Die „Mitte-Studie“: Rechtsextremismus auf der Einstellungsebene als ein Problem der Mitte SOZIOLOGISCHE BEOBACHTUNG DES POLITISCHEN EXTREMISMUS P R O F. D R . T H O M A S L E Y R E F E R E N T I N N E N : S I M O N E R A S S M A N N , K AT J A H O L L FA C H B E R E I C H 0 3 WS 2013/14 10.01.2014 Gliederung a) Der Begriff der „Mitte“ (Bötticher/Mareš) b) Kritischer Blick auf die Institutionen in der „Mitte der Gesellschaft“ (Heitmeyer) c) Friedrich-Ebert-Stiftung Studie von 2012: „Mitte im Umbruch“ d) Quellen e) Diskussion 10.01.2014 a) Der Begriff der „Mitte“ (Bötticher/Mareš) 2012 Zwei verschiedene Traditionslinien der Forschung 1. Ontologische Begriffsbestimmung 2. Soziologische Begriffsbestimmung 2a. analysierend 2b. ontologisch-dämonisierend 10.01.2014 1. Ontologische Begriffsbestimmung die Mitte = „das Gute“ Auch verfassungspolitischer Ansatz: die Mitte als Ideal Mitte philosophisch gesehen als festgemachtes Ideal, das zwischen den extremen Punkten liegt, Maß zur Überprüfung guter Handlungen: „goldenes Mittelmaß“ 10.01.2014 2. Soziologische Begriffsbestimmung 2a. analysierend: „Mitte“ als schlichte Verortung, die sich wirtschaftlich (Mittelstand) oder sozio-ökonomisch (Mittelschicht/Klasse) deuten lässt ein Maß, nicht das Maß Mitte = breite Masse der Gesellschaft empirischer Mittebegriff Mitte ist divers: Teile können für Demokratie plädieren, aber sich auch von Extremisten überzeugen lassen Mitte als zeitlich gebunden und Frage des Durchschnitts: das Maß ist ein Produkt der Gesellschaft, in der es sich befindet, daher muss die Mitte immer wieder neu vermessen werden und darf nicht idealisiert werden 10.01.2014 2. Soziologische Begriffsbestimmung 2a. analysierend Arundhati Roy: Extremismus der Mittelklasse; Blick von außen auf westliche Industriegesellschaften, das Gewöhnliche in industrialisierter Welt = das Extremistische, da es die Lebensweise der Naturvölker systematisch verdrängt ( binärer Code) 10.01.2014 2. Soziologische Begriffsbestimmung 2b. ontologisch-dämonisierend: marxistisch geprägter „Extremismus der Mitte“ steht für latenten Faschismus die Mitte als etwas potentiell Böses 10.01.2014 b) Kritischer Blick auf die Institutionen in der „Mitte der Gesellschaft“ (Heitmeyer) 1994 „Mitte“ der Gesellschaft = zentrale Institutionen und Interessensgruppen, z.B. Gewerkschaften, Schulen, Jugendarbeit, Medien, Kirche, Polizei, Verfassungsschutz, Strafjustiz,… Institutionen müssen auf Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus reagieren Dabei weit verbreitete Annahme: Institutionen können mit der Entstehung von Rechtsextremismus nichts zu tun haben; aber: Inwiefern sind sie daran beteiligt? 10.01.2014 Umdeutungsversuche der Institutionen von Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus Phänomene werden personalisiert, pathologisiert, biologisiert moralische Selbstentlastung Darstellung als Randerscheinung politische Erleichterung „Lösungsdeutungen“: durch Polizei, Verfassungsschutz etc. sanktionieren Suggerierung administrativer Handlungsfähigkeit und Lösbarkeit mit Hilfe von strafrechtlichen Kategorien, ordnungspolitischen Mitteln oder technischer Aufrüstung 10.01.2014 Warum der Blick auf Institutionen? Fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus gewinnen in allen hochindustrialisierten Gesellschaften an Boden Probleme liegen in den heute aktuellen Formen der sozialen, ökonomischen und politischen Modernisierung selbst, nicht nur in „Neonazis“! Notwendigkeit eines Blickwechsels auf die zentralen Institutionen, die in alten Handlungsschemata stecken! 