Marginalie warten), Rücksicht nehmen würde. Für Hilfsorganisationen gilt nicht nur die Maxime, so Munz: „Tu Gutes und rede darüber“, sondern auch: „Und wenn du redest, achte darauf, dass eine Kamera und ein Mikrofon in der Nähe sind und dass du die Rolle des selbstlosen und unfehlbaren Helden gut und überzeugend darstellst.“ Dazu kommt, dass Medien und Hilfsorganisationen (die ja auf Geldspenden und deswegen auf Medienpräsenz angewiesen sind) nicht selten Hand in Hand arbeiten: „Oft sind die Medien bei ihrer Arbeit auf die logistische Unterstützung der Helfer angewiesen, um wirklich direkt am Geschehen präsent sein zu können. Und diese bekommen sie, weil sich die Helfer im Gegenzug gute Publicity versprechen.“ Die „embedded journalists“ gibt es schon länger. Ein ruandischer Arztkollege in Munz’ Buch sagt: „Humanitäre Hilfe ist das, was ihr mit uns macht, wenn es uns so richtig dreckig geht und wenn wir uns nicht dagegen wehren können“, und Munz kommentiert, das sei „der drastische Widerspruch zwischen den Klischees in der Mediendarstellung, die wir hier bei uns über Katastrophen und die nachfolgenden Hilfsoperationen immer noch pflegen, und der Wirklichkeit vor Ort, wie sie die Betroffenen erleben“. Sicher, das auch, aber der Kollege bezog sich ja gar nicht auf die Medien, sondern auf seine Sicht der Dinge vor Ort. Weshalb nun auch zu fragen wäre, ob professionelle humanitäre Hilfe wirklich so sinnvoll ist, wie Munz die Leser glauben machen will. Dies wiederum ließe sich besser beurteilen, wenn Journalisten, der Sache und der Aufklärung verpflichtet, mit Neugier, kritischer Distanz und der nötigen Zeit ausgestattet, berichten würden, was sich wirklich vor Ort zuträgt. Freilich: Solcher Journalismus ist die Ausnahme, aber es gibt ihn, auch in den Massenmedien, man muss ihn nur zur Kenntnis nehmen wollen. Hans Durrer Richard Munz, Im Zentrum der Katastrophe . Was es wirklich bedeutet, vor Ort zu helfen, campus Verlag, Frankfurt 2007 „Wir dienen Ihrer Gesundheit“ Eine Handreichung Viele Kliniken, Arztpraxen, Pharmabetriebe und Krankenkassen präsentieren ihre Dienstleistungen unter dem Slogan „Wir dienen Ihrer Gesundheit“. Die Ernsthaftigkeit dieses Mission Statements wird jedoch immer mehr in Frage gestellt. Wenn Sie als Arzt in irgendeiner Chefetage des Gesundheitssektors tätig sind, werden Sie häufig den weit verbreiteten Vorwurf hören, dass Sie mit dem Gesundheitssystem nicht der Gesundheit dienen, sondern eigentlich nur mit dem Kranksein an der Gesundheit verdienen. Lassen Sie das keinesfalls auf sich sitzen. Zeigen Sie der Öffentlichkeit, wie viel Gutes Sie tun und wie sehr Sie zur Gesunderhaltung der Bevölkerung beitragen. 102 Schließlich haben Sie den Hippokratischen Eid abgelegt – wenn auch nur in der Fassung der Genfer Deklaration des Weltärztebunds von 1947: „Ich gelobe feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen“, „Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein“ und so weiter – richtig nette Lyrik für besinnliche Stunden am warmen Kamin der Nächstenliebe. Natürlich haben Sie sich damals schon gefragt, was unter „Gesundheit“ überhaupt zu verstehen ist. Da verwies man Sie auf die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946, die ganz klar sagt, was gemeint ist: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbe- findens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Jetzt konnten Sie aufatmen. Sie mussten sich danach doch nicht allein mit Kranken und Gebrechlichen abgeben. Ganz im Gegenteil: Ihr Betätigungsfeld hat sich enorm erweitert. Sie können sich überhaupt allen Menschen widmen. Denn Ihre Kunden sollen sich „wohl“fühlen, und zwar in allen Lebenslagen. Als ob die Herren von der WHO schon damals die Wellness-Welle und damit den sechsten großen Konjunkturzyklus im Sinne von Kondratieff vorausgeahnt hätten. Der Russe Nikolai Kondratieff hatte bereits 1926 „die langen Wellen der Konjunktur“ (so der Titel seines Artikels) mit einer Länge von jeweils 45 bis 60 Jahren vorausgesehen. Demzufolge könnte nach Leo Nefiodow der derzeitige fünfte Kondratieffzyklus – mit Basisinnovationen der Informationstechnik – durch den sechsten mit Basisinnovationen auf dem Gesundheitssektor abgelöst werden. Dafür sprechen schon allein die Überalterung der Bevölkerung und die damit verbundene Bedürfnisstruktur der Altenversorgung und