Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang: Early Education – Bildung und Erziehung im Kindesalter %DFKHORUDUEHLW zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) Selektiver Mutismus Professionelle Hilfen im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern: Die aktuelle Situation in MecklenburgVorpommern mit biografischen Praxisbeispielen Name: Carmen Koop URN: urn:nbn:de:gbv:519-thesis2014-0221-6 Erstprüfer: Prof. Dr. Claudia Hruska Zweitprüfer: Prof. Dr. Mandy Fuchs Datum: 18. 09.2014 1 Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG ............................................................................................... 5 2 SELEKTIVER MUTISMUS: WAS IST DAS?................................................ 7 2.1 Erscheinungsbild .................................................................................................. 7 2.2 Verschiedene Formen des Mutismus ................................................................ 10 3 EPIDEMIOLOGIE ...................................................................................... 13 3.1 Verbreitung des selektiven Mutismus ............................................................... 13 3.2 Co-Morbidität ....................................................................................................... 14 3.3 Risikofaktoren ..................................................................................................... 15 3.4 Diagnostische Merkmale .................................................................................... 16 4 DIE URSACHEN DES SELEKTIVEN MUTISMUS ..................................... 20 5 DIAGNOSTIK............................................................................................. 24 5.1 Voraussetzungen für eine korrekte Diagnostik ................................................ 24 5.2 Was ist bei der Diagnostik zu beachten? ......................................................... 25 6 ÜBERLEITUNG ZUR THERAPIE .............................................................. 27 7 BEDEUTUNG FÜR DIE BETROFFENEN UND IHR UMFELD .................. 27 7.1 Belastung und Bewältigungsform der Betroffenen ......................................... 28 7.2 Belastung, Verständnisschwierigkeiten und Bewältigungsform für das Umfeld .............................................................................................................................. 29 7.3 Symptome, Folgeerscheinungen und Einfluss auf die weitere Biografie ..... 30 7.3.1 Mögliche bildungsbiografische Folgen .............................................................. 31 7.3.2 Mögliche berufsbiografische Folgen ................................................................. 32 7.3.3 Mögliche körperbiografische Folgen ................................................................. 32 8 THERAPEUTISCHE MÖGLICHKEITEN IN DER PRAXIS ......................... 35 8.1 Anlaufstellen in Deutschland ............................................................................. 36 8.2 Aktuelle Situation in MV ..................................................................................... 37 8.2.1 Verbreitung ........................................................................................................ 37 8.2.2 Therapeutische Möglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern ........................... 38 8.2.2.1 Hilfen im Internet ....................................................................................... 38 2 8.2.2.2 9 Hilfen vor Ort ............................................................................................. 39 ERFAHRUNGSBERICHTE ........................................................................ 43 9.1 Die Interviews ...................................................................................................... 43 9.1.1 Methodenauswahl ............................................................................................. 43 9.1.2 Ziel des Interviews ............................................................................................. 45 9.1.3 Fragestellungen ................................................................................................. 45 9.1.4 Max .................................................................................................................... 46 9.1.5 Ina - die Mutter von Max.................................................................................... 51 9.1.6 Emi .................................................................................................................... 59 9.1.7 Emis Familie ...................................................................................................... 67 9.1.8 Sarah ................................................................................................................. 69 9.1.9 Sarahs Mutter .................................................................................................... 72 9.2 Vergleiche zwischen den Betroffenen ............................................................... 74 9.3 Vergleich der Angehörigen untereinander ....................................................... 79 9.4 Vergleich zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen ........................ 80 9.5 Selbstreflektion ................................................................................................... 82 10 ZUSAMMENFASSUNG ............................................................................. 83 Eidesstattliche Erklärung ............................................................................................... 87 11 ANHANG ................................................................................................... 93 3 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Zusätzliche Auffälligkeiten und Merkmale bei 32 untersuchten Kindern mit selektivem Mutismus (Katz-Bernstein, 2011 S. 32, 33) .................. 15 Abbildung 2: Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell (Hartmann 1997, S. 103) ................................................................................................................... 23 Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten für selektiven Mutismus in Deutschland (Mutismus Selbsthilfe Deutschland und Universität Dortmund) ..... 42 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Studien zur Häufigkeit des Auftretens von selektivem Mutismus bei Jungen und Mädchen (Bahr, 1998 S. 39) ............................................................ 9 Tabelle 2: Pathomechanismen bei Angststörungen (Wedekind/Bandelow 2007 in Hartmann 2011, S. 10) ...................................................................................... 21 Tabelle 3: Leitfaden des Interviews .................................................................... 46 Tabelle 4: Übersicht über installierte Hilfen der Betroffenen ............................... 76 Tabelle 5: Was die Betroffenen selbst als hilfreich bezüglich der Überwindung des selektiven Mutismus benennen konnten ............................................................ 77 4 1 Einleitung Emi ist ein ruhiges Kind, eigentlich war sie schon immer schüchtern. Im Kindergarten hat sie eine Freundin, mit der sie spricht. Mit anderen Personen, die nicht zu ihrem engsten Familienkreis gehörten, kommuniziert sie fast nie. In der Schule spricht Emi ebenfalls nicht. Schriftlich zeigt sie gute Leistungen, aber mündlich verweigert sie jegliche Kommunikation. Zu Hause ist sie ein aufgeschlossenes Kind und ihre Eltern ahnen nichts davon, dass sie in anderer Umgebung nicht spricht. Die pädagogischen Fachkräfte halten Emi für schüchtern, sind aber der Meinung, dass sie trotzdem endlich lernen müsse, sich in der Klasse mündlich aktiv einzubringen. Im Gymnasium spitzt sich die Situation zu. Wird Emi angesprochen, scheint sie förmlich zu erstarren. Sie schaut ihr Gegenüber nur mit großen Augen an. Oder aber ihre Augen wandern auf die Tischplatte und können sich von dieser nicht mehr lösen. Alles an ihr erstarrt und sie wirkt wie versteinert. Die Lehrer reagieren genervt und fordernd, sie können kein Verständnis für Emis Verhalten aufbringen. Auch die Schüler wenden sich von Emi ab. Niemand ahnt, was Emi in ihrem Innersten durchlebt und wie schmerzvoll es für sie ist, nicht sprechen zu können. Gefangen in ihrem Gefängnis aus Schweigen kann sie weder um Hilfe bitten noch jemandem mitteilen, wie es in ihr aussieht... Erst im Erwachsenenalter fand Emi heraus, dass ihr Schweigen einen Namen hat: „selektiver Mutismus“. Selektiver Mutismus ist ein diagnostischer Begriff, der in der Fachpraxis noch immer recht unbekannt ist. Fachkräfte in Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, therapeutischen und ärztlichen Praxen sind zwar mit den Symptomen konfrontiert, können diese aber oft nicht dem Störungsbild zuordnen oder scheinen es gar nicht zu kennen. Dies hat zur Folge, dass Betroffene und ihre Familien eine adäquate Hilfe nicht rechtzeitig oder gar nicht finden und sich dieses Störungsbild somit manifestieren kann. Einen Zugang zu den Betroffenen zu finden wird dann immer schwieriger. Wird das Störungsbild nicht frühzeitig erkannt und fachlich adäquat behandelt, schlagen in der Regel viele pädagogische Versuche und Herangehensweisen fehl. Das Kind, seine Angehörigen sowie die pädagogischen Fachkräfte erleben 5 zunehmend eine Überforderung und häufig ein Scheitern ihrer Versuche, konstruktiv in Beziehung zu gehen. Ein häufig erlebtes Scheitern kann weitere Probleme nach sich ziehen und sich in verschiedenen zusätzlichen Symptomen zeigen (Ängste, Depressionen, Essstörungen u.a.). Isolation wie auch Ausgrenzung können ein kommunikationsund kontaktarmes Leben zusätzlich bedingen. Ein den Fähigkeiten nicht entsprechender Bildungsstand und soziale Abhängigkeit in Form von Hartz IV sind häufig die Folge. Damit gehen unserer Gesellschaft nicht nur wertvolle menschliche Ressourcen verloren. Auch die Folgekosten einer nicht oder spät behandelten Störung sind wesentlich höher als die einer gezielten und adäquaten frühen Hilfe. Zielstellung der vorliegenden Arbeit ist es, die aktuelle Situation im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der Bekanntheit und der therapeutischen Möglichkeiten des selektiven Mutismus zu erörtern. Dazu soll folgenden wissenschaftlichen Fragestellungen nachgegangen werden: 1. Ist das Störungsbild in Fachkreisen ausreichend bekannt? 2. Erhalten Betroffene und ihre Familien rechtzeitig und adäquat Hilfe? 3. Was ist notwendig, um Betroffenen und Angehörigen frühzeitig und adäquat zu helfen? Die Vorgehensweise der Arbeit lässt sich wie folgt beschreiben: Zunächst wird das Störungsbild erläutert. Die aktuellen Sichtweisen in Fachkreisen werden ebenso dargelegt wie die derzeit angenommenen Ursachen der Entstehung des selektiven Mutismus und die die Entstehung begünstigenden Risikofaktoren und Begleiterscheinungen. Es wird aufgezeigt, welche Möglichkeiten und Rahmenbedingungen der Diagnostik zur Verfügung stehen und was dies für den weiteren Werdegang der Betroffenen bedeutet. Welche Schwierigkeiten und Folgen selektiver Mutismus für Betroffene und ihr Umfeld mit sich bringen kann, wird ebenfalls erläutert. Es werden zunächst deutschlandweit, dann speziell für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern die aktuellen Therapiemöglichkeiten aufgezeigt, die über Recherchen im Internet und vor Ort zu finden sind. Im Rahmen dieser Arbeit wurden zwei Betroffene ein Jahr lang in ihrer Therapie sowie in Angehörigentreffen begleitet. Eine Stichprobe aus drei Betroffenen und 6 fünf ihrer Angehörigen soll beispielhaft verdeutlichen, welche Erfahrungen Menschen mit selektivem Mutismus machen können und wie ihr Weg auf der Suche nach Hilfe aussehen kann. Zu diesem Zweck wurden die Betroffenen und ihre Angehörigen interviewt. Das hierfür genutzte Leitfadeninterview konzentriert sich dabei auf die oben aufgeführten Fragen. Die Ergebnisse der Interviews werden im letzten Teil der Arbeit journalistisch zusammengefasst wiedergegeben. Zusätzlich wurden Kassenärztlichen Anfragen an Vereinigungen mehrere Krankenkassen Mecklenburg-Vorpommern sowie die gestellt, um nachzuvollziehen, welche Auskunftsmöglichkeiten Patienten haben und wie viele Fachleute in MV durch die angefragten Stellen benannt werden können. Dieser Weg würde den Patienten und Angehörigen zur Verfügung stehen, die das Störungsbild kennen und vermuten. Im Anschluss wird dargelegt, ob es in MV ausreichende und adäquate Unterstützung sowie Therapiemöglichkeiten für Menschen mit selektivem Mutismus gibt und wenn, ob diese nutz- und greifbar sind für die Betroffenen. 