Dr. Nils Schuhmacher „Extremistische“ Phänomene in Deutschland

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Dr. Nils Schuhmacher
„Extremistische“ Phänomene in
Deutschland – Blitzlichter auf den
Stand der politischen und
wissenschaftlichen Diskussion1
Zum Begriff „Extremismus“
––––––––––––––––––––––––––––––
„Extremismus“ scheint auf den ersten Blick
ein selbsterklärendes Konzept im Kontext
politischer Abweichung zu sein. Den Begriff in Anführungszeichen zu denken, ist
gleichzeitig aus verschiedenen Gründen
sinnvoll, wenn nicht notwendig.
Zum Ersten wird man so daran erinnert,
dass es sich stets um einen von außen
kommenden Kennzeichnungsbegriff handelt. Politische Akteure und Sicherheitsbehörden, Teile der Medien, der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft sprechen
von Extremismus, wenn sie andere als
‚spezifisch anders’ und als ‚besonders
stark anders’ kennzeichnen. Der Begriff
Extremismus dient in diesem Sinne immer
auch
der
Grenzziehung
zwischen
„uns“ und „denen“ mit dem – keinesfalls
unerwünschten und nebensächlichen –
Effekt der Externalisierung (von Problemen) und der Stigmatisierung (von Unangepassten). Richtung und Erfolg der Kennzeichnung hängen naheliegenderweise mit
Interessen und mit Machtmitteln zusammen, die zur Verfügung stehen. Das
wiederum heißt: Extremistische Phänomene sagen immer auch etwas über diejenigen aus, die die Möglichkeiten besitzen,
öffentlich wahrnehmbar und folgenreich
Erwünschtes von Unerwünschtem zu
trennen.
Zum Zweiten kann davon ausgehend nach
den Konturen des Erwünschten und des
Unerwünschten gefragt werden. Ein Blick
auf vorliegende Extremismus-Modelle und
1
Schriftliche Fassung des gleichlautenden
Vortrags auf der Fachtagung „Jugendliche
mit radikalisierten Haltungen“ des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz am 15.12. in Berlin.
sozialwissenschaftliche Diskussionen lässt
hier in beide Richtungen Zweifel am umfassenden Geltungsanspruch des Extremismuskonzepts aufkommen. Fraglich ist
generell, ob es überhaupt die analytische
Qualität besitzt, politische Positionierungen zu bestimmen. Darüber hinaus
lässt sich festhalten, dass sozialwissenschaftlich tragfähige Bestimmungen zwar
im Phänomenbereich Rechtsextremismus
existieren, in anderen jedoch nicht.
Zum Dritten darf nicht unterschlagen werden, dass sich der Großteil der Debatten
über politischen Extremismus hierzulande
auf junge Menschen bezieht, die mit Gewalt in Verbindung gebracht werden.
Sicherheitsbehörden taxieren das jeweilige
extremistische „Personenpotenzial“ und
schätzen es in seiner ‚Gefährlichkeit’ ein.
Sicherheitsbehördliche
Perspektiven
müssen aber zwangsläufig schnell an ihre
Grenzen geraten. Aus einer sozialisationstheoretischen und pädagogischen Perspektive wird man nämlich zu recht daran
erinnern, dass die Jugendphase eben
auch ein zentraler Abschnitt der Identitätsaushandlung ist, dass radikale Infragestellungen des Bestehenden und Grenzüberschreitungen verschiedener Art Teil
dieses Prozesse sein können, dass politische Positionierungen gerade bei Jugendlichen flüchtig, hochdynamisch, ‚unfertig’
und stark veränderbar sind und dass in
ihnen auch Bedürfnisse zum Ausdruck
kommen, die nicht im engeren Sinne mit
der Durchsetzung politischer Ziele verbunden sind (Gemeinschaftserleben, Sicherheit, Selbstwertaufbau etc.)
