draussen, auf dem Bundesplatz in Bern, eine frohe, wogende, jubelnde Menge. Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten fuhr er im - 30 - - 31 - offenen Auto durch Berns Strassen, vom lauten Beifall aus den dichtbesetzten Lauben der alten Stadt begleitet. Als Generalstabschef hatte die Bundesversammlung Oberstkorpskommandant Labhardt bestätigt. Im Augenblick der Generalswahl schien zunächst die internationale Lage eher entspannt zu sein. Hitler hatte am gleichen Tage einen «Ministerrat für die Reichsverteidigung» eingesetzt, und es gab sogar im Bundeshaus Stellen, die dieses Ereignis dahin deuteten, gemässigte Kreise hätten in Deutschland sich durchsetzen und Hitler unter ihre Kontrolle zu nehmen vermocht. Zwischen Berlin, Rom und London wurde fieberhaft verhandelt. Im Verlauf des 31. August erliess der Bundesrat indessen die Neutralitätserklärung der Schweiz, in der er den Regierungen der Mächte mitteilte, die Schweiz werde sich im Fall eines Kriegsausbruchs neutral verhalten. In der Nacht vom 31. August auf den 1. September überschritten Adolf Hitlers Heere die deutsch-polnische Grenze. Während noch nach dem Einmarsch in Polen zwischen den grossen Kapitalen die letzten Versuche hin und her gingen, Hitler dazu zu bewegen, die grosse Wahnsinns tat rückgängig zu machen, S. 47: verfügte der Bundesrat auf den 2. September 1939 die allgemeine Kriegsmobilmachung. Zugleich traten die vorsorglichen Massnahmen kriegswirtschaftlicher Art, der Kriegsfahrplan für die Bahnen und bald auch die kriegsgemässe Pressekontrolle in Kraft. Für einige Wochen beherrschte die Armee ausschliesslieb das Bild des öffentlichen Lebens in der Schweiz. Das zivile Leben erschien wie ausgestorben. Es war eine Mobilmachung von anderem Stil und anderer Stimmung als 25 Jahre zuvor. Der Krieg war nicht als Explosion gekommen, sondern als die letzte Stufe einer zunehmenden Spannung. Diesmal verliessen nicht Ströme von Fremden das Land, die Fremden waren im Sommer 1939 nur spärlich eingetroffen. Die Armee aber hatte den Ruf erwartet und folgte ihm gelassen, entschlossen und selbstverständlich. Um den 5. September herum war der Aufmarsch unserer Armee beendet. Vorn, in den eigentlichen Grenzbezirken, lagen die Grenzbrigaden. Hinter ihnen stand das Gros des Heeres. Im Osten und im Norden des Landes befand sich das dritte Armeekorps unter Oberstkorpskommandant Miescher. Vom Fricktal bis in den Solothurner Jura schloss sich das zweite Armeekorps unter Oberstkorpskommandant Prisi an. - 32 - Die eigentliche Westfront, im Neuenburger und Waadtländer Jura sowie im «Gros de Vaud», hielt das erste Armeekorps unter Oberstkorpskommandant Lardelli. Die Südfront, direkt unter dem Kommando des Generals stehend, wurde am Simplon von der Gebirgsbrigade 11, unter Oberstbrigadier Bühler, und am Gotthard von der neunten Division unter Oberstdivisionär Tissot gehalten. Als Armeereserve verfügte der General über die dritte Division im Raume von Bern und Murten und die achte Division unter Oberstdivisionär Gübeli S. 48: im Wiggertal. Endlich lagen in Muri bei Bern, Murten und Dübendorf die Kommandoposten der drei Fliegerregimenter. Das Armeekommando befand sich in Spiez. Im Soldatenmund nannte man es, wegen des vielen militärischen Goldes, bald «die Goldküste». Der General hatte die Armee der Lage entsprechend aufgestellt. Noch gab es unmittelbar an der Schweizergrenze keine kriegerischen Ereignisse. Die Franzosen blieben in den Bunkern und Werken der Maginotlinie, ohne sich zu rühren. Italien nannte sich «nichtkriegführend». In Polen aber vollzog sich der Ablauf des Feldzuges rasch, brutal und in vernichtenden Schlägen. Schon am 17. September fielen die Truppen der Sowjetunion den Polen in den Rücken. Ende September kapitulierte Warschau nach heldenhaftem Widerstand. Nun traten die deutsch-russischen Abmachungen in Kraft: Polen wurde als Staat zerstört, ein Teil kam als «Generalgouvernement» an Deutschland, die östlichen Teile rissen die Russen an sich. Wäre es in den ersten Kriegstagen möglich gewesen, dass französische Truppen den Durchgang durch die Schweiz hätten fordern können - England zögerte, die Neutralität der Schweiz anzuerkennen -, so stieg nach dem raschen polnischen Zusammenbruch die Gefahr eines deutschen Angriffs auf unser Land. Die Aufmarschstellung der schweizerischen Armee vom Herbst 1939 war daher so gewählt, dass sie es ermöglichte, den Kampf in beiden Fällen, sowohl bei einem alliierten wie einem deutschen Angriff, führen zu können. Es ergab sich indessen, dass nach Polens Niederlage zunächst eine Ruhepause eintrat. Engländer und Franzosen verharrten in ihren Stellungen am Rhein und in Lothringen, bis zur belgischen Grenze. In Deutschland begann ein fieberhaftes Rüsten. Die unheim- S. 49: liche Stille des «drôle de guerre», des sonderbaren Krieges, wie die Franzosen ihn nannten, legte sich auf Europa. - 33 - Am 2. September 1939 standen nach beendigter Mobilmachung, einschliesslich dem bereits mobilisierten Grenzschutz, 450'000 Mann eidgenössischer Truppen unter den Fahnen. Die Mobilmachung war eine imposante Kundgebung nationaler Entschlossenheit gewesen. Jetzt galt es, mit den Kräften zu haushalten. Das Leben musste weitergehen, trotz der Kriegsbereitschaft. Die Industrie forderte Arbeiter, die Bauernhöfe brauchten Männer, Bauern und Knechte, aber auch Pferde, um den Herbstsegen einzubringen und die Felder zu bestellen. Zahlreiche Kleinbetriebe bedurften ihres Meisters. Der General senkte allmählich die Zahl der Aufgebotenen, bis zum Spätherbst 1939 umfasste sie nur mehr die Hälfte des Einrückungsbestandes. Während ein Kern aller Kompagnien, Batterien und Schwadronen am Standort mobilisiert blieb, löste sich das Gros der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere in mehrwöchigen Urlauben ab. Noch war die Arbeitslosigkeit nicht völlig verschwunden. Im Dienst bleiben zu dürfen, bedeutete daher für manchen Wehrmann eine durchaus willkommene Gelegenheit. Jetzt stellten sich aber für Bundesrat und Armeeleitung die Probleme der internen Front. Es galt, nicht nur mit den materiellen, sondern auch mit den seelischen Kräften des Volkes zu haushalten. Mochte es in den ersten Wochen des Polenkrieges noch einzelne gegeben haben, die wähnten, das Ende des Feldzuges in Polen werde neue Verhandlungen und nachher den Frieden bringen, so lag für alle Weiterdenkenden der Fall klar: Der neue Weltkrieg würde sich zum harten, Jahre dauernden Ringen auswachsen. Da galt es denn, nicht nur mit guten Waffen an der S. 50: Grenze zu stehen, sondern all das zu vermeiden, was die Grenzbesetzung von 1914-18 verdüstert hatte: Ungenügende Fürsorge für die Wehrmänner, die im Dienst für die Heimat ihre zivile Arbeit vernachlässigen mussten, Hamstertum und Wucher in der Wirtschaft, schlechte Stimmungen unter der Truppe, mit der man nichts Gescheites anzufangen gewusst hatte. Die leitenden Männer aller Gruppen waren sich im klaren, was es bedeuten würde, wenn die nationalsozialistische Propaganda eine innere Unzufriedenheit ausnützen könnte. Als im Spätherbst 1939 die Russen Finnland überfielen und keine Grossmacht für das kleine Volk einen Finger rührte, wurde uns Schweizern von neuem bewusst, wie gefahrvoll die Lage eines Kleinstaates mitten in Europa geworden war. - 34 Obenan stand, sobald man daran ging, die innere Front zu stärken - das lehrten die Erfahrungen des ersten Weltkrieges - die Forderung, den Soldaten des Aktivdienstes vor dem Lohnausfall und damit seine Familie vor der Not zu schützen. Gewiss gab es das System der Notunterstützung für Wehrmänner. Es war ein Almosensystem, behaftet mit demütigenden Bestimmungen. Wer seine Hilfe anrief, musste seine Not belegen. Manch aufrechter Bürger hütete sich deshalb, diese Notunterstützung zu fordern, weil er nicht wollte, dass ihm und seinen Kindern womöglich das später noch vorgehalten würde. Nach gründlicher Vorbereitung, bei der die Spitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mitgewirkt hatten, verordnete der Bundesrat am 20. Dezember 1939 auf dem Vollmachtenweg die Einführung der Lohn- und Verdienstersatzordnung. Es wurden Kassen errichtet, in die Arbeiter, Angestellte und Unternehmer sowie der Bund und die Kantone gemeinsam ihre Beiträge leisteten, und zwar S. 51: unter den erwerbstätigen Personen alle, also auch jene, die keinen Militärdienst zu leisten hatten. Die Verordnung wurde im Juni 1940 ergänzt und auf die Selbständigerwerbenden ausgedehnt. Mit den Lohn- und Verdienstausfallkassen erhielt nun jeder Wehrmann, unabhängig von seinem Grad in der Armee und seiner zivilen Stellung, vom ersten Tag an, da er unter den Fahnen stand, einen Beitrag ausbezahlt, der nach dem Einkommen abgestuft war, aber eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte. Das Problem des Verdienstausfalles für die Mobilisierten war durch ein Werk der Solidarität gelöst. Es bewährte sich ausgezeichnet und bildete später die Grundlage der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Es war ein sichtbarer Ausdruck dafür, dass der Geist der Zusammengehörigkeit in allen Volksschichten geweckt war. Zeugten die Lohn- und Verdienstausgleichskassen von lebendiger Solidarität, so bewies die Organisation der Kriegswirtschaft, die das Verdienst von Bundesrat Obrecht war, und auf die wir in anderem Zusammenhang zurückkommen werden, dass Demokratie schweizerischer Prägung und planende Voraussicht im Augenblick der Not und der äusseren Bedrohung durchaus miteinander zu vereinbaren waren. Die Grundüberlegung der kriegswirtschaftlichen Organisation war die Einsicht, der Krieg werde auf allen Gebieten einen Mangel an Gütern mit sich bringen. Er werde deshalb die Preise rasch in die Höhe schnellen lassen, den Gutbemittelten viel, den Armen wenig zu kaufen erlauben und auf diese Krise die Ungerechtigkeit laut und am Ende schreiend - 35 werden lassen. Das war die Erinnerung, die vornehmlich die Jahre 1917 und 1919 hinterlassen hatten. Hier beugte der Bundesrat diesmal gründlich vor. Er S. 52: befahl die «kriegswirtschaftliche Milizpflicht»: Führende Männer des wirtschaftlichen Lebens traten an die Spitze der Kriegswirtschaftsämter. Kriegswirtschaft - das hiess im übrigen, dass die knapp werdenden Güter von Bundes wegen verwaltet und verteilt wurden. Sie wurden, wie die Fachausdrücke lauteten, rationiert und kontingentiert. Es mussten für alle Zweige der Wirtschaft Schlüssel gefunden werden, die jedem das Seine garantierten, es ging nicht ohne Erhebungen, Statistiken und viel Papier, nicht ohne einen Stab von neuen Beamten, aber dafür gelang es, eine durchschnittliche und brauchbare Gerechtigkeit zu finden. Aber nicht nur die Güter wurden von zentraler Stelle bewirtschaftet: es wurden gewisse Schlüsselerscheinungen des wirtschaftlichen Lebens reguliert, z. B. die Preise oder die Mietzinse für Wohnungen. Später, als der Krieg gar zu lange dauerte und der Friede nicht einkehren wollte, selbst als der Kampf mit den Waffen vorüber war, empfand die Mehrheit des Volkes jene Einrichtungen bald als Zwang und wünschte sie weg. Dieser Stimmungsumschwung war begreiflich, er darf uns indessen nicht in der Einsicht beirren, dass die kriegswirtschaftliche Organisation in den ersten Kriegsmonaten voraussehend wirkte - sie förderte die Einfuhr aus Italien, solange dieses noch nicht kriegführend war, und legte Vorräte an -, und sie wirkte später als vielleicht oft grobschlächtige, unter den gegebenen Verhältnissen aber einzig mögliche Form der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit. So kommt der kriegswirtschaftlichen Organisation ebenfalls ein entscheidender Anteil zu, dass der Geist im Volk gesund und unangefochten blieb. Innenpolitisch verlief der erste Kriegswinter ruhig. Am letzten Sonntag im Oktober 1939 fanden die Nationalrats- S. 53: wahlen statt. Sie brachten einen leichten Ruck nach rechts. Der grössere Teil der Stimmberechtigten stand unter den Fahnen und wählte vielleicht nach etwas anderen Gesichtspunkten, als er es als Zivilist getan hätte. Als bezeichnend war es zu betrachten, dass am 3. Dezember ein Bundesgesetz, das die Besoldung der Beamten verbessert hätte, in der Volksabstimmung mit grossem Mehr verworfen wurde: Noch war die Lohn- und Verdienstersatzordnung nicht in Kraft. - 36 - Bereits drückte die Sorge um die zivile Existenz viele Eidgenossen im Wehrkleid. Ihr Nein zum Beamtengesetz wollte sagen, sie hielten jene Verbesserung für den an und für sich gesicherten Beamtenstand im Augenblick nicht für zeitgemäss. War es nicht etwas Grosses, dass wir, mitten in der Ungewissheit des Zeitalters, unser Volk über eine derartige Frage abstimmen lassen konnten? Während des ganzen Krieges nahm - wenn schon in den Gemeinden und Kantonen ausgesprochener als im Bund mit seinen Vollmachten - das bürgerliche Leben mit den periodischen Wahlen und Abstimmungen seinen Lauf. Ein Ereignis im Kriegswinter 1939 auf 1940 darf nicht vergessen werden, sobald man den innenpolitischen Strömungen und den Regungen der Volksseele nachgeht: Die allgemeine Sympathiewelle für das finnische Volk, die die Schweizer aller Schichten und Klassen erfasst hatte. Finnland war das erste Opfer der deutsch-russischen Verständigung. Keine der grossen Mächte rührte sich, als die Russen im Spätherbst die Finnen überfielen. Die Deutschen sahen unbeteiligt zu, aus Rücksicht auf ihren jüngsten Bundesgenossen, die