2 Selektiver Mutismus: was ist das? 2.1 Erscheinungsbild Mutismus leitet sich aus dem lateinischen Adjektiv „mutus“ ab und bedeutet „stumm, sprachlos, still“ (siehe URL 34). Das Wort „selektiv“ bedeutet, dass es sich beim Schweigen – im Gegensatz zum totalen Mutismus - um ausgewählte Situationen handelt, in denen die Betroffenen trotz vorhandener physiologischer Sprachfähigkeit und vollzogenem Spracherwerb nicht sprechen können (vgl. Katz-Bernstein, 2011). Im Unterschied zu dem Begriff „elektiver Mutismus“ soll die Begriffswahl deutlich machen, dass es sich keineswegs um ein freiwilliges, selbst bewusst gewähltes Schweigen handelt (elektiv), sondern dass die Betroffenen trotz größter Anstrengungen nicht in der Lage sind, in den betreffenden Situationen von ihrer Sprache Gebrauch zu machen. Der Begriff „elektiv“ wird deshalb in Fachkreisen auch als mögliche Verharmlosung des Schweregrads dieses Störungsbildes betrachtet. Namhafte Autoren nutzen deshalb lieber den Begriff „selektiver Mutismus“ wie z.B. Katz-Bernstein, gestützt u.a. auf Popella, Asperger, Böhme, Saloga, Hartmann, Sparaso/Schäfer und Bahr (ebd. 25). 7 Der Begriff „Mutismus“ hat sich im Laufe von über 100 Jahren immer wieder gewandelt und unterlag unterschiedlichsten Einordnungen. In Fachkreisen sprach man von „freiwilliger Stummheit“ (Gutzmann 1894, vgl. Katz-Bernstein 2011, Bahr 1998), von elektivem Mutismus (Tramer 1934, vgl. ebd.) wie er auch heute noch im ICD-10 auffindbar ist, von selektivem Mutismus wie wir ihn aktuell im DSM-IV und DSM-V finden bis hin zum „partiellen Schweigen“ (Schoor 2002, vgl. ebd.) um nur einige zu nennen. Von dem Begriff der „freiwilligen Stummheit“ haben sich Autoren schon vor langer Zeit abgewandt (z.B. Spieler 1944, Asperger 1968, zitiert in Hartmann 1997). Unter anderem auch Katz-Bernstein setzte sich mit der „Freiwilligkeit“ des Schweigens kritisch auseinander und stützt sich dabei z.B. auf aktuelle Literatur aus dem angloamerikanischen Raum, in dem von „einer Angststörung in Form einer sozialen Phobie, einer kindlichen Depression oder einer Zwangshandlung“ die Rede ist (Katz-Bernstein 2011, S. 26). „Bei dieser Art von Störungen stehe das Kind wie unter einem „Bann“ bzw. unter einem Zwang, das Sprechen an bestimmtem Orten oder in bestimmten Situationen einzustellen und keinen Laut von sich zu geben.“ (ebd., S. 26) Die vorhandene Unfreiwilligkeit des Schweigens und das verzweifelte „nicht sprechen können“ bestätigen u.a. auch die Interviews der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die im Zuge dieser Arbeit erhoben wurden sowie zahlreiche Interviews im Internet oder aktueller Literatur (z.B. Fachzeitschrift Mutismus.de, Melliger 2012 u.a.). Das Erscheinungsbild selektiver Mutismus ist bei Mädchen häufiger als bei Jungen anzutreffen (vgl. Katz-Bernstein 2011, Buß 2005, Bahr 1998, 2004.) wie in Tabelle 1 dargestellt. Über die Ursachen der unterschiedlichen geschlechtlichen Verteilung des selektiven Mutismus gibt es verschiedene Annahmen, auf die unter Punkt 3 mit eingegangen wird. Beobachtet wurde von Hartmann und Lange (2013, S.22), dass sich verstärkt betroffene Mädchen als „adrette, akkurat gekleidete Prinzesschen“ zeigen und den Kontakt mit Schmutz vermeiden, indem Sandkästen, „Matschphasen“ und z.B. Spiele auf dem Fußboden vermieden werden. 8 Tabelle 1: Studien zur Häufigkeit des Auftretens von selektivem Mutismus bei Jungen und Mädchen (Bahr, 1998 S. 39) Wie zeigt sich aber selektiver Mutismus noch? Das Nichtsprechen ist zwar ein Hauptmerkmal, aber bei weitem nicht das einzige. Wir finden bei diesen Menschen Verhaltens- und Bewegungsmuster, die typisch sind für dieses Störungsbild. Schüchtern, Blickkontakt vermeidend, gerade bei Sprechblockaden in der Körperhaltung wie eingefroren wirkend begegnen wir ihnen. Jegliche Mimik und Gestik scheint wie versteinert, wenn eine Sprechangst auslösende Situation für sie vorhanden ist. Auch sonst sind sie in ihrem Bewegungsausmaß oft verhaltener, wirken gehemmter und vorsichtiger. Eine übertriebene Angst vor vermeintlichen Gefahren ist ebenfalls offensichtlich und zeigt sich in der Vermeidung von Spielen mit hohem Bewegungsausmaß und Überwinden von Hindernissen, wie z.B. auf Bäume zu klettern, Klettergerüste zu erobern, Rutschen zu benutzen, Rad zu fahren, zu schwimmen, von etwas Höherem herunterspringen usw. (vgl. Hartmann und Lange, 2013, S. 22). Häufig findet man „Nebenschauplätze“ mit weiteren Symptomen, welche unter Punkt 3.2 (CoMorbidität) eingehender dargelegt werden. Zusammenfassend haben wir es bei selektivem Mutismus also trotz physiologischer Sprachfähigkeit und abgeschlossenem Spracherwerb mit einer Unfähigkeit zu sprechen zu tun, die sich im Schweigen bestimmten Personen gegenüber äußert und durch definierte Situationen gekennzeichnet ist. Das Kommunikationsverhalten ist nicht nur verbal eingeschränkt, auch Mimik und Gestik sind betroffen. Typisch Ist hier das Erstarren, wenn die betroffene Person 9 sich in einer Situation befindet, die eine Blockade bei ihr auslöst. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen (siehe auch Bahr, 1998). Das Wort "selektiv" macht deutlich, dass es sich nicht um ein freiwilliges Schweigen handelt, sondern dass die Betroffenen trotz größter Bemühungen ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht adäquat einsetzen können. Mutismus kann sich in weiteren Formen wie z.B. in totalem Mutismus in Folge traumatischer Erlebnisse oder auch als passagerer Mutismus während der Bewältigung von Transition zeigen, welche sich vom selektiven Mutismus zum Teil abgrenzen oder diesen weiter differenzieren. Diese sollen im Folgenden klarer voneinander abgegrenzt werden. 2.2 Verschiedene Formen des Mutismus Neben dem selektiven Mutismus finden wir weitere Formen des Mutismus. Im Laufe der Jahrzehnte wurden dazu verschiedenste Bezüge hergestellt (vgl. KatzBernstein 2011, Bahr 2012). Es wurde unterteilt nach vermutlichen Auslösern des Schweigens, nach dem zeitlichen Auftreten und anderen Kriterien, wie z.B. auch Mutismus in Verbindung mit psychiatrischen Störungsbildern wie Schizophrenie, katatonen Zuständen, Paranoia und anderen. Im Folgenden werden der selektive Mutismus, der totale Mutismus, der passagere Mutismus, der Früh- und Spätmutismus und eine Einteilung nach Hayden (1980, zitiert in Katz-Bernstein 2011), einer amerikanischen Spezialistin für Mutismus, kurz gegenüber gestellt. Selektiv mutistischen Menschen gelingt es nicht, in ausgewählten Situationen zu sprechen. Das Sprechen ist ausschließlich mit bestimmten Personen und in definierten Situationen möglich. Kommt eine weitere Person hinzu oder wechseln plötzlich die Rahmenbedingungen, ist das Sprechen schlagartig nicht mehr möglich. Diese Stummheit bezieht sich in der Regel nicht nur auf die verbale Kommunikation, sondern auf das gesamte körperliche Kommunikationsverhalten. Eine starre Haltung, die Arme an die Seiten des Körpers gepresst, ist ebenso typisch wie fehlende nonverbale Kommunikationsmittel, z.B. Blickkontakt, Kopf nicken oder schütteln. Der totale Mutismus lässt auch eine Selektivität des Sprechens nicht zu: hier kann auch im engsten und vertrautesten Kreis nicht kommuniziert werden. Auch hier ist der Spracherwerb vollzogen, Hör- und Sprechvermögen sind vorhanden. Psychologische Faktoren (z.B. Konditionierung, Milieueinflüsse) werden ebenso 10 vermutet wie physiologische (z.B. familiäre Disposition, Hyperfunktion der Amygdala), eine abgeschlossene und vollständige Ursachenforschung existiert jedoch noch nicht (siehe URL 28). Teilweise kann der totale Mutismus aus dem früheren Kommunikationsverhalten diagnostiziert werden, auch kann er die Folge eines traumatischen Erlebnisses sein (siehe URL 29). Der passagere Mutismus wird als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern eingeordnet. Diese wird im ICD-10 (F. 94.0, elektiver Mutismus) als Ausschluss unter F 93.0 als eigenständiges Störungsbild behandelt (Remschmidt, 20002 S. 48,55). Hier wird die Furcht vor der Trennung als Kernauslöser betrachtet, während beim selektiven Mutismus das Sprechen bzw. Schweigen in bestimmten Situationen der Auslöser für die Einordnung ist und beim totalen Mutismus das komplette, überall und immer vorhandene Schweigen. Von Früh- und Spätmutismus spricht man, wenn man das Auftreten nach dem Alter des Kindes einordnet. So bezeichnet man ein Auftreten der Störung beim Eintritt in den Kindergarten als Frühmutismus (im Alter von 3,4 Jahren: Dummit et al. 1987, zitiert in URL 30 bzw. 4,1 Jahren: Steinhausen und Juzi 1996, zitiert in URL 30). Spätmutismus (auch Schulmutismus genannt) zeigt sich mit dem Übergang in die Schule (Begriffe von Kurt/Schweigert 1972, zitiert in URL 30) ab 5,5 Jahren (siehe auch Katz-Bernstein, 2011, S. 29). Offensichtlich wird hier der enge Bezug zu Übergängen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die zeitgleich auftreten. Dies sollte auch von professionellen Fachkräften in den Blick genommen werden, wenn es um die Ausgestaltung der Übergänge vom Elternhaus in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie von diesen in die Schule geht. Weiterhin konnte die Forschergruppe der Universität Dortmund nachweisen, dass Kinder mit Migrationshintergrund deutlich häufiger von Störungen des selektiven Mutismus betroffen sind als Kinder deutscher Herkunft (siehe URL 14). Überlegungen zur kulturellen Inklusion der Kinder und der Barrieren im deutschen Schulsystem scheinen die Ausbildung eines selektiv mutistischen Störungsbildes zu begünstigen. Lesser-Katz unterteilt die Kinder in zwei Hauptgruppen: in eine „Gruppe gefügiger, scheuer, ängstlicher, anhänglicher und unsicherer Kinder und eine Gruppe nicht gefügiger, passiv-aggressiver, vermeidender mutistischer Kinder“ (URL 1, Lesser-Katz, 2014). Hayden unterschied 1980, nach einer Untersuchung an 68 mutistischen Kindern, vier Gruppen anhand derer das Erscheinungsbild, 11 Auffälligkeiten im Verhalten sowie psychosoziale Ursachen eingeordnet werden können (vgl. Katz-Bernstein 2011): Symbiotischer Mutismus (symbiotische Beziehung zu einer Bezugsperson einhergehend mit einer manipulativen, negativistischen Einstellung gegenüber verantwortlichen Erwachsenen) Sprechangst-Mutismus (Angst vor dem Hören der eigenen Stimme einhergehend mit Zwangsgedanken und/oder –handlungen) Reaktiver Mutismus (verursacht durch einmalige Depression verbunden mit Rückzug) Passiv-aggressiver Mutismus (aufsässige Verweigerung des Sprechens, Schweigen als Verteidigungswaffe) Auch wenn diese Einteilung differenzialdiagnostisch in Frage gestellt wird, ist sie doch hilfreich bei der Aufstellung therapeutischer Schwerpunkte in der Arbeit mit betroffenen Kindern sowie den Angehörigen und beteiligten professionellen Helfern (ebd.). Grenzen wir den selektiven Mutismus von weiteren Formen des Mutismus ab, bleiben neben den verschiedenen Verhaltensweisen (gefügig und anhängig versus passiv-aggressiv) der Früh-und Spätmutismus zur Differenzierung des Alters bei Eintritt bestehen. Der Spätmutismus, auch Schulmutismus genannt, macht die sensible Phase des Übergangs in eine Bildungseinrichtung und die damit verbundene Begleitung Notwendigkeit besonders deutlich. einer aufmerksamen, Besonders gilt dies für unterstützenden Familien mit Migrationshintergrund, deren Kinder häufiger betroffen sind und im System Bildung einer besonderen Unterstützung bedürfen. Auch wenn und gerade weil es sich nicht um eine sehr häufig vorkommende Störung handelt, benötigen betroffene Familien kompetente Unterstützung. 12 3 Epidemiologie Im Folgenden werden die Häufigkeit und das gemeinsame Auftreten des selektiven Mutismus mit verschiedenen anderen psychischen Erkrankungen, die Risikofaktoren und auch die diagnostischen Merkmale dargestellt. 