Dr. Nils Schuhmacher „Extremistische“ Phänomene in Deutschland – Blitzlichter auf den Stand der politischen und wissenschaftlichen Diskussion1 Zum Begriff „Extremismus“ –––––––––––––––––––––––––––––– „Extremismus“ scheint auf den ersten Blick ein selbsterklärendes Konzept im Kontext politischer Abweichung zu sein. Den Begriff in Anführungszeichen zu denken, ist gleichzeitig aus verschiedenen Gründen sinnvoll, wenn nicht notwendig. Zum Ersten wird man so daran erinnert, dass es sich stets um einen von außen kommenden Kennzeichnungsbegriff handelt. Politische Akteure und Sicherheitsbehörden, Teile der Medien, der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft sprechen von Extremismus, wenn sie andere als ‚spezifisch anders’ und als ‚besonders stark anders’ kennzeichnen. Der Begriff Extremismus dient in diesem Sinne immer auch der Grenzziehung zwischen „uns“ und „denen“ mit dem – keinesfalls unerwünschten und nebensächlichen – Effekt der Externalisierung (von Problemen) und der Stigmatisierung (von Unangepassten). Richtung und Erfolg der Kennzeichnung hängen naheliegenderweise mit Interessen und mit Machtmitteln zusammen, die zur Verfügung stehen. Das wiederum heißt: Extremistische Phänomene sagen immer auch etwas über diejenigen aus, die die Möglichkeiten besitzen, öffentlich wahrnehmbar und folgenreich Erwünschtes von Unerwünschtem zu trennen. Zum Zweiten kann davon ausgehend nach den Konturen des Erwünschten und des Unerwünschten gefragt werden. Ein Blick auf vorliegende Extremismus-Modelle und 1 Schriftliche Fassung des gleichlautenden Vortrags auf der Fachtagung „Jugendliche mit radikalisierten Haltungen“ des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz am 15.12. in Berlin. sozialwissenschaftliche Diskussionen lässt hier in beide Richtungen Zweifel am umfassenden Geltungsanspruch des Extremismuskonzepts aufkommen. Fraglich ist generell, ob es überhaupt die analytische Qualität besitzt, politische Positionierungen zu bestimmen. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass sozialwissenschaftlich tragfähige Bestimmungen zwar im Phänomenbereich Rechtsextremismus existieren, in anderen jedoch nicht. Zum Dritten darf nicht unterschlagen werden, dass sich der Großteil der Debatten über politischen Extremismus hierzulande auf junge Menschen bezieht, die mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Sicherheitsbehörden taxieren das jeweilige extremistische „Personenpotenzial“ und schätzen es in seiner ‚Gefährlichkeit’ ein. Sicherheitsbehördliche Perspektiven müssen aber zwangsläufig schnell an ihre Grenzen geraten. Aus einer sozialisationstheoretischen und pädagogischen Perspektive wird man nämlich zu recht daran erinnern, dass die Jugendphase eben auch ein zentraler Abschnitt der Identitätsaushandlung ist, dass radikale Infragestellungen des Bestehenden und Grenzüberschreitungen verschiedener Art Teil dieses Prozesse sein können, dass politische Positionierungen gerade bei Jugendlichen flüchtig, hochdynamisch, ‚unfertig’ und stark veränderbar sind und dass in ihnen auch Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, die nicht im engeren Sinne mit der Durchsetzung politischer Ziele verbunden sind (Gemeinschaftserleben, Sicherheit, Selbstwertaufbau etc.) Extremismus-Modelle –––––––––––––––––––––––––––––– Mit welch unterschiedlichen ‚Objektiven’ man auf „Extremismus“ schauen kann, zeigen verschiedene Modelle: Mit dem amtlichen Extremismus-Modell lässt sich vergleichsweise leicht Ordnung in die Dinge bringen: Seite1 Quelle: Richard Stöss (2007): Rechtsextremismus im Wandel. Berlin, S. 19. [online unter: http://library.fes.de/pdf-files/do/05227.pdf] An diesem Modell fällt zunächst einmal auf, dass es in Bezug auf „Extremismus“ frei von Inhalten ist. Was es über ihn zu sagen gibt, erfährt man nur in Ableitung. Ganz gleich welcher politischen