Extremismus-Modelle
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Mit welch unterschiedlichen ‚Objektiven’
man auf „Extremismus“ schauen kann,
zeigen verschiedene Modelle: Mit dem
amtlichen Extremismus-Modell lässt sich
vergleichsweise leicht Ordnung in die
Dinge bringen:
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Quelle: Richard Stöss (2007): Rechtsextremismus
im Wandel. Berlin, S. 19. [online unter:
http://library.fes.de/pdf-files/do/05227.pdf]
An diesem Modell fällt zunächst einmal auf,
dass es in Bezug auf „Extremismus“ frei
von Inhalten ist. Was es über ihn zu sagen
gibt, erfährt man nur in Ableitung. Ganz
gleich welcher politischen Richtung er
zugeordnet wird: er ist hier zunächst einmal nicht viel mehr als die Steigerung von
Radikalismus und das Gegenteil all jener
Prinzipien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung ausmachen (im Mindesten: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten,
vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die
Volkssouveränität, die Gewaltenteilung,
die Verantwortlichkeit der Regierung, die
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für
alle politischen Parteien mit dem Recht auf
verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition).
Suggeriert wird bei dieser Bestimmung,
dass das Wünschenswerte und das Tatsächliche immer in Übereinstimmung sind,
dass es in der konkreten Ausgestaltung
von Normen keine Interpretationsspielräume und keine Graubereiche gibt, das sich
die gesellschaftliche Mehrheit tatsächlich
auf jeden einzelnen dieser Punkte verständigt hat, dass es kontextlos möglich ist,
das noch Akzeptable („Konforme“) vom Inakzeptablen zu trennen (und dass es jemanden gibt, der dies verlässlich erledigt).
nung bestimmen, vor allem dürfte dies für
Jugendliche mit ihrem alltagsnahen Politikverständnis gelten; Einstellungen und Praxen stehen im Widerspruch zueinander; je
nach politischer Haltung werden nur bestimmte Aspekte, und dies auch noch mit
unterschiedlichen Begründungen abgelehnt; je nach politischer Haltung stehen
unterschiedliche Alternativen im Raum; für
diese Unterschiede sind stark voneinander
abweichende Werte Ausschlag gebend;
und schließlich ist für bestimmte Formen
des „Extremismus“ – man denke an den
„religiös begründeten Extremismus“ – in
dieser Darstellung gar keinen Platz.
Anders als das auf pragmatische Anwendbarkeit hin angelegte, und damit wohl
auch notwendigerweise komplexitätsreduzierte, sicherheitsbehördliche Modell treten
„demokratietheoretische“ Modelle aus dem
Kontext der Extremismusforschung mit
dem Anspruch einer sozialwissenschaftlichen Fundierung des Konzepts auf.
Dem entgegen stehen diverse Beobachtungen, Erfahrungen und Befunde: eine
Reihe von als „Extremisten“ Etikettierten
lässt sich gar nicht an ihrer Haltung zur
freiheitlichen demokratischen Grundord-
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Die abgebildeten Modelle sind zwar ‚dynamischer’ und differenzierender, die
bereits genannten grundsätzlichen Probleme aber damit nicht gelöst: Entweder
werden, wie im linken Modell, erneut
Inhalte, und damit Differenzen, ausgeblendet. Oder aber sie werden so allgemein
dargestellt, dass mehr Fragen entstehen
als beantwortet werden (z.B die Frage,
welche
Probleme
„extrem-egalitäre“ Ansichten hervorbringen und ob diese
dieselben sozialen Konsequenzen wie
anti-egalitäre Ansichten haben). Ebenfalls
werden die verschiedenen Dimensionen,
die eine politische Haltung letztlich ausmachen (man denke neben Werten und
Normen auch an Idealvorstellungen zu Sozialstruktur und Verteilungsgerechtigkeit
sowie an Gruppenzugehörigkeit und die
mit ihr verbundenen Attraktivitätsmomente) nicht erfasst. Und auch das Phänomen
des „religiös begründeten Extremismus“ kann in keinem der Modelle verortet
werden.