3.1 Verbreitung des selektiven Mutismus Während in der Literatur die Zahlenangaben schwanken und eine Zunahme von Studien zu diesem Thema inzwischen zu verzeichnen ist, wird bis heute von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. In vielen Fallberichten wird beschrieben, dass Betroffene und Angehörige erst sehr spät, häufig durch Zufall, von der Bezeichnung dieses Störungsbildes erfahren und sich somit erst dann adäquat mit dem Störungsbild, dem dazugehörigen Wissen und den Erfahrungen auf diesem Gebiet auseinandersetzen und sich informieren können. Auch der Fakt, dass die Betroffenen sich nicht außerhalb ihres geschützten Rahmens adäquat äußern können, macht ein Aufsuchen von Hilfsangeboten oder ein „sich informieren“ schwer oder unmöglich für sie. Die Häufigkeit von selektivem Mutismus wird von 0,1 – 0,7 % der klinisch erfassten Kinder angegeben, dabei sind die Erhebungen sehr unterschiedlich gemacht worden. Das Spektrum reicht von der Erhebung klinisch erfasster, ohnehin schon psychiatrisch auffälliger Kindern bis hin zu Erhebungen in Schulklassen in Nordrhein - Westphalen im Jahr 2003 mit einer Rücklaufquote von etwas weniger als 30% (vgl. Katz-Bernstein 2011, S. 31). Die Universität Dortmund erhielt bei der Befragung von 405 Klassenlehrerinnen und –lehrern bei einer Zahl von 7917 Schülern ein Ergebnis von 2,6% sich typisch mutistisch verhaltender Kinder, was die Annahme einer hohen Dunkelziffer bestärkt (URL 11, URL 12). Nach Bahr handelt es sich nicht nur um ein weltweit vorkommendes Störungsbild, er berichtet auch, dass die Internetseite der Organisation „Selective Mutism Group – Childhood Anxiety Network“ (www. Selectivemutism.org) mit Sitz in den USA bis zu 300 000mal im Monat aufgerufen wird (vgl. Bahr, 2004). Abschließend kann also davon ausgegangen werden, dass die derzeit in der Literatur auffindbaren Angaben von 0,1-0,7 % eher nur einen Bruchteil der wirklich Betroffenen darlegen, da diese Störung zum einen die Betroffenen an der 13 Suche und Inanspruchnahme von Hilfen behindert und zum anderen aus unterschiedlichen Gründen das Störungsbild wenig bekannt ist. Auch das Zusammenspiel des selektiven Mutismus mit weiteren Symptomen und Störungsbildern kann den Umgang und das Verständnis für die Betroffenen und die Diagnostik zusätzlich erschweren, was im nachfolgenden Kapitel CoMorbidität dargelegt wird. 3.2 Co-Morbidität Selektiver Mutismus tritt in der Regel gepaart mit verschiedensten anderen Störungen bzw. Symptomen auf (vgl. Katz-Bernstein, Bahr, Hartmann). Dies macht eine genaue Diagnostik besonders notwendig und schwierig und benötigt diesbezüglich eine hohe Kompetenz von Seiten der Fachleute zu dieser Thematik. Auch eine Mischform Mutismus-Autismus wird heute von einigen Autoren angenommen und zeigt Forschungsbedarf auf (vgl. Katz-Bernstein 2011). Zusätzliche Auffälligkeiten (Co-Morbidität) bei selektiv-mutistischen Kindern können sein (nach Castell und Schmidt 1999; 2000, vgl. in Katz-Bernstein 2011): Soziale Ängstlichkeit Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten Depressive Symptomatik Regulationsstörung von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktionen oder Verhaltenskontrolle Eine weitere Aufstellung nach Rösler (1981, zitiert in Katz-Bernstein 2011) bei einer Untersuchung an 32 selektiv-mutistischen Kindern zeigt folgende mit dem selektiven Mutismus auftretenden Erscheinungen (Abbildung 1). 14 Abbildung 1: Zusätzliche Auffälligkeiten und Merkmale bei 32 untersuchten Kindern mit selektivem Mutismus (Katz-Bernstein, 2011 S. 32, 33) Nach Katz-Bernstein fanden Steinhausen und Juzi (1996) zusätzlich Trennungsängste sowie Schlaf- und Essstörungen (zitiert in Katz-Bernstein, 2011). Wittchen (1991) nennt im DSM III außerdem entwicklungsbezogene Artikulationsstörungen, rezeptive oder expressive Sprachstörungen oder körperliche, die Artikulation beeinträchtigende Störungen (ebd.). Häufig tritt selektiver Mutismus auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern auf, die mindestens eine zweite Sprache zusätzlich erlernen müssen. Diese Beobachtungen unterstreichen deutlich die Einordnung des selektiven Mutismus nicht nur als Kommunikationsstörung, sondern auch als Angststörung wie Katz-Bernstein sie beschreibt (vgl. Abschnitt 2.1.). Eine Reihe von Risikofaktoren scheinen die Entstehung von selektivem Mutismus ebenfalls zu begünstigen. Sie sollen im Folgenden dargestellt werden. 3.3 Risikofaktoren Migrationshintergrund mit einem Zweitspracherwerb ist hier als ein Risikofaktor zu nennen, ebenso wie verschiedenste Sprachstörungen, die eine Verunsicherung im Gebrauch und beim Erlernen der jeweiligen Sprache auslösen können. Mögliche Risikofaktoren können sein (Katz-Bernstein 2011, S. 35): 15 Migration und Bilingualität (28% bzw. 22%) Psychische Störungen, Persönlichkeitsstörungen der Eltern (10,5%) Mutistisch anmutende Verhaltensweisen der engsten Angehörigen (72,2%, Kontrollgruppe 17,6%) Prä-, peri-, postnatale Komplikationen (75%) Störung der pragmatisch-kommunikativen Kompetenz Temperamentsmerkmale (Rückzug, Scheu, Ängstlichkeit, Schweigsamkeit), (Steinhausen/Juzi 1996, zitiert in Hartmann 2002) Geschwister- oder Zwillingskonstellation (Subellok et al. 2011) Hinweise zu weiteren Risikofaktoren liefern Studien wie z.B. „Defizite und Verzögerungen in der pragmatischen, sozialen, kommunikativen und/oder narrativen Kompetenz“, Cunningham et. al 2004, McInnes et al. 2004 und Carbone et al. 2010 (zitiert in Katz-Bernstein 2001, S. 34). Ob die Erkenntnisse der Co- Morbidität und der Risikofaktoren beim selektiven Mutismus im Rahmen der Diagnostik umfassend genutzt werden können, ist abhängig von den diagnostischen Leitlinien, die als Grundlage dienen und Voraussetzung für eine therapeutische Begleitung im Rahmen der Krankenkassen sind. Diese werden im folgenden Kapitel aufgezeigt. 3.4 Diagnostische Merkmale Folgend werden die Definitionen nach ICD-10, wonach in Deutschland diagnostiziert und gearbeitet wird und der DSM-IV und DSM-V, der in den USA als Grundlage dient, vorgestellt. F94.0 Elektiver Mutismus In der WHO-Klassifikation, dem ICD-10 (siehe URL 31) ist der (s)elektive Mutismus durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden. 16 wie Sozialangst, Rückzug, Inkl.: Selektiver Mutismus Exkl.: Passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0) Schizophrenie (F20.-) Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.-) Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache(F80.-) Der DSM-IV beschreibt das Störungsbild wie folgt: Diagnostic criteria for 313.23 Selective Mutism / These criteria are obsolete. DSM IV - TR Diagnostic criteria for 313.23 Selective Mutism / These criteria are obsolete. DSM IV – TR / (cautionary statement) A. Consistent failure to speak in specific social situations (in which there is an expectation for speaking, e.g., at school) despite speaking in other situations. B. The disturbance interferes with educational or occupational achievement or with social communication. C. The duration of the disturbance is at least 1 month (not limited to the first month of school). D. The failure to speak is not due to a lack of knowledge of, or comfort with, the spoken language required in the social situation. E. The disturbance is not better accounted for by a Communication Disorder (e.g., Stuttering) and does not occur exclusively during the course of a Pervasive Developmental Disorder, Schizophrenia, or other Psychotic Disorder. Reprinted with permission from the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text Revision. Copyright 2000 (URL 19) Diagnostische Kriterien nach DSM-IV-313.23 Selektiver Mutismus (vgl. Hartmann 2011, Katz-Bernstein 2011) A – Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z.B. in der Schule), wobei in anderen Situationen Sprechfähigkeit besteht. B – Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation. 17 C – Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt). D – Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt. E – die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z.B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auf. (nach Saß et.al.1998, Katz-Bernstein, 2011, S. 27) Der aktuell gültige DSM-V hat einige Änderungen vorgenommen, die den selektiven Mutismus mit einschließen: „Störungen, die im DSM-IV-TR (siehe URL 32) unter dieser Überschrift subsummiert waren, finden sich im aktuellen Diagnoseinstrument im DSM-V (siehe URL 33) vorwiegend unter Entwicklungsstörungen. Einige Störungen wurden im Rahmen struktureller Veränderungen in andere Kapitel verschoben. Fütter- und Essstörungen im Säuglings- oder Kleinkindalter wurden so in das Kapitel zu Fütter- und Essstörungen integriert; die Störung mit Trennungsangst und Selektiver Mutismus in das Kapitel der Angststörungen. Die Reaktive Bindungsstörung im Säuglingsalter oder in der Frühen Kindheit findet sich innerhalb des DSM-5 in einem neu eingeführten Kapitel zu Störungen im Zusammenhang mit Traumata und Stressoren wieder. Die Störung des Sozialverhaltens und die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten fallen unter Disruptive, Impulskontroll- und Verhaltensstörungen.“ (siehe URL 27) Beide Diagnosegrundlagen, sowohl der ICD wie auch der DSM schließen jedoch eindeutig typische und den selektiven Mutismus häufig begleitende Problemfelder aus. So kann nach Hartmann eine Verbindung mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder anderen psychotischen Störungen durchaus vorliegen. Auch besteht die Möglichkeit bei einer psychotischen Störung, dass die betroffene Person z.B. eine innere Stimme wahrnimmt, die ihr das Sprechen verbietet (siehe dazu auch in Hartmann 2007, 1997). 18 Hartmann benennt auch Sprachentwicklungsstörungen (33% bis 51,9%) und Zweisprachigkeit (vgl. Hartmann 2011). Ein Auftreten mit einer Vielzahl anderer Störungen wie Essstörungen, Lernbehinderungen, Zwangs- und Angststörungen ist für den selektiven Mutismus nicht untypisch. Da die diagnostischen Leitlinien bei vielen Kriterien ein entweder oder erfordern, kann hier eine Differenzialdiagnostik durchaus erschwert werden. Dies kann zu Fehldiagnosen führen, da so z.B. eher eine soziale Phobie als ein selektiver Mutismus bzw. wenn zutreffend beide Diagnosen gestellt werden können, was u.a. auch die autobiografische Geschichte der Betroffenen Sandra Melliger in der Beschreibung ihres therapeutischen Weges aufzeigt (vgl. Melliger 2012). Um selektiven Mutismus als diesen diagnostizieren zu können, bedarf es im Rahmen der diagnostischen Leitlinien einer Anpassung an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Der ICD-10 spricht noch heute von elektivem Mutismus, was ein selbst gewähltes Schweigen bestimmten Personen gegenüber oder in bestimmten ausgewählten Situationen suggeriert. Er schließt u.a. umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache klar aus, obwohl verschiedene Studien und aktuelle Fachliteratur diesbezüglich eine Co-Morbidität aufzeigen (vgl. Punkt 3.2 CoMorbidität). Eine Verbindung des selektiven Mutismus mit einer psychotischen Störung wird genauso ausgeschlossen wie das gemeinsame Auftreten mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Während letztere Beispiele noch Forschungsbedarf aufweisen (vgl. Katz-Bernstein 2011), sind die Begriffswahl „elektiv“ sowie der Ausschluss von Sprachentwicklungsstörungen als aktuell wissenschaftlich nicht mehr haltbar und sollten dringend eine Aktualisierung an den heutigen Wissensstand erfahren. Dies würde nicht nur Ärzten eine adäquate Diagnostik erleichtern, sondern auch Betroffenen Türen zu einer kompetenten Diagnose und damit verbundenen Hilfen öffnen. Sprachliche Entwicklungsstörungen können neben vielen anderen Auffälligkeiten den selektiven Mutismus begünstigen und sich multifaktoriell auf die Entstehung und Ausprägung auswirken. Weitere mögliche Ursachen für den selektiven Mutismus werden im folgenden Kapitel dargelegt. 