alliierten Mächte, die eben erst von den Russen durch das Bündnis zwischen Stalin und Hitler düpiert worden waren, hielten es für klüger, den Zorn des S. 54: Kremls nicht noch stärker auf sich zu ziehen. Nordamerika und die Schweiz waren, neben den skandinavischen Ländern, die einzigen, die eine grosszügige Finnenhilfe organisierten. Finnlands Heldenkampf gegen einen weit überlegenen Feind erschien jedem Schweizer wie der Spiegel einer Möglichkeit, die uns von einem Tag auf den andern treffen konnte. Indem er für die Finnen spendete, half der Schweizer spontan einer kleinen Nation, einem kleinen Brudervolk. Es kamen in jenem ersten Kriegswinter rund vier Millionen Schweizerfranken zusammen! Jeder Schweizer, ob gross oder klein, ob erwachsen oder noch Kind, ob reich oder arm, hatte im Durchschnitt einen Franken für die Finnen geopfert. Die unmittelbare Kraft jenes Helferwillens ist von keiner der späteren Hilfs- und Sammelaktionen mehr erreicht worden. Inzwischen stand die Armee in ihren Räumen. Sie übte und sie schanzte. Noch glaubte man an die Kraft von Festungen. Noch war ja der Maginotwall nicht gefallen. Stellungen für Geschütze, Bunker für Maschinengewehre, Gräben für Einzelschützen usw. erstanden als Feldbefestigungen in breitem Kranz im schweizerischen Grenzraum, vom Osten bis zum Westen. - 37 - Der Krieg selbst aber schien eingeschlafen zu sein. Hüben und drüben lagen Franzosen, Engländer und Deutsche. Man begegnete sich im Patrouillenkrieg und in kleinen Stosstruppunternehmungen, daneben wusste die Kunde zu berichten, es seien da und dort so etwas wie Verbrüderungsszenen zwischen den Parteien vorgekommen. Jedenfalls schwiegen die schweren Geschütze der Maginotlinie, und die deutschen Züge fuhren unbelästigt von Basel nach Frankfurt. Von den Deutschen wusste man freilich, dass sie rüsteten, Truppen aushoben und Rekruten drillten. S. 55: Hitler beschäftigte sich damals einen Augenblick lang mit dem Plan, noch im Spätherbst die Offensive gegen Frankreich auszulösen und Belgien zu überfallen. Am 8. November wurde in München ein Attentat gegen ihn versucht, von dem bis zur Stunde nicht feststeht, ob es von einem wirklichen Attentäter oder von einem bestellten unternommen worden ist, wobei in diesem letzten Falle das Attentat den Sinn gehabt hätte, dem deutschen Volk die Unverletzlichkeit des «Führers» zu beweisen. In der deutschen, offiziellen Mitteilung über den Anschlag hiess es indessen, die Spuren der Organisation des Attentates wiesen nach der Schweiz hin. Man wusste, was solche Verdächtigungen zu bedeuten hatten. Überdies meldete der schweizerische Nachrichtendienst Truppenansammlungen in Süddeutschland und im Schwarzwald. Am 9. November wurden für die ganze Armee die erhöhte Bereitschaft und für die Truppen im Norden und Osten des Landes, sowie an der Grenze, die Alarmbereitschaft befohlen. Doch die Gefahr ging vorüber. Hitler verschob seine Offensive auf den Frühling. Die ununterbrochenen Angriffe deutscher Blätter auf die Haltung der Schweiz, vornehmlich der Schweizer Presse, die während des ganzen Winters anhielten, liessen jedenfalls keinen Zweifel aufkommen, dass der Fall Schweiz vor den Augen der nationalsozialistischen Machthaber keineswegs Gnade gefunden hatte. Anfang Dezember erliess der Bundesrat ein Verbot der staatsgefährlichen Propaganda in der Armee. Es richtete sich gemeinsam gegen nationalsozialistische wie kommunistische Umtriebe unter der Truppe. Mit fortschreitendem Frühling stieg die Nervosität. Es wurde spürbar, dass grosse Schläge nahe bevorstanden. Zunächst zwar - so im Februar und Anfang März - tauch- S. 56: ten Gerüchte auf, die von einem bevorstehenden Friedensangebot Hitlers an die Westmächte raunten. Mit einem Schlag zerbrach dieser Wahn - nur fiel er in - 38 ganz anderer Richtung, als man vermutet hatte. In der Morgenfrühe des 9. April 1940 wurden gleichzeitig Dänemark und Norwegen von den Deutschen überfallen. Militärisch war das Unternehmen tollkühn, und die Welt verfolgte seinen Ablauf mit grösster Spannung. Aber es gelang. Dänemark und Norwegen kapitulierten, das letzte nach hartnäckiger Gegenwehr seiner ungenügend ausgerüsteten Truppe. Der Überfall auf die beiden skandinavischen Länder offenbarte indessen mit besonderer Krassheit die Methoden der nationalsozialistischen Kriegführung. Beide Länder wurden ohne Kriegserklärung, ohne die geringste Ankündigung, überrumpelt. In Norwegen bedienten sich die Deutschen landesverräterischer Gesellen, die im entscheidenden Augenblick die Verteidigung sabotierten. Der Führer dieser Verräter war der norwegische Offizier Quisling. Sein Name kam zu trauriger Berühmtheit und wurde zum Begriff der verräterischen Zusammenarbeit mit dem Feind. Der überfall auf Dänemark und Norwegen offenbarte, wie die Nationalsozialisten sich gründlich und planvoll der sogenannten «Fünften Kolonne», der Verräter und Saboteure zu bedienen wussten, wie sie es verstanden, schon vor dem militärischen überfall die innere Front eines Staates brüchig zu machen. Die Armeeleitung war vom deutschen Schlag gegen die beiden skandinavischen Staaten nicht überrascht worden. Seit den letzten Märzwochen hatte der General die Bereitschaft der Armee erhöht, die Urlaube wurden rar, der Tätigkeit der Fünften Kolonne wurde grösste Beachtung geschenkt. Bereits trommelte die deutsche Presse wieder S. 57: mit schärferer Vehemenz auf die Schweiz los. Am 18. April 1940 erliess der Bundesrat genaue Weisungen für die Kriegsmobilmachung bei überfall, für das Verhalten gegen Luftangriffe, Saboteure, Fallschirmspringer und Elemente der Fünften Kolonne. Diese Weisungen wurden öffentlich angeschlagen. In diesem Fall war es erwünscht, dass der Feind «mithörte»! Der Maueranschlag, der sich nüchtern, ja fast ein wenig pedantisch «Weisungen des Bundesrates und des Generals über das Verhalten bei feindlichem Überfall» nannte und in der Bundesratssitzung vom 18. April 1940 verabschiedet wurde, ist ein unvergängliches Dokument der Geschichte. Es enthielt zunächst einfach Befehle, wie sich der auf Urlaub befindliche Soldat zu verhalten habe, falls das Land überfallen werden sollte. Es folgten Angaben über die praktische Gestaltung der Kriegsmobilmachung bei Überfall. - 39 - Dann aber hiess es: «Jeder Offizier hat die Pflicht, alle Wehrmänner zu sammeln und mit ihnen in rücksichtsloser Schärfe gegen Fallschirmspringer, Luftinfanterie und Saboteure vorzugehen. Wo keine Offiziere und Unteroffiziere zugegen sind, handelt jeder Soldat unter Anstrengung aller Kräfte aus eigener Initiative. Sobald es sich zeigt, dass in einer Ortschaft die Angriffe des Feindes oder seiner Mitläufer mit den Organisationen der Territorialtruppen und des bewaffneten Hilfsdienstes bewältigt werden können, haben die übrigen Wehrmänner mit allen Mitteln zu versuchen, ihren Stab oder ihre Einheit oder den nächsten Korpssammelplatz zu erreichen. Es muss vermieden werden, dass in Ortschaften allzu viele Leute in Bereitschaft bleiben und durch diese Zersplitterung die Kräfte der Fronttruppen geschwächt werden. S. 58: Wenn durch Radio, Flugblätter und andere Mittel Nachrichten verbreitet werden sollten, die den Widerstandswillen von Bundesrat und Armeeleitung anzweifeln, so sind solche Nachrichten als Erfindung der feindlichen Propaganda zu betrachten. Unser Land wird sich gegen jeden Angreifer mit allen Mitteln und aufs Äusserste verteidigen. Die Zivilbevölkerung hat in einer solchen Lage Ruhe und Ordnung zu bewahren, sich in ihren Wohnungen oder Arbeitsplätzen aufzuhalten, alle Strassen und Plätze zu räumen und den Anordnungen der gesetzmässigen Behörden vollen Gehorsam zu leisten.» Das war entschlossen und klar gesprochen! Es gab kein Zurück mehr. Bundesrat und General hatten sich an die Spitze des Volkes gestellt. Zugleich wurde alles vorgekehrt, um im Kriegsfall Evakuationen der Bevölkerung und von Material vornehmen zu können. Kein Mensch zweifelte mehr daran, dass der Krieg in eine neue und entscheidende Phase eingetreten war. Es erwies sich indessen, dass die siebenmonatige Bereitschaft den Abwehrwillen von Volk und Armee nicht geschwächt, sondern gestärkt, Selbstvertrauen und Nervenkraft gehoben hatte. - 40 - S. 59: 3. KAPITEL Widerstehen! Die zweite Generalmobilmachung - Evakuationspanik, aber feste Haltung der Armee - Der kritische Juni 1940 - Die Schweiz in einer neuen Lage - Der Bundespräsident spricht, und der General hält Rapport auf dem Rütli - Der Frontistenempfang beim Bundespräsidenten - Geistiger Widerstand und die neuen Aufgaben von Heer und Haus - Kriegswirtschaft und Wahlen-Plan - Das Finanzwunder - Beginnende Tätigkeit der Landesverräter Die vier Aufgaben der Armee - In Erwartung der Dinge S. 61: Am 10. Mai zerbrach endgültig der faule Zauber des «merkwürdigen» Krieges: Die Deutschen überfielen Holland, Belgien und Luxemburg. Die Front geriet in Bewegung. Hitler schlug mit gewaltiger, während des ganzen Winters von 1939 auf 1940 aufgerüsteter Kriegsmacht auf den Westen los. Dem Aprilunternehmen gegen Skandinavien folgte der Hauptschlag gegen Frankreich. Der Bundesrat verfügte am gleichen Tag die Generalmobilmachung. In einer Radioansprache forderte er das Volk auf, ruhig und entschlossen zu bleiben. Jedermann wusste, dass das, was jetzt begonnen hatte, sehr viel gefahrvoller für die Schweiz werden musste, als es der polnische und der skandinavische Feldzug gewesen war. Die zweite Kriegsmobilmachung spielte sich noch reibungsloser ab als die erste. Die Stammtruppen übernahmen die zu ihren Einheiten eilenden Urlauber. Ihre Stimmung war ausgezeichnet, ungeachtet des Ernstes der Lage: Belgien und Holland, denen die Deutschen noch kurz vor dem überfall zugesagt hatten, ihre Neutralität zu respektieren, standen über Nacht in einem Kampf um Tod und Leben, der sich für die beiden kleinen Völker bald als wenig hoffnungsvoll erwies. Mit furchtbarem Ungestüm zerbrachen die Deutschen mit ihrer Luftwaffe und ihren Panzern, mit einer unerhört draufgängerischen Kampfform die belgischen Grenzfestungen, von denen einzelne als uneinnehmbar gegolten hatten. Heimlich fragte sich manch einer, was da wohl unsere schweizerischen Feldbefestigungen, die die Truppe den Winter über gebaut hatte, nützen - 41 - S. 62: würden. Nirgends wuchs sich indessen dieses sorgenvolle Fragen zum Kleinmut aus. Während dessen blieb das Hinterland nicht ohne Zeichen von Aufregung. Im Norden und Osten der Schweiz begann sich eine Evakuationsstimmung unter der Zivilbevölkerung auszubreiten. Autokolonnen mit Flüchtenden bewegten sich nach der Westschweiz oder in die Bergtäler der Innerschweiz und des Berner Oberlandes. Zahlreiche falsche Gerüchte schwirrten in der Luft herum. Sie wuchsen teils aus der Aufregung heraus, wie das Unkraut nach dem Regen, zum Teil bestanden deutliche Anzeichen dafür, dass sie von dunkeln Elementen absichtlich verbreitet wurden, im Streben, die innere Front zu verwirren. «Erhitzte Gemüter», schreibt der General darüber in seinem Bericht über den Aktivdienst, «witterten überall die Wirksamkeit der Fünften Kolonne und verräterische Signale und Zeichen.» Die Armee blieb von solchen gefährlichen Gemütserschütterungen, die das Hinterland erfasst hatten, verschont. Sie war alarmbereit, wurde indessen zunächst nicht aus den bisherigen Stellungsräumen herausgenommen. Noch war nicht die ganze deutsche Heeresmacht gegen Frankreich angetreten. Erst wenn auch die Front am Oberrhein in Bewegung geriet, konnten die deutschen Absichten deutlicher werden. Dabei hing Entscheidendes davon ab, ob den Deutschen der Durchbruch in Flandern und in Lothringen gelang, oder ob sie dort festgehalten wurden und eine Überflügelung durch die Schweiz versuchen würden. Eines wurde allerdings von Tag zu Tag klarer: Die französischenglischen Armeen befanden sich in völliger Verteidigung. Sie waren ausserstande, eine Gegenoffensive durch die Schweiz vorzusehen. Daher gab es in diesem S. 63: Augenblick für uns nur einen möglichen Kriegsfall: den eines deutschen Überfalles. Noch während sich die Ereignisse in Frankreich überstürzten und die französische Armee, die für die stärkste des Kontinentes gehalten worden war, von Tag zu Tag deutlichere Zeichen des Zusammenbruchs zeigte, bestrebte sich die schweizerische Armeeleitung, aus den Ereignissen zu lernen. Es entstanden, um die Wucht der motorisierten Angriffstruppen und Panzer zu brechen, an allen Strassen und Übergängen von der Truppe gebaute schwere Barrikaden. - 42 Die Infanterie erhielt Minen zugeteilt und begann, den Angriffsgeist zu schulen und den Nahkampf zu üben. In der Periode des winterlichen Baues von Feldbefestigungen war beides vernachlässigt worden. Die deutsche Kriegführung im Westen hatte alle hergebrachten Begriffe moderner Strategie und Taktik im wörtlichen Sinn über den Haufen geworfen. Nun galt es für die wehrhafte schweizerische Miliz, mitten im Ablauf der Ereignisse, sich umzustellen. Inzwischen vollzog sich Frankreichs Niederlage rasch und unerbittlich. Am 31. Mai glückte es den Engländern, wesentliche Teile ihrer Kontinentalarmee dem deutschen Zugriff zu entziehen und aus Dünkirchen nach England hinüberzuschaffen. Mitte Juni fiel die Festung Verdun, die im ersten Weltkrieg zum Begriff der Unüberwindbarkeit geworden war, bereits zogen die Deutschen in Paris ein. Vier Tage zuvor hatten die Italiener den Briten und Franzosen den Krieg erklärt. Sie wollten bei der neuen Verteilung der Welt dabei sein. Während sich der Krieg bedrohlich der schweizerischen Westgrenze näherte, musste der General nun auch an der Südgrenze vermehrt auf der Hut sein. Zugleich nahmen die Zeichen deutscher Unge- S. 64: duld und nationalsozialistischen Übermuts gegenüber der Schweiz wieder zu. Die deutsche Presse schlug einen scharfen Ton an, und am deutschen Radio höhnten die Chöre der Hitlerjugend: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das holen wir auf dem Rückweg heim!» Etwas hatten die Nazi also doch gemerkt: Sie nannten das wehrhafte Alpenland ein «Stachelschwein»! Die deutschen Flieger respektierten - mit Vorliebe, wenn sie aus Frankreich zurückflogen - die Schweizergrenze nicht mehr. Unsere schweizerischen Flieger griffen unerbittlich die deutschen Flugzeuge an, die den schweizerischen Luftraum verletzten. Fünfmal kam es zu Luftkämpfen, gab es auf beiden Seiten Abstürze und Tote. Die schweizerischen Piloten verteidigten unser Hoheitsgebiet mit Erfolg. Diese Luftkämpfe führten schliesslich zu einer Episode, die leicht ernste Konsequenzen hätte haben können. Der deutsche Luftmarschall Göring beschloss nämlich, sich für die entschlossene Haltung unserer Flieger zu rächen. Auf eigene Faust zog er ein Sabotageunternehmen gegen die Schweiz auf. Am 14. Juni reisten 12 deutsche Saboteure auf verschiedenen Wegen schwarz in die Schweiz ein. Sie waren reichlich mit Sprengmitteln versehen und hatten verschiedene Aufträge. Diese richteten sich hauptsächlich gegen Flugplätze. - 43 - Der Anschlag misslang. Er war zu dilettantisch aufgezogen, und die schweizerische Wachsamkeit war zu entschieden. 