Kurz gesagt vermitteln all diese Modelle
kaum mehr als das dichotome Bild von
Mitte und Rand und entziehen sich in ihrer
Allgemeinheit zudem jeder empirischen
Überprüfbarkeit. Mit Blick auf die Vielzahl
jüngerer Studien zu rechtsextremen Orientierungen und Ablehnungshaltungen in der
sogenannten Mitte und den „Islamismus“ lässt sich sogar sagen, dass sie
wenig geeignet sind, die aktuellen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt nur abzubilden.
Notwendig ist es aus diesem Grunde,
sowohl mehrdimensional als auch phänomenspezifisch vorzugehen. Wie so etwas
aussehen kann, soll hier kurz am Beispiel
des
Themenfeldes
„Rechtsextremismus“ exemplarisch dargestellt werden.
Polizeilicher
Staatsschutz
Verfassungsschutzbehörden
Ebene von Aktivitäten
Sozialwissenschaften
Quellen: links Uwe Backes (1989): Politischer
Extremismus in demokratischen
Verfassungsstaaten. Opladen, S. 252; rechts Uwe
Backes (2006): Politische Extreme. Eine Wort- und
Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart.
Göttingen, S. 244.
Politisch motivierte Kriminalität (PMK)
Gegen die FDGO gerichtete Bestrebungen und
organisatorische sowie szenische Zusammenschlüsse
Rechtsextrem konturierte Alltagskultur, nicht in (strafrechtlich relevante und/oder gegen die FDGO gerichtete)
rechtsextreme Aktivitäten überführte gleichgerichtete Gestimmtheiten und Einstellungen, Wahlverhalten, -absichten und Gesellungsformen im Vorfeld von Organisationen
und Szenen, Distanzhaltungen und Distanzierungen mit
jeweiligen Entstehungs- und Entwicklungshintergründen
Ebene von Orientierungen
Interaktionen und Etikettierungen
Insbesondere die hellgrau unterlegten
Bereiche sind hierbei für einen sozialwissenschaftlichen Blick (aber auch für pädagogische Praxis) von zentraler Bedeutung.
Zum Einen (obere drei Felder) muss interessieren, welche Kontur Haltungen – in
diesem Fall von Jugendlichen – überhaupt
besitzen. Konkret:
• Welche politischen und weltanschaulichen Orientierungen lassen sich erkennen und welche Tiefe und Qualität
besitzen sie?
• Welche sozialen Beziehungen in welche Teile der Szene bestehen und welche Verbindlichkeit haben diese?
• Welche Handlungsorientierungen und
Praxen liegen vor, sowohl in Bezug auf
jugendkulturelle Zuordnungen als auch
in Bezug auf (Gewalt)Verhalten?
• Welche sozialen und individuellen Hintergründe können als Erklärungsfaktoren für Hinwendungen, für Verbleibe
und Abwendungen gesehen werden?
Zum anderen (unteres Feld) muss vor dem
so aufgespannten Hintergrund das Zusammenspiel zwischen Zuordnung/ Einfindung in eine Gruppe und Interaktionen mit
anderen (Gegnern, Opfern, Umfeld, Polizei,
Pädagogen etc.) untersucht werden. Interessieren muss, welche individuelle Funktion bestimmte Zuordnungen besitzen und
welche Rahmenbedingungen und Ereignisse solche Prozesse beeinflussen.