10.01.2014 c) FES-Studie: „Die Mitte im Umbruch“ 2012 1. Die Mitte-Studien 2. Relevanz/Aktualität 3. Hintergründe/Theoretischer Rahmen 4. Hypothesen 5. Daten/Methode 6. Ergebnisse 7. Kritik 10.01.2014 1. Die Mitte-Studien (Vorwort) Seit 2002 durchgeführte empirische Studien Zweijahresrhythmus Seit 2006 von Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben „Barometer antidemokratischer Einstellungen“ Messung von rechtsextremen Einstellungen und Strukturen in der „Mitte der Gesellschaft“ 10.01.2014 2. Relevanz/Aktualität (Einleitung) NSU-Skandal und Involviertheit des Verfassungsschutzes Organisierter Rechtsextremismus: rechtsextreme Parteien wie NPD und DVU, dezentrale Organisationsformen z.B. aus der rechtsextremen Subkultur ( Brückenfunktion) „[…] muss die derzeitige Lage in Deutschland auch als Konsolidierungsphase der rechtsextremen Szene aufgefasst werden“ (S.15) 10.01.2014 3. Hintergründe/ Theoretischer Rahmen: Begriff des Rechtsextremismus und der Mitte Begriff „(Rechts-)Extremismus“ stammt aus verfassungsrechtlicher Praxis Mitte wird idealisiert, Bedrohung der Demokratie von den Rändern der Gesellschaft Links-Rechts-Dichotomie Kritik daran: Gefahr droht aus der Mitte selbst (autoritäre Phantasien, mangelndes demokratisches Bewusstsein) Rechtsextremismus ist antidemokratisch und beruht auf radikaler Ungleichheitsvorstellung, „Linksextremismus“ ist antikapitalistisch und radikal egalitär, rechts und links sind nicht gleich weit von Mitte entfernt und können nicht 10.01.2014 gleichgesetzt werden 3. Hintergründe/Theoretischer Rahmen: Begriff des Rechtsextremismus und der Mitte Orientierung der Studie an Lipset (1959): Extremismus als Antithese zum Pluralismus, Begriff „Extremismus der Mitte“ Orientierung an Adorno et. al.(1950): Autoritärer/ faschistischer vs. demokratischer Charakter Verwendung der Dichotomie rechtsextrem/ antidemokratisch vs. demokratisch 10.01.2014 3. Hintergründe/Theoretischer Rahmen: Begriff des Rechtsextremismus und der Mitte Rechtsextremismusdefinition: „Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozial-darwinistische Einstellungen“ (S.18). 10.01.2014 4. Hypothesen (in Bezug auf empirische Befunde) Allgemeiner Stigmatisierungsdruck bildet Hintergrund für Diskriminierung (auch in sozioökonomisch stabilen oder aufwärtsstrebenden Regionen) Bedrohung für Demokratie: wird nicht als aktiv nutzbares Partizipationsmedium wahrgenommen, Wahlen scheinen unbeeinflussbar Neben klassischen, primären Antisemitismus existieren weitere Ebenen und sekundärer Antisemitismus: Antiamerikanismus, Formen der Kapitalismuskritik Kommunikationslatenz, „Umwegkommunikation“ Negative Einschätzung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland insgesamt (nicht individuell!) fällt mit rechtsextremer Einstellung zusammen 10.01.2014 5. Daten/Methode (zur Studie 2012) Datenerhebung im Sommer 2012 Dreistufige repräsentative Zufallsstichprobe: 1. Sample Point-Auswahl, 2. Random-Route-Verfahren zur Haushaltsauswahl, 3. Personenauswahl Eigenständige Beantwortung eines Fragebogens, Interviewende falls nötig beratend Ausschöpfungsquote 56,5% N=2415 