Richtung er zugeordnet wird: er ist hier zunächst einmal nicht viel mehr als die Steigerung von Radikalismus und das Gegenteil all jener Prinzipien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung ausmachen (im Mindesten: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition). Suggeriert wird bei dieser Bestimmung, dass das Wünschenswerte und das Tatsächliche immer in Übereinstimmung sind, dass es in der konkreten Ausgestaltung von Normen keine Interpretationsspielräume und keine Graubereiche gibt, das sich die gesellschaftliche Mehrheit tatsächlich auf jeden einzelnen dieser Punkte verständigt hat, dass es kontextlos möglich ist, das noch Akzeptable („Konforme“) vom Inakzeptablen zu trennen (und dass es jemanden gibt, der dies verlässlich erledigt). nung bestimmen, vor allem dürfte dies für Jugendliche mit ihrem alltagsnahen Politikverständnis gelten; Einstellungen und Praxen stehen im Widerspruch zueinander; je nach politischer Haltung werden nur bestimmte Aspekte, und dies auch noch mit unterschiedlichen Begründungen abgelehnt; je nach politischer Haltung stehen unterschiedliche Alternativen im Raum; für diese Unterschiede sind stark voneinander abweichende Werte Ausschlag gebend; und schließlich ist für bestimmte Formen des „Extremismus“ – man denke an den „religiös begründeten Extremismus“ – in dieser Darstellung gar keinen Platz. Anders als das auf pragmatische Anwendbarkeit hin angelegte, und damit wohl auch notwendigerweise komplexitätsreduzierte, sicherheitsbehördliche Modell treten „demokratietheoretische“ Modelle aus dem Kontext der Extremismusforschung mit dem Anspruch einer sozialwissenschaftlichen Fundierung des Konzepts auf. Dem entgegen stehen diverse Beobachtungen, Erfahrungen und Befunde: eine Reihe von als „Extremisten“ Etikettierten lässt sich gar nicht an ihrer Haltung zur freiheitlichen demokratischen Grundord- Seite2 Die abgebildeten Modelle sind zwar ‚dynamischer’ und differenzierender, die bereits genannten grundsätzlichen Probleme aber damit nicht gelöst: Entweder werden, wie im linken Modell, erneut Inhalte, und damit Differenzen, ausgeblendet. Oder aber sie werden so allgemein dargestellt, dass mehr Fragen entstehen als beantwortet werden (z.B die Frage, welche Probleme „extrem-egalitäre“ Ansichten hervorbringen und ob diese dieselben sozialen Konsequenzen wie anti-egalitäre Ansichten haben). Ebenfalls werden die verschiedenen Dimensionen, die eine politische Haltung letztlich ausmachen (man denke neben Werten und Normen auch an Idealvorstellungen zu Sozialstruktur und Verteilungsgerechtigkeit sowie an Gruppenzugehörigkeit und die mit ihr verbundenen Attraktivitätsmomente) nicht erfasst. Und auch das Phänomen des „religiös begründeten Extremismus“ kann in keinem der Modelle verortet werden. Kurz gesagt vermitteln all diese Modelle kaum mehr als das dichotome Bild von Mitte und Rand und entziehen sich in ihrer Allgemeinheit zudem jeder empirischen Überprüfbarkeit. Mit Blick auf die Vielzahl jüngerer Studien zu rechtsextremen Orientierungen und Ablehnungshaltungen in der sogenannten Mitte und den „Islamismus“ lässt sich sogar sagen, dass sie wenig geeignet sind, die aktuellen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt nur abzubilden. Notwendig ist es aus diesem Grunde, sowohl mehrdimensional als auch phänomenspezifisch vorzugehen. Wie so etwas aussehen kann, soll hier kurz am Beispiel des Themenfeldes „Rechtsextremismus“ exemplarisch dargestellt werden. Polizeilicher Staatsschutz Verfassungsschutzbehörden Ebene von Aktivitäten Sozialwissenschaften Quellen: links Uwe Backes (1989): Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Opladen, S. 252; rechts Uwe Backes (2006): Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Göttingen, S. 244. Politisch motivierte Kriminalität (PMK) Gegen die FDGO gerichtete Bestrebungen