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Phänomenbezogene Linien und
Spezifika der Forschung zu
Radikalisierung, „Extremismus“,
Protest und politischer Gewalt
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Wie die Überschrift bereits andeutet: phänomenübergreifende Forschungslinien und
Begriffsbildungen existieren im Grunde
nicht, was auch mit unterschiedlichen Forschungstraditionen und Forschungsperspektiven zusammenhängt. Ein Überblick
macht deutlich, dass in den jeweiligen Feldern mal mehr, mal weniger große, in jedem Fall aber spezifische Erkenntnislücken in Bezug auf Radikalisierungs- und
Eskalationsdynamiken bestehen.
dass diese Definition nur einen Teil der
aktuellen Herausforderungen erfasst:
•
•
„Rechtsextremismus“
Die Forschung im Themenfeld Rechtsextremismus besitzt in der Bundesrepublik
eine lange Tradition. Dabei schoben sich
mit dem Beginn der 1990er Jahre im Zuge
explodierender Gewalt (jugend)soziologische und sozialisationstheoretische Perspektiven vor klassische politikwissenschaftliche Ansätze (Parteienforschung
etc.), wodurch auch eine recht enge Verbindung zur pädagogischen Praxis entstand. Die Breite der hiesigen Rechtsextremismusforschung zeigt sich nicht zuletzt in diversen sozialwissenschaftlichen
Definitionsangeboten. Diese setzen sich in
der Regel aus zwei bis drei Dimensionen
zusammen: In der inhaltlichen Dimension
wird als Kern von Rechtsextremismus die
soziale Konstruktion einer als naturbedingt
aufgefassten Ungleichheit im Sinne von
Ungleichwertigkeit bestimmt. In der Formierungsdimension kommt es zu einer
Verknüpfung dieser Ungleichwertigkeitsvorstellungen mit eigenem Gewalthandeln
oder mindestens mit Gewaltakzeptanz.
Zum Teil wird zur Bestimmung von
Rechtsextremismus auf einer weiteren
Formierungsdimension auch der Aspekt
der Organisierung betont, der überhaupt
erst politische Handlungsfähigkeit herstellt.
Allerdings lassen sich auch spezifische
Probleme benennen, die deutlich machen,
•
Bereits seit Längerem ist bekannt,
dass (körperliche und verbale) Gewalt
gegen Migrant/innen und gesellschaftliche ‚Minderheiten’ nicht allein von
Angehörigen des politischen und subkulturellen Rechtsextremismus verantwortet wird, sondern auch von ‚ganz
normalen’ Personen, die sich von allgemeinen Stimmungen inspirieren
und mitreißen lassen
Ebenfalls bereits seit Längerem lässt
sich beobachten, dass neben die
klassischen organisatorischen, inhaltlichen und jugendkulturellen Formen
des Rechtsextremismus eine Vielzahl
neuer Stilemente und Variationen getreten ist.
Studienreihen wie die „Deutschen Zustände“ (2002-2011) und die „MitteStudien“ (seit 2002) lokalisieren seit
Jahren ein hohes Maß an rechtsextremen, undemokratischen und demokratiefeindlichen Einstellungen in der
sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft.
Mit dem Auftreten des -gida-Phänomens auf der Straße und der Konsolidierung der AfD als Wahlpartei sind
Akteure auf der Bildfläche aufgetaucht,
die diesen Einstellungen ein Ventil
bieten.
Kurz gesagt: ein großer Teil der aktuellen
Problemlagen in diesem Themenfeld ist
nicht ohne Weiteres als „Rechtsextremismus“ zu bezeichnen, sondern in einem
Spannungsfeld zwischen Rechtsextremismus, Neokonservatismus und Rechtspopulismus angesiedelt und führt in die
Selbstbeschreibung der hiesigen Gesellschaft und in ihr verankerte Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Konformitätsgebote,
Reklamationen von Etabliertenvorrechten
und Ängste hinein.
„Religiös begründeter Extremismus“/
„Islamismus“
Die Auseinandersetzung mit „Islamismus“ oder auch „religiös begründetem Extremismus“ stellt ein vergleichsweise
junges Feld der Forschung und der pädaSeite4
gogischen Praxis dar. Zum ersten Mal
kommen dabei in geballter Form auch Jugendliche mit ‚Migrationsgeschichte’ (und
formal muslimischer Religionszugehörigkeit) ins Blickfeld, die einen nicht unerheblichen Teil des Mobilisierungspotenzials
ausmachen.
wenn ja welche Konzepte aus der pädagogischen Rechtsextremismusprävention mit
welchem Gewinn in dieses Arbeitsfeld
übertragen werden können.