19 4 Die Ursachen des selektiven Mutismus Es gibt verschiedene Annahmen bezüglich der Entstehung des selektiven Mutismus, die Ursachen werden als multifaktoriell angesehen. So nennt Hartmann (bezogen auf Hartmann 2002, 2007, Schoor 2003, Bahr 2006, Scheib 2007 und Katz-Bernstein 2011) dispositionelle Vorbelastungen in den Familien, Entwicklungsstörungen die vor, während oder nach der Geburt auftreten können, psychiatrische Grunderkrankungen, konfliktneurotischem oder Problemlösungsmechanismen stresstheoretischem Sinne, in lerntheoretische Konditionierungsprozesse sowie milieutheoretische Einflüsse (vgl. Hartmann, 2011). Auch teilt Hartmann die Ursachen in unterschiedliche Erklärungsmodelle auf: wie z.B. den psychologischen, organischen und den genetischen Bereich. Eine Hyperkonzentration von Serotonin und eine Hyperreaktion der Amygdala wurden in den letzten Jahren als Ursache herausgearbeitet (vgl. Hartmann/Lange, 2013). Katz-Bernstein erweitert dies um das Schweigen infolge von Mehrsprachigkeit und um einen entwicklungspsychologischen Aspekt, der für den Aufbau von Bindung und Vertrautheit unerlässlich ist: eine fehlende kommunikative sowie sprachliche Kompetenz des betroffenen Kindes. Der hierdurch erschwerte Übergang von „fremd“ zu „vertraut“ verhindert soziale Lernprozesse (KatzBernstein 2011). Ein Kind, welches unter starkem Stress steht, weil es z.B. Ängste hat, was aus der Bindungstheorie (vgl. Ainsworth 1969, Fremde Situation zitiert in Ahnert 2011) bekannt ist, kann nicht ausreichend explorieren und sich die Umwelt deshalb weniger begreiflich machen. Es macht dadurch weniger Erfahrungen und verarbeitet weniger entwicklungsfördernde Reize. Ein selektiv mutistisches Kind nutzt nicht nur weniger die Sprache, es ist auch im Sozialkontakt erheblich eingeschränkt und erlebt in hohem Maße dauerhaft Stress. Durch fehlende Kommunikation, die zum Aufbau von Beziehungen unerlässlich ist, können Erfahrungswelten nur extrem eingeschränkt erlebt werden. Es fehlen dem Kind so auch „die attraktiven Kontakte zu Lehrpersonen und Peer-Gruppen, die die Autorität und die phantasierte Macht und Größe der Eltern zu relativieren vermögen und zur Ablösung von ihnen verhelfen“ (KatzBernstein, 2001, S.37). Der eigenständige, als selbstwirksam gegangen erlebte Weg „in die Welt“ bleibt dem selektiv mutistischen Kind so weitgehend versperrt. Weder ein starkes Selbstvertrauen, noch das Vertrauen zu anderen lassen sich so aufbauen. Immer wieder gescheiterte 20 Kontaktversuche können zur Vermeidung führen und so zur Aufrechterhaltung des Schweigens beitragen. Hinzu kommt, dass eine familiäre Häufung dieser mangelnden kommunikativen Fähigkeit zu verzeichnen ist. Auch weitere genetische Faktoren werden in Betracht gezogen, so konnte in einer Metaanalyse aus Studien von mehreren tausend Zwillingen von Hettema/Neale/Kendler (the major source of familial risk is genetic, 2001) aufgezeigt werden, dass diese bei Angststörungen eine erhebliche Rolle spielen. Hettema/Nele/Kendler postulieren eine genetische Häufung dieser Störung. Demzufolge liegt die Erblichkeit bei Verwandten ersten Grades bei einer Phobie bei 52,3%, bei einer Panikstörung bei 47,8%, bei einer generalisierten Angststörung bei 31,6% und bei einer Zwangsstörung bei 25,1% (vgl. Hartmann, 2011, S. 10). Wedekind/Bandelow (2007, zietiert in Hartmann 2011)) zeigen Pathomechanismen bei Angststörungen auf, die sie zum Teil auch als Anhalt für geschlechtsspezifische Unterschiede sehen (kursiv gedruckt in Tabelle 2). Tabelle 2: Pathomechanismen bei Angststörungen (Wedekind/Bandelow 2007 in Hartmann 2011, S. 10) Entwicklungsbedingt : Neurobiologische Faktoren: Aktuelle Faktoren: Bindungstheorie, psychodynamische Konzepte, lerntheoretische Konzepte, Traumata Genetik, Neurotransmitter-Theorien, Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden (HPA)-Achse, GammaAmino-Buttersäure (GABA)-rezeptoren, Kohlendioxid (CO2)-Hypersensivität, Neurokinine Aktivität limbischer Strukturen Life-Events, komorbide Störungen Hartmann sieht eine genetische Grundlage für Ängste auch als Erklärung dafür, dass Eltern selektiv mutistischer Kinder diese von klein an ängstlich und defensiv wahrnehmen. Er sieht hier die Notwendigkeit einer gezielten, besonderen Aufmerksamkeit gerichtet auf die folgenden Früherkennungsmerkmale, die schon in der Krabbelgruppe beobachtet werden können (Hartmann 2011, S. 12): geringes bis fehlendes Explorationsverhalten des Kindes permanente Positionierung in der Nähe bzw. auf dem Schoß der Mutter 21 keine verbalkommunikative oder körpersprachliche Kontaktaufnahme zu anderen Krabbelkindern Selbstisolierung konstantes Fremdeln, selbst bei Erwachsenen Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass im letzten Punkt „konstantes Fremdeln, selbst bei Erwachsenen“ dieses Erwachsenenalter hinein beobachtbar ist. Verhalten bis in das Hartmann beschreibt auch, dass „wenig Drang zur körperlichen Bewegung, Einschlafstörungen, Launenhaftigkeit, Wutanfälle, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es wollen, sowie regelrechte Weinanfälle“ bei betroffenen Kindern beobachtet werden konnte (siehe URL 38). Eine weitere Erklärung von Hartmann ist das Diathese-Stress-Modell bei Mutismus. Diathese beschreibt die Neigung eines Menschen, bestimmte Krankheiten bzw. Störungsbilder zu entwickeln. Den selektiven Mutismus erklärt Hartmann am Diathese-Stress-Modell wie folgt: „Das Schweigen läßt sich nach diesem Ansatz als Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen und Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen interaktionalen Geschehnissen interpretieren. Die Prädisposition liefert hierfür der konstitutionelle Hintergrund.“ (Hartmann 1997, S. 101). Es geht hier um die primäre Einschätzung einer Situation in Verbindung mit den bisher erfahrenen Anforderungen in dieser, gekoppelt mit der sekundären Einschätzung der eigenen Ressourcen. Dadurch kann die Situation als eine so große Bedrohung erlebt werden, dass ein Vermeidungsverhalten (hier Mutismus) die einzige Copingstrategie der betroffenen Person ist (ebd.). Die hier fehlende erlebte Selbstwirksamkeit und nicht erfahrene Kontrolle einer angstauslösenden Situation verhindern so ein sich positiv und kräftig entwickelndes Selbstbewusstsein sowie das Vertrauen in sich selbst, Probleme meistern zu können. 22 Abbildung 2: Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell (Hartmann 1997, S. 103) Die Bewertung der Situation von außen spielt für das Kind insofern eine wichtige Rolle, wie es Bewertungsmaßstäbe Erwachsener übernimmt und sich mit deren Hilfe ein Bild von sich selbst aufbaut. Deutlich wird hier die Rolle Erwachsener, ob Angehörige oder Fachkräfte, die bei adäquatem Umgang und dem Wissen um dieses Störungsbild sehr früh auf die Entwicklung desselben Einfluss nehmen. Eine weitere Ursache, die z.B. für Symptome wie Ängste, Erstarren, oder das „nicht sprechen können“ gesehen wird ist das Persistieren von frühkindlichen Reflexen. So gehen einige Autoren davon aus, dass z.B. der Moro-Reflex, wenn er nicht integriert wurde, mit verantwortlich sein kann für eine gesteigerte Wahrnehmungsempfindung. "Wird der Moro-Reflex nicht rechtzeitig integriert, bleibt das Kind im sensorischen Bereich (taktil, vestibulär, auditiv, visuell, olfaktorisch) überempfindlich. Gesteigerte Wahrnehmungsempfindung wird von Stresshormonen (hoher Adrenalin-und Cortison-Spiegel) begleitet und belastet das Kind erheblich“ (Beigel, 2003, S. 88). Auch hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf, um Zusammenhänge nachweisbar aufzuzeigen. Abschließend wird heute ausgegangen von einer multifaktoriellen Verursachung, von der Diathese über lern- und milieutheoretischen Ansätze bis hin zu organischen und genetischen Faktoren. Beschränken wir uns auf die Beschreibung der des Störungsbildes im ICD-10 sind wir auch in Ursachenforschung eingeschränkter, da es sich hier um ein Ausschlussverfahren 23 handelt, welches Entwicklungsstörung, Begleiterscheinungen Schizophrenie wie sowie eine eine tiefgreifende umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache von vornherein ausgrenzt. Aber gerade sprachliche Entwicklungsstörungen begleiten und begünstigen den selektiven Mutismus oft, wie in den vorangegangenen Kapiteln offensichtlich wurde. Dies kann eine adäquate Diagnostik erschweren oder sogar verhindern. 5 Diagnostik Um selektiven Mutismus diagnostizieren zu können, braucht es bestimmte Rahmenbedingungen, in denen Fachkräfte und Betroffene handeln können. Im Folgenden wird dargelegt, welche Voraussetzungen eine korrekte Diagnostik benötigt und was bei einer kompetenten Diagnostik beachtet werden muss. 5.1 Voraussetzungen für eine korrekte Diagnostik Die diagnostischen Leitlinien geben zunächst den Rahmen vor, in dem diagnostiziert werden kann. Sie sind die Tür zu einer kompetenten Diagnose und der darauf folgend möglichen von einer Krankenasse bezahlten adäquaten Therapie. Da die Kriterien im ICD - 10 nicht dem aktuellen Wissen zu diesem Störungsbild entsprechen, benötigen wir hier eine weitere Grundvoraussetzung für eine kompetente Diagnostik: eine um den Sachverhalt wissende Fachkraft, die sich mit der Thematik des selektiven Mutismus sehr gut auskennt. Dies bedeutet, dass für die betroffenen Familien Ansprechpartner zur Verfügung stehen müssen, die sich zum einen mit dieser speziellen Thematik auskennen und sich mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen und zum anderen für die Betroffenen sichtbar und greifbar sein sollten. Hiermit ist gemeint, dass sie dort, wo sie ohnehin Hilfe suchen, Kompetenz finden müssen: bei Pädagogen, Ärzten und Therapeuten, denn genau dorthin gehen in der Regel erste Hilfegesuche. Nur diese Personen können die Betroffenen und ihre Familien aufklären, ihnen die nötigen Informationen geben und dann gezielt an Fachkräfte vermitteln, die sich auf diese Thematik spezialisiert haben. Eine geschulte und gut beobachtende Erzieherin könnte in vielen Fällen der Schlüssel zu einer Früherkennung dieses Störungsbildes sein, indem sie ihre Beobachtungen und ihr Wissen den Eltern mitteilt und sie ggf. an adäquate 24 Kinderärzte, Therapeuten und Selbsthilfegruppen vermittelt. Die Universität Dortmund entwickelt derzeit in Anknüpfung an eine aktuelle Studie zur Betroffenheit von Kindern mit selektivem Mutismus in NRW ein Screening zur Früherkennung, welches Kindergärten und Schulen zur Verfügung gestellt werden soll. Eine Kurzfassung mit knapp 20 Items befindet sich in der Evaluierungsphase (Starke, Subollek, Käppler siehe URL 13). Mit Hilfe eines Screenings ist es möglich, Kinder mit bestimmten Verhaltensmerkmalen aus einer Gruppe herauszufiltern. Dies garantiert in der Regel zwar nicht, dass das Kind in seiner Besonderheit immer erkannt wird, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit. Die spezifischen Fragen, die ein Screening zu einer bestimmten Thematik aufweist, können pädagogische Fachkräfte sensibilisieren und ihren Blick auf die Kinder schulen. Wichtig ist und bleibt jedoch ein aktuelles und breites Fachwissen auf Seiten aller Fachkräfte. Davon hängt ab, was und wie beobachtet wird und warum. Ein Screening kann hier eine große Hilfestellung bieten um gezielt zu einer bestimmten Thematik Daten zu erheben. Es bietet die Möglichkeit, sich mit der Thematik intensiver auseinander zu setzen. Eine weitere Möglichkeit bietet ein interdisziplinäres Team, was in Kinderbetreuungseinrichtungen ebenso denkbar ist wie in Schulen. Zusätzliche Beratung und Information kann in jedem Fall von spezialisierten Fachkräften eingeholt werden. In jedem Fall ist jedoch ein Grundwissen zum selektiven Mutismus notwendig, damit das Störungsbild erkannt werden kann. 5.2 Was ist bei der Diagnostik zu beachten? Die Diagnosekriterien des ICD-10 schließen, wie schon aufgezeigt, einige Kriterien aus. So wird z.B. eine Abgrenzung zum Autismus vorgenommen, auch wenn, wie schon erwähnt, inzwischen Mischformen angenommen werden. Ein autistisches Kind zeigt keine so großen Verhaltensunterschiede in verschiedenen Umfeldern, während ein selektiv mutistisches Kind ein komplett anderes Verhalten in einem vertrauten als in einem nicht vertrauten Umfeld zeigt. Auch haben selektiv mutistische Kinder in der Regel gute sprachliche Fähigkeiten, welche sie im vertrauten Umfeld einsetzen. Autistische Kinder haben es bedeutend schwerer, diese zu erwerben, was vor allem auch die