Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine

Werbung
Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung,
München: Wilhelm Fink 2005, 478 S., ISBN 3-7705-4060-3, EUR
39,90
Rezensiert von:
Achim Landwehr
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Es ist ein gewichtiges Buch zu einen gewichtigen Thema, das der
Hildesheimer Literaturwissenschaftler Silvio Vietta vorgelegt hat. Es ist
nichts weniger intendiert als einen Gesamtaufriss der europäischen
Kulturgeschichte von ihren antiken Wurzeln bis zu ihren globalisierten
Verästelungen der Gegenwart zu präsentieren. In einer recht
ausführlichen Einleitung von über 50 Seiten entwirft Vietta dabei ein
ganzes Panorama an Aspekten, die dazu beitragen sollen, nicht nur eine
europäische Kulturgeschichte, sondern eine "Europäistik" als europäische
Kulturwissenschaft zu etablieren. Das ist ein hehres Unterfangen, weshalb
man dem einprägsamen Satz des Autors, dass "für Europa kein Weg an
Europa vorbei" (9) führe, uneingeschränkt zu folgen gewillt ist. Jedoch
werden dieser Bereitschaft nicht unerhebliche Hindernisse in den Weg
gelegt. Denn die Einleitung birgt neben zahlreichen klärenden
Erläuterungen auch so manche Verwirrung. Vor allem die Tatsache, dass
hier unterschiedliche und teilweise recht weit auseinander liegende
Aspekte nebeneinander gestellt werden, ohne in einen Ansatz zu münden,
der von sich behaupten könnte, eine Synthese aus diesen Versatzstücken
zu bilden, ist gerade für ein Buch, das sich selbst als "Einführung"
begreift, nicht unbedingt förderlich.
Eine kurze Auflistung kann verdeutlichen, wie dieses additive Verfahren
vor sich geht: Nachdem kurz die generelle Bedeutung von Kultur im Sinne
einer unausweichlichen "zweiten Haut" (14) des Menschen hervorgehoben
wird, geht Vietta unmittelbar über zur Nationalisierung von Kultur- und
insbesondere Literaturwissenschaften im 19. Jahrhundert; sodann wird in
Überwindung dieser Nationalisierung für eine "Europäistik" plädiert,
gefolgt von einer Bestimmung des Kulturbegriffs; nach einer ebenfalls
umrisshaften Erläuterung des Gegenstandes einer Kulturwissenschaft
(Vietta spricht durchgängig von einer Kulturwissenschaft im Singular)
werden Fragen der Materialität von Kultur, der Genderforschung, der
Systemtheorie, der Mentalitätsforschung (auch hier im Singular) und der
Psychologie erörtert. All diese Elemente können sicherlich zum Entwurf
einer europäischen Kulturwissenschaft, wie sie dem Verfasser
vorschwebt, beitragen. Ein in sich stimmiges Konzept ergeben sie jedoch
in der hier präsentierten Form nicht.
Mitten hinein in diesen kulturwissenschaftlichen Gemischtwarenladen
setzt Vietta sein Modell einer kulturhistorischen Entwicklung Europas.
Diese sieht er einerseits geprägt durch Leitsysteme, die verschiedenen
kulturellen Systemen einer Epoche ihren Stempel aufdrückten. Der
Prozess der Ausdifferenzierung dieser Systeme steht "unter der
Schirmherrschaft von Leitkodierungen" (42). Unter Leitkodierungen sind
Ideen zu verstehen, die Systeme inhaltlich und methodisch steuern.
Unter den Voraussetzungen von Leitsystemen und Leitkodierungen
entwickelt Vietta schließlich einen Ablauf von Kulturepochen, der die
Entwicklung der europäischen Kulturgeschichte in aller Kürze
zusammenfassen soll: Auf eine mythisch-urgeschichtliche Zeit (bis ca. 6.
Jh. v.Chr.) mit der Leitkodierung des Mythos folgte demnach die
griechische Antike (ca. 6. Jh. v.Chr. - ca. 4. Jh. v. Chr.) mit der
Leitkodierung des Logos, die römische Antike (ca. 3. Jh. v.Chr.-476 n.
Chr.) mit der Leitkodierung der imperialen Macht Roms, das christliche
Mittelalter (ca. 5. Jh.-ca.1500) mit der Leitkodierung der christlichen
Offenbarungsreligion und schließlich die Neuzeit (seit ca. 1500) mit der
Leitkodierung des wissenschaftlich-rationalistischen Logos.