Damit allerdings eröffnen sich auch neuartige Perspektiven und stellen sich bislang in der Forschung zu Protest und Radikalisierung nicht gestellte Fragen: etwa
nach den Erfolgen und Misserfolgen der
Integrationspolitik und -kultur in der Bundesrepublik (und in anderen westeuropäischen Staaten), nach Diskriminierungserfahrungen, -empfindungen und -erzählungen in der (Post-)Migrationsgesellschaft,
nach globalen Machtverhältnissen und Krisen, die hier eine vergleichsweise große
Rolle spielen sowie nach den spezifischen
Attraktivitätsmomenten religiös aufgeladener Vergemeinschaftungs- und Heilsversprechen.
Dabei ist zu bedenken, dass zur Kennzeichnung dieses Phänomenbereichs diverse Begrifflichkeiten (Salafismus, Islamismus, Dschihadismus etc.) kursieren.
Faktisch bezeichnen sie aber unterschiedliche Teilströmungen, die keineswegs alle
dieselben Ziele verfolgen, im selben Maße
politisch ambitioniert, geschweige denn
gleichermaßen gewaltorientiert sind. Insofern steht hier zunächst an, das Feld
binnenzudifferenzieren. Mit Blick auf den,
vor allem von jungen Leuten getragenen,
revoltierenden Islamismus mit seiner starken propagandistischen Ausrichtung und
seinen vglw. engen Bezügen zu dschihadistischer Gewalt (in Form in Terrorismus
und Krieg) ist noch einmal gesondert nach
spezifischen Attraktivitätsmomenten und
Gruppendynamiken zu fragen.
Auffällig ist hier in jedem Fall die spezifische Mischung aus naturalisierten Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Transzendenz, romantisierenden Erlösungsfantasien, dem Aufgreifen und Schüren von Lebensangst und konkreter Alltagsbewältigung, die relativ starke personelle Heterogenität, die Globalität und der gegen das
Etablierte gerichteter Gestus. Weil es sich
hier um inhaltliche Besonderheiten handelt,
steht auch die Frage im Raum, ob und
Unter diesem Begriff existiert – sieht man
von der Terrorismusforschung der späten
1970er Jahre ab – keine nennenswerte
empirische Forschung und auch keine Forschungstradition. Allerdings wird dieser
Phänomenbereich sehr wohl seit langer
Zeit schon empirisch beforscht, man
denke an die Jugendprotestforschung und
die Bewegungsforschung, die sich etwa
mit der Hausbesetzer- und Anti-AKW-Bewegung, und später den Autonomen beschäftigt hat. All diese Arbeiten eint, dass
sie ein konflikttheoretisches Verständnis
von Gesellschaft zugrunde legen, dass sie
– auch aufgrund der Heterogenität der hier
vertretenen Positionen und der im Kern
keinesfalls demokratiefeindlichen Orientierungen – nicht extremismustheoretischen
Perspektiven folgen, dass sie sich vor
allem für Interaktionen und Eskalationsdynamiken interessieren und dass sie die
Akteure gar nicht als potenzielle Adressat/
innen pädagogischer Praxis einstufen.
Dies entspricht im Übrigen auch den
Beschreibungen pädagogischer Praxis: sie
besitzt entweder gar keine Bezüge zu
diesem Feld oder ist mit „bürgerdistanzierter“ und alternativen Jugendkulturen
verbunden, etikettiert diese aber aus den
oben genannten Gründen nicht als „extremistisch“ oder als „radikalisierungsgefährdet“.