24 Stunden nach ihrer Einreise waren 10 Mann des bösen Dutzends verhaftet, 2 entkamen. Truppe, Polizei und beherzte Zivilisten hatten einander in die Hände gearbeitet, um das Bubenstück zu verhindern. Noch war die erhöhte Alarmbereitschaft, die im Zusammenhang mit jenem Sabotageversuch befohlen worden S. 65: war, nicht aufgehoben, als der Armee eine neue Aufgabe harrte. Die Operationen in Frankreich bewegten sich jetzt rasch der Schweizergrenze zu. Im Raum von Belfort wurde ein ganzes französisches Armeekorps, dem eine Division polnischer, den Deutschen und Russen entkommener Soldaten zugeteilt war, nach der Schweiz hin abgedrängt. Am 20. Juni traten sie in den Freibergen auf Schweizer Gebiet über und wurden entwaffnet. Am nächsten Tag wurde im Walde von Compiegne zwischen Frankreich und Deutschland ein Waffenstillstand geschlossen. Drei Tage später kam es zum Waffenstillstand zwischen Frankreich und Italien. Der Krieg auf dem Kontinent war fürs erste vorüber. Aber England war unbesiegt, entschlossen, weiterzukämpfen. Wahrscheinlich spielten sich in jenen Wochen unmittelbar vor und nach dem französischen Zusammenbruch die für die Zukunft der Schweiz gefährlichsten und entscheidensten Augenblicke des ganzen Krieges ab. Man muss sich, um das zu verstehen, noch einmal die militärische und politische Lage unseres Landes in jenem Augenblick vergegenwärtigen. Auf dem europäischen Kontinent herrscht jetzt eine Mächtegruppe uneingeschränkt, die sog. «Achse Berlin-Rom». Innerhalb der Achse war das Deutsche Reich die ausschlaggebende Macht. Diese seine Machtstellung beruhte auf beidem, auf der unerhörten militärischen Überlegenheit als auch auf der beispiellos brutalen Art und Weise, wie Hitler und seine Kumpane sie errungen hatten. Frankreich, das wenige Wochen vorher als bedeutendste Militärmacht des festländischen Europas beurteilt worden war, hatte sich als morsch, widerstandsschwach erwiesen und war zusammengebrochen. Die Maginotlinie, ein Festungssystem, von dem die meisten - 44 - Nationalsozialistische Kundgebung in Zürich aus dem Jahre 1942. Die deutsche Kolonie feiert den Geburtstag des "Führers" S. 66: militärischen Fachleute gewähnt hatten, es sei praktisch uneinnehmbar, hatte vollständig versagt. Festungen schienen überlebt zu sein! Im Osten Europas hatte die Sowjetunion im Krieg gegen Finnland zwar Niederlage über Niederlage erlitten, das kleine Volk aber doch geschwächt und es zu einem ehrenvollen, wenn schon harten Frieden gezwungen. Niemand glaubte, dass Russland ein Gegengewicht gegen den deutschen Koloss bilden konnte. Die Sowjetunion bemühte sich denn auch auf das eifrigste, den deutschen Machthabern alles erdenkliche Entgegenkommen zu beweisen. Die deutschrussische Zusammenarbeit musste die wirtschaftliche Lage Deutschlands verbessern. - Nordamerika endlich, beeindruckt vom französischen Zusammenbruch, schien weiter von einer Kriegsbereitschaft zu sein denn je. Übrig geblieben war nur England. In bezug auf dessen Aussichten gingen aber die Meinungen in der Schweiz auseinander. Jene, die das Inselreich und sein zähes Volk kannten, glaubten weder an dessen Kapitulation noch an die Möglichkeit der Deutschen, in Grossbritannien landen und das Volk militärisch besiegen zu können. Andere zweifelten, sie vermuteten, die Deutschen, die bisher den Krieg mit technischen und methodischen Überraschungen gewonnen - 45 - Infanterie auf dem Marsch (Photo: Hans Baumgartner) hatten, würden auch den Engländern gegenüber mit gefährlichen Überraschungen aufwarten und sie vernichten. Mitten in diesem «Neuen Europa,., wie die Deutschen die von ihnen mit Feuer und Schwert gewonnene Ordnung bezeichneten, lag die Schweiz, klein, freiheitlich, vom Volk regiert, mit ihren vier Millionen Einwohnern. Ihre Armee hatte an der Grenze den Zusammenbruch einer berühmten Armee erlebt, der deutsche Nachbar, dessen S. 67: führende Männer jederzeit und ungeschminkt kundgetan hatten, dass sie die Schweiz hassten, war unumschränkter Gebieter über Europa. Würde er jetzt auf uns losgehen? Würde er sich zusammentun mit Italien, wo es nicht an einflussreichen und ungeduldigen Stimmen gebrach, die die «Rückkehr» der italienischschweizerischen Talschaften zu Italien forderten? Oder - falls die neuen Herren Europas doch -einen Gewaltstreich zu vermeiden gedachten würden sie versuchen, unserem Volk mit raffinierter Propaganda den Kopf zu verdrehen? Würden sie versuchen, die Propaganda dadurch zu unterbauen, dass sie uns die Zufuhr sperren würden? Und wie würde das Schweizervolk auf das alles reagieren? - 46 Für die schweizerischen Behörden galt es in jenen Wochen nach Frankreichs Zusammenbruch, das fast Unmögliche zu tun: Sie mussten genügend Truppen unter den Fahnen behalten, um bereit zu sein, falls Adolf Hitler in überraschendem Schlag die Schweiz zu liquidieren versuchte. Sie mussten zugleich aber vermeiden, dieses fortdauernde Aufgebot so stark bleiben zu lassen, dass es den deutschen Diktator reizen und ihm einen Vorwand geben konnte. Das Gegenstück war auf geistig-politischem Gebiet zu tun. Wenn je, so war gerade jetzt Aufklärung des Volkes dringendes Gebot der Stunde. Man musste dieses Volk aufrichten, sein Selbstvertrauen stärken, es in geschichtlichen Zeiträumen denken lernen, ihm sagen, dass der Krieg in Europa nicht entschieden sein konnte, solange England weiterkämpfte - aber man musste es so sagen, dass man auch da dem übermut der Sieger keinen Vorwand gegen uns lieferte. Mit einem Wort: Wir mussten klug sein wie die Schlangen, aber ohne Falsch wie die Tauben. S. 68: Wir mussten mit einem Mindestmass an Zugeständnissen widerstehen. Wir hatten kaum Pfänder in der Hand, aber neben den vielen schlechten gab es auch einige gute Möglichkeiten. Da war einmal Italien, das dem deutschen Machtzuwachs unter Zittern und Hoffen zugesehen hatte. Die gemässigteren Elemente des Faschismus begehrten keine weitere unmittelbare Nachbarschaft mit Deutschland, wie sie sich ergeben hätte, sobald die Schweiz aufgeteilt worden wäre. Der Brenner genügte ihnen. Es war daher von dieser Seite mit einer gewissen, wenn schon nicht sehr entschiedenen Unterstützung zu rechnen. Eine andere Möglichkeit lag in der internationalen Stellung der neutralen Schweiz. Diese kam im «Internationalen Roten Kreuz» zum Ausdruck, dessen führende Persönlichkeiten Schweizer waren, und in den Interessenvertretungen für die Kriegführenden. Unser Land hatte es nacheinander übernommen, für fast alle am Krieg beteiligten Staaten beider Lager die Vertretung der diplomatischen Interessen zu besorgen. Auch das wog bei den Nationalsozialisten nicht schwer, aber immerhin, es wog. Die dritte Möglichkeit endlich war einfach der Kampf um Zeitgewinn: Die Deutschen mussten zum Kampf gegen England antreten. Ohne Sieg über England gab es keinen Frieden. Dieser Kampf bedurfte riesiger Vorbereitungen. Es bestand daher die Aussicht, dass Hitler diese Vorbereitungen nicht durch ein militärisches Unternehmen gegen die Schweiz stören wollte, das, wie die Dinge nun einmal lagen, eine Vielzahl von Divisionen, eine Menge Blut - 47 - und Eisen gekostet hätte. Gerade diese letzte Überlegung sprach natürlich erst recht dafür, die Pause, die mit der französischen Niederlage eingetreten war, nicht mit dem Frieden zu verwechseln. Die Schweiz musste mili- S. 69: tärisch stark bleiben. So begann jetzt der Kampf darum, den Widerstand entschieden und auf neue Weise zu organisieren. Es wäre Geschichtsfälschung, wollte man behaupten, der Umschwung im festländisch-europäischen Kräfteverhältnis hätte das Volk innerlich unbeteiligt gelassen. Vielmehr beschäftigte die Frage «was nun» alle Volksschichten. Die Menschen riefen nach Zusammenschluss. Neben ehrlichem Bemühen wurden allerlei Pläne von politischen Konjunkturrittern herumgeboten. Die nationalsozialistisch eingestellten Bewegungen, die sich bis dahin stillgehalten hatten, wagten sich wieder hervor. Die in Sprache und Bildern mächtig aufgedonnerte deutsche Propagandazeitschrift «Signal» musste unter deutschem Druck in hoher Auflage in der Schweiz zugelassen werden. Sie arbeitete mit dem einfachsten Werbemittel, mit dem Erfolg des deutschen Soldaten. Das alles wirkte. Für viele schien es jetzt nicht mehr zu genügen, die nationalsozialistischen Führer nicht zu reizen: Sollten wir nicht versuchen, sich mit ihnen zu verständigen? Nein, beschworen wieder andere das Volk: Jede Verständigung wäre Selbstmord. Jüngere Offiziere, beeindruckt vom moralischen Versagen mancher Kader in den von den Deutschen überfallenen Ländern und beunruhigt ob diesen Diskussionen, in denen sie bereits ein Nachgeben herausfühlten, schlossen sich zusammen und gaben sich das Wort, einem allfälligen Kapitulationsbefehl nicht Folge zu leisten und den Kampf um jeden Preis fortzusetzen. Diese «Verschwörung» wurde aufgedeckt. Die Teilnehmer wurden bestraft, aber des sauberen Zieles wegen, das sie verfolgt hatten, nur leicht. Anlass zu erregten, allerdings kaum öffentlich geführten Debatten gab die Frage der Pressefreiheit. Die Deut- S. 70: schen nahmen freimütige Äusserungen der Schweizer Presse immer wieder zum Vorwand, um oft, scheinbar wohlwollend, meistens aber unverhüllt drohend, darauf hinzuweisen, wie gefährlich es sei, mit einem zu offenen Wort «den Führer zu reizen». Da überdies manche Blätter allzu sicher auf die französische Stärke gesetzt und sich getäuscht hatten, so war es jetzt leicht zu versuchen, Presse und Volk gegeneinander aufzubringen. - 48 - Endlich drohte eine andere, grosse Gefahr: Es wurden Truppen entlassen. Würden die heimkehrenden Soldaten auch alle Arbeit finden? So lebte in jenen Wochen des Sommers 1940 das Volk in einem Dunst des Unausgesprochenen, des Hoffens und Abwägens. Aber es blieb nicht lange darin. Am 25. Juni ergriff Bundespräsident Pilet am Radio das Wort. Manche Teile seiner Rede sind später als zweideutig und zu diplomatisch angefochten worden. Sie enthielt indessen einen wesentlichen Punkt. Bundespräsident Pilet erklärte, niemand werde arbeitslos sein. Der Bundesrat werde «für Arbeitsbeschaffung um jeden Preise» sorgen. Es blieb nicht beim Versprechen. Alles wurde vorgekehrt, um die Einfuhr der Rohstoffe zu sichern, die Verteilung gerecht zu gestalten. Um düsteren Elementen ihren Handel zu legen, wurden alle politischen Versammlungen polizeilich überwacht. Und die Armee? Sie erwies sich in jenen Tagen als der eigentliche nationale Rückhalt. Der General zögerte nicht lange, um ihre Aufgabe in der neuen Lage klar zu umreissen. Auf den 25. Juli bot er sämtliche Kommandanten der Armeekorps, Divisionen, Regimenter, Bataillone und Abteilungen zu einem Rapport auf das Rütli auf. Dort, im Herzen der Schweiz, verpflichtete er sie auf den Widerstandsgedanken, entwickelte er den neuen Verteidigungs- S. 71: gedanken des Réduits. Der General beschreibt in seinem Bericht an den Bundesrat über seine Kommandoführung im Aktivdienst diesen eindrücklichen und unvergesslichen Akt: «Gegen Mittag des sehr schönen Tages hatte ich alle höheren Offiziere der Armee vor meinen Augen. Auf der Rütliwiese, wo die Fahne des Urnerbataillons 87 stand, hatten sie einen Halbkreis gebildet, mit dem Blick gegen den See, die Armeekorpskommandanten im ersten Glied, und hinter ihnen die Divisions-, Brigade-, Regiments-, Bataillons- und Abteilungskommandanten. Ich erläuterte kurz und in grossen Zügen die Massnahmen, die für den Widerstand im Réduit getroffen worden waren und gab ihnen die folgende doppelte Parole: Wille zum Widerstand gegen jeden Angriff von aussen und gegen die verschiedenen Gefahren im Innern, wie Erschlaffung und Defaitismus, Vertrauen in die Kraft dieses Widerstandes.» Der General fasste seine Worte in den Satz zusammen. «Es geht um die