Dieses Modell ist ebenso bekannt wie problematisch. Damit feiert nicht
nur das seit dem 18. Jahrhundert allseits bekannte Kulturstufenmodell
fröhliche Urständ, das sich in ähnlicher Form auch schon bei Vico, Voltaire
oder Herder findet. Mit der Aufwärmung dieses kulturhistorisch nun
wirklich sehr kalten Kaffees übersieht Vietta außerdem auch souverän die
Diskussionen der jüngeren Kulturgeschichte. Diese hat es sich bekanntlich
zum Ziel gemacht, genau solche Modelle eben nicht mehr aufzulegen, da
damit noch nicht einmal durch die Hintertür, sondern offen durch den
Vordereingang ein teleologisches und modernisierungstheoretisches
Entwicklungsmodell präsentiert wird, wie man es doch gerade erst in
mühevoller Kleinarbeit desavouiert hatte.
Nach meinem Dafürhalten kann Kulturgeschichte gerade nicht mehr in
der hier offerierten Weise betrieben werden, da mit einem solchen
Vorgehen mehr verunklart als tatsächlich erhellt wird. Dass
Kulturgeschichte im speziellen und die Kulturwissenschaften im
allgemeinen sich viel eher auf die Vielzahl historischer Formen von
Bedeutungsgebungen konzentrieren, die sich gerade nicht mehr einem
Kulturstufenmodell unterordnen lassen, wird zwar von Vietta durchaus
berücksichtigt, durch seinen historischen Masterplan jedoch in
ungebührlicher Weise überdeckt.
Der weitere Aufbau des Buchs ergibt sich aus diesen nicht ganz
unproblematischen Voraussetzungen, wobei sich Vietta auf drei der von
ihm definierten Kulturepochen konzentriert, nämlich die griechische LogosKodierung, die christliche Pistis-, das heißt Glaubenskodierung sowie die
spezifisch neuzeitliche Logos-Kodierung. In der detaillierten Behandlung
dieser Teile offenbart sich eine weitere Schwierigkeit von Viettas
Darstellung, nämlich die überwiegende Konzentration auf
literaturwissenschaftliche und philosophische Themenbereiche. Auch
wenn seine Kulturdefinition, die in sehr umfassender Weise "Kultur als
jene sprachlich ermöglichte und vermittelte Form von Welterfahrung und
Welterschließung" versteht, "in deren Kontext sich das konkrete Denken,
Sprechen und Handeln von Menschen vollzieht" (27), eigentlich keine
entsprechende Beschränkung vorgibt, finden politische Themen nur am
Rande, Fragen des Rechts, der Wirtschaft, des Krieges etc. praktisch
keine Erwähnung.
Wie aber lässt sich ernsthaft eine Kulturgeschichte schreiben, die von
einem solchen weiten Kulturbegriff ausgeht und jenen Aspekten trotzdem
keine Aufmerksamkeit schenkt? Faktisch liegt dem Buch also doch ein
enger Kulturbegriff zugrunde, der sich vor allem durch die Konzentration
auf Formen künstlerischer Ausdrucksweise und ideengeschichtliche
Zusammenhänge auszeichnet. Ohne Zweifel sind auch dies voreilige
Verengungen, die eine jüngere Kulturgeschichte zu vermeiden sucht,
indem sie sich nicht mehr für exklusive Themenbereiche zuständig sieht,
sondern eine bestimmte Perspektive einnehmen will (nämlich den Blick
auf die Konstruktion von individuellen und kollektiven
Bedeutungszusammenhängen), die auf sämtliche Bereiche menschlichen
Lebens gerichtet werden kann. [1]
Bei Vietta finden sich hingegen teils überblicksartige, teils auch
eingehende Untersuchungen zur griechischen Philosophie von den
Vorsokratikern bis Platon, zum griechischen Drama, zu zentralen Inhalten
christlicher Theologie, zu Augustinus, zu Klöstern und zur Mystik des
Mittelalters, zu Dante, Petrarca und Boccaccio, zur Verwissenschaftlichung
und zum Thema der Subjektivität in der Philosophie und Literatur der
Neuzeit. Um nicht missverstanden zu werden: Dies sind fraglos wichtige
und lohnende Themenbereiche, aber "die europäische Kulturgeschichte"
scheint mir damit noch keineswegs abgedeckt zu sein. Man möchte es
daher auch kaum als einen Zufall werten, wenn Vietta eine
"Kulturepoche" wie die römische Antike mit ihrer "Leitkodierung" der
imperialen Macht auslässt - denn in diesem Kontext hätte sich die
Konzentration auf Literatur und Philosophie wohl nicht durchhalten
lassen. Alles in allem also eine Lektüre, die mit Vorsicht zu genießen ist und möglicherweise ein Buch, das an seinen eigenen, zu hohen
Ansprüchen gescheitert ist, nämlich an der Mammutaufgabe, die
Gesamtheit europäischer Kultur darstellen zu wollen.
Anmerkung:
[1] Hierzu vor allem Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien,
Praxis, Schlüsselworte, Frankfurt a.M. 2001; Achim Landwehr/Stefanie
Stockhorst: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn
2004.
Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Achim Landwehr: Rezension von: Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine
Einführung, München: Wilhelm Fink 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12
[15.12.2006], URL: <http://www.sehepunkte.de/2006/12/11158.html>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden
Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Herunterladen