Skelettverwaltung. Für die Erhaltung des Wohlbefindens vor allem junger Menschen ist die Prophylaxe besonders wichtig. In den USA ist man darin schon etwas weiter als bei uns. Dort bekommen bevorzugt junge, beschwerdefreie und gut versicherte Menschen vorsorglich die Gallenblase entfernt. Das schützt sie auf Geschäftsreisen vor plötzlich auftretenden Koliken. Selbstverständlich können sich prophylaktische Operationen auch auf den Blinddarm oder die Mandeln erstrecken, gleichfalls Organe, die sich immer zum ungünstigsten Zeitpunkt, etwa auf einer Reise ins Ausland, entzünden. So schützt auch die rechtzeitige Herausnahme der Gebärmutter, die Hysterektomie, vor Gebärmutterkrebs – eine beliebte Operation vor allem in der Schweiz, wo der Anteil der Frauen ohne dieses nur für die Gebärwilligen wichtige Organ doppelt so hoch ist wie in Frankreich. Für diesen großen Anteil an der weiblichen Bevölkerung ist die Gebärmutter somit ein verzichtbarer Risikofaktor. Marginalie Eines der großen Einsatzgebiete Ihrer Zunft zur Mehrung des Wohlbefindens ist die Bekämpfung der allgegenwärtigen Angst der Menschen. Angst ist der größte Feind des Wohlbefindens. Nehmen Sie den Menschen die Angst vor Krebs, Herzinfarkt, Übergewicht, Knochenschwund, Arthrose, Hörsturz, Rinderwahn, Vogelgrippe, Schadstoffen in Nahrung und Umwelt, und schon wird er im Sinne der WHO-Definition gesunden. Aber wie nehmen Sie ihm die Angst? Indem Sie ihm die Ursachen der Angst nehmen – am besten, indem er, wie die Tiefenpsychologie erwiesen hat, lernt, seine Ängste anzuschauen und nicht einfach zu verdrängen. Machen Sie ihm seine Ängste bewusst, führen Sie ihm die Risiken vor Augen, die allgegenwärtig auf ihn lauern. Nur wenn er all die Gefahren kennt, die etwa mit der Fettleibigkeit einhergehen, vor allem auch die sozialen Folgen, können Sie ihm die damit verbundene Angst nehmen. Bieten Sie ihm einfach Ihre erprobte Therapie und die in den besten Labors entwickelten Medikamente an, die todsicher von dem befürchteten Leiden befreien. Der Leidende wird bald von seiner Angst befreit sein – er ist ja jetzt in Ihren heilenden und fürsorglichen Händen. Überhaupt ist der psychosomatische Effekt Ihrer Therapien von größter Bedeutung. Weisen Sie Ihre Patienten niemals mit dem Argument zurück, man könne in seinem Fall nichts machen, und er solle auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Sie würden ihn dann schutzlos seinen Ängsten sowie dem Aberglauben ganzer Armeen von Geistheilern, Schamanen, Astrologen, Heilpraktikern oder anderweitigen Naturheilkundlern ausliefern. Im schlimmsten Falle käme Ihr Patient sogar auf die Idee, einen Ihrer approbierten Kollegen zu konsultieren. Das muss nicht sein. Setzen Sie bei der Behandlung daher den richtig verstandenen Placebo-Effekt ein. Er hat sich als besonders effektvoll erwiesen. „Placebo“ kommt aus dem Lateinischen und heißt „Ich werde gefallen“. Der Therapeut muss also gewissermaßen seinen Klienten gefallen, damit dieser sich wohlfühlt und gesundet. So hat man in einer groß angelegten Studie in Texas die Wirksamkeit der Placebochirurgie durch den Orthopäden Bruce Moseley festgestellt. 180 Patienten mit einer mittelschweren Kniearthrose wurden nach dem Zufallsprinzip zwei verschiedenen Gruppen zugeteilt. Die einen wurden einer normalen Kniearthroskopie mit Spülung der Kniegelenke und Glätten der Knorpel unterzogen, die anderen aber wurden in einen Dämmerschlaf versetzt, und mit dem Skalpell ritzte man ihnen drei kleine Wunden ins Knie, so dass sie nach dem Erwachen glaubten, sie seien normal operiert worden. Niemand erfuhr, was tatsächlich mit seinem Knie geschehen war. Zwei Jahre danach, so berichtete der Medizinautor Jörg Blech, „waren nahezu alle Patienten zufrieden mit dem Eingriff und in vielen Fällen froh, weniger Schmerzen zu haben – gleichgültig ob sie nun operiert worden waren oder nicht“. Es kommt also darauf an, dass mit dem Patienten überhaupt etwas geschieht, damit er sich wohlfühlen kann. Es ist völlig egal, was Sie mit ihm anstellen, nur tun Sie etwas. Bieten Sie ihm komplizierte Krebsvorsorgeuntersuchungen an, schicken Sie ihn für eine Woche in die Mayo-Klinik, überlassen Sie den Kranken nach einer Operation nicht einfach sich selbst, sondern weisen Sie ihn in die Reha ein. Wenn der Patient Beschwerden an den Zähnen hat, so bieten Sie ihm eine