Schriftsprache betrifft (vgl. Buß 2005, S. 47). Buß bezieht sich auch darauf, dass Mutismus 25 seelische Ursachen habe und Autismus vererbt sei (ebd.). Wird der selektive Mutismus aber nicht nur als Kommunikationsstörung, sondern auch als Angststörung betrachtet, und zieht man inzwischen vorhandene aktuelle Studien in Betracht, ist auch beim Mutismus ein erblicher Faktor nicht auszuschließen (vgl. Punkt 3 und Hartmann 2011, S. 10). Hartmann bezieht sich bei der Abgrenzung der beiden Störungsbilder auf die Konstanz des Verhaltens bei autistischen Kindern, auf ihre Emotionalität, welche er als unterkühlt beschreibt und auf die unterschiedlich verlaufende Sprachentwicklung beider Gruppen (vgl. URL 10). Um genau zu differenzieren sind verschiedene Kriterien wichtig, die eine gezielte Beobachtung des Kindes in seinem Umfeld notwendig machen. Die Kommunikations- und Interaktionsgewohnheiten müssen genau betrachtet werden, damit z.B. am Ende nicht nur ein „schüchternes Kind“ begutachtet wird, welches „nur Zeit braucht“ (vgl. Interview mit Ina, der Mutter von Max, 9.1.5 ). Da eine hohe Co-Morbidität besteht, ist es durchaus möglich und sogar die Regel, dass weitere Auffälligkeiten auftreten. Treten diese auf, sollte die Möglichkeit, dass selektiver Mutismus vorliegt, nicht außer Acht gelassen werden. Dazu kommt, dass es durchaus sein kann, dass ein Kind mit anderen Kindern spricht, nicht aber mit Erwachsenen. Oder es spricht nur mit ein oder zwei Kindern und wird dadurch nicht für diese Diagnose in Betracht gezogen. Sarah (siehe Sarah, 9.1.8) sprach zum Beispiel vor allem nicht in Anwesenheit von Jungen. Mit Erwachsenen sprach sie kaum und wenn, dann so leise, dass sie nicht zu verstehen war. Auch sie ist selektiv mutistisch. Fließend scheint auch die Abgrenzung zu sein zwischen Sprechangst und Mutismus, auch hier heißt es, differenziert abzugrenzen. Ausprägung, Art, Begleitsymptome, Schweregrad und Komplexität des selektiven Mutismus können sehr unterschiedlich ausfallen (vgl. Katz-Bernstein 2011, S. 212). Eine differenzierte Diagnostik, die die Diagnosekriterien des ICD10 beachtet ohne die Co-Morbidität aus dem Blick zu verlieren, ist die Voraussetzung für die Überleitung zu einer adäquaten Therapie. 26 6 Überleitung zur Therapie Um eine für das Kind und seine Familie passende Therapie zu finden, ist es zunächst wichtig, eine Ursachenklärung vorzunehmen. Sind sprachliche Entwicklungsverzögerungen oder Sprachstörungen vorhanden und als ein das Schweigen unterstützender Faktor zu vermuten, eignet sich oft eine Sprachtherapie (Logopädie). Sind familiäre Probleme bekannt, besteht ein Trauma oder auch eine ausgeprägte Angststörung, ist das Hinzuziehen eines Kinder- und Jugendpsychologen und/oder eines Psychotherapeuten angeraten. Empfohlen wird eine interdisziplinäre Herangehensweise, die dem Kind und seinem Umfeld in der Regel gerechter werden kann als die Bemühungen einzelner Personen (vgl. Katz-Bernstein, 2011). Ausschlaggebend ist häufig, ob ein Kontakt angebahnt werden kann und ob das Kind sich auf eine Ansprache einlässt (ebd.). Die therapeutischen Herangehensweisen können sehr unterschiedlich sein und je nach dem Wesen des Kindes und der Einstellung der Eltern unterschiedlich angenommen werden. Mit ausschlaggebend für die Wahl der Therapie ist es, welche Bedeutung die Störung für die Betroffenen und ihr Umfeld hat. 7 Bedeutung für die Betroffenen und ihr Umfeld Selektiver Mutismus ist kein klar eingrenzbares Störungsbild, bei dem einige Symptome auftreten, die schnell behandelbar sind. Selektiver Mutismus tritt häufig mit vielen anderen Symptomen und Störungsbildern zusammen auf. Er wirkt sich (vor allem unerkannt und unbehandelt) intensiv und nachhaltig, weitere Störungen nach sich ziehend, auf die Betroffenen und ihr Umfeld aus. Kommunikation ist ein Bindeglied zwischen Menschen. Störungen der Kommunikation beeinflussen Beziehungen und die Rollen, die wir in diesen einnehmen. Auch das Schweigen und eine nonverbal ablehnend wirkende Haltung sind eine Form von Kommunikation. Die Wirkung und der Umgang damit sind herausfordernde Aufgaben für die Betroffenen und ihr Umfeld, welche schnell zu Überforderung verbunden mit Wut, Resignation und entsprechenden Reaktionen führen können. Kommunikation bezieht sich nicht nur auf einen Austausch von Inhalten, sie geht einher mit Beziehungsgestaltung und aneinander gerichtete Appelle. Watzlawick (1996, siehe URL 35) verdeutlichte 27 einen wichtigen Aspekt der Kommunikation mit seinem berühmten Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Unter diesem Aspekt kann ein Schweigen eine besondere Form der Kommunikation darstellen und verschiedenste Reaktionen auslösen. Im Folgenden wird dargelegt, auf welche Bereiche sich der selektive Mutismus u.a. auswirken kann. Neben den Belastungen und möglicher Bewältigung wird auf bildungs-, berufs- und körperbiografische Folgen eingegangen. Auch die Belastungen des Umfeldes werden aufgegriffen. Die gewählten Beispiele stellen nicht den Anspruch an Vollständigkeit sondern zeigen einige wichtige Lebensbereiche und mögliche Folgen der Störung auf diese auf. Sie sollen veranschaulichen, wie umfassend und nachhaltig diese Störung sich auf Betroffene und ihr Umfeld auswirkt, wenn sie nicht erkannt oder nicht richtig behandelt wurde. 7.1 Belastung und Bewältigungsform der Betroffenen Erfahrungsberichte und die Interviews zeigen deutlich auf, wie extrem belastend selektiver Mutismus für Betroffene sein kann. Da Betroffene über sich selbst diese Auskunft in der Regel nicht geben können, ist es schwer, herauszufinden, in welcher Form sie besonders belastet sind. Viele zusätzliche Symptome wurden benannt unter Punkt 3.2(Co-Morbidität). Das Interview von Emi (siehe 9.1.6) zeigt deutlich auf, welchem dauerhaften emotionalen Druck die Betroffene über viele Jahre ausgeliefert war. Erst dadurch, dass sie sich aus der Situation befreien und selbst die Störung bewältigen konnte, ist sie in der Lage, dies verbal auszudrücken. Neben einer Selbstwertproblematik, fehlender Selbstwirksamkeit und einem damit einhergehenden geringen Selbstvertrauen schüttet ein Körper, der unter großer emotionaler Anspannung steht, ein großes Maß an Stresshormonen aus. Dies kann sich auf verschiedene körperliche Funktionen auswirken, wie z.B. das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem. Auch wird eine nachhaltige Schädigung auf Nervenzell-Strukturen des Gehirns aufgezeigt (vgl. Bauer, 2004). Viele Betroffene bewältigen ihre Belastung mit Rückzug und Vermeidungsverhalten, was uns durch den Betroffenen Max (siehe 9.1.4) deutlich wird, aber auch Fallbeschreibungen im Internet oder in der Fachliteratur zeigen dies auf (z.B. Melliger, 2012). Wird diesem Bewältigungsverhalten nichts 28 entgegensetzt und werden keine Lösungsmöglichkeiten gefunden, besteht die Gefahr einer Manifestation des selektiven Mutismus und somit eines spracharmen Lebens mit wenigen sozialen Kontakten. Dies bedeutet einen Ausschluss aus der Gesellschaft in vielen und wichtigen Bereichen. 7.2 Belastung, Verständnisschwierigkeiten und Bewältigungsform für das Umfeld In verschiedenen Erfahrungsberichten und den Interviews in dieser Arbeit kommen eine Belastung und häufig ein Unverständnis des Umfeldes zum Ausdruck. In der Regel fühlen sich Kontaktpersonen überfordert und vermeiden sogar den Kontakt, wenn sie Umgang mit einem selektiv mutistischen Menschen haben. Nicht angeschaut zu werden, keine Antwort von jemandem zu erhalten und das über einen langen Zeitraum, kann eine große Hilflosigkeit auslösen und zur Ablehnung der betroffenen Person führen (vgl. z.B. Bahr 1998, Dobslaff 2005). Die Bewältigungsformen des Umfeldes können sehr unterschiedlich sein, von einer Hinzuziehung fachlicher Berater bis hin zur feindseligen Begegnung dem betroffenen Kinde gegenüber (siehe Sarah, 9.1.8, und Emi 9.1.6). Einen großen Einfluss auf den Umgang mit der Betroffenheit dürfte das Wissen um das Störungsbild sowie eine vorhandene fachliche Hilfe haben. Dobslaff zeigt auf, dass das Unverständnis für und ein Fehlverhalten gegenüber selektiv mutistischen Kindern abgebaut werden konnten, wenn die Kontaktpersonen fachlich aufgeklärt, beraten und gleichzeitig in ihren eigenen Potentialen im Umgang mit den Betroffenen gestärkt wurden (Dobslaff, 2005). Befragte Eltern berichteten von einer großen Hilflosigkeit und teilweise zunehmender Unsicherheit, ob sie in ihrer Erziehung Fehler gemacht haben. Ihren Kindern helfen zu wollen und überhaupt nicht zu wissen wie, stellte für sie ein unlösbares Problem dar. Zusätzlich fühlten sie sich permanent unter Druck gesetzt durch ihr weiteres Umfeld: von Nachbarn, Verwandten und Lehrern. So machten auch sie und nicht nur ihre Kinder eine Ausgrenzungserfahrung (vgl. 9.1.5, 9.1.7und 9.1.9). Welche Zweifel und Unsicherheiten eine nicht gelungene Kommunikation mit einem Kind und dessen scheinbar unmögliche Integration in das Gruppengeschehen bei Erzieherinnen und Lehrkräften wecken können, ist vorstellbar. Ohne das Wissen um dieses Störungsbild und therapeutische Hilfe 29 kann eine Fachkraft zwischen ihrem Anspruch und der aktuellen Lage schnell verzweifeln und resignieren. Das Gefühl, persönlich abgelehnt zu sein, zieht nicht selten eine eigene Ablehnung der scheinbar ablehnenden Person und damit des Kindes nach sich. 7.3 Symptome, Folgeerscheinungen und Einfluss auf die weitere Biografie Kommt ein Kind mit einem sogenannten schwierigen Temperament zur Welt (z.B. einer niedrigen Anpassungsfähigkeit oder einer sozialen Gehemmtheit), erfüllt es bereits einen Risikofaktor bezüglich der Ausprägung einer geringeren Resilienz. Diese Kinder „sind auch in größerer Gefahr, zur Zielscheibe negativer, feindseliger Gefühle und kritisierenden, bestrafenden Erziehungsverhaltens zu werden“ ... „Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, psychische Beeinträchtigungen zu entwickeln.“ ... „Sie können relativ schnell in einen ‚Teufelskreis‘ sich gegenseitig bedingender, negativer Reaktionen geraten.“ (Wustmann 2011, S. 96) Diese Kinder zeigten auch signifikant seltener sichere Bindungen zu ihren Müttern. Entscheidender als die Temperamentsmerkmale selbst seien aber die Folgen negativer Reaktionen auf der Erzieherseite, da es zwischen dem Temperament des Kindes und des Erziehungsverhaltens mit den vorhandenen Erziehungskompetenzen der erwachsenen Person zu einem Wechselwirkungsprozess kommt (ebd.). Fühlt sich ein Kind nicht sicher gebunden und erlebt es den „sicheren Hafen“ nicht als Ausgangspunkt für eine sorglose Exploration, bleibt es in seinem Bewegungsausmaß, seinen Bewegungserfahrungen, Sinneserfahrungen und auch im Erlernen von sozialen Interaktionen unerfahrener als andere Kinder. Es kann die fehlenden Erfahrungen nicht nutzen und in sein Sinnessystem integrieren, um dieses immer mehr auf Handlungs- und Erfahrungswissen aufzubauen. Stressmuster, zum Beispiel bei einem Betreuungsbeginn, können sich äußern in Schlafstörungen, chronischen Infektionen und Appetitmangel (vgl. Ahnert, 2011). Fehlt einem Kind zum einen die Fähigkeit zur Selbstregulation und zum anderen die Bezugsperson als sicherer Hafen, bleibt der Stresspegel in vielen Situationen dauerhaft angehoben. Dies macht den Teufelskreis deutlich, in den es gerät, weil 30 es nun aus dem hohen Stresspotential heraus wiederum kaum oder gar nicht exploriert. Alle gemachten Erfahrungen werden von unserem Gehirn gespeichert. Häufig gemachte Erfahrungen sind in der Regel präsenter und dienen als Grundlage für die Herausbildung von Bewertungs- Denk- und Handlungsmustern. 