Existenz der Schweiz.» Hierauf übergab er den hohen Offizieren den neuen Verteidigungsbefehl. Er beruhte auf dem Gedanken, das Zentralmassiv der Alpen - 49 - zu einer Festung auszubauen, die befähigt war, der motorisierten Wucht und technischen Überlegenheit der Deutschen widerstehen zu können. Die Bundesratsverordnung vom 18. April 1940 über das Verhalten gegenüber Gerüchten, Spionen und Saboteuren, und der Réduitbefehl des Generals vom 25. Juli des gleichen Jahres, sind die beiden grossen und unvergänglichen Zeugnisse des schweizerischen Widerstandswillens in jenem geschichtlichen Augenblick. Gewiss war das Réduit zunächst einfach eine militärische Verteidigungsidee. Darüber hinaus aber war es sichtbarer Ausdruck unserer Entschlossenheit. Das Réduit besagte: Es gibt keine Kapitu- S. 72: lation, wenn wir überfallen werden, sondern nur Kampf, unbekümmert um Erfolg oder Misserfolg. Es bedeutete, dass wir entschlossen waren, das flache Land dem Eindringling zerstört zu überlassen und ihn in den Bergen, wo Gelände und Witterung unsere Verbündeten waren, mit der Waffe zu erwarten. Während in Berlin «Unter den Linden» die Siegesparade furchtbar und aufgedonnert vor Hitler vorüber rollte, während Europa der Tyrannei verfallen schien, entschloss sich der General der schweizerischen Milizarmee, in der Réduitstellung zu halten und vor aller Welt zu bekunden, die Schweiz denke nicht daran, sich den neuen Machthabern in Europa zu fügen. So wurde das Réduit zum Begriff des nationalen Widerstandes. Mit ihm aber auch die Gestalt des Generals! Auch er war zu einem nationalen Symbol geworden. Diese Tatsache hat nichts mehr zu zerstören vermocht. Die Person des Generals blieb gegenüber allen Angriffen gefeit. Die Nazi haben übrigens gewusst, was für eine entscheidende Bedeutung General und Réduit für den schweizerischen Widerstandsgeist hatten. Das Réduit versuchten sie durch intensive Spionage zu entwerten. Gegen den General aber spannen sie eine Intrige. Im Winter 1940 auf 1941 wurde von Berlin aus ein lebhaftes Treiben inszeniert, das dem Bundesrat empfahl, den General zu ersetzen, da er sich 1939 in militärischen Besprechungen mit den Franzosen, für den eventuellen Fall eines deutschen Angriffs, zu weit hervorgewagt habe. Die Deutschen fanden Kanäle in der Schweiz, die ihre Anschuldigungen weitertrugen. Aber der Bundesrat blieb fest. Er wusste, was der General in den Augen des Volkes geworden war! - 50 - In der Folge erwies es sich, dass der Rütlirapport des Generals zur rechten Zeit gekommen war. Der General S. 73: durfte in der schwierigen Lage als Soldat offener, weniger von diplomatischen Rücksichten belastet, reden als irgendein Bundesrat, dessen Worte mit dem Gewicht der Regierungsverantwortung belastet. waren. Die Summe der vaterländischen Hoffnungen und des nationalen Willens aller Schweizer vereinigte sich über dem Begriff der Armee. Die aber war in der monatelangen Aktivdienstzeit innerlich fest zusammengewachsen. Der Geist des Rütlirapports strömte in alle Einheiten des Heeres, er teilte sich von da aus dem Volke selbst mit. Das war um so notwendiger, als nun die Politik selbst in eine Krise zu geraten drohte. Der Bundesrat, der durch die Vollmachten vom 30. August 1939 zur eigentlich bestimmenden Behörde der Schweiz geworden war, hatte sich seit Kriegsausbruch, was seine Zusammensetzung anbelangt, verändert. Am 23. Januar 1939 war Bundesrat Motta gestorben, der zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg die Aussenpolitik der Schweiz geleitet hatte und grosses internationales Ansehen genoss. Sein Nachfolger wurde der Waadtländer PiletGolaz, der vom Post- und Eisenbahndepartement auf das Politische Departement hinüberwechselte. Am 21. Juni 1940 trat ferner Bundesrat Obrecht wegen schwerer Krankheit von seinem Amte zurück. An seine Stelle wählte die Bundesversammlung am 18. Juli den freisinnigen solothurnischen Wirtschaftsmann Walther Stampfli. Im November 1940 gaben endlich die Bundesräte Minger und Baumann ihren Rücktritt bekannt. Die Bundesversammlung ersetzte sie am 10. Dezember 1940 durch Dr. Karl Kobelt von St. Gallen, der das Militärdepartement übernahm, und den bernischen Regierungsrat Eduard von Steiger, der Chef des Justiz- und Polizeidepartements wurde. Innerhalb S. 74: Jahresfrist hatte also, in schwierigster Zeit, der Bundesrat als Körperschaft sich wesentlich verändert. Nun aber zurück zur politischen Krise. Sie wurde ausgelöst durch die Affäre der Audienz von nationalsozialistisch eingestellten Schweizern bei Bundespräsident Pilet. Drei «Führer» der NBS (Nationale Bewegung der Schweiz), von denen der eine, der Ingenieur Max Leo Keller, einige Jahre später wegen - 51 - landesverräterischer Umtriebe im Zuchthaus landete, ferner der Schriftsteller Jakob Schaffner und der Führer einer Gruppe, die sich ESAP nannte (Eidgenössische Sozialistische Arbeiterpartei), wurden vom Bundespräsidenten empfangen, um ihm ihre Wünsche zu unterbreiten. Die drei veröffentlichten über den Empfang ein Communique, in dem es u.a. hiess: «Die Vertreter der NBS unterrichteten den Bundespräsidenten über deren politische Zielgebung als der Trägerin des neuen politischen und sozialen Gedankens. Die Unterredung, welche 1½ Stunden dauerte, stellt den ersten Schritt zur Befriedung der politischen Verhältnisse der Schweiz dar.» Was Wunder, dass dieses in anmassendem Tone gehaltene Communique, dessen Verfasser kaum bekannt waren, besonders in der deutschen Schweiz das grösste Aufsehen erregte? Es fiel in den Augenblick breiter propagandistischer Entfaltung des Nationalsozialismus, da die Luftschlacht um England auf dem Höhepunkt stand und der Widerstandswille im breiten Volk die schwersten Proben durchmachte. Zwar erklärte der Bundesrat einige Tage nach dem Empfang, am 12. September, die Pressemitteilung der NBS sei irreführend. Allein es blieb ein Missbehagen, Zweifeln und Unsicherheit. Schon die Tatsache, dass drei Vertreter von politischen Bewegungen, die das Volk als landesverräterisch einschätzte, vom Bundespräsi- S. 75: denten empfangen worden waren, erschien der durchschnittlichen Volksmeinung unbegreiflich. Die Angelegenheit warf hohe Wellen. Sie wurde in den parlamentarischen Kommissionen diskutiert und bot am 18. September Anlass zu einer gründlichen Debatte im Nationalrat. Die Fraktionen stellten dabei fest, dass die Affäre das Volk beunruhigt hatte. Im übrigen einigte man sich aber zwischen Bundesrat und Parlament über die Grundlinien der schweizerischen Aussenpolitik. Es ist nie völlig abgeklärt worden, wie viel oder wie wenig in jener Aussprache (zu der der Bundespräsident keine Zeugen bestellt hatte) geredet worden ist. Im Urteil des Volkes ist sie Bundesrat Pilet nie verziehen worden. Nicht das, was gesprochen worden war, war letzten Endes das Wesentliche. Viel gefährlicher war die Kluft, die sich jetzt mit einem Mal zwischen Volk und Bundesrat aufzureissen drohte. Noch stand man in der Periode wilder Gerüchtebildung drin. Unter solchen Umständen konnte ein verfehlter Schritt eines einzelnen Magistraten unerwartete Folgen haben. Die Verantwortlichen aller Gruppen und Parteien erkannten, - 52 - dass es jetzt darum ging, nicht nur den militärischen, sondern auch den geistigen Widerstand zielbewusst auszubauen. Der Kampf um den geistigen Widerstand verband sich mit dem Kampf um die Pressefreiheit, er wurde zugleich zu einem Suchen nach neuen Methoden der Aufklärung. Abermals müssen wir uns in die Atmosphäre der Zeit versetzen. Die Affäre des Empfanges beim Bundespräsidenten hatte bewiesen, dass der Bundesrat der lebendigen Verbindung mit dem Volk bedurfte, wenn er seine Massnahmen verständlich machen wollte. Sie hatte überdies bewiesen, dass die öffentliche Diskussion heikler Fragen in einem Zustand, da überall «der Feind» mithorchte und S. 76: Misstrauen und Unsicherheit auszustreuen trachtete, nicht ungehemmt treiben gelassen werden durfte. Dringlicher als je musste das Volk unterrichtet werden, aber vorsichtiger als je musste die Auswahl dessen getroffen sein, was gesagt werden konnte. So gerieten Wahrheit und Klugheit einander ins Gehege. Wenn die Zeitungstexte sich nur mehr aus amtlichen Mitteilungen und Ermahnungen zusammensetzten, war die Gefahr gross, dass sie vom Volk nicht mehr gelesen und mit Misstrauen verfolgt würden. In diesem heiklen Moment begann die Sektion «Heer und Haus» im Armeestab ihre bedeutsame Tätigkeit. «Heer und Haus» bestand bereits seit dem November 1939. Als im Winter des «drôle de guerre» der Aktivdienst sich auf unbegrenzte Dauer in den Winter hineinzog, entstand der Gedanke, eine Organisation zu schaffen, die der Truppe anregende und unterhaltende Stoffe vermitteln würde. Auch auf diesem Gebiet hatte man nämlich aus den unbefriedigenden Verhältnissen des ersten Weltkrieges gelernt. Die Sektion «Heer und Haus» knüpfte an die Pionierarbeit der Landesausstellung in bezug auf die Darstellung des schweizerischen Wesens an, sie entwickelte die «Höhenstrasse» weiter. Jetzt, im Herbst 1940, setzte sie ihr Werk mit einer neuen Methode fort. «Heer und Haus» veranstaltete Referenten und Informationskurse, zu denen aufrechte Männer aus allen Parteien, aus allen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen des Volkes als Redner herangezogen wurden. In diesen Kursen und ihren, ebenfalls aus allen Volksschichten entnommenen Hörern, wurde den Teilnehmern die ganze Wahrheit über die militärische, wirtschaftliche und politische Lage gesagt. Sie konnten Fragen stellen und erhielten Antwort. Die Probleme wurden mit ihnen durchgesprochen, sie selbst - 53 - S. 77: darin geschult, Zusammenhänge zu erkennen, und zu unterscheiden zwischen Schein und Wirklichkeit. Das Hauptverdienst am Aufbau dieser bedeutenden Aufklärungsarbeit kommt dem kurz vor Kriegsende verstorbenen ehemaligen Kommandanten des Basler Regimentes Oberst Oskar Frey zu. Unter seiner Leitung wurde «Heer und Haus» zu einer geistigen Zellenorganisation, die unermüdlich und zielbewusst der nationalsozialistischen Infiltration entgegenarbeitete, Tausende von Schweizern aller Klassen in dem bestärkte, was das Schweizertum war und sein wollte, und die dabei, nach aussen kaum sichtbar, ihr grosses Werk vollbrachte. «Heer und Haus» war nicht abhängig von der Regierung, aber es unterstützte sie, ohne plumpe Propaganda zu betreiben, es war nicht «die Armee», aber von ihrem Geist der Kameradschaft und des Widerstandswillens erfüllt. Wenden wir uns jetzt wieder dem Gang der Dinge zu. Wir haben gesehen, dass der General die Frage des militärischen Widerstandes durch die AlpenZentralstellung, das Réduit, löste. Wir sahen weiter, dass es die Aufgabe der politischen Behörden blieb, das Land trotz der neuen Lage in Europa unabhängig zu erhalten und im Innern für Ordnung, Arbeit und gerechten Ausgleich zu sorgen, und endlich sahen wir, wie es auf geistig-politischem Gebiet galt, dem Kleinmut entgegenzuwirken und das Volk bei kühlem Kopf zu halten, angesichts der deutschen «schimmernden Wehr» und der nationalsozialistischen Propaganda vom «neuen Europa». Überblicken wir die Massnahmen, die zwischen der französischen Kapitulation und dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges ergriffen worden sind, so spiegeln sie die Sorge um das Durchhalten wieder. Der neue Chef des S. 78: Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements, der energische, unabhängige Bundesrat Stampfli, sah sich vor einen förmlichen Berg dringlichster Probleme gestellt. Zweierlei wollte getan sein: Rohstoffe mussten hereingebracht werden, damit die Fabriken arbeiten konnten, und die Ernährung musste sichergestellt bleiben. In beiden Fällen, sowohl was die Versorgung mit Rohstoffen, wie was die Versorgung mit Lebensmitteln anbetraf, war die Schweiz vom Ausland abhängig. Es gab keine Möglichkeit, eine sich selbstgenügende schweizerische Wirtschaft aufzubauen. Diese Abhängigkeit vom Ausland schloss indessen die Gefahr in sich, dass sie von den Achsenmächten, - 54 die jetzt (bis auf eine winzige Lücke bei Genf) die Schweiz mit einem eisernen Gürtel umgaben, ausgenützt wurde, um ungebührliche Zugeständnisse von uns zu fordern. Von vornherein war eines klar: Wir konnten uns unmöglich darauf versteifen, jeden Handel mit der Achse abzulehnen. Wir mussten mit Deutschen und Italienern die wirtschaftlichen Beziehungen weiter pflegen. Wir mussten aber' auch und das war keineswegs einfach! - die Gegenseite von diesem unumgänglichen Zwang überzeugen. Die leitenden Stellen der kriegswirtschaftlichen Organisation hatten demnach zu planen, was für Rohstoffe unsere Industrie in erster, zweiter und dritter Dringlichkeit brauchte, was für Fertigfabrikate, um die Rohstoffe zu bekommen, wir anbieten durften, ohne die militärischen Rüstungen der Achse zu begünstigen. Die ersten kriegswirtschaftlichen Massnahmen nach der Kapitulation Frankreichs verordneten die Bezugssperre für Güter der Ernährung und auf dem Gebiet wichtiger industrieller Rohstoffe. Der Verbrauch von Brennstoffen und Fetten wurde der Kontrolle durch den Bund unter S. 79: stellt. Dann aber wurde vor allem die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen neu überprüft und neu organisiert. Jedes kleinste Vorkommen von Kohle und Eisen wurde untersucht. Wissenschaft und Praktiker der Landwirtschaft entwarfen einen Anbauplan, der unter dem Namen seines Hauptschöpfers, Professor