Rechtswissenschaftliches Institut Römische Rechtsgeschichte 1. Okt. 2012 Lehrstuhl für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux § 3 Die Zwölftafeln - Historizität umstritten - Verhältnis zum sog. „Ständekampf“ umstritten - Fluchtpunkt der gesamten späteren Entwicklung, bis hin zu Justinian Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 2 Quellentext 5 = D. 1.2.2.3-4 Pomp. l. sing. ench. (1)Inskription (2) Paraphrase (3) Interpretation Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 3 (1) Inskription - Fragment aus Schrift des Sextus Pomponius (hochklass. Jurist; Lebenszeit unter Hadrians bis zu divi fratres) - Schrift: enchiridion = „Handbüchlein“ = eine hist. Einführung in die römische Rechtswissenschaft - Aufbau des enchiridion: §§ 1-12 = Entstehung des Rechts und Entwicklung der Rechtsquellen. §§ 13-34 = Geschichte der Magistratur, vorrangig die rechtsprechende Gewalt. §§ 35-53 = an Juristenpersönlichkeiten orientierte Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsschulen. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 4 (2) Paraphrase Um neues Recht zu setzen und die Rechtsunsicherheit zu beenden, die seit der Vertreibung der Könige herrscht, werden zehn Männer (decem viri) mit bes. Macht (auctoritas publica) ausgestattet. Die Dezemvirn wenden sich an die griech. Städte, um Gesetze zu erbitten. Die erbetenen Gesetze werden auf dem Forum auf Tafeln ausgestellt. Den Dezemvirn wird auch die Macht verliehen, die Gesetze auszulegen und zu korrigieren, ohne dass die provocatio ad populum zulässig ist. Sie ergänzen die ursprüngl. zehn Tafeln um zwei, die Fehlendes regeln. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 5 (3) Interpretation: Fragen a. Was sind die XII-Tafeln? b. Unter welchen Bedingungen wurden sie nach Pomponius‘ Schilderung geschaffen? c. Welchen Zweck verfolgt Pomponius mit seiner Darstellung? Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 6 (3) Interpretation: Antworten a. Gesetzeswerk der Dezemvirn nach dem Ende der Königszeit auf zwölf öffentlich aufgestellten Tafeln (Königszeit: 753-510; sog. leges regiae = Gesetze und sakralrechtliche Vorschriften; 494 angebliche secessio plebis in montem sacrum, 451-449 Dezemvirat = lex duodecim tabularum) b. fehlende Rechtssatzung führt zu Verleihung ausserordentl. Gewalt (keine provocatio) an die Dezemvirn; Vorbild sollen griech. Gesetze sein (in Griechenland: Gesetze Solons in Athen, 594/3 v. Chr.; griech. Kolonisation in Süditalien und Sizilien); Verbesserungen (um 2 Tafeln) nach Erfahrungszeit Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 7 c. Zweck des Pomponius? - historisches Bewusstsein in Rom, v.a. Gaius und Pomponius = Einführung zu didaktischen Zwecken - Aufklärung über Herkunft und Nachbarschaft von römischem und griechischen Recht (stimmt z.B. für Nachbarrecht, Begräbnisvorschriften und Gesellschaftsrecht) Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 8 Quellentext 6: Bestimmungen der XII- Tafeln - Inhalt vgl. Übersicht 2 - Rekonstruktion nach verschiedenen lit. und jurist. Quellen, keine direkte Überlieferung - Streit um Existenz der XII-Tafeln: klare Bezugnahmen der späteren Juristen, grosse Übereinstimmung in den Zitaten sprechen für Existenz eines derartigen Gesetzeswerkes; unsicher dagegen der Ablauf der Gesetzgebung - einzelfallbezogene Struktur der einzelnen Anordnungen - altertümliche Sprache und archaische Rechtsauffassungen Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 9 Tab. I, 1: In ius vocatio - in ius vocatio = Ladung des Beklagten vor Gericht (Verfahrenseinleitung). - hier: Legisaktionenverfahren = früheste Form des römischen Prozesses (stark formalisiert). - „em capito“ = Kläger kann den Beklagten ergreifen = Ermächtigung zur Eigenmacht (vgl. auch „manum endo iacito“). - Kläger muss dem gebrechlichen Beklagten ein Gespann stellen, damit er zur Gerichtsstätte gelangen kann. -im klassischen Recht (Formularverfahren) lebt die in ius vocatio fort; die Eigenmacht des Klägers ist durch Zwangsmittel des Prätors weitgehend ersetzt. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 10 Tab. IV, 2 Verkaufsrecht des Vaters - unklar, was „Verkauf“ durch den Vater bedeutet: Verdingung des Sohnes? Prostitution? Ausdruck der Hausgewalt (potestas) des Vaters. - Sohn muss dreimal, alle anderen Hauskinder nur einmal verkauft werden, um von der Gewalt des Vaters frei zu werden (Privilegierung des Sohnes; besondere Hürde für den Vater), vgl. Q 11. - im klassischen Recht: emancipatio = dreimaliger Verkauf des Sohnes an einen Treuhänder mit wiederholter Freilassung und zweimaligem Rückfall in die Gewalt des Vaters; nach dritter Freilassung = Freiheit des Sohnes von der väterlichen Gewalt. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 11 Tab. V, 3: Verfügung von Todes wegen - Gegenstand: pecunia tutelave suae rei = „Vermögen und die Obhut über seine Sachen“; unklar, ob dies tautologisch verwendet wird oder ob verschiedene Bestandteile des Vermögens bezeichnet werden, etwa „Tauschvermögen“ und „Stammvermögen“. - Legatentestament = Möglichkeit, neben den Hauserben (sui heredes) einzelne Gegenstände anderen Personen zuzuwenden, also Vermächtnisse auszusetzen, nicht aber als Erben einzusetzen (erst durch testamentum per aes et libram, vgl. Q 35). - dennoch: ita ius esto = (beschränkte) Testierfähigkeit. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 12 Tab. VI, 1 nexum und nuncupatio - nexum: wahrscheinlich (str.) eine Art „Selbstverpfändung“ bei Darlehenshingabe: durch mancipatio erwirbt der Darlehensgeber ein Zugriffsrecht auf die Person des Schuldners, wenn Rückzahlungsfrist ungenutzt verstrichen ist; im klassischen Recht nicht mehr nachweisbar. - nuncupatio = Äusserungen des Verkäufers (!) im Rahmen der mancipatio (vgl. Privatrecht I): förmlicher Verkaufsakt mit Waagehalter und Münze vor Zeugen, römischen Bürgern vorbehalten; sie betreffen das Schicksal der verkauften Sache oder Person (z.B. Vorbehalt des Niessbrauchs oder Verbot des Weiterverkaufs). - nuncupationes sind Vorläufer der späteren Nebenbestimmungen (pacta); noch das klassische Recht macht sich die Tatsache, dass der Verkäufer bei der Veräusserung einer Sache verbindliche Anordnungen zur Sache treffen kann, zunutze (testamentum per aes et libram, vgl. Q 35). Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 13 Tab. VIII, 2: Talionsprinzip - Talionsprinzip: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“; die Verletzung einer (freien) Person kann nur durch die gleichartige Verletzung des Schädigers vergolten sein (= Verbesserung gegenüber familiärer Rache) - weiter besteht die Möglichkeit, bei Verstümmelung eines Gliedes, durch Sühnevergleich (pactum) die Vergeltung abzuwehren; Sühnevergleich bedeutet meist Verpflichtung, eine bestimmte Summe zur Busse zu zahlen. - im klassischen Recht: lex Aquilia als Regelung, die (im Laufe der Entwicklung) zu (echtem) Schadenersatz verpflichtet. Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 14 Zusammenfassung: - legendärer Ursprung der XII-Tafeln - Grundlegung wesentlicher Rechtsinstitute in verschiedenen Rechtsbereichen (hier: Prozessrecht, Familienrecht, Erbrecht, Deliktsrecht) - Grundlage des ius civile, das heisst, des den römischen Bürgern vorbehaltenen Sonderrechts Universität Zürich, RWI, Römische Rechtsgeschichte, Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Seite 15