„Linksextremismus“
Herausforderungen für die
pädagogische Praxis
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Im Gesamtbild zeigt sich zum Ersten, dass
es die eine phänomenübergreifende „extremistische“ Herausforderung für die pädagogische Praxis nicht gibt. Nicht nur unterscheiden sich die Phänomene stark
voneinander, sie sind auch gar nicht auf
Seite5
den Nenner Extremismus zu bringen.
Damit liegt auch nahe, dass es kaum
darum gehen kann, Catch all-Konzepte
der Radikalisierungsprävention zu entwickeln, sondern vielmehr der Bedarf an
angepassten Handlungsstrategien besteht.
Zum Zweiten wird aufgrund der im Kern
demokratiefeindlichen Orientierungen und
der Vehemenz und Richtung der jewieligen Praxen deutlich, dass Handlungsbedarfe in Bezug auf „Rechtsextremismus“ und in Bezug auf „Islamismus“ mitsamt ihrer Randprovinzen bestehen, die keinesfalls per se am ‚Rand’ der
Gesellschaft angesiedelt sind. Aber auch
hier ist, wie erwähnt, zu berücksichtigen,
dass es sich um unterschiedliche Akteure
handelt, spezifische Angebote auf spezifische Kreise von Jugendlichen attraktiv wirken. Es ist damit auch für die Entwicklung
pädagogischer Praxis geboten, zwischen
allgemeinen und besonderen Aspekten zu
unterscheiden.
Auf einer allgemeinen Ebene finden sich,
folgt man dem Forschungsstand, bestimmte Parallelen hinsichtlich des Erlebens von Desintegration, mangelnder Lebenskontrolle, fehlenden Sinnangeboten,
in Bezug auf zur Verfügung stehende
Mittel der Erfahrungsverarbeitung und die
Einbindung in Deutungsmilieus, die Hinwendungen nicht vorherbestimmen, aber
doch erleichtern können. Parallelen allgemeiner Art finden sich auch in der Struktur
der Hinwendungsprozesse, die immer von
Unzufriedenheit, günstigen Gelegenheiten
(das ‚richtige’ Angebot zur ‚richtigen’ Zeit),
einem Zuwachs an Gruppenloyalität
einerseits, Konflikten mit der Außenwelt
andererseits verbunden sind.
In ihrem Rahmen und mit ihren Mitteln
sollte pädagogische Praxis davon ausgehend generell auf die Förderung von Lebensgestaltungsmöglichkeiten und -fähigkeiten abzielen, und zwar nicht erst in
Reaktion auf Hinwendungsprozesse.
• Sie sollte der Frage nachgehen, aus
welchen konkreten Bedürfnissen sich
im Einzelfall die Faszination von bestimmten Angeboten speist und welche
Angebote dagegen gesetzt werden
können.
• Dabei geht es auch darum, den sozialisatorisch – z.B. durch hypermaskuline
Männlichkeitsideale, starre Rollenvorstellungen, konformistische und autoritäre Prägungen – oftmals verengten
Wahrnehmungs- und Artikulationsraum
zu öffnen und die sozialisatorisch erworbenen Praxen der Bedürfnisbefriedigung zu erweitern.
• Das pädagogische Interesse sollte sich
gleichzeitig auch auf potenziell belastende Erfahrungen richten, um Hilfestellung bei ihrer Reflexion und Aufarbeitung leisten zu können.
• Zudem gilt es – auch und gerade durch
das eigene Handeln und die eigene
Haltung der Pädagog/innen – handlungund orientierungsbezogene Alternativen
aufzuzeigen, mit denen man in direkte
Konkurrenz zu demokratiefeindlichen
Lebensgestaltungsangeboten zu treten
vermag, sich selbst kompetent zu
machen (etwa auch medienkompetent),
um zu verstehen, wie Jugendliche sich
ihre Wirklichkeit aneignen.
Pädagogische Handlungskonzepte dürfen
allerdings auch nicht entlang eines einseitigen, auf jugendliche Problemträger fokussierten,
Integrationsverständnisses
entwickelt werden. Ebenso von Bedeutung
ist die Thematisierung dieser Werte und
Praxen im Sozialraum sowie in den Sozialisationsarenen und Sozialräumen, da dort
die Bedingungen für das Handeln der Jugendlichen strukturiert und Deutungsmuster maßgeblich produziert werden. Damit
eröffnet sich auch die Notwendigkeit, nach
phänomenbezogenen Spezifika zu fragen.
Stichwortartig lässt sich hier zum Abschluss zumindest festhalten: der Rechtsextremismus ist – wie seine Randbereiche
– ein ‚autochthones’ Phänomen, das in
ganz überwiegender Weise von Deutschen ohne Migrationsgeschichte getragen wird. In diesem Sinne zielt er im Kern
immer auf die Verteidigung von Privilegien
ab, deren Verlust man sieht, in den
meisten Fällen befürchtet. Er zielt und
schielt in diesem Sinne auf hiesige gesellSeite6
schaftliche Mehrheiten, die er zu vertreten
glaubt.
Der sog. „Islamismus“ ist genau dies nicht.
Zum einen speist er sich aus hier geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen
mit und ohne Migrationsgeschichte und
nimmt eine – in globale Verhältnisse übertragene – Diskriminierungserzählung auf,
deren Pointe die religiöse Aufladung ist.
Verhandelt wird dabei vielfach nicht nur
die eigene Stellung in der hiesigen Gesellschaft, sondern es kommt in Teilen
wohl auch der Konflikt mit der Elterngeneration und den ‚migrantischen’ bzw. religiösen Milieus zum Tragen, denen man
etwa auch ihre wenig selbstbewusste
Haltung vorwirft. In diesem Sinne kommt
hier oft ein doppelter Desintegrationseffekt
zum Tragen. Zum anderen speist sich der
„Islamismus“ offenbar zunehmend auch
aus den Milieus hierher Geflüchteter (v.a.
junger Männer), die mit Anspruchsniveaukonflikten kämpfen und deren Integrationsperspektiven eher düster scheinen.
für die Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Haltungen breit aufzustellen.
An diesem Punkt stellen sich neben den
Fragen nach der pädagogischen Strategie
Fragen nach Ansprechpartnern in der
Kommune und im Sozialraum, nach gemeinwesenorientierten
Arbeitsansätzen,
nach Bündnis- und Kommunikationspartnern, um zu qualifizierten Problembeschreibungen zu kommen, die über Etikettierungen sozialer Probleme als Randphänomene hinausweisen.
In all diesen Fällen steht auf unterschiedliche Weise die übergeordnete Frage im
Raum, wie Integration gelingt und welches
Selbstverständnis diese Gesellschaft sich
dabei geben will. Pädagogik ist hier mehrfach gefordert: sie wird allgemein weiter
dazu beitragen müssen, Jugendliche zu
stärken und ihnen Wege zur Selbstbestimmung und zu Emanzipation zu eröffnen. Dabei bleiben die Anbahnung von
Kontakten, ‚heterogener’ Gemeinschaftsbildung, die Eröffnung von Räumen, in denen sich gemeinsame Interessen und Solidarität entwickeln bekannte Mittel, um der
Attraktivität der oben beschriebenen
Angebote etwas entgegenzusetzen.
Sie hat in konkreten Fällen auch mit „Radikalisierungsprozessen“ zu tun, auf die sie
offensiv reagieren muss: mit Auseinandersetzungsbereitschaft, mit dem Interesse,
hinter den Kulissen nach den spezifischen
Attraktivitätsmomenten zu suchen, mit der
Bereitschaft, die individuellen Probleme,
die in jugendlichen Hinwendungs- und
Radikalisierungsprozessen zum Ausdruck
kommen als Indikator für gesellschaftliche
Schieflagen zu kommunizieren und sich
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