Wahlens, in die Geschichte eingegangen ist. Er sah systematisch sich folgende Anbauetappen vor, mit denen schliesslich eine halbe Million Hektar offenes Ackerland gewonnen und dem Mehranbau zur Verfügung gestellt werden konnten. Jeder kleinste Fleck Land, jede öffentliche Anlage, verbesserungswürdige Moore usw. wurden in das Programm einbezogen. Alle Familien und die privaten und öffentlichen Betriebe wurden angehalten, anzupflanzen und zur Selbstversorgung mit beizutragen. Dabei machten es zugleich die vorgesehenen Meliorationen von bisher nicht genutztem Land möglich, Arbeit zu beschaffen. So ergab sich ein wohldurchdachtes System der Zusammenarbeit von Mehranbau, Verteilung der Güter und Arbeitsbeschaffung. Es entstand eine Übersicht über das, was wir liefern konnten, was wir im äussersten Notfall bedurften, und was wir in jedem Fall von aussen her einzuführen hatten. Schiffe wurden im Ausland gechartert, um mit der eigenen Schweizer Flotte die Schwierigkeiten des Seekriegs zu überwinden. Bauersame, Industrie und Gewerbe unterwarfen sich einer strengen Arbeitsdisziplin, - 55 - bei der es Aufgabe der militärischen Stellen blieb, durch sinnvolle Gestaltung des Urlaubswesens in der Armee der Wirtschaft genügend Arbeitskräfte zur Verfügung zu halten. Die Idee des Wahlenplanes, zusammen mit der kriegswirtschaftlichen Milizpflicht, dürften entscheidend mitgeholfen haben, noch 1940 die innere Zuversicht im Volk S. 80: zu stärken. Der Mehranbau besonders stellte dem Volk eine grosse, nur mit zähem Fleiss zu lösende Aufgabe. Er verband es spürbar mit dem harten Geist der Zeit und der Tatsache, dass es um die Existenz des Landes ging. Er verlangte Opfer und fand deshalb Begeisterung. Auf industriellem Gebiet waren die Kohle und die flüssigen Brennstoffe die grossen Mangelposten. Aufträge gab es jetzt genug, denn die Réduitstellung konnte nur durch enormes Bauprogramm verwirklicht werden, dieses nahm alle wirtschaftlichen Kräfte in Anspruch. Das Réduit brauchte Zement und Eisen, und beide erforderten Kohle. Eisen brauchte aber auch Adolf Hitler. Da die Schweiz mit den Fricktalerzen, die kurz vor Kriegsausbruch entdeckt worden waren, über bedeutende Eisenvorkommnisse verfügte, die sie nicht verhütten konnte, gelang es, diese den Deutschen gegen Kohle abzutauschen. Kohle brauchten wir für die Zementfabriken und Zement zum Bau neuer Festungen, die wieder gegen Hitlers Armeen errichtet werden mussten. Das war die harte Wirklichkeit. Sie ersparte dem Land die Arbeitslosigkeit, die im Zeichen der siegesbewussten nationalsozialistischen Propaganda sich zur gefährlichen inneren Belastungsprobe ausgewachsen hätte. Sie gab uns auch Material, uns militärisch stark zu machen. Jetzt stieg das Selbstvertrauen des Volkes, es erkannte, dass dem schweizerischen freiheitlichen Volksstaat die Fähigkeit durchaus gegeben war, die Schwierigkeiten einer feindlichen Zeit zu meistern. Indessen: Die ununterbrochene und gesteigerte Wehrbereitschaft, der Ausbau der Réduitstellung, der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und der Mehranbau verlangten Geld und nochmals Geld. Die grosse Frage erhob sich, ob ein Staat von schweizerischer Kleinheit und ein Land von S. 81: schweizerischer Armut je imstande wären, aus eigener Kraft die Finanzen aufzubringen, die ein Durchhalteplan im Krieg verschlingen würde. Tatsächlich gelang es, dieses Geld zu finden. - 56 - Man hat das das eidgenössische Finanzwunder genannt. Noch im ersten Weltkrieg hätte so etwas für unmöglich gegolten. Damals hatte die Eidgenossenschaft teures Geld in den Vereinigten Staaten aufgenommen. Diesmal hatte schon der Erfolg der Wehranleihe vor dem Krieg bewiesen, dass der Bund im Inland reichlich Geld zur Verfügung erhielt. Damit stiegen indessen die Schulden. Sie stellten sich dar als Verpflichtung der Eidgenossenschaft gegenüber dem eigenen Volk. Auf diese Weise wurde sich das Volk erst recht bewusst, wie eng es zusammengeschweisst worden war. Jedenfalls aber: Es mussten neue Mittel her. Im Juli 1940 beschloss der Bundesrat, ein allgemeines Wehropfer vom Vermögen zu erheben. Im Dezember des gleichen Jahres wurden die Wehrsteuer als direkte Bundessteuer und im Juli 1941 die Warenumsatzsteuer als indirekte Abgabe eingeführt. Die ordentlichen Ausgaben der Eidgenossenschaft hatten auf Ende 1940 den Betrag von über einer halben Milliarde erreicht. 1942 betrug das Defizit der ordentlichen Rechnung fast 64 Millionen Franken, während der Fehlbetrag der ausserordentlichen Rechnung auf 700 Millionen Franken gestiegen war. Vom Herbst 1940 an mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die nationalsozialistische Propaganda ihre Anstrengungen verdoppelte, und die deutsche Heeresleitung die Spionage gegen die Schweiz eingehend betrieb. Am 25. Oktober unternahm die Bundespolizei eine erste grössere Razzia gegen sogenannte «Erneuerer». Im November 1940 ermächtigte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und S. 82: Polizeidepartement, Strafklage gegen zwei schweizerische Nationalsozialisten, Leonhard und Burri, samt 30 Komplizen zu erheben. Es begann die Abwehr gegen jene Landesverräter, die zuerst in der Schweiz, nachher von Deutschland aus, die Unabhängigkeit des Landes bedrohten, und die sich schliesslich zu Handlungen hinreissen liessen, die mit der Todesstrafe geahndet werden mussten. Bald nachdem die Strafklage gegen Leonhard und Burri erhoben worden war, wurde die NBS verboten. Anschliessend daran verbot der Bundesrat auch die kommunistische Bewegung, die im Zeichen der deutschrussischen Freundschaft als besonders verdächtig gelten musste. Einen neuen Höhepunkt erreichten die nationalsozialistischen landesverräterischen Umtriebe im Frühsommer 1941. Am 10. Juni dieses Jahres wurden bei einer Aktion der Bundespolizei über 100 Personen verhaftet. - 57 - Es handelte sich bei diesen Elementen um Entwurzelte und Gestrandete, auf keinen Fall um typische Repräsentanten des Volkes. Von aussen her betrachtet, handelte es sich darüber hinaus um den Versuch, nationalsozialistische Zellen im schweizerischen Volkskörper zu bilden und ideologische Vorkämpfer zu werben. Unabhängig von der Bundespolizei hatte der General schon im Sommer 1940 eine Untersuchung gegen Offiziere durchführen lassen, die nationalsozialistischer Gesinnung verdächtigt worden waren. Von 124 Offizieren, die von der Untersuchung betroffen wurden, mussten 7 Fälle weiter verfolgt werden. Auch da ergab sich das gleiche: Die Zahl jener, die ihren politischen Kompass verloren hatten, war klein, die landesverräterische und ideologisch verblendete Gesinnung einzelner war, neben der eindeutigen Haltung der Mehrheit des Volkes, keine wesentliche Erscheinung. Die Höhe des Truppenaufgebotes sank im Sommer 1940 S. 83: auf rund 150'000 Mann herab, und sie blieb bis zum Sommer 1941 ungefähr auf dieser Zahl bestehen. Welches waren in der Zeit zwischen dem Ende des Krieges mit Frankreich und dem Ausbruch des deutsch-russischen Krieges die Aufgaben der Armee? Es zeichneten sich vier Hauptpflichten ab. Strategisch betrachtet war die Schweiz bald wieder bedeutsam geworden, weil sich zwei grosse Nord-Süd-Verbindungen, die Lötschberg-Simplon- und die der Gotthardlinie innerhalb ihrer Grenzen befanden. Die Deutschen verfügten für ihre Verbindung mit dem italienischen Partner nur über den Brenner. Je nach den deutschen militärischen Plänen konnte die Gefahr entstehen, dass diese versuchen würden, sich durch Überfall die beiden Linien zu sichern. Auf der andern Seite konnte bei den Alliierten die Versuchung aufkommen, mit Sabotageaktionen gegen Simplon und Gotthard den wirtschaftlichen Durchgangsverkehr von Deutschland nach Italien und umgekehrt - den zuzulassen der neutralen Schweiz völkerrechtlich erlaubt war - zu stören. So verlangte unsere militärische Bereitschaft jenen Grad, der es möglich machte, beidem zu begegnen. Hitlers Gegner gaben uns insofern aktiver zu schaffen, als vom Spätsommer 1940 an die Engländer in wachsendem Umfang die Schweiz überflogen. Sie wählten diesen kürzesten Weg nach Italien und nach Nordafrika. Alle diplomatischen Demarchen des Bundesrates blieben erfolglos. Nun rückten die Deutschen und Italiener mit der Forderung heraus, - 58 - die Schweiz müsse ihr Gebiet nachts verdunkeln, denn sie diene mit ihren Lichtern den Briten als Wegweiser, und dies sei unneutral. Am 6. November 1940 verfügte der General hierauf die Verdunkelung. Aber die Engländer fuhren fort, über die Schweiz hinwegzuflie- S. 84: gen. Im Vorwinter 1940 wurden gar Bomben auf Basel und Umgebung und im Dezember auf Zürich abgeworfen. Da setzte der General die Fliegerabwehrkanonen ein. Die dritte, wichtige Aufgabe der Armee in jenem Herbst und Winter war die Bewachung der französischen und polnischen Internierten, sie brachte einen ganzen Verwaltungsapparat. Im Januar kehrten die französischen Internierten nach Frankreich zurück, während die Polen im Lande blieben. über allem endlich stand die wichtigste Aufgabe der Armee: sie übte sich im neuen Kampfverfahren, pflegte den Nahkampf, den Kampf mit Sprengmitteln und machte sich vertraut mit der Verteidigung des Alpenzentralraumes. Ende September 1940 stand fest, dass die Deutschen die Luftschlacht um England verloren hatten. Der Winter würde kaum mehr grössere Aktionen bringen, wohl aber fieberhaftes Rüsten. Plante Hitler einen Schlag zu Wasser und in der Luft gegen England? Hatte er andere Eroberungspläne? War in diesem Fall seiner Sowjetfreundschaft zu trauen? Alle diese Möglichkeiten standen offen. Die Eidgenossen, die ihre innere Sicherheit wieder gewonnen hatten, wagten es bereits wieder, unzeitgemäss zu sein. Am 1. Dezember 1940 verwarfen sie ein Bundesgesetz, das den militärischen Vorunterricht obligatorisch erklären wollte. Jawohl, sagte sich der Mann aus dem Volk, man war bereit, zu seinem Land zu stehen, man war wehrhaft, und es gab weder Antimilitaristen noch Dienstverweigerer, aber trotzdem wollte dieser Mann aus dem Volk keinen überbetonten Militärgeist. Er wollte die Schweiz verteidigen, so wie sie war. Er hatte begreifen gelernt, dass am besten zu widerstehen war, wenn die Freiheit gegenständlich, praktisch und spürbar blieb! - 59 - S. 85: 4. KAPITEL Durchhalten bis zum Frieden Der kriegserfüllte Frühling 1941 - Wieder Pressekrieg mit Deutschland Deutscher Überfall auf Russland - Neue Lage für die Schweiz - Landesverräter werden erschossen - Die Flüchtlingsfrage - El Alamein und Stalingrad - Die schweizerische Nord-Süd-Verbindung und die «Aktion Schweiz» - Kein Asyl für Kriegsverbrecher - Schwere Versorgungsprobleme - Wirtschaftsabkommen mit den Alliierten - Bombardierungen - Die letzte Kriegsphase - Keine Generalmobilmachung - Wieder Kämpfe an der Westgrenze Kriegsendprobleme - Die Sowjetunion lehnt Beziehungen ab - Die Curriemission - Übergang zum Frieden - Schlussbetrachtungen S. 87: Das Jahr 1941 brachte jenes Ereignis, aus dem schliesslich die Wende im zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, den überfall der Deutschen auf die Sowjetunion. Dem überfall ging ein unruhiges, mit Kriegslärm erfülltes Frühjahr voraus, wobei die Schweiz der Gefahrenzone wieder näher kam. Im Februar 1941 begann die Offensive der Engländer gegen die Italiener in Abessinien, Somaliland und Eritrea. Sie hatte Erfolg. überdies kämpften die Italiener in Griechenland, das sie in ihrem Wahn, die Nachfahren der alten Römer sein zu wollen, im Oktober 1940 überfallen hatten, schlecht. Der britische Erfolg und die Misserfolge des italienischen Bundesgenossen zwangen die Deutschen, sich den Dingen in Südosteuropa und dem Balkan zuzuwenden. Dahinter stand natürlich bereits die Absicht, Russland zu überfallen, wozu Voraussetzung war, des Balkans sicher zu sein. So folgten sich die Ereignisse abermals Schlag auf Schlag. Im März 1941 besetzten die Deutschen Bulgarien, ohne Widerstand zu finden. Nun begann ihre politische Tätigkeit gegen Ungarn und Südslawien. In Ungarn nahm sich Ministerpräsident Teleki das Leben, als er sah, dass sein Land den Deutschen verfallen werde. In Jugoslawien unternahmen in letzter Stunde Offiziere einen Staatsstreich gegen den Prinzregenten Paul, der das Land der Achse ausgeliefert hatte. Hitler antwortete darauf mit dem Einmarsch seiner Armeen, diese warfen in wenigen Wochen das Land nieder. Darauf eilten die Deutschen den Italienern in Griechenland zu Hilfe und erzwangen Ende April - 60 - S. 88: 1941 dessen Kapitulation. Gleichzeitig besiegte das Afrikakorps des Generals Rommel die Briten in Nordafrika und warf sie bis an die ägyptische Grenze zurück. Zum vierten Male seit dem Kriegsausbruch schienen die deutschen Waffen zu beweisen, sie seien unwiderstehlich. Noch ist nicht abgeklärt, ob der deutsche Balkanfeldzug vom Frühjahr 1941 nicht eine grosse Improvisation gewesen ist, Hitler durch die Entwicklung aufgezwungen, während er gehofft hatte, sich in dieser Ecke Europas ohne Kampf durchsetzen zu können und so Zeit zu gewinnen für den gegen Russland beschlossenen Krieg. Jedenfalls zeichnete sich im Frühjahr 1941 eine vermehrte deutsche Reizbarkeit und Nervosität ab, die wir in der Schweiz deutlich zu spüren bekamen. Als ein paar schweizerische Zeitungen sich bewundernd und zustimmend zum jugoslawischen Offiziersputsch und zum serbischen Widerstandswillen äusserten, reagierte das deutsche Auswärtige Amt ungewöhnlich scharf. Die Schweizer Presse wurde an der Berliner Pressekonferenz gehörig abgekanzelt, und auf offiziellen wie inoffiziellen Wegen wurde dem Bundesrat von Berlin aus bedeutet, er könne sich eines Tages bei «seinen Zeitungen» bedanken, wenn Hitler aus Wut über deren Schreibweise den Krieg gegen die Schweiz befehlen sollte. Die deutschen Angriffe auf die Schweizer Presse hatten zur Folge, dass die Frage bei uns aufs neue diskutiert wurde, wie sich die Presse angesichts der deutschen Macht zu verhalten habe. Natürlich bestand eine gewisse Kontrolle: Die Zeitungsredaktionen mussten sich an bestimmte Verhaltungsmassregeln halten. Kümmerte sich ein Blatt nicht um sie, so konnten Massnahmen gegen es ergriffen werden, die von der wiederholten Verwarnung bis zum S. 89: Verbot reichten. Es gab indessen eine Gruppe von Schweizern, denen diese Regelung viel zu wenig weit ging. Es gelang massgebenden deutschen Stellen, auf einige führende Köpfe dieser Gruppe Einfluss zu bekommen. Es entstand aus dieser vielfach verflochtenen Inspiration jene Eingabe an den Bundesrat, die später als «Eingabe der Zweihundert» bekannt geworden ist und in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Rolle gespielt hat. In dieser Eingabe war, zuerst im Winter 1940 auf 1941 und nochmals während den Auseinandersetzungen beim deutschen Einmarsch in Jugoslawien u.a. verlangt worden, führende Zeitungsredaktoren grosser Schweizer Blätter abzusetzen und das Presseregime wesentlich zu verschärfen. - 61 - Der Bundesrat lehnte diese von rund 200 Stimmberechtigten unterzeichnete Eingabe ab. Sie geriet erst nach dem deutschen Zusammenbruch in die allgemeine öffentliche Diskussion, als leidenschaftlich über die nationalsozialistischen Einflussversuche der Kriegszeit diskutiert wurde. Die Eingabe der Zweihundert - von der später Alt-Chefredaktor Dr. Schürch schrieb, sie sei an und für sich nicht unrecht gewesen, habe aber Unrechtes verlangt - war bezeichnend für die innere Auseinandersetzung über das Mass dessen, was an Konzessionen möglich war, ohne dass die Würde des Landes verletzt wurde, und ohne dass wir mit solchen Konzessionen einem raffinierten System der Zersetzung von innen her einen kleinen Zipfel boten, den es ergreifen und mit dem es schliesslich das Ganze packen konnte. Der Krieg im Balkan verschlechterte die Versorgungslage der Schweiz spürbar. Südosteuropa war für uns ein wichtiges Tauschgebiet gewesen. Wir bezogen von dorther Schlachtvieh, Futtermittel und Getreide. Jetzt hatten die Deutschen darauf gegriffen. Freilich bestand seit Ende S. 90: Februar ein umfangreiches Handelsabkommen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion. Es blieb aber wegen der Transportschwierigkeiten auf dem Papier. Daher mussten jetzt weitere Lebensmittel in die Rationierung einbezogen werden, im Mai 1941 wurden zwei fleischlose Tage in der Woche verfügt. Im November kam ein dritter dazu. Gleichlaufend mit der schärferen Rationierung wurden die Strafen gegen kriegswirtschaftliche Sünder verschärft. Wirtschaftlich begann der Krieg jetzt für uns empfindlich zu werden. Indessen: der Krieg im Südosten und im Balkan war nur Vorspiel. Der Hauptschlag folgte erst noch: In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni überschritten Hitlers Truppen die deutsch-russische Grenze. Der «Führer» hatte seinen fünften überfall befohlen. Er wollte Napoleon verbessern. Alles Entgegenkommen hatte Stalin nichts gefruchtet. Die furchtbare deutsche Kriegsmaschine wandte sich jetzt gegen das russische Volk. Hitler hatte sich aber einen Gegner ausgelesen, der das gesamte deutsche Kriegspotential in Anspruch nahm, er lief in einen Raum hinein, dessen unheimliche und verhängnisvolle Weite sich ihm noch bald genug offenbarte. Die Wendung zum eigentlichen Weltkrieg war eingetreten. Sie brachte für die Schweiz neue politische und wirtschaftliche Probleme, aber zugleich entspannte sie die militärische Lage. - 62 Verfolgen wir den Gang der äussern Ereignisse bis Ende 1941. Der deutsche Feldzug gegen Russland wickelte sich zunächst mit jener Präzision ab, die man bereits gewohnt war: Die Russen wurden geschlagen und wichen in die Unendlichkeit ihres Raumes aus. Die deutschen Heere gelangten bis hart an Moskau heran. Dort kam ihr Angriff zum Stehen, der russische Winter breitete sich über die S. 91: Eindringlinge aus. Die gewaltigen deutschen Anfangserfolge hatten indessen vermocht, in Japan die Kriegspartei an die Macht zu bringen. Wenn die Welt neu verteilt werden sollte, so wollten die japanischen Nationalisten mit von der Partie sein. Sie kopierten die deutschen Methoden bis ins letzte: Am 7. Dezember 1941 überfielen sie den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour auf den Hawaiinseln. Damit zwangen sie den Vereinigten Staaten den Krieg auf, den das amerikanische Volk zu vermeiden versucht hatte. Hitler musste den japanischen überfall mit der Kriegserklärung an Amerika quittieren. Jedermann, der die Ereignisse mit wachem Verstand verfolgte, wusste jetzt, dass es nur noch einen Frieden gab, wenn die eine oder die andere Seite kapituliert hatte. Für die militärische Bereitschaft der Schweiz, wie wir bereits sahen, bedeutete der Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Russland eine Entlastung. Die Deutschen hatten jetzt andere militärische Sorgen, als den schweizerischen Alpenwall zu stürmen. Schon im Juli 1941 begann daher die Entlassung von Truppen. Bis Ende des Jahres standen nur noch rund 70'000 Mann unter den Fahnen. Es wurde ein Ablösungsturnus ausgearbeitet, der der Wirtschaft höchst willkommen war, und bei dem die Auszugsund Landwehreinheiten durchschnittlich einmal im Vierteljahr für die Dauer von fünfwöchigen Diensten aufgeboten wurden. Dabei wurde unterschieden zwischen Ausbildungs- und Bewachungsdiensten. In den ersten übte sich die Truppe im Kampfverfahren, das ununterbrochen gemäss den Erfahrungen auf den Kriegsschauplätzen verbessert wurde, während die Bewachungsdienste der Sicherheit der Verbindungswege, der Flugplätze und anderer wichtiger Anlagen dienten. Der Wehrmann hatte wieder S. 92: Zeit, Zivilist zu sein. Die Industrie fand die Arbeiter, die die Rüstung brauchte, und der Bauer verwirklichte in überaus strenger Arbeitszeit den Anbauplan. Die Versorgungslage verschlechterte sich rasch, seit Amerika in den Krieg eingetreten war und seit sich der russische Feldzug für die Deutschen zum - 63 gewaltigen, alles verschlingenden Moloch auszuwachsen begann. Im März 1942 wurde das Fleisch rationiert, und im Juli des gleichen Jahres musste sogar während vierzehn Tagen der Verkauf von Fleisch in der ganzen Eidgenossenschaft gesperrt werden. Schärfer als zuvor wurde gegen Schwarzhändler durchgegriffen. Mit dem Mangel stiegen (obgleich es eine Preiskontrolle gab) die Preise, und damit gerieten die Löhne ins Hintertreffen. In der Septembersession 1941 fand im Nationalrat eine erste, grosse LohnPreis-Debatte statt. Härten waren nicht zu vermeiden, aber eigentliche Ungerechtigkeiten konnten verhindert werden. Dennoch begriff man nicht überall den Ernst der Lage. Als im September 1942 Beamte der eidgenössischen kriegswirtschaftlichen Stellen aus Bern in Steinen im Kanton Schwyz Schwarzschlächter festnehmen wollten, erhob sich die Bevölkerung gegen sie. Trotz allem wich mit dem militärischen Druck der Druck von den Gemütern. Das kam dem Festsommer 1941 zugute, als in Schwyz und auf dem Rütli der 650. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft gefeiert wurde. Das würdige Fest spielte sich in zwei Tagen ab. Es half in diesem Augenblick mit, einen wichtigen Zweck zu erreichen: Das Volk zur Besinnung auf sich selbst zu bringen. Man darf die Zeit zwischen dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges und den Entscheidungsschlachten von EI Alarnein und Stalingrad als eine Einheit betrachten. S. 93: Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Belastung, die sie für die innere Front bedeuteten, gesellten sich vom Winter 1941 auf 1942 zwei neue Probleme: Die Umtriebe der verschiedensten nationalsozialistischen Schweizerbünde, die ihren Standort nach Deutschland verlegt hatten, nahmen in hohem Umfange zu. Sie waren jetzt ungeschminkt begleitet von eigentlichen landesverräterischen Handlungen und offenem militärischem Verrat. Im Juni 1942 verlangte ein Interpellant im Nationalrat, es seien Landesverräter den schärfsten Strafen zu unterstellen. Er forderte damit, dass für Landesverrat, wie es im Militärstrafrecht für den Aktivdienst vorgesehen war, künftig die Todesstrafe angewendet werden sollte. Der Bundesrat erliess darauf im August verschärfte Strafbestimmungen. Bereits am 26. September 1942 verurteilte das Divisionsgericht 8 zwei Fouriere wegen Landesverrats zum Tod durch Erschiessen. Das Urteil wurde vollstreckt. Bis zum Kriegsende sind im ganzen 16 Landesverräter erschossen worden. Diese Zahl sagt ein Doppeltes aus: Sie gibt Auskunft darüber, was für Anstrengungen Hitler unternahm, um die Schweiz militärisch auszuspionieren, - 64 - und sie beweist, bis zu welchem Grad die Entschlossenheit in der Schweiz gewachsen war, wenn die Todesstrafe wieder angewendet wurde, auf die das Strafgesetzbuch verzichtet hatte. Ein Problem anderer Art bildeten die Flüchtlinge. Bis zum Kriegsausbruch waren aus Deutschland zahlreiche, meist jüdische Flüchtlinge nach der Schweiz entkommen. Der Krieg unterbrach zunächst diese Entwicklung. Dann setzte sie sich in neuer Form fort. Seit dem Winter 1941, der die ersten Rückschläge der Deutschen in Russland gebracht hatte, begann zuerst zaghaft, nachher immer spür- S. 94: barer der Widerstand der Bevölkerung in den besetzten Ländern gegen die Besetzungsmacht. Er nahm die verschiedensten Formen an und entwickelte sich zu einer Schraube ohne Ende. Auf jede Widerstandsaktion erwiderten die Deutschen mit Gegenmassnahmen, und diese riefen neuem Widerstand. Als vom Herbst 1942 an ganz Frankreich besetzt wurde und die Besetzungsmacht anfing, französische Arbeiter für die Arbeit in Deutschland zu suchen und mit mehr oder weniger Zwang anzuwerben, beschlossen manche zu fliehen. Andere wiederum mussten fliehen, sei es als Menschen jüdischer Herkunft, sei es, dass sie sich des Widerstandes gegen die Besetzungsmacht schuldig gemacht hatten. - Aber auch aus andern Gegenden Europas begann ein Fliehen nach dem neutralen schweizerischen Eiland: Alliierte Gefangene entkamen aus Deutschland. Deportierte oder zur Deportation Verurteilte schlugen sich zur Schweizergrenze durch. Der Bundesrat verschärfte im August die Massnahmen gegen die illegalen Grenzübertritte. Er tat es aus verschiedenen Erwägungen: Jeder Flüchtling war ein neuer Esser, er brachte Schwierigkeiten für die Unterkunft und Schwierigkeiten diplomatischer Art mit den Herren Europas. Und wer würde einst für die Kosten aufkommen, die er verursachte? Die Zurückhaltung war vielleicht erklärbar, aber sie ging oft zu weit und liess gelegentlich einen befremdenden Polizeigeist durchblicken. Jedenfalls widersetzte sich die öffentliche Meinung entschieden einer zu brüsken Ordnung gegenüber diesen Gehetzten. Der Bundesrat milderte schon im September die ursprünglichen Massnahmen und gab im Nationalrat eine Erklärung zum Grundsätzlichen des Flüchtlingswesens ab. Bestraft wurden nun vor allem gewisse gewerbsmässig betriebene Ver- - 65 - S. 95: suche, Flüchtlingen zum Grenzübertritt zu verhelfen. Die Zahl der Flüchtlinge betrug Ende September 1942 noch nicht ganz 12'000. Sie stieg später, wie wir sehen werden, im Verlauf der Ereignisse noch beträchtlich. Der Winter 1942 auf 1943 brachte den Umschwung auf den Kriegsschauplätzen. Abermals änderte sich die Lage der Schweiz. Vorbote dafür, dass die Dinge im Osten allmählich zu Ungunsten der Achse umschlugen, und damit der Westen wieder wichtiger zu werden begann, war die gesteigerte Spionagetätigkeit gegen unser Land und die neue Nervosität der deutschen Stellen gegenüber der Schweizer Presse. Im Oktober 1942 liess sich der Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin zur Bemerkung hinreissen, nach dem Siege werde die deutsche Führung die schweizerischen Zeitungsschreiber in die Steppen Asiens verbannen! Vorläufig tobte allerdings in diesen «Steppen Asiens» noch ein Krieg auf Tod und Leben. Hitlers Heere waren bis Stalingrad vorgedrungen. Vor dieser Stadt wurde im Spätherbst 1942 der deutsche Angriff aufgehalten. Nun holten die Russen zum gewaltigen Gegenschlag aus. In der Winterschlacht um Stalingrad, die sich vom Dezember 1942 bis zum Februar 1943 hinzog, siegte die Rote Armee. Viele Tausende deutscher Soldaten samt ihrem Marschall und ihren Generälen wanderten in russische Kriegsgefangenschaft. Ebenso viele waren umgekommen. Hitler hatte seine erste, vernichtende Niederlage erlitten. Sie wirkte sich um so empfindlicher aus, als gleichzeitig der Rückschlag in Nordafrika nicht mehr aufzuhalten war. Noch im Herbst 1942 schien der Zeitpunkt angetreten, da das deutsche Afrikakorps bis Ägypten vordringen würde. England machte die schwerste Krise seit Kriegsbeginn durch, S. 96: zumal es im Fernen Osten, durch den Fall von Singapore, eine aufsehenerregende Niederlage erlitten hatte. Da begann Ende Oktober 1942 Montgomerys Gegenoffensive in Nordafrika. In der Schlacht von El Alamein schlug er das deutsche Afrikakorps. Zugleich landeten die Amerikaner in Marokko, wo grössere Teile der nordafrikanischen, französischen Truppen zu den Alliierten übergingen. Italiener und Deutsche räumten Afrika. Der Sprung nach Italien war offen. Das Kriegsglück hatte sich gedreht. Damit veränderte sich abermals die strategische Lage der Schweiz. Seit dem Herbst 1942 hatte sich das bereits angekündigt, denn die Verletzung des neutralen schweizerischen Luftraumes, - 66 - vornehmlich durch englische Luftgeschwader, die sich nach Italien und Afrika begaben, nahm ununterbrochen zu. Jetzt, im März 1943, als die Deutschen in Russland den Rückzug antraten, die nordafrikanische Front zu wanken begann, die Balkanpositionen mit einem Schlag unsicher schienen, die Kriegslust des italienischen Bundesgenossen rapid abnahm, wuchs die Gefahr eines deutschen Handstreiches gegen die Schweiz. Die Alpenverbindungen waren jetzt für Adolf Hitler doppelt wichtig. Alle seine Positionen wankten. Musste es da für die deutsche Kriegsführung nicht verlockend sein, sich des schweizerischen Zentralmassivs zu bemächtigen? In bezug auf die zum Unternehmen notwendigen Truppen konnten die Deutschen einen solchen überfall durchaus noch wagen, eben erst hatten sie neue Jahrgänge ausgehoben, ausgerüstet und gedrillt. Russland hatte sie unerhört geschwächt, aber immer noch waren sie zu fürchten. Dem Bericht des Generals kann entnommen werden, dass damals in der deutschen Heeresleitung tatsächlich eine «Aktion Schweiz» erwogen worden ist. Die beiden S. 97: wichtigen Linien des Nachrichtendienstes der Armee, von denen die eine in das Führerhauptquartier selbst hineinreichte, während die andere mit einem andern Zweig des komplizierten deutschen Nachrichtenapparates Verbindung hatte, meldeten in der zweiten Märzhälfte 1943 übereinstimmend, die «Aktion Schweiz» stehe unmittelbar bevor. Bereits um den 22. März herum war indessen der Gedanke von Hitler wieder fallen gelassen worden. Die Aktion war immerhin so weit gediehen gewesen, dass die deutschen Truppen für sie bereitgestellt, die Kommandoübertragungen geregelt worden waren. Die Spannung jener Tage und eine bestimmte Massnahme des Generals haben nach dem Krieg Anlass zu grösseren polemischen Auseinandersetzungen geboten. Der Chef des Nachrichtendienstes unserer Armee, Oberst Masson, nahm im Frühjahr 1943 mit dem deutschen SS-General Schellenberg mit Wissen des Generals direkte Verbindungen auf. Schellenberg erwähnte bei einer Besprechung, eine Aktion könnte von der deutschen Armeeleitung hauptsächlich dann gegen die Schweiz beschlossen werden, wenn die deutschen Stellen kein Zutrauen haben könnten, dass die Schweizer entschlossen seien, sich nach allen Richtungen, also auch gegenüber einem allfälligen Angriff der Alliierten, zu verteidigen. - 67 Schellenberg regte an, ob nicht General Guisan ihm zuhanden Hitlers eine Erklärung abgeben könnte, in der der unbedingte und nach allen Seiten hin wirksame Verteidigungswille der Schweiz ausgedrückt wäre. Damit würde es möglich sein, das deutsche Oberkommando vom vorbehaltlosen schweizerischen Neutralitäts- und Verteidigungswillen zu überzeugen. General Guisan beschloss darauf, Schellenberg zu empfangen. Auf einer Zusammenkunft im «Bären» zu S. 98: Biglen im Emmental gab er ihm die gewünschte Erklärung ab. Es ist nie abgeklärt worden, ob dieser Schritt tatsächlich die erhoffte Wirkung gehabt hat. Jedenfalls wurde die «Aktion Schweiz» im März 1943 abgeblasen. Die Meinungen darüber aber, ob der General recht getan hatte, sich mit Schellenberg einzulassen, blieben geteilt. Der Zwischenfall bewies, wie sehr die Schweiz ins Blickfeld der internationalen Politik und Strategie gerückt war. Der Zeitabschnitt, der mit dem März 1943 begann, erstreckte sich bis zur Landung alliierter Truppen in Nordfrankreich im Juli 1944. Es stellten sich dem Land keine neuen Probleme, wohl aber verschärften sich die alten. Der Zusammenbruch des faschistischen Regimes in Italien im Juli 1943 liess den Flüchtlingsstrom nach der Schweiz rasch ansteigen. Dabei ergab sich als neues Problem, dass nun darauf geachtet werden musste, keinen Personen Asyl zu gewähren, die von den Alliierten als Kriegsverbrecher verfolgt wurden. Die Schweiz hatte ein moralisches und ein politisches Interesse daran, klar zum Rechten zu sehen, um von vornherein ausländische Zumutungen zu vermeiden. Schon im Sommer 1943 hatten nämlich die Alliierten in einer Note darauf aufmerksam gemacht, sie würden es nicht hinnehmen, falls führende Persönlichkeiten des Faschismus oder des Nationalsozialismus in der Schweiz als Flüchtlinge aufgenommen würden. Der Bundesrat lehnte es in seiner Antwortnote entschieden ab, den freien und souveränen Entscheid der Schweiz über diese Dinge zur Diskussion stellen zu lassen. Er war indessen entschlossen, keinem Unwürdigen Asyl zu gewähren. Trotzdem ging es nicht ganz ohne Schönheitsfehler ab. Es gelang nämlich, unter grösstem Befremden der breiten schweizerischen Öffentlichkeit, Mussolinis Tochter, der Gräfin S. 99: Edda Ciano, der politisierenden Gattin des italienischen Aussenministers, nach der Schweiz zu entkommen. Aus Courtoisie, die der Frau galt, liessen sie die Behörden in das Land. Es bedurfte der entschiedenen und geschlossenen Ablehnung dieser Asylgewährung durch die Schweizer Presse, - 68 - um zu erreichen, dass die Ciano das Land wieder verlassen musste. - Anfang Oktober 1943 betrug die Zahl der Flüchtlinge und Internierten rund 61'000. Sie stieg bis zum Mai 1944 auf 75'000 und hatte gegen das Kriegsende 100'000 überschritten. Die Organisation, die die militärischen Internierten betreute, war in mancher Hinsicht improvisiert, und sie litt unter dem Mangel an geeignetem Personal. Das Ende der Internierung brachte einen Skandal. Es kam aus, dass beträchtliche Summen veruntreut worden waren. Die Verantwortlichkeiten waren unexakt geregelt. So gab es Untersuchungen, Prozesse und militärgerichtliche Urteile. Der Internierungsskandal warf einen Schatten auf das sonst makellose Bild des Aktivdienstes von 1939 bis 1945. Besonders schwierig gestaltete sich mit der wachsenden Desorganisation Europas die schweizerische Versorgungslage. Noch vermochten zwar die Deutschen zu liefern, aber sie verlangten dafür Gegenleistungen. Gerade diesen gegenüber wiederum waren die Alliierten mit zunehmendem Misstrauen erfüllt. Der Krieg kostete sie ungeheure Opfer an Gut und Blut. Sie wurden hart und hatten Mühe, die schweizerische Lage verständnisvoll zu würdigen. Sie sahen auch, dass durch die schweizerische Lücke den Deutschen ununterbrochen Waren zugingen, die sie diesen sonst überall gesperrt hatten. Die Lage unserer Unterhändler gestaltete sich heikel. Diese konnten allerdings darauf hinweisen, dass der Umfang der schweizerischen Lieferungen S. 100: an Deutschland höchstens ausreichte, um die deutsche Wirtschaft für 14 Tage zu versorgen, so dass er zur Stärkung des deutschen Widerstandes praktisch nicht ins Gewicht fiel. Auch betonten sie, dass die Selbsterhaltung der Schweiz im Interesse der Alliierten lag. Schliesslich brachten sie das Kunststück fertig, von den Deutschen die Zustimmung dafür zu bekommen, dass wir den Alliierten durch das deutschbesetzte Ausland hindurch gewisse Präzisionsinstrumente unserer Uhrenindustrie liefern durften, die jene für die Kriegsführung nötig hatten. Diese Lieferungen vergalten uns die Alliierten mit Brotgetreide. Eine Hauptwaffe der Alliierten gegen uns bildeten die «Schwarzen Listen». Auf diese setzten sie neutrale, also auch schweizerische Firmen, von denen sie wussten, dass sie nach Deutschland lieferten. Solche Firmen sollten auch nach dem Krieg von den Ländern der Allianz als Lieferanten nicht mehr berücksichtigt werden. - 69 - Es gelang dem Bundesrat, sich mit Erfolg für die betroffenen Firmen einzusetzen. Die Schwierigkeiten der Ernährung und der Versorgung mit Rohstoffen und Energie nahmen indessen unaufhaltsam zu. Die Rationen wurden weiter gekürzt. Im Februar 1944 richtete Bundespräsident Stampfli einen Appell an die Arbeitgeber und ermahnte sie, sich ihrer Solidarität mit der Arbeiterschaft bewusst zu bleiben, sie sollten alles tun, damit Einschränkungen der Arbeit, die wegen des Mangels an Strom oder Material eintreten konnten, ohne soziale Härten vor sich gingen. In einer ähnlichen Kundgebung der Kommissionen der eidgenössischen Räte wurde im Juni erklärt, das Kriegsende werde zugleich der Schweiz die grössten Schwierigkeiten bringen, die sie im Krieg überhaupt zu bewältigen gehabt hatte. S. 101: Eine einigermassen befriedigende Lösung aller offenen Fragen der Wirtschaft und der Versorgung wurde erst in einem umfassenden Abkommen mit England und Amerika Mitte August 1944 erzielt. In diesem Abkommen anerkannten die Alliierten die besondere Lage der Schweiz und billigten uns ein Mindestmass von Lieferungen, selbstverständlich im Tausch gegen Schweizer Produkte, zu. Das Abkommen brachte der Schweiz keine Fülle, aber eine gewisse Möglichkeit zum Disponieren. Die Feststellung der eidgenössischen Kommissionsherren, das Kriegsende werde erst noch die grössten Schwierigkeiten bringen, hatte am l. April 1944 eine furchtbare Bestätigung auf Vorschuss erhalten, als amerikanische Bomber die Stadt Schaffhausen am heiterhellen Tag bombardierten. Schöne alte Häuser und wertvolle Kunstschätze wurden zerstört, und über hundert Menschen kamen ums Leben. Die Bombardierung von Schaffhausen ist der grösste Kriegsschaden, den die Schweiz im zweiten Weltkrieg erlitten hat. Die Fliegertätigkeit hatte über der Schweiz, wie wir früher gesehen haben, seit 1942 beständig zugenommen. Zu den Überfliegungen gesellten sich bald zahlreiche irrtümliche Bombenabwürfe. Im April 1943 wurde Zürich bombardiert, im Juli Gebiete des Berner Oberlandes, im September Gegenden in Graubünden. Die Zahl der Abschüsse durch unsere Fliegerabwehr, der Notlandungen und irrtümlichen Landungen, später vornehmlich grosser amerikanischer Bomber, nahm zu. Damit wuchs auch die bunte Auswahl der Nationalitäten in unseren Internierungslagern. - 70 Das wichtigste innenpolitische Ereignis des vorletzten Kriegsabschnittes waren die Nationalratswahlen vom Ok- S. 102: tober 1943. Es waren die zweiten Kriegswahlen. Sie brachten einen Ruck nach links. Die sozialdemokratische Gruppe des Nationalrates stieg um 9 Mandate auf 54 Sitze, womit diese Fraktion die stärkste des Nationalrates geworden war. Als darauf im November der Chef des Eidgenössischen Finanzdepartements, der Zürcher Dr. Ernst Wetter, aus dem Bundesrat zurücktrat, wählte die Bundesversammlung als seinen Nachfolger den Sozialdemokraten Ernst Nobs. Mit ihm zog der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat ein. Seine Wahl darf man in die Reihe jener Zeugnisse einreihen, die Ausdruck des Gefühls dafür waren, dass die grössten Schwierigkeiten erst noch zu erwarten waren, die parteipolitische Verbreiterung der Zusammensetzung des Bundesrates schien geboten. Am 9. Juli 1943 waren die Alliierten in Italien gelandet. Ein Jahr später, am 6. Juni 1944, begannen ihre Landungsoperationen in Frankreich. Der zweite Weltkrieg war in seine letzte Phase eingetreten. Was für alle zivile Gebiete galt, dass zunächst das Kriegsende die Schwierigkeiten unserer Lage erst recht offenbaren werde, galt für das militärische Gebiet nicht weniger. Es lag durchaus im unberechenbaren und heimtückischen Charakter des deutschen Diktators, sich ob den bergsturzhaft hereinbrechenden Misserfolgen zu Kurzschlusstaten hinreisen zu lassen, die nicht mehr nach dem Sinn des Geschehens fragten, sondern bloss mehr von den Gefühlen der Rache und der Vernichtung ausgelöst waren. Trotz unerhörten Niederlagen war die deutsche Kriegsmacht immer noch ein fürchterliches Instrument. Das bekam im März 1944 Ungarn zu spüren, als es versuchte, den Anschluss an den Westen zu finden. Hitler überfiel den Verbündeten von gestern blitzartig. Reichsverweser Horty S. 103: wurde in ein deutsches Konzentrationslager entführt. Ungarn parierte. Wahrhaftig, zur Sorglosigkeit war kein Anlass! Als die Invasion des Kontinentes durch die alliierten Heere am 9. Juli 1944 begann, wollte der General die Generalmobilmachung der Armee verfügen. Dies sollte, nach innen wie nach aussen, eine ernste Demonstration des schweizerischen Wehrwillens sein. Der Bundesrat lehnte aus finanziellen und wirtschaftlichen Erwägungen die Generalmobilmachung ab. - 71 - Es kam ob der Beurteilung der Lage zu Differenzen zwischen Bundesrat und General, bei denen sich der Wille des Bundesrates durchsetzte, die Generalmobilmachung unterblieb. Die Invasion der Alliierten machte rasche Fortschritte, die offenbarten, dass nun auch die innere deutsche Front erschüttert war. Am 20. Juli 1944 kam es in Deutschland zu einem Aufstandsversuch. Er misslang. Hitler war entschlossen, das ganze Volk in seinen Sturz mitzureissen. In Russland, im europäischen Osten und in Frankreich waren die deutschen Heere auf dem Rückzug, zum Teil auf der Flucht. Abermals näherte sich der Krieg, wie im Jahr 1940, der schweizerischen Westgrenze, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Nun waren die Deutschen auf dem Rückzug und die Alliierten in mächtigem Ansturm hinter ihnen her. General und Bundesrat vermehrten die Zahl der aufgebotenen Truppen. Im September 1944 ordnete der Bundesrat die Teilkriegsmobilmachung der Grenztruppen an. Dazu rückten Feldtruppen ein. Bis zum 5. September standen fünf Auszugsdivisionen unter den Fahnen, vornehmlich im Nordwestjura und in der Ajoie. Näher und näher rückte der Krieg. Ende September stiessen bei Damvant in der Ajoie die Fronten zusammen: Von einem schweize- S. 104: rischen Beobachtungsturm unmittelbar hinter dem Grenzstacheldraht aus konnte man linker Hand die französischen, rechter Hand die deutschen Vorpostierungen beobachten, während sich diese beiden, getrennt durch ein Minenfeld, selbst nicht sehen konnten. Die schweizerischen Truppen hatten den Auftrag, jeden Versuch der einen oder andern Seite, den Gegner durch schweizerisches Gebiet zu umgehen, zu verhindern. Bereits bereiteten die Alliierten den nächsten Stoss, Richtung Mülhausen und den Rhein, vor. Tag und Nacht grollte der Kanonendonner, und die schweizerischen Bataillone standen in jenen Novembertagen während drei Wochen in dauernder Alarmbereitschaft. Mehr als einmal schlugen Granaten der alliierten Artillerie in die schweizerischen Stellungen ein. Mitte November wurde ein rekognoszierender Hauptmann bei Damvant erschossen. Am 16. November begann die Offensive der Franzosen und Amerikaner gegen die Burgundische Pforte. Die schwachen deutschen Stellungen wurden überrannt. - 72 - Nun waren es die Reste aufgeriebener deutscher Regimenter, die im Pruntruter Zipfel auf Schweizer Gebiet übertraten, entwaffnet und interniert wurden. Mitte Dezember erreichten die Alliierten den Raum von Mülhausen. Es dauerte noch bis zum März 1945, bis sie den Rhein überschritten. Der Krieg war entschieden. Die letzte Kriegsphase hat dem Land indessen auch schwierige politische Probleme gebracht. Sie waren aussenpolitischer Art. Mit einemmal schien es nämlich, als ob die schweizerische Neutralität draussen, auf dem Welttheater, nichts mehr gelten sollte. Deutlich liessen uns die Sieger spüren, neutral gewesen zu sein, habe ein verächtliches Geschmäcklein an sich. Es zeigte sich überdies, dass S. 105: das Ausland sich keine rechte Vorstellung von unserer wirklichen Lage zu machen vermochte. Die Schweiz erfuhr in zwei Fällen, mit was für schlechten Noten man sie bedachte: Zuerst, als sie den Versuch machte, mit der russischen Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, und nachher bei den Verhandlungen mit der sogenannten Currie-Mission der westlichen Alliierten vom Februar und März 1945. Die Frage, ob die Schweiz nicht versuchen sollte, mit Russland den diplomatischen Verkehr neu aufzunehmen, der 1918 abgerissen war, war bereits in der Vorkriegszeit diskutiert worden. Als indessen Russland 1939 als verbündete Macht an die Seite des nationalsozialistischen Deutschland trat, stellte man diese Frage, als zu heikel, wieder in den Hintergrund. Erst nach dem Ausbruch des deutschrussischen Krieges wurde das Problem von neuem aktuell. Im März 1944 nahm der Bundesrat ein Postulat im Nationalrat entgegen, in dem die Wiederaufnahme des diplomatischen Verkehrs mit Russland verlangt worden war. Es begannen Sondierungen, die dem Bundesrat aussichtsreich schienen. Da teilte am 5. November 1944 die Sowjetunion der Welt brüsk mit, sie denke nicht daran, mit der Schweiz in diplomatische Beziehungen zu treten. Wenige Tage nach dieser sensationellen Wendung demissionierte der Chef des Eidgenössischen Politischen Departements, Bundesrat Pilet. Er sah den Fall für so ernst an, dass er sich entschloss, diese, für schweizerische Verhältnisse ungewöhnliche Konsequenz zu ziehen. - 73 - Mit Bundesrat Pilet schied die am meisten angefochtene Gestalt der schweizerischen Politik des zweiten Weltkrieges aus dem Bundesrat aus. Es folgte auf ihn Ende 1944 der Neuenburger S. 106: Max Petitpierre, dem es später gelang, die Beziehungen mit der Sowjetunion wieder herzustellen. Russlands Weigerung hatte im In- und Ausland sensationell gewirkt. Man deutete sie dahin, sie beweise, wie einsam die neutrale Schweiz geworden sei, und man prophezeite dem einsamen Land für die Friedenszeit wenig Gutes. Glücklicherweise haben sich diese Propheten getäuscht. Bedeutsam, und in ihren Auswirkungen bis in die Nachkriegszeit hineinreichend, waren die Wirtschaftsverhandlungen, die am 12. Februar 1945 in Bern mit einer englisch-amerikanisch-französischen Delegation begannen, an deren Spitze der Amerikaner Currie und der Brite Dingle M. Foot standen. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen bildeten die deutschen Guthaben in der Schweiz, die die Alliierten für ihre Reparationsansprüche sicherstellen wollten. Ferner behaupteten die Verbündeten, es befinde sich Gold in der Schweiz, das von den Deutschen im besetzten Ausland gestohlen worden und der Schweiz verkauft worden sei. Es sollte sich dabei vornehmlich um französisches und holländisches Staatsgold handeln. Endlich bezogen sich die Verhandlungen auf die weitere Versorgung der Schweiz mit Rohstoffen und Lebensmitteln, denn wenn auch abzusehen war, dass der Krieg in Europa über kurzem zu Ende gehen musste, so dauerte doch der Krieg im Fernen Osten noch an. Was den ersten Teil der Verhandlungen mit der Currie-Mission anbelangt, der sich auf die deutschen Guthaben und das Raubgold bezog, so wurden deren Gegenstände später wieder aufgegriffen und führten schliesslich zum heiss umstrittenen Abkommen von Washington. Dagegen gelang es den schweizerischen Unterhändlern, in bezug S. 107: auf die Landesversorgung günstige Ergebnisse zu erzielen. Das Wichtigste an jenen Berner Besprechungen war es, dass mit ihnen überhaupt zum erstenmal seit Kriegsausbruch der unmittelbare, menschliche Kontakt mit den westlichen Alliierten hergestellt werden konnte und diese sich ein Bild über unsere tatsächliche Lage zu machen vermochten. Die Delegationsteilnehmer besuchten das Réduit, sie liessen sich den Mehranbau darlegen - und sie - 74 erhielten durch neue Bombardierungen von Basel, Zürich und weitem Orten in der Ostschweiz, verschuldet von amerikanischen Luftgeschwadern, ein anschauliches Bild davon, dass auch das schweizerische Eiland in der Gefahrenzone des Krieges lag. Der Bann um die nichtverstandene neutrale Schweiz zerbrach. Der englische Delegationschef Dingle Foot äusserte sich sogar, er begreife nun, dass die Neutralität für die Schweiz die gleiche politische Bedeutung habe wie die Freiheit der Meere für Englandl Die Agonie des Nationalsozialismus zog sich noch bis zum 8. Mai 1945 hin. An diesem Tag unterzeichnete eine aus den Fetzen der hitlerischen Macht überhastet gebildete deutsche Regierung die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Manch einer mochte sich gedacht haben, die Zeit werde für einen Augenblick stillstehen, wenn einst der Moment der Kapitulation gekommen sein würde. Aber sie stand nicht still. Im Fernen Osten tobten die Kämpfe weiter. Die Schutt- und Trümmerhaufen - die geistigen und moralischen so gut wie die materiellen -, die der Krieg in Europa hinterlassen hatte, dämpften den lauten Jubel. Erschreckt waren die Völker im Spätsommer 1939 in den zweiten Weltkrieg eingetreten, mit Sorgen erfüllt sahen sie dem Frieden entgegen. Auch bei uns in der Schweiz änderte sich zunächst S. 108: nichts, als dass der seelische Druck von den Menschen wich. Am 20. August 1945 schlossen General und Bundesrat, an einer ergreifenden Kundgebung in Bern, bei der noch einmal sämtliche Bataillons- und Abteilungsfahnen des Heeres an General Guisan vorüberdefilierten, feierlich den Aktivdienst. Es war ein wirklicher aktiver Dienst gewesen. Nicht umsonst hörte man das gemütlichere Wort von der Grenzbesetzung, das im ersten Weltkrieg gang und gäbe gewesen war, im zweiten Weltkrieg selten. Die Eidgenossenschaft sah auf die grösste militärische Kraftanstrengung ihrer ganzen bisherigen Geschichte zurück. Bis zum Schluss verfügte sie über mehr als 800'000 ausgebildete Soldaten, Ortswehrmänner und HilfsdienstpfIichtige, Männer und Frauen. Diese Zahl war nicht nur an sich hoch, sondern sie war auch, verhältnismässig betrachtet und beurteilt, höher als die Zahl der ausgebildeten Wehrpflichtigen in den kriegführenden Ländern. Es war eine Zahl, die eindrücklich die gewaltige Leistung eines freiheitlichen Volkes und eines kleinen föderalistischen Volksstaates darstellte. - 75 - Die schweizerische Armee hat die schwerste und letzte Probe nicht bestehen müssen. Die Toten des zweiten Weltkrieges, die auch sie zählte, fielen für das Vaterland, aber sie fielen nicht im Kampf. Trotzdem ist die militärische Leistung der Schweiz in jenen fünfeinhalb Jahren ein Zeugnis von historischer Grösse, eine Leistung, die vor dem Urteil der Geschichte Bestand haben wird. Man wird immer wieder versuchen, sauber und verstandesklar die Gründe herauszuarbeiten, wie es denn eigentlich kam, dass das kleine Land in der unerhört ausgesetzten Lage, in der es sich befand, durchhalten und widerstehen konnte. Gewiss lassen sich viele einleuch- S. 109: tende Erklärungen finden: Die Interessenvertretungen, die Tätigkeit des Internationalen Roten Kreuzes, die Erkenntnis der deutschen Machthaber, dass die zerstörten Alpenverbindungen, die sie bei gewaltsamer Eroberung der Schweiz vorgefunden hätten, für sie wertlos gewesen wären. Alle diese Erklärungen vergessen das Wesentliche: Dass in den Schweizern ein Wille lebte, vor der Macht der Tatsachen nicht zu kapitulieren. Ausdruck dieses Willens war der wehrhafte Geist. Der Ursprung seiner Kraft aber war ein überaus lebendiges Verhältnis zur Freiheit. Diese Freiheit lebte nicht in den Köpfen und Theorien, sondern in den Herzen. Sie war die Luft, die das Volk atmen wollte. Daher besass dieses Volk die Fähigkeit, instinktiv das wahre Wesen des Nationalsozialismus frühzeitig zu erkennen. In dem Augenblick, da die Frontenbewegung in die Ausländerei abglitt, war sie im Urteil der breiten Volksmassen gerichtet. Die Verbote, die später gegen sie ausgesprochen werden mussten, trafen gar keine politische Bewegung mehr, sondern eine verbrecherische Clique von Verrätern. Politisch hatte das Volk in der Mitte der dreissiger Jahre sein Urteil gesprochen. Dank dieser politischen Instinktsicherheit war es den Behörden möglich, von 1936 an das grosse militärische Rüstungsprogramm zu verwirklichen. Die Rüstung war vom Volk aller Schichten getragen. Die schweizerische Demokratie, die vielleicht vertrauensseliger als andere Staaten an den Völkerbund geglaubt hatte und deren umständliches Tempo gegenüber Neuerungen oft kritisiert worden ist, bewies ein klareres Urteil über das Wesen des Nationalsozialismus als jene Grossmächte, die er nachher in einen Krieg auf Tod und Leben gezwungen hat. - 76 - S. 110: Fünfeinhalb Jahre Krieg und die Wirrnisse fast eines Jahrzehnts, die ihm vorangegangen waren, hatten die Schweiz verändert. Nicht brüsk wie die vom Krieg heimgesuchten Länder, aber nicht weniger tiefgehend. Die Menschen waren sich näher gekommen. Die entsetzliche Totalität, mit der der Krieg gewütet hatte, liess die Schweizer erkennen, dass der Bund zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden war. Alle Fragen der Politik, der Wirtschaft und des sozialen Lebens standen unter diesem Eindruck der Schicksalsverbundenheit. Deshalb fanden die Menschen den Weg über Ideologien und Vorurteile, über Interessengruppen und Parteien zueinander. Das Solidaritätsgefühl wuchs. Es suchte sich nach dem Krieg in zwei Forderungen zu verwirklichen, von denen die eine, die Alters- und Hinterlassenenversicherung, auch eingeführt, während die andere, das Stimmrecht für die Frauen, als die natürliche Folge der gewaltigen Leistung, die im Frauenhilfsdienst wie in der gesteigerten privaten und öffentlichen Wirksamkeit von der Frau während des Krieges verlangt worden war, vom konservativen Charakter des Schweizervolkes abgelehnt wurde. Aber nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl hatte zugenommen. Auch der Sinn für die Freiheit wuchs! Ungeduldig und oft ungerecht wünschte das Volk im Frieden den Zwang von sich zu tun. Seine Reserven an freiwilliger Einsatzbereitschaft waren erschöpft. Nun wünschte es Bewegungsfreiheit, um sie neu zu äufnen. Die Schweizer haben in den schweren Jahren des zweiten Weltkrieges in der überwiegenden Mehrheit, unter Liberalen, Konservativen und Sozialisten, unter Reichen und Armen, unter Reformierten und Katholiken, unter Deutsch-, Welsch-, Italienisch- und Romanisch-Redenden S. 111: nie an ihrem Recht gezweifelt, frei und unabhängig in der Geschichte stehen zu dürfen und stehen zu wollen. Das politische Dasein war ihnen mehr als eine Zweckorganisation, obschon sie das Zweckmässige in der Politik nie verachtet hatten. Daher blieben sie im Gleichgewicht, und daher empfingen sie den Glauben an ihr Recht. Wer aber den Glauben hat, ist befähigt für das Wunder. Die Eingangsworte der Bundesverfassung «Im Namen Gottes des Allmächtigen» hatten im schweren Geschehen ihren tiefen Sinn ein neues Mal offenbart. - 77 - In den kommenden Jahren werden die Veränderungen, die der Krieg von 1939 bis 1945 mit uns Schweizern vorgenommen hat, erst noch spürbar werden. Die Schweiz von 1949 ist anders als die Schweiz von 1939 oder von 1941. Sie wird aber die Schweiz bleiben, wenn das Volk jene Formen finden wird, die dem gleichen Stamm entsprossen sind wie alle Formen, unter denen die Eidgenossenschaft in den Jahrhunderten bestanden hat. Es ist der Stamm der im Glauben gebundenen, gegenständlichen und praktischen Freiheit im Innern und der Wille zur Unabhängigkeit nach aussen Internet-Bearbeitung: K. J. Version 06/2008 --------