langwierige Therapie an – welche, das bleibt Ihnen überlassen. Hauptsache, er fühlt sich ernstgenommen und in seinem Leiden verstanden. Er wird schließlich seine Ängste überwinden und sein Wohlbefinden wiedergewinnen. Wie wichtig die Beschäftigung mit den Patienten ist, sieht man an der Höhe der in Anspruch genommenen individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), die in Deutschland vom Patienten selbst bezahlt werden müssen. Mehr als eine Milliarde Euro werden mit den Selbstzahlern umgesetzt. Ob Lichttherapien, Blutbestrahlungen, Blutegelsessions, Botox-Verschönerungen, Aufbauspritzen oder subaquale Darmbäder: Immer ist der Patient im Mittelpunkt Ihrer Therapie und kannsein verlorengegangenes Wohlbefinden gegen ein kleines Entgelt wiederherstellen lassen. Auch die Verabreichung von Medikamenten ist Ausdruck Ihrer Fürsorge. Der Bedarf danach ist jedenfalls sehr groß. Neben den 306 unentbehrlichen Wirkstoffen werden in Deutschland alleine 2300 Substanzen in mehr als 52 000 Darreichungsformen auf den Markt geworfen – alle mit dem Ziel, dem Patienten sein Selbstwertgefühl wieder zurückzugeben. Aber unsere Placebo-Medizin dient nicht nur der Gesundheit unserer Patienten. Sie dient umgekehrt auch dem Wohlbefinden unserer Gesellschaft. Was wäre unsere Volkswirtschaft, wenn unser Gesundheitssystem keine Kranken mehr hätte? Millionen von Arbeitsplätzen gingen verloren, Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur wären in den Sand gesetzt, Krankenkassen müssten schließen, die Pharmakonzerne ihren Betrieb einstellen, die Politiker hätten keine Wahlkampfthemen mehr – es wäre für alle Beteiligten das reine Desaster. Deshalb können wir froh sein, dass unser Gesundheitssystem über den unermüdlichen Einsatz der Pharmaindustrie und Ärzteschaft dafür sorgt, dass uns die Kranken nicht ausgehen. Sechzig Prozent aller Krankheiten, so schätzen ernstzunehmende Risikoforscher, sind iatrogen, das heißt, werden direkt von den Ärzten ausgelöst. Stellen Sie sich vor, diese Krankheiten würden mit einem Schlag wegfallen. Der Dichter Eugen Roth sagt es so: „Was bringt den Doktor um sein Brot? a) die Gesundheit, b) der Tod. Drum hält der Arzt, auf dass er lebe, Uns zwischen beiden in der Schwebe.“ Und in einem anderen Gedicht bringt uns der Menschenkenner noch ein fundamentales Gesetz des Gesundheitswesens näher: „Der Kranke traut nur widerwillig Dem Arzt, der's schmerzlos macht und billig. Lasst nie den alten Grundsatz rosten: Es muss a) wehtun, b) was kosten.“ 103 Rezensionen Die Beachtung dieses Rates können wir nur empfehlen. Wie sehr das Gesundheitssystem von unserer diplomatisch erhöhten Wahrheit über den Gesundheitsdienst profitiert, lässt sich an den Folgen eines Streiks der Krankenhausärzte erkennen, der in Israel der mehrere Wochen lang durchgehalten wurde. „Hunderttausende Untersuchungen“, wusste Jörg Blech im Spiegel zu berichten, „fanden nicht statt, Zehntausende Operationen wurden verschoben und abgesagt. Die Notaufnahmen, Dialyseabteilungen, Krebsstationen und Abteilungen für Neonatologie und Geburtshilfe blieben geöff- net, ansonsten aber wurden die Menschen abgewiesen. Sie gingen wieder häufiger zum Familiendoktor oder blieben zu Hause.“ Und was geschah während dieser Zeit? Die Bestattungsunternehmer hatten erhebliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen, weil die Mortalität beträchtlich sank, es wurde einfach seltener gestorben – vermutlich weil nicht mehr genug Ärzte Zeit fanden, ihren Patienten zu sagen, wie krank diese eigentlich seien. Sie sehen also: ÄrzteStreiks wachsen sich für jedes Gesundheitssystem zu einer Katastrophe aus – es droht die Pleite. Es ist also für alle, auch für die Rentenversicherer, besser, wenn das System für geregelte Mortalitätsraten sorgt. Schließlich brauchen wir ja auch Platz für neue Erdenbürger und die damit verbundene Pränataldiagnostik und medizin. Sie sehen also, wie fundamental unsere kleine Flunkerei vom Dienst an der Gesundheit für die Vitalität der Gesellschaft im Ganzen ist. Es entsteht ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Sie dienen der Gesundheit. Die Krankheit dient Ihnen. Und beides zusammen dient dem Allgemeinwohl. Mehr kann man nun wirklich nicht verlangen. Mathias Schüz www.dr-skotarczak.de „Wer belohnt heute noch den ärztlichen Idealismus?“ (orig. Bildunterschrift) 104