Soziodemographische Angaben: Ost-/Westdeutsch, Alter, Geschlecht, Familienstand, Partnerschaft, Schulabschluss, Berufstätigkeit, Haushaltseinkommen, Kirchenzugehörigkeit 10.01.2014 5. Daten/Methode: Rechtsextremes Einstellungsmuster: 6 Dimensionen Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur Chauvinismus Ausländerfeindlichkeit Antisemitismus Sozialdarwinismus Verharmlosung des Nationalsozialismus 10.01.2014 6. Ergebnisse 10.01.2014 10.01.2014 10.01.2014 10.01.2014 10.01.2014 10.01.2014 10.01.2014 6. Zusammenfassung der Ergebnisse Verbreitung rechtsextremer Einstellung weiterhin hoch, in allen Bevölkerungsgruppen vorhanden Ausländerfeindlichkeit ist tief in gesamtgesellschaftlichen Diskurs verwoben, hat insbesondere in Ostdeutschland weiter zugenommen Neue junge Generation mit rechtsextremen Einstellungen in Ostdeutschland (16% mit geschlossen rechtsextremem Weltbild) S.44/45 Parteipräferenz: Kriterien für rechtsextreme Einstellungen ziehen sich mehr oder weniger über alle Kategorien (Parteien/ Nichtwählende/Unentschlossene) Notwendige Folgen: politische Bildung erforderlich, ReSolidarisierung mit Migrant_innen, Obdachlosen, Arbeitslosen etc., Wertschätzung von Vielfalt, Rechtsextremismus aktiv bekämpfen! 10.01.2014 7. Kritik an der Studie „Mitte im Umbruch“ 2012 Methodisch: Fragwürdige Repräsentativität der Studie („9% der Deutschen haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild“) bei Ausschöpfungsquote der Stichprobe von nur 56,5% Kritik an der teils/teils-Zustimmungsmöglichkeit; es fehlt die Möglichkeit, zu Aussagen keine Angabe zu machen oder „weiß nicht” zu sagen an den Fragestellungen: Bsp. „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben." ein „starkes Nationalgefühl" (nicht z.B. „Nationalstolz“) wird als schlechte Eigenschaft aufgefasst (allerdings muss man auch die Beantwortung der Fragen insgesamt betrachten, die dann rechte Einstellungen ausdrücken können) 10.01.2014 7. Kritik an der Studie „Mitte im Umbruch“ 2012 Definition „Überfremdung“ nicht unterscheidbar, woher die Beantwortung von Fragen nach sozialer Erwünschtheit kommt: um Entdeckung zu vermeiden oder um Diffamierung zu vermeiden SPD (FES) steht in der Regierungsverantwortung, muss eine Antwort für die gescheiterte Migrationsund Integrationspolitik finden daher hilft die Begründung, dass rechtsextreme Einstellungen stark verbreitet sind 10.01.2014 d) Quellen Bötticher/Mareš : Extremismus: Theorien - Konzepte - Formen, in Oldenbourg Wissenschaftsverlag: München 2012. Heitmeyer: Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf Gewalt und Rechtsextremismus, in Suhrkamp Verlag: Frankfurt 1994. Melzer, Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, in J.H.W. Dietz-Verlag: Bonn 2012. Powerpoint-Präsentation Melzer, FES-Studie: ebd. 10.01.2014 d) Quellen Blog „Kritische Wissenschaft“: http://sciencefiles.org/tag/die-mitte-im-umbruch/ Leserartikel auf Zeit Online: http://community.zeit.de/user/schubladenausbrecher/ beitrag/2008/06/19/die-unserioese-studie-derfriedrichebertstiftung-ueber Kritik von Politikwissenschaftler Klaus Schroeder (2010): http://www.tagesspiegel.de/meinung/andere- meinung/ gastkommentar-ueberall-chauvinisten/1962532.html Plattform Extrem Demokratisch: http://www.extrem-demokratisch.de/extremismusdenken/13extremismusdenken-was-steckt-dahinter 10.01.2014