7.3.1 Mögliche bildungsbiografische Folgen Werden Kinder mit einem gehemmten Temperament geboren und haben eine niedrige Erregungsschwelle, benötigen sie in Situationen, die sie verunsichern oder irritieren, besonders ihre primäre Bezugsperson, um von dieser emotional reguliert werden zu können (vgl. Jungmann 2012, Hartmann 1997, Bahr 1998). Kann diese dem Kind nicht die nötige Sicherheit geben, was z.B. durch mangelnde Feinfühligkeit wie auch durch Überbehütung geschehen kann, erleben gerade diese Kinder häufiger und schneller Überforderung, fehlende Selbstwirksamkeit und Unsicherheit als andere Kinder (vgl. Jungmann, 2012). Das sich auf diese Erfahrungen aufbauende Bild von sich selbst begleitet das Kind auf seinem Weg zum erwachsenen Menschen. Übernehmen nun andere (z.B. die Mutter, Freunde) anstatt des Kindes die Kommunikation, entsteht zum einen keine Notwendigkeit für das Kind zum Sprechen und zum anderen wird es die so notwendigen sozialen und emotionalen Erfahrungen, die an Kommunikation gekoppelt sind, kaum herstellen und im späteren Leben auch nicht ausreichend anwenden können. Dies wird in der Regel mit dem Übergang in die Schule, wo Sprache auch als Leistung abverlangt wird, besonders deutlich. Für den selektiven Mutismus gibt es keine Formen des Ausgleiches an Schulen. Ein Nachteilsausgleich, so wie es ihn zum Beispiel für Kinder mit Legasthenie gibt, ist für selektiv mutistische Kinder nicht vorgesehen (§126, SGB IX). Wenn ein Kind nicht in der Lage ist, sich mündlich zu äußern, kann es dafür mit einer Sechs benotet werden (siehe Emi, 9.1.6). Ein Abitur kann ohne mündliche Prüfungen nicht erreicht werden. Ein Bildungsweg entsprechend den eigenen Fähigkeiten ist einem selektiv mutistischen Kind, wenn es seine Blockaden nicht überwindet, somit nicht möglich. Auch lernt das Kind, dass es eine Situation nicht selbst bewältigen kann. Es baut so ein negatives Selbstbild auf, welches neue und positive Erfahrungen nicht unterstützt. 31 7.3.2 Mögliche berufsbiografische Folgen Vor allem, wenn sich selektiver Mutismus manifestiert, führt er in der Regel zur Isolation (siehe Max, Punkt 9.1.4, Melliger 2012). Soziale Fähigkeiten, an kommunikative Kompetenzen und ein Erfahrungswissen diesbezüglich gekoppelt, sind eine Grundvoraussetzung, um in unsere Gesellschaft integriert zu sein und sich auch später einmal im Arbeitsalltag behaupten zu können. Es beginnt mit Bewerbungsgesprächen und endet mit einem Mindestmaß an notwendiger Kommunikation, um zumindest organisatorisch den Arbeitsalltag regeln zu können. Ein erwachsener Mensch, der auf Fragen nicht antwortet, wird schnell als unhöflich angesehen und abgelehnt. Häufig wird es schwierig, eine Ausbildung zu beginnen, da die Hürden zu groß sind, neue Kontakte zu knüpfen und die Anforderungen für diesen Neubeginn zu erfüllen (vgl. z.B. Melliger 2012, Max 9.1.4). Übrig bleibt für diese Menschen häufig nur die Abhängigkeit vom Sozialsystem in der Form Hartz IV. 7.3.3 Mögliche körperbiografische Folgen Was geschieht bei erlebtem Stress in unserem Körper? Wie ordnet unser Gehirn Erlebtes ein? Welchen Einfluss hat Stress auf Gene? Ein Modell des Zusammenspiels von Genen und seiner Umwelt beschreibt der Mediziner Joachim Bauer, aktuell Professor und Oberarzt für Psychosomatische Medizin, der auch in der molekularbiologischen Forschung tätig war, in seinem Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ sehr verständlich (Bauer, 2011). Bauer zeigt auf, wie Stress sich auf den menschlichen Körper, vor allem auf unser Gehirn auswirken kann. Während das menschliche Gehirn den Alltag mit all seinen neuen Signalen, neuen Situationen und zwischenmenschlichen Ereignissen permanent neu bewertet, greift es dabei auf bereits gemachte, alte Erfahrungen zurück. Stellt unser Gehirn nun aufgrund seiner – von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägten - Bewertungssysteme eine Gefahrensituation fest, geschieht folgendes: Der aktivierte Hypothalamus schaltet das Stressgen CRH an. Die Hypophyse wird ebenfalls aktiviert und schüttet den Botenstoff ACTH aus, der wiederum das Stresshormon Cortisol freisetzt. 32 Ein weiteres Alarmsystem befindet sich im Hirnstamm, in dem ebenfalls Gene aktiviert werden und den Botenstoff Noadrenalin freisetzen, welcher Puls, Kreislauf, Blutdruck und Atem alarmiert. Da individuelle Erfahrungen in Nervenzellen-Netzwerken des Großhirns und des limbischen Systems gespeichert werden, bilden diese eine Grundlage zur Bewertung neuer Situationen und auch der sich emotional entwickelnden Persönlichkeit. Die Mischung aus gelungenen Problemlösungen, Niederlagen, erlebter Hilflosigkeit, Einsamkeit sowie Schmerz und Angst hinterlassen in unserem Gehirn Spuren. Aversive Erfahrungen prägen sich besonders intensiv ein und werden im Mandelkern gespeichert. Diese Erfahrungen addieren sich zu Gedächtnisinhalten in den Nervenzell-Netzwerken und beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen z.B. insofern, ob er eher zuversichtlich und vertrauensvoll oder eher ängstlich und resignierend in seinem Denken, Fühlen und Verhalten sein wird. „ Die so entstandenen Interpretationsund Handlungsmuster sind ein wichtiger Faktor, wenn neue Situationen zu bewerten sind“ (Bauer, 2011, S. 40). In Gefahrensituationen aktivierte Nervenzellen wollen sich erhalten. Sie schalten nicht nur bestimmte Gene an, sie sorgen damit auch für die Herstellung von Proteinen, die diese Nervenzellen wachsen lassen und sie verstärken. Die so entstandenen „Alarmsender“ werden damit immer weiter stabilisiert. Andere Nervenzell-Netzwerke, welche z.B. darauf spezialisiert sind, Chancen und Bewältigungsmöglichkeiten einer Situation zu erkennen, können dadurch ins „Hintertreffen“ geraten und sind somit weniger nutzbar, denn: Während viel genutzte Synapsen ihre Struktur verstärken, lösen sich nicht genutzte auf. Um diese Entwicklung aufzuhalten oder sogar rückgängig zu machen ist nach Bauer Psychotherapie von Nutzen (vgl. Bauer 2011, S. 44). So basieren Wahrnehmungen und Vorstellungen auf synaptischen Verschaltungen. „Einer bestimmten subjektiven Wahrnehmung oder Vorstellung entspricht jeweils ein spezifisch abgebildetes Verschaltungsmuster zwischen Nervenzellen.“ (Bauer 2011, S. 54) Die dann im limbischen System gespeicherten Verbindungen zwischen äußeren Situationen und innerem Körpererleben erklären „warum bei manchen Menschen bestimmte äußere Situationen eine schlagartige Veränderung des körperlichen Befindens zur Folge haben können“ (Bauer 2011, S. 55). 33 Solche schlagartigen Veränderungen finden wir beim selektiven Mutismus wieder. Auch die Auswirkung auf die Wahrnehmung und physiologische Vorgänge wie vor allem den Atem lassen sich in den Beschreibungen von Emi, die ihre Störung weitestgehend und aus eigener Kraft überwunden hat, wiederfinden (siehe Punkt 9.1.6). Weitere Faktoren macht Bauer am Beispiel der Depression deutlich und zeigt auf, wie Lebenserfahrungen nicht nur das seelische Befinden, sondern auch die Aktivität von Genen massiv „verstellen“ und so körperliche Abläufe verändern können (vgl. Bauer 2011, S. 81 ff.) Er beschreibt das Gefühl der Wertlosigkeit als Kern und Ausgangspunkt der Depression, welche mit innerer Unruhe, Überforderungsgefühlen, Unternehmungsunlust und Appetitlosigkeit einhergeht. Gefühle von Nichtgenügen und Schuld gehen einher mit einer zunehmenden inneren Leere, dabei können Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis stark nachlassen. Auch Schlafstörungen in Form von langem Wachliegen mit ängstlichen, sich sorgenden Gedanken sind ein typisches Symptom. Die gesamte Leistungsfähigkeit verringert sich erheblich (ebd.). Beziehungen leiden qualitativ und quantitativ zunehmend, wobei Beziehungen aber als ein wichtiger Schutzfaktor gegenüber der Aktivierung von Stressgenen zu sehen sind (vgl. Bauer 2011, S. 85, 86). Dazu kommt, dass eine einmal erlebte Depression, die nicht behandelt wurde, bei vielen Menschen weitere depressive Phasen oder Depressionen nach sich zieht. Einmal verankert, benötigt sie in Zukunft weit geringere bis gar keine erkennbaren Auslöser mehr, um sich zu aktivieren (ebd.). Es bestehen durchaus Parallelen zwischen den Symptomen, die z.B. die Betroffene Emi (siehe 9.1.6) und auch weitere Fallbeschreibungen in der Fachliteratur aufzeigen. Die Mutter von Max beschreibt u.a. eine bedrohliche Gewichtsabnahme bei Max in einer Zeit, in der es ihm besonders schlecht ging (vgl. 9.1.5). Emi, die durch die Bewältigung des selektiven Mutismus in der Lage ist, ihre Vergangenheit diesbezüglich zu rekonstruieren und mitzuteilen, zeigte mehrere Symptome auf. Diese Symptome waren unter anderem das Gefühl, nicht atmen zu können, nicht essen zu können und lange wach zu liegen, weil sie Angst vor dem nächsten Tag hatte. Weiterhin zeigte sie auch einen Wahrnehmungsverlust in Situationen, in denen sie z.B. von Lehrern angesprochen wurde. Die hier gesammelten negativen Erfahrungen legten ihre gesamte Bewertungs- und Handlungsfähigkeit lahm und sie reagierte immer 34 wieder in den gleichen Mustern. Erst in einem neuen, von diesen Erfahrungen nicht geprägten Umfeld, kann sie dieses Muster durchbrechen. Die in diesem Kapitel dargelegten Sachverhalte zeigen nicht nur eine biologische Beteiligung unserer Bewertungs- und Handlungsmuster in neuen Situationen, sondern im Zusammenhang mit unserer gesamten Entwicklung auch die Wichtigkeit von positiven Erfahrungen, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl auf. Auch im Fall des selektiven Mutismus macht es deutlich, wie wichtig deshalb frühe und professionelle Hilfen sind. Haben sich erst einmal NervenzellNetzwerke gebildet, die von Versagen, Misserfolg und Hilflosigkeit geprägt sind, werden die Chancen auf positive Erfahrungen immer geringer. Positive Veränderungen sind somit schwerer zu erreichen. Zusätzlich wächst die Gefahr, dass sich weitere psychische Störungen, die auf solchen Erfahrungen basieren, herausbilden. Welche Möglichkeiten derzeit therapeutisch zur Verfügung stehen, zeigt folgendes Kapitel auf. 8 Therapeutische Möglichkeiten in der Praxis Es gibt verschiedene therapeutische Möglichkeiten bei der Diagnose „selektiver Mutismus“. Geeignet können sein psychotherapeutische, familientherapeutische, spieltherapeutische sowie sprachheilpädagogische und logopädische Interventionen. Auch medikamentös wird zum Teil gearbeitet. Speziell für selektiven Mutismus wurden in den letzten Jahren verschiedene Therapieformen erarbeitet: die KoMut (kooperative Mutismustherapie), die DortMut (Dortmunder Mutismustherapie) und die SyMut (systemische Mutismustherapie) sind bekannte Therapieformen für dieses Störungsbild. Sie haben gemeinsam zum Ziel, selektiv mutistischen Menschen dazu zu verhelfen, nicht nur wieder zu sprechen sondern auch Selbstvertrauen aufzubauen und positive Erfahrungen mit sich selbst zu machen. Trotzdem sind die Herangehensweisen und Grundhaltungen zum Teil recht unterschiedlich: so unterschiedlich, dass die verschiedenen Gruppen leider nicht miteinander kooperieren und in einigen Punkten fachlich konträrer Meinungen sind. Die SyMut basiert auf dem Diathese-Stress-Modell und beinhaltet eine 8-StufenDiagnostik. Sie bezieht das Umfeld mit ein und arbeitet interdisziplinär. Eine 35 medikamentöse Behandlung kann Teil der Therapie sein. Grundlage dieser Therapie ist unter anderem ein Vertrag, der geschlossen wird. Um ein Kind zum Sprechen zu bewegen werden ganz klare Anforderungen gestellt, einen gewissen Druck auf das Kind auszuüben wird vorausgesetzt. Bei vielen Kindern arbeitet man damit erfolgreich (Hartmann, siehe URL20). Die KoMut arbeitet mit einem so genannten Safe-Place, das sind Bedingungen, in denen die Kinder sich sicher fühlen können (es kann zum Beispiel eine Höhle sein oder auch eine Verkleidung). Es wird in Anlehnung an ein Anforderungs- und Kapazitätsmodell gearbeitet, wobei Anforderungen und Fähigkeiten sensibel miteinander abgewogen und einander angeglichen werden sollen (Feldmann, Kopf, Kramer siehe URL 21). Die DortMut bezieht sich auf drei Ansätze: spezifische therapeutische Interaktionsangebote ressourcenorientierten zur Gestaltung der Verhaltensmodifikation Beziehung, zum Techniken Sprachtransfer einer sowie Techniken der systemischen Arbeit. Zentrales Mittel ist die geschützte Ausgangsposition (Subollek/ Katz-Bernstein/Bahrfecl-Wichtill, siehe URL 22). Betroffene sollen sich selbst als kommunikativ kompetent und aktiv erleben können und Selbstwirksamkeit erfahren. Die hierfür notwendigen Ziele werden nicht einseitig vorgegeben, sondern gemeinsam mit den Betroffenen erstellt. Zentrales Mittel der DortMut ist die soziale Vernetzung der Betroffenen. Zu erwähnen ist auch, dass der Heilmittelkatalog Logopädie (siehe URL 39) selektiven Mutismus nicht vorsieht. Er wird unter Redeflussstörung verordnet. Welche Möglichkeiten Betroffene nutzen können, hängt immer von ihrem Wissen über ihr Störungsbild und natürlich von den therapeutischen Möglichkeiten vor Ort ab. 8.1 Anlaufstellen in Deutschland In Deutschland finden wir folgende Mutismusnetzwerke: Dortmunder Mutismus Zentrum (http://www.fk-reha.tu-dortmund.de/zbt/ de/spa/DortMuZ/index.html) mit dem Sitz in Dortmund StillLeben e. V. (www.selektiver-mutismus.de) mit dem Sitz in Hannover Mutismus Beratungszentrum München www.mutismus.net) mit dem Sitz in München 36 (www.mbz-muenchen.de, Mutismus - Netzwerk Dr. Boris Hartmann (www.boris-hartmann.de) mit dem Sitz in Köln Mutismus Selbsthilfe Deutschland e. V. (www.mutismus.de) mit dem Sitz in Monheim zwischen Nürnberg und München 8.2 Aktuelle Situation in MV Im Folgenden wird auf die Situation der Unterstützung für Betroffene und deren Familien im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern eingegangen. Es geht hierbei um beratende und therapeutische Angebote sowie deren Zugänglichkeit und Veröffentlichung. Weiterhin wird dargelegt, wieviel bekannt ist über die Häufigkeit der Störung in Mecklenburg-Vorpommern und auf welchem Wege Betroffene an für sie relevante Informationen kommen können. 