und organisatorische sowie szenische Zusammenschlüsse Rechtsextrem konturierte Alltagskultur, nicht in (strafrechtlich relevante und/oder gegen die FDGO gerichtete) rechtsextreme Aktivitäten überführte gleichgerichtete Gestimmtheiten und Einstellungen, Wahlverhalten, -absichten und Gesellungsformen im Vorfeld von Organisationen und Szenen, Distanzhaltungen und Distanzierungen mit jeweiligen Entstehungs- und Entwicklungshintergründen Ebene von Orientierungen Interaktionen und Etikettierungen Insbesondere die hellgrau unterlegten Bereiche sind hierbei für einen sozialwissenschaftlichen Blick (aber auch für pädagogische Praxis) von zentraler Bedeutung. Zum Einen (obere drei Felder) muss interessieren, welche Kontur Haltungen – in diesem Fall von Jugendlichen – überhaupt besitzen. Konkret: • Welche politischen und weltanschaulichen Orientierungen lassen sich erkennen und welche Tiefe und Qualität besitzen sie? • Welche sozialen Beziehungen in welche Teile der Szene bestehen und welche Verbindlichkeit haben diese? • Welche Handlungsorientierungen und Praxen liegen vor, sowohl in Bezug auf jugendkulturelle Zuordnungen als auch in Bezug auf (Gewalt)Verhalten? • Welche sozialen und individuellen Hintergründe können als Erklärungsfaktoren für Hinwendungen, für Verbleibe und Abwendungen gesehen werden? Zum anderen (unteres Feld) muss vor dem so aufgespannten Hintergrund das Zusammenspiel zwischen Zuordnung/ Einfindung in eine Gruppe und Interaktionen mit anderen (Gegnern, Opfern, Umfeld, Polizei, Pädagogen etc.) untersucht werden. Interessieren muss, welche individuelle Funktion bestimmte Zuordnungen besitzen und welche Rahmenbedingungen und Ereignisse solche Prozesse beeinflussen. Seite3 Phänomenbezogene Linien und Spezifika der Forschung zu Radikalisierung, „Extremismus“, Protest und politischer Gewalt –––––––––––––––––––––––––––––– Wie die Überschrift bereits andeutet: phänomenübergreifende Forschungslinien und Begriffsbildungen existieren im Grunde nicht, was auch mit unterschiedlichen Forschungstraditionen und Forschungsperspektiven zusammenhängt. Ein Überblick macht deutlich, dass in den jeweiligen Feldern mal mehr, mal weniger große, in jedem Fall aber spezifische Erkenntnislücken in Bezug auf Radikalisierungs- und Eskalationsdynamiken bestehen. dass diese Definition nur einen Teil der aktuellen Herausforderungen erfasst: • • „Rechtsextremismus“ Die Forschung im Themenfeld Rechtsextremismus besitzt in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Dabei schoben sich mit dem Beginn der 1990er Jahre im Zuge explodierender Gewalt (jugend)soziologische und sozialisationstheoretische Perspektiven vor klassische politikwissenschaftliche Ansätze (Parteienforschung etc.), wodurch auch eine recht enge Verbindung zur pädagogischen Praxis entstand. Die Breite der hiesigen Rechtsextremismusforschung zeigt sich nicht zuletzt in diversen sozialwissenschaftlichen Definitionsangeboten. Diese setzen sich in der Regel aus zwei bis drei Dimensionen zusammen: In der inhaltlichen Dimension wird als Kern von Rechtsextremismus die soziale Konstruktion einer als naturbedingt aufgefassten Ungleichheit im Sinne von Ungleichwertigkeit bestimmt. In der Formierungsdimension kommt es zu einer Verknüpfung dieser Ungleichwertigkeitsvorstellungen mit eigenem Gewalthandeln oder mindestens mit Gewaltakzeptanz. Zum Teil wird zur Bestimmung von Rechtsextremismus auf einer weiteren Formierungsdimension auch der Aspekt der Organisierung betont, der überhaupt erst politische Handlungsfähigkeit herstellt. Allerdings lassen sich auch spezifische Probleme benennen, die deutlich machen, • Bereits seit Längerem ist bekannt, dass (körperliche und verbale) Gewalt gegen Migrant/innen und gesellschaftliche ‚Minderheiten’ nicht allein von Angehörigen des politischen und subkulturellen Rechtsextremismus verantwortet wird, sondern auch von ‚ganz normalen’ Personen, die sich von allgemeinen Stimmungen inspirieren und mitreißen lassen Ebenfalls bereits seit Längerem lässt sich beobachten, dass neben die klassischen organisatorischen, inhaltlichen und jugendkulturellen Formen des Rechtsextremismus eine Vielzahl neuer Stilemente und Variationen getreten ist. Studienreihen wie die „Deutschen Zustände“ (2002-2011) und die „MitteStudien“ (seit 2002) lokalisieren seit Jahren ein hohes Maß an rechtsextremen, undemokratischen und demokratiefeindlichen Einstellungen in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft. Mit dem Auftreten des -gida-Phänomens auf der Straße und der Konsolidierung der AfD als Wahlpartei sind Akteure auf der Bildfläche aufgetaucht, die diesen Einstellungen ein Ventil bieten. Kurz gesagt: ein großer Teil der aktuellen Problemlagen in diesem Themenfeld ist nicht ohne Weiteres als „Rechtsextremismus“ zu bezeichnen, sondern in einem Spannungsfeld zwischen Rechtsextremismus, Neokonservatismus und Rechtspopulismus angesiedelt und führt in die Selbstbeschreibung der hiesigen Gesellschaft und in ihr verankerte Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Konformitätsgebote, Reklamationen von Etabliertenvorrechten und Ängste hinein. „Religiös begründeter Extremismus“/ „Islamismus“ Die Auseinandersetzung mit „Islamismus“ oder auch „religiös begründetem Extremismus“ stellt ein vergleichsweise junges Feld der Forschung und der pädaSeite4 gogischen Praxis dar. Zum ersten Mal kommen dabei in geballter Form auch Jugendliche mit ‚Migrationsgeschichte’ (und formal muslimischer Religionszugehörigkeit) ins Blickfeld, die einen nicht unerheblichen Teil des Mobilisierungspotenzials ausmachen. wenn ja welche Konzepte aus der pädagogischen Rechtsextremismusprävention mit welchem Gewinn in dieses Arbeitsfeld übertragen werden können. Damit allerdings eröffnen sich auch neuartige Perspektiven und stellen sich bislang in der Forschung zu Protest und Radikalisierung nicht gestellte Fragen: etwa nach den Erfolgen und Misserfolgen der Integrationspolitik und -kultur in der Bundesrepublik (und in anderen westeuropäischen Staaten), nach Diskriminierungserfahrungen, -empfindungen und -erzählungen in der (Post-)Migrationsgesellschaft, nach globalen Machtverhältnissen und Krisen, die hier eine vergleichsweise große Rolle spielen sowie nach den spezifischen Attraktivitätsmomenten religiös aufgeladener Vergemeinschaftungs- und Heilsversprechen. Dabei ist zu bedenken, dass zur Kennzeichnung dieses Phänomenbereichs diverse Begrifflichkeiten (Salafismus, Islamismus, Dschihadismus etc.) kursieren. Faktisch bezeichnen sie aber unterschiedliche Teilströmungen, die keineswegs alle dieselben Ziele verfolgen, im selben Maße politisch ambitioniert, geschweige denn gleichermaßen gewaltorientiert sind. Insofern steht hier zunächst an, das Feld binnenzudifferenzieren. Mit Blick auf den, vor allem von jungen Leuten getragenen, revoltierenden Islamismus mit seiner starken propagandistischen Ausrichtung und seinen vglw. engen Bezügen zu dschihadistischer Gewalt (in Form in Terrorismus und Krieg) ist noch einmal gesondert nach spezifischen Attraktivitätsmomenten und Gruppendynamiken zu fragen. Auffällig ist hier in jedem Fall die spezifische Mischung aus naturalisierten Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Transzendenz, romantisierenden Erlösungsfantasien, dem Aufgreifen und Schüren von Lebensangst und konkreter Alltagsbewältigung, die relativ starke personelle Heterogenität, die Globalität und der gegen das Etablierte gerichteter Gestus. Weil es sich hier um inhaltliche Besonderheiten handelt, steht auch die Frage im Raum, ob und Unter diesem Begriff existiert – sieht man von der Terrorismusforschung der späten 1970er Jahre ab – keine nennenswerte empirische Forschung und auch keine Forschungstradition. Allerdings wird dieser Phänomenbereich sehr wohl seit langer Zeit schon empirisch beforscht, man denke an die Jugendprotestforschung und die Bewegungsforschung, die sich etwa mit der Hausbesetzer- und Anti-AKW-Bewegung, und später den Autonomen beschäftigt hat. All diese Arbeiten eint, dass sie ein konflikttheoretisches Verständnis von Gesellschaft zugrunde legen, dass sie – auch aufgrund der Heterogenität der hier vertretenen Positionen und der im Kern keinesfalls demokratiefeindlichen Orientierungen – nicht extremismustheoretischen Perspektiven folgen, dass sie sich vor allem für Interaktionen und Eskalationsdynamiken interessieren und dass sie die Akteure gar nicht als potenzielle Adressat/ innen pädagogischer Praxis einstufen. Dies entspricht im Übrigen auch den Beschreibungen pädagogischer Praxis: sie besitzt entweder gar keine Bezüge zu diesem Feld oder ist mit „bürgerdistanzierter“ und alternativen Jugendkulturen verbunden, etikettiert diese aber aus den oben genannten Gründen nicht als „extremistisch“ oder als „radikalisierungsgefährdet“. „Linksextremismus“ Herausforderungen für die pädagogische Praxis –––––––––––––––––––––––––––––– Im Gesamtbild zeigt sich zum Ersten, dass es die eine phänomenübergreifende „extremistische“ Herausforderung für die pädagogische Praxis nicht gibt. Nicht nur unterscheiden sich die Phänomene stark voneinander, sie sind auch gar nicht auf Seite5 den Nenner Extremismus zu bringen. Damit liegt auch nahe, dass es kaum darum gehen kann, Catch all-Konzepte der Radikalisierungsprävention zu entwickeln, sondern vielmehr der Bedarf an angepassten Handlungsstrategien besteht. Zum Zweiten wird aufgrund der im Kern demokratiefeindlichen Orientierungen und der Vehemenz und Richtung der jewieligen Praxen deutlich, dass Handlungsbedarfe in Bezug auf „Rechtsextremismus“ und in Bezug auf „Islamismus“ mitsamt ihrer Randprovinzen bestehen, die keinesfalls per se am ‚Rand’ der Gesellschaft angesiedelt sind. Aber auch hier ist, wie erwähnt, zu berücksichtigen, dass es sich um unterschiedliche Akteure handelt, spezifische Angebote auf spezifische Kreise von Jugendlichen attraktiv wirken. Es ist damit auch für die Entwicklung pädagogischer Praxis geboten, zwischen allgemeinen und besonderen Aspekten zu unterscheiden. Auf einer allgemeinen Ebene finden sich, folgt man dem Forschungsstand, bestimmte Parallelen hinsichtlich des Erlebens von Desintegration, mangelnder Lebenskontrolle, fehlenden Sinnangeboten, in Bezug auf zur Verfügung stehende Mittel der Erfahrungsverarbeitung und die Einbindung in Deutungsmilieus, die Hinwendungen nicht vorherbestimmen, aber doch erleichtern können. Parallelen allgemeiner Art finden sich auch in der Struktur der Hinwendungsprozesse, die immer von Unzufriedenheit, günstigen Gelegenheiten (das ‚richtige’ Angebot zur ‚richtigen’ Zeit), einem Zuwachs an Gruppenloyalität einerseits, Konflikten mit der Außenwelt andererseits verbunden sind. In ihrem Rahmen und mit ihren Mitteln sollte pädagogische Praxis davon ausgehend generell auf die Förderung von Lebensgestaltungsmöglichkeiten und -fähigkeiten abzielen, und zwar nicht erst in Reaktion auf Hinwendungsprozesse. • Sie sollte der Frage nachgehen, aus welchen konkreten Bedürfnissen sich im Einzelfall die Faszination von bestimmten Angeboten speist und welche Angebote dagegen gesetzt werden können. • Dabei geht es auch darum, den sozialisatorisch – z.B. durch hypermaskuline Männlichkeitsideale, starre Rollenvorstellungen, konformistische und autoritäre Prägungen – oftmals verengten Wahrnehmungs- und Artikulationsraum zu öffnen und die sozialisatorisch erworbenen Praxen der Bedürfnisbefriedigung zu erweitern. • Das pädagogische Interesse sollte sich gleichzeitig auch auf potenziell belastende Erfahrungen richten, um Hilfestellung bei ihrer Reflexion und Aufarbeitung leisten zu können. • Zudem gilt es – auch und gerade durch das eigene Handeln und die eigene Haltung der Pädagog/innen – handlungund orientierungsbezogene Alternativen aufzuzeigen, mit denen man in direkte Konkurrenz zu demokratiefeindlichen Lebensgestaltungsangeboten zu treten vermag, sich selbst kompetent zu machen (etwa auch medienkompetent), um zu verstehen, wie Jugendliche sich ihre Wirklichkeit aneignen. Pädagogische Handlungskonzepte dürfen allerdings auch nicht entlang eines einseitigen, auf jugendliche Problemträger fokussierten, Integrationsverständnisses entwickelt werden. Ebenso von Bedeutung ist die Thematisierung dieser Werte und Praxen im Sozialraum sowie in den Sozialisationsarenen und Sozialräumen, da dort die Bedingungen für das Handeln der Jugendlichen strukturiert und Deutungsmuster maßgeblich produziert werden. Damit eröffnet sich auch die Notwendigkeit, nach phänomenbezogenen Spezifika zu fragen. Stichwortartig lässt sich hier zum Abschluss zumindest festhalten: der Rechtsextremismus ist – wie seine Randbereiche – ein ‚autochthones’ Phänomen, das in ganz überwiegender Weise von Deutschen ohne Migrationsgeschichte getragen wird. In diesem Sinne zielt er im Kern immer auf die Verteidigung von Privilegien ab, deren Verlust man sieht, in den meisten Fällen befürchtet. Er zielt und schielt in diesem Sinne auf hiesige gesellSeite6 schaftliche Mehrheiten, die er zu vertreten glaubt. Der sog. „Islamismus“ ist genau dies nicht. Zum einen speist er sich aus hier geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen mit und ohne Migrationsgeschichte und nimmt eine – in globale Verhältnisse übertragene – Diskriminierungserzählung auf, deren Pointe die religiöse Aufladung ist. Verhandelt wird dabei vielfach nicht nur die eigene Stellung in der hiesigen Gesellschaft, sondern es kommt in Teilen wohl auch der Konflikt mit der Elterngeneration und den ‚migrantischen’ bzw. religiösen Milieus zum Tragen, denen man etwa auch ihre wenig selbstbewusste Haltung vorwirft. In diesem Sinne kommt hier oft ein doppelter Desintegrationseffekt zum Tragen. Zum anderen speist sich der „Islamismus“ offenbar zunehmend auch aus den Milieus hierher Geflüchteter (v.a. junger Männer), die mit Anspruchsniveaukonflikten kämpfen und deren Integrationsperspektiven eher düster scheinen. für die Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Haltungen breit aufzustellen. An diesem Punkt stellen sich neben den Fragen nach der pädagogischen Strategie Fragen nach Ansprechpartnern in der Kommune und im Sozialraum, nach gemeinwesenorientierten Arbeitsansätzen, nach Bündnis- und Kommunikationspartnern, um zu qualifizierten Problembeschreibungen zu kommen, die über Etikettierungen sozialer Probleme als Randphänomene hinausweisen. In all diesen Fällen steht auf unterschiedliche Weise die übergeordnete Frage im Raum, wie Integration gelingt und welches Selbstverständnis diese Gesellschaft sich dabei geben will. Pädagogik ist hier mehrfach gefordert: sie wird allgemein weiter dazu beitragen müssen, Jugendliche zu stärken und ihnen Wege zur Selbstbestimmung und zu Emanzipation zu eröffnen. Dabei bleiben die Anbahnung von Kontakten, ‚heterogener’ Gemeinschaftsbildung, die Eröffnung von Räumen, in denen sich gemeinsame Interessen und Solidarität entwickeln bekannte Mittel, um der Attraktivität der oben beschriebenen Angebote etwas entgegenzusetzen. Sie hat in konkreten Fällen auch mit „Radikalisierungsprozessen“ zu tun, auf die sie offensiv reagieren muss: mit Auseinandersetzungsbereitschaft, mit dem Interesse, hinter den Kulissen nach den spezifischen Attraktivitätsmomenten zu suchen, mit der Bereitschaft, die individuellen Probleme, die in jugendlichen Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen zum Ausdruck kommen als Indikator für gesellschaftliche Schieflagen zu kommunizieren und sich Seite7