8.2.1 Verbreitung Wie viele Menschen mit selektivem Mutismus es in MV gibt, ist nicht bekannt. Untersuchungen hierzu gibt es nicht. Laut der Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern am 08.07.2014 gab es im Jahr 2013 von insgesamt 1873603 aufgelisteten Patienten 106 Patienten mit der Diagnose F94.0, die einen Arzt kontaktierten. Das sind 0,00565% Patienten mit selektivem Mutismus, die im Jahr 2013 einen Arzt kontaktierten. Mündliche Anfragen an Kinderbetreuungseinrichtungen, eine Frühförderstelle und an Lehrer einiger Schulen ergaben, dass außer einer Logopädin niemand der Befragten dieses Störungsbild kannte. Es wurden stichprobenhalber 15 Fachkräfte in insgesamt drei Schulen, zwei großen Kindergärten und einer heilpädagogischen Frühförderstelle mündlich befragt, ob Kinder mit selektivem Mutismus diese Einrichtung schon besucht haben. Nach der Beschreibung des Störungsbildes konnten ausnahmslos alle davon berichten, schon ein oder mehrere Kinder erlebt zu haben, auf die diese Beschreibung zutreffen würde. Dies lässt die Annahme zu, dass Kinder mit selektivem Mutismus durch Nichtkennen des Störungsbildes häufig unerkannt und diesbezüglich undiagnostiziert bleiben. Um eine annähernd realistische Zahl der Kinder und Erwachsenen mit selektivem Mutismus in MV zu erhalten, sind 37 Untersuchungen sowie Aufklärung zu diesem Störungsbild in MecklenburgVorpommern notwendig. 8.2.2 Therapeutische Möglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern Dank Telefon und Internet sind wir heute nicht nur auf direkte Beratungs- und Therapieangebote vor Ort angewiesen. Folgend wird aufgeführt, welche Hilfen im Internet und welche direkt vor Ort selektiv mutistischen Menschen und ihren Angehörigen zur Verfügung stehen. 8.2.2.1 Hilfen im Internet Internetrecherchen zu selektivem Mutismus und MV ergeben einige Treffer, wie z.B. auf der Internetseite des Bundeselternrates: „StillLeben e.V. ist eine junge Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das vielfach nicht bekannte Störungsbild des selektiven Mutismus in der Öffentlichkeit bekannter werden zu lassen.“ (siehe URL 4). Bei weiteren Recherchen wurden in ganz MV nur zwei eingetragene Therapeutinnen gefunden, die Weiterbildungen für die Behandlung von selektivem Mutismus besucht hat (siehe URL 5). Nicht ersichtlich ist, welche Fortbildung bei welchem Träger sie machten und somit ihr Therapieansatz. StillLeben e.V. hat außer dieser Logopädin Adressen verzeichnet in Berlin und Oranienburg im PLZ-Bereich 1 und dann erst wieder ab Hamburg im PLZ- Bereich 2 (siehe URL 6). Diese Adressen sind für Menschen aus MecklemburgVorpommern von der Entfernung her für eine Therapie nicht zumutbar. Wenn Betroffene wissen, um welches Störungsbild es sich handelt, besteht die Möglichkeit, sich in Foren der aktuellen Netzwerke zu begeben. Ein Netzwerk geht von Hartmann aus, der seinen Sitz in Köln hat (siehe URL 8). Dort sind auch diagnostische und therapeutische Möglichkeiten vor Ort. Der Verein „Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.“ hat seinen Sitz in München und gehört ebenfalls zu Hartmann und Lange (siehe URL 9). Die hier angebotene Therapie ist die SYMUT (Systemische Mutismus-Therapie). Ein weiteres Netzwerk bietet die Universität Dortmund an (siehe URL 10), auch hier wird eine Therapeutenliste deutschlandweit angeboten (siehe URL 15), welche ebenfalls eine der beiden o.g. Therapeutinnen aufweist. In Dortmund besteht ein Mutismus-Zentrum, 38 welches die DortMut (Dortmunder Mutismustherapie) anbietet, die von KatzBernstein entwickelt und in der Folge von dem Team des Sprachtherapeutischen Ambulatoriums der Technischen Universität Dortmund (Subollek, Katz-Bernstein, Bahrfeck-Wichitill) stetig weiter ausdifferenziert und ausgearbeitet wurde (siehe URL 16). Beim Recherchieren im Internet findet man außerdem noch das Kindernetzwerk, wo ebenfalls eine Seite zum Thema selektiver Mutismus abgelegt ist (siehe URL 17). Diese Seite verweist auf einschlägige Internetadressen zum Thema. Kritisch sind hier allerdings teilweise die Inhalte zu bewerten, unter anderem ist davon die Rede, dass selektiver Mutismus nur bis zum Pubertätsalter bestehen würde und danach in nur noch einigen Fällen eine Sprechscheu und Rückzugstendenzen sowie kommunikative Probleme auftreten würden. Die in diesem Kapitel aufgeführten Adressen können gefunden werden, wenn das Störungsbild bekannt ist und eine gezielte Suche durchgeführt wird. Für Betroffene, die nicht wissen, welches Störungsbild sie begleitet, ist das Auffinden der richtigen Internetadressen schwierig und von den gewählten Suchwörtern abhängig. 8.2.2.2 Hilfen vor Ort Im Rahmen dieser Arbeit konnte eine Logopädin kontaktiert werden, die selektiv mutistische Menschen begleitet. Sie arbeitet in einzeltherapeutischen Sitzungen über Rezept und bietet zusätzlich ein Angehörigentreffen an, um den Betroffenen Gruppenkontakte und Kontakt zu weiteren Betroffenen zu gewährleisten1. Die Therapien und Treffen wurden im Rahmen dieser Arbeit begleitet. Um den Weg eines Patienten bzw. der Eltern auf seiner Suche nach Hilfe nachvollziehen zu können, wurden die in Mecklenburg-Vorpommern ansässigen Krankenkassen angeschrieben und nach diagnostischen sowie therapeutischen Möglichkeiten zu diesem Störungsbild in MV befragt. Da Krankenkassen keine Ärzte und Therapeuten empfehlen dürfen, verwiesen diese teilweise auf Suchmaschinen, Selbsthilfegruppen wie www.mutismus.de oder auf eine Internetseite für eine Arztsuche (siehe URL 18). Hier kann aber nicht erkannt 1 Aus datenschutzrechtlichen Gründen möchte sie namentlich nicht erwähnt werden. 39 werden, ob ein Arzt Erfahrungen mit und Wissen über den selektiven Mutismus hat, da es sich eher um Fachbereiche handelt, die in den genannten Quellen ersichtlich werden. Zwei Krankenkassen wiesen auf eine Telefonnummer hin, unter der Ärzte Beratungen geben. Diese steht allerdings nur den Versicherten zur Verfügung, so dass eine Befragung im Rahmen dieser Arbeit dort nicht möglich war. Eine Krankenkasse verwies freundlicher Weise auf das Kinderzentrum Mecklenburg-Vorpommern, welches man anfragen könne. Dieses antwortete jedoch auf die Anfrage nicht. Eine Krankenkasse fand nach eigenen Recherchen eine vor Ort praktizierende Therapeutin, welche über die Netzwerke (siehe vorheriges Kapitel) zu finden ist. Ebenfalls verwiesen die Kassen auf die Kassenärztlichen Vereinigungen Mecklenburg-Vorpommern, welche auf die Anfrage antworteten. Diese verwiesen auf das „Informationsblatt Psychotherapie“ (siehe Anhang 1) und darauf, dass „interessierte und ratsuchende Patienten, Krankenkassen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und auch stationäre Einrichtungen bei der Suche nach einem Therapieplatz oder einem geeigneten Beratungsangebot unterstützt werden können“ (siehe Anhang 1). Dies geschieht durch die Angaben aller Psychotherapeuten des ambulanten Bereiches (vgl. URL 37). Psychotherapeuten selbst würden das Informationsblatt Auch die stetig nutzen. Zum Thema „selektiver Mutismus“ direkt hieß es: „Wie Sie wissen, ist der selektive Mutismus eine Indikation, deren Bekanntheitsgrad noch steigen muss. Da Ihre Anfrage hierzu die erste Anfrage an uns ist, erfolgte eine Aufnahme dieser Indikation auf unserem Infoblatt leider noch nicht. Den breitgefächerten Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten des selektiven Mutismus geschuldet, wäre es unseres Erachtens nach notwendig, eine solche Umfrage bei den Psychotherapeuten des Landes, welche (auch) Kinder und Jugendliche behandeln und auch den Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie vorzunehmen. Leider ist die direkte Anfrage bei den vielleicht wichtigen Logopäden des Landes unsererseits nicht möglich. Hier fehlt es an Zuständigkeit einer Kassenärztlichen Vereinigung. Jedoch besteht die Chance, bei beschriebener Befragung der Mitglieder unserer Kassenärztlichen Vereinigung eine Zusammenarbeit mit einem Sprachtherapeuten zu erfragen“ (Anhang 1). Der Bundesverband für Logopäden teilte mit, dass nur Mitglieder Auskunft erhalten und verwies für weitere Informationen auf seine Internetseite. 40 Die Therapeutenlisten der Universität Dortmund und des Vereins „Mutismus Selbsthilfe Deutschland“ haben 122 bzw. 218 Therapeuten deutschlandweit verzeichnet (siehe URL 25, 26). Davon waren zum Zeitpunkt des Abrufens der Internetadressen 28 doppelt (in beiden Listen) eingetragen, so dass insgesamt 312 Therapeuten verbleiben. Davon sind 2 Therapeuten innerhalb von Mecklenburg-Vorpommern eingetragen, das heißt für den Postleitzahlbereich 1701 – 19417 bzw. 23921 – 23999 (siehe URL 24). Ein Eintrag ist im PLZBereich 18, ein Eintrag im PLZ-Bereich 17 zu finden. Zur Veranschaulichung wurden die von beiden Netzwerken angegebenen Therapeuten auf einer Deutschlandkarte nach Postleitzahlen geordnet aufgeführt (Abbildung 3). Hierbei wurden grüne Punkte verteilt für alle Therapeuten, die in der Therapeutenliste von „Mutismus Selbsthilfe Deutschland“ aufgeführt sind sowie rote Punkte für die Therapeuten aus der Liste der Universität Dortmund. Therapeuten, die auf beiden Listen aufgeführt wurden, haben einen rot-grünen Punkt erhalten. Die folgende Karte zeigt an, wie viele Therapeuten in den jeweiligen Postleitzahlenbereichen eingetragen sind. Dabei wurde geografisch nicht beachtet, dass jeder Punkt die Koordinaten des jeweiligen Ortes widerspiegeln ausgenommen Mecklenburg-Vorpommern, wo die Punkte etwa die geografische Stelle der Therapeuten zeigen. Der Postleitzahlenbereich für Mecklenburg-Vorpommern beinhaltet die Postleitzahlen 1701-19417 und 23921-23999. Die in folgender Karte zu findenden Punkte im Postleitzahlenbereich 23 gehören nicht zu MecklenburgVorpommern, sondern zu Schleswig-Holstein. Das Gebiet um MecklenburgVorpommern wurde mit blau eingegrenzt. 41 Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten für selektiven Mutismus Deutschland (Mutismus Selbsthilfe Deutschland und Universität Dortmund) 42 in 9 Erfahrungsberichte Um direkten Kontakt zu selektiv mutistischen Menschen herstellen zu können, wird im Rahmen dieser Arbeit seit November 2013 die Therapie mit zwei selektiv mutistischen Menschen sowie ein Angehörigentreffen begleitet, bei dem die Betroffenen und ihre Angehörigen sich. Ein weiterer Kontakt zu einer Betroffenen konnte durch eine dritte Person hergestellt werden. Die Namen aller Personen wurden aus datenrechtlichen Gründen geändert. 9.1 Die Interviews Die Interviews wurden an Orten durchgeführt, die für die Betroffenen angenehm waren, soweit sie dies benennen konnten. Max und Sarah wurden mehrere Monate in den Therapien begleitet und konnten so langsam eine Beziehung zur Interviewerin aufbauen. Der Kontakt zu Emi kam durch eine dritte Person zustande. Es gab ein kurzes Kennenlernen, bevor Emi dem Interview zustimmte. Die jeweiligen Angehörigen der Betroffenen wurden in der Häuslichkeit direkt bzw. telefonisch befragt. Direkte Aussagen sind im Text gekennzeichnet als Zitate. Die Klammern mit Punkten: (...) innerhalb der Anführungszeichen stehen für Redepausen und wurden in den Zitaten mit aus der Transkription übernommen, um die Situation möglichst authentisch wiederzugeben. In den Fallbeispielen werden die Interviews in einer verdichteten, journalistisch zusammengefassten Form wiedergegeben (9.1.4-9.1.9). 9.1.1 Methodenauswahl Durch die therapeutische Begleitung kam es zwar immer wieder zu einer teilnehmenden Beobachtung, welche durchaus auch ein Mittel zum Erheben von sozialen Daten darstellt, aber eine Rekonstruktion des Werdegangs der Betroffenen und ihrer Familien nicht möglich macht. Hinzu kommt der erschwerende Faktor, dass bei der teilnehmenden Beobachtung zum einen eine notwendige Nähe zum begleiteten Umfeld vorhanden sein muss, um die Daten erstellen zu können, zum anderen aber die beobachtende Person permanent die notwendige Distanz wahren muss, um die Daten so objektiv wie möglich zu 43 halten. (vgl. Bohnsack, Marotzki u. Meuser, 2011). Das Aufschreiben während der Situation nimmt ihr einen Teil Authentizität und im Anschluss schreibt die beobachtende Person schon aus ihrem Gedächtnis heraus das Beobachtete auf, was die Gefahr erhöht, dass Inhalte verloren gehen können. Das Interview hingegen kann in seiner erzeugten Wortwahl samt Stimmlage, Lautstärke und Pausen immer wieder gehört, die Transkription immer wieder gelesen werden und lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Kernfragen, die im Forschungsinteresse stehen. Das Interview ist ein Mittel zur Erfassung sogenannter künstlicher Daten, wenn natürliches Datenmaterial nicht ausreichend zur Verfügung steht. Es ist eingebettet in die Biografieforschung, die wiederum der Sozialforschung untergeordnet ist. Während natürliche Daten ein vorhandenes, natürlich entstandenes Datenmaterial nutzen (z.B. schriftliche Äußerungen wie Tagebücher, Bilder, Filmmaterial, Gespräche, Reden u.a.) werden künstliche Daten vom Forscher selbst erschaffen oder initiiert, um gezielt Daten zu gewinnen (vgl. Bohnsack, Marotzki u. Meuser, 2011). Das Interview zählt zu den qualitativen Forschungsverfahren, welche den Sinn bzw. die subjektiven Sichtweisen rekonstruieren. „Forschungsauftrag ist Verstehen“ (Helferich, 2005, S. 21). Gleichzeitig können Erzählungen aber auch eine Funktion der Bewältigung haben (Helferich 2005), was z.B. am Interview von Ina (9.1.5) deutlich wird. Die hier ausgewählte Interviewform nutzt einen Leitfaden mit offen gehaltenen Fragen, um das narrative Potential der Interviewten zu nutzen, und gleichzeitig die gestellten Fragen zu den Themen, die untersucht werden, unterzubringen. Ein konkretes Nachfragen ist in dieser Interviewform immer möglich und die Konzentration auf die Forschungsfragen gegeben. Zu den Leitfragen wurden „Unterfragen“ ausgearbeitet, die bei Bedarf gestellt werden können. Die offene Fragestallung stellt zudem sicher, dass die interviewten Personen ihre Erzählungen nach eigenen Prioritäten im Rahmen der Thematik wiedergeben und so eine eigene Gewichtung vornehmen können. Ein Leitfadeninterview wird in der Regel flexibel gehandhabt und erlaubt, bei einer Irritation der Befragten, die vorhandene, künstlich geschaffene Situation zu „normalisieren“ bzw. zu „entdramatisieren“. Dies geschieht z.B. durch die interviewende Person, indem sie ihr eigenes Interesse zeigt und äußert, indem sie Nachfragen stellt, zustimmt, Bemerkungen anbringt und dafür sorgt, dass das 44 Zuhören und das Sprechen zwischen den Beteiligten wechseln kann. Dadurch wird die Situation „veralltäglicht“ und kann somit aufgelockert werden (vgl. ebd.). Neben der Festlegung des jeweiligen Ortes und den ethischen Aspekten (z.B. Datenschutz, Schutz vor emotionaler Überforderung wie bei Sarahs Mutter, 9.1.9) wurde auch die zeitliche Durchführung besprochen. So wurde Max (9.1.4) z.B. zugesichert, dass bei Bedarf auch mehrere Termine verabredet werden können (vgl. auch Helferich 2005, S. 169-171). 9.1.2 Ziel des Interviews Durch diese Interviews soll aufgezeigt werden, welche Erfahrungen die Betroffenen und ihre Angehörigen mit dem Störungsbild, dem Umgang damit sowie mit ihrem Umfeld gemacht haben. Wurde das Kind mit seiner Familie fachlich kompetent aufgefangen? Hatten Betroffene und Angehörige die Möglichkeit, frühzeitig Informationen zu erhalten, die eine Zuordnung Ihres Störungsbildes ersichtlich machten? Konnten Fachkräfte wie Erzieherinnen, Lehrkräfte, medizinisch und therapeutisch arbeitende Fachkräfte adäquat reagieren? Konnten sie dieses Störungsbild einordnen und so zu einer frühzeitigen, adäquaten Behandlung beitragen? Bestand oder besteht die Gefahr eines Nichterkennens und damit einer Manifestation? Welche Folgen und Konsequenzen haben die gemachten Erfahrungen für Betroffene und Angehörige? Anhand einer Stichprobe aus drei Betroffenen und ihren Angehörigen soll dies deutlich gemacht werden. Diese Interviews sollen weiterhin dazu beitragen, aufzuzeigen, ob Fachkräfte in Mecklenburg-Vorpommern zu diesem Thema zum einen ausreichend aufgeklärt sind und zum anderen ob die nötigen Hilfen installiert sind. 9.1.3 Fragestellungen Für Betroffene und Angehörige gab es zunächst drei Schlüsselfragen, die sich inhaltlich ähnelten. Diese werden hier in einer Gegenüberstellung kurz vorgestellt: 45 Tabelle 3: Leitfaden des Interviews Fragen an die Betroffenen Fragen an die Angehörigen Wann und wodurch hast du bemerkt, Wie war das damals, als klar wurde, dass bei dir etwas anders ist in der dass „X“ Probleme hatte, mit anderen Kommunikation anderen zu kommunizieren? Wann war das? mit Menschen? Wie ist es dir seitdem Wie ging es dann weiter? ergangen? Wie war es, als du professionelle Wie war es, als „X“ professionelle Unterstützung bekamst? Unterstützung bekam? Was wünschst du dir für andere Was wünschen Sie sich für andere Betroffene und für dich selbst? Betroffene und für sich selbst? Eine Übersicht über die komplette Interviewgestaltung mit Schlüsselfragen, Unterfragen, möglichen Kommentaren sowie Aufrechterhaltungs- und Steuerungsfragen ist im Anhang zu finden (Anhang 2). 9.1.4 Max Max ist heute 25 Jahre alt und befindet sich seit ca. zwei Jahren in logopädischer Behandlung bei einer Logopädin, die sich speziell zu selektivem Mutismus weitergebildet hat. Max sucht die Logopädin mehrmals wöchentlich auf und wird außerhalb des Regelfalls behandelt. Um das Sprechen mit möglichst vielen Menschen zu üben, ist die Logopädin bemüht, andere Personen in die Therapien mit einzubeziehen. In diesem Rahmen findet auch die Begleitung während der Therapien für diese Arbeit statt. Max lebt allein und hält regelmäßigen Kontakt zu seinem Bruder. Einmal wöchentlich telefoniert er mit seiner inzwischen entfernt lebenden Mutter. Max ist arbeitslos und weiß derzeit nicht, wie er das ändern könnte. Therapie und Angehörigentreffen Der Kontaktaufbau erfolgte über die begleitende Logopädin. Max gelang es nach und nach, den Blickkontakt aufzunehmen und während der Angehörigentreffen sowie in der Therapie innerhalb spielerischer Interventionen Fragen zu stellen 46 und Antworten zu geben. Seine enormen Bemühungen um Sprache waren bei guter Beobachtung deutlich ersichtlich: Nachdem er auf Ansprache oft erstarrte, konnte man seinen inneren Kampf an kleinen mimischen Bewegungen erkennen. Sein Blick veränderte sich minimal, er schien sich besonders stark zu konzentrieren. Der Versuch einer minimalen Schluckbewegung erfolgte mehrfach. Der Mund schien um jede Bewegung zu kämpfen. Wenn eine Schluckbewegung gelang folgte ein fast tonloses Räuspern, häufig mehrfach. Die Lippen bewegten sich zunächst kaum sichtbar, bis es Max gelang, sie zu öffnen. Nach einem weiteren Moment gelang es dann häufig, eine Antwort hervorzubringen. Jedes Wort machte den Eindruck, mit größter Anstrengung erkämpft worden zu sein. Manchmal ging gar nichts mehr, dann hatte Max eine Sprechblockade. Dann lag ein Schweigen im Raum. Jedes Atmen der Anwesenden wurde hörbar während auf eine Antwort von Max gewartet wurde. Es war nicht ersichtlich, was ihm helfen könnte, ob es ihn unterstützte oder ihn unter Druck setzte, wenn man ihn anschaute um zu zeigen: ich höre Dir zu, du kannst ruhig sprechen. Druck verhalf Max nicht zum Sprechen, erfahrungsgemäß forcierte dieser eher die Entstehung von Sprechblockaden und verschlimmerte diese noch, wenn sie bereits eingesetzt hatten. Seine Gesprächspartner wurden in solchen Situationen in der Regel schnell verunsichert und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Die Ursachen konnte Max von sich aus nicht benennen. Ob auch das Thema selbst dazu führen könne und es ihm besonders schwer fiel über sich selbst zu sprechen, konnte er mit ja beantworten. Insgesamt schien es aber völlig unvorhersehbar, ob und wann Sprechblockaden auftreten würden. Es konnte von einem Moment zum anderen passieren. Manchmal kam Max schon sehr verschlossen in die Therapie und konnte sich während der Therapiestunde nicht mehr öffnen. Wie versteinert saß er auf einen Punkt starrend auf seinem Stuhl und konnte sich nicht bewegen. In solchen Situationen wurde manchmal der Raum verlassen um wieder in Bewegung zu kommen. Das funktionierte, um ihn zumindest aus der Erstarrung zu lösen. Wenn es gut lief, kam sein Humor zum Vorschein und er brillierte in den Spielen mit seinem erstaunlich guten Allgemeinwissen. Eine sehr ausgeprägte Merkfähigkeit und Beobachtungsgabe zeigten sich und seine Antworten waren präzise und oft witzig, manchmal von schwarzem Humor begleitet. Wenn er selbst manchmal lachte, dann völlig tonlos. 47 Wurden Getränke angeboten oder etwas Süßes, verweigerte er dies meistens. Manchmal konnte er es annehmen und in Gesellschaft essen oder trinken. Es schien etwas Besonderes zu sein, wenn dies gelang und manchmal auch die Situation aufzulockern. Das Interview - Rahmenbedingungen Das Interview wurde in den Max bekannten Therapieräumen durchgeführt. Der Sitzplatz wurde so gewählt, dass Max sich möglichst wohl fühlen sollte. Er saß nicht gegenüber der Spiegelwand, da diese die Sprechblockaden erfahrungsgemäß verstärken konnte und nicht mit dem Rücken zu dieser, da beobachtet wurde, dass Max selbst diesen Platz in den Therapien nie gewählt hatte. Möglicher Weise fühlte er sich dort nicht wohl. Es wurde ein Sonntag gewählt, da dann die Praxis ruhig war und mit Störungen nicht gerechnet werden brauchte. Auch wenn Max in nicht familiärer Gesellschaft und in der Öffentlichkeit nur sehr selten etwas essen oder trinken konnte, wurde ein Gewürztee angeboten aus einem ihm bekannten Restaurant, in dem er gelegentlich mit seinem Bruder etwas essen ging. Max nahm den Tee an. Die Technik wurde so gewählt, dass sie möglichst unauffällig war und wenig Platz einnahm. Ein kleines Aufnahmegerät wurde auf einem ebenfalls sehr kleinen Dreifuß auf dem Tisch platziert, das Gerät wurde Max kurz vorgeführt. Vor Beginn des Interviews wurden die Datenschutzbedingungen schriftlich vorgelegt. Max las sie durch und unterschrieb sie. Zusätzlich erhielt er die mündliche Information, dass er auch im Nachhinein Stellen löschen lassen kann oder auch das ganze Interview. Dann wurde ihm die Frage gestellt, ob das Interview beginnen könne oder ob er lieber noch weitere Informationen dazu erhalten möchte. Er wünschte sich weitere Informationen. Diese beinhalteten einen Überblick über das Interview und beschrieben die Hauptfragen und die Vorgehensweise. Ihm wurde zugesichert, dass auch mehrere Termine kein Problem darstellen würden falls er Sprechblockaden bekäme. Selbst wenn er spüren sollte, dass er dieses Interview doch nicht geben könnte, sei das kein Problem sondern würde als Ausdruck seines Störungsbildes ebenfalls ein Ergebnis sein. Allein der Wille und die Zusage seien schon ein großer Schritt, wofür ihm Dank und Anerkennung ausgesprochen wurde. 48 Das Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Max benötigte unterschiedlich lange Pausen, um auf die gestellten Fragen zu antworten. Manchmal gab es verschiedene Nachfragen um den Kommunikationsfluss nicht abreißen zu lassen. Diese Fragen präzisierten die vorherige Frage oder grenzten sie noch weiter ein, damit Max nicht zu komplex antworten musste. Manchmal wurde die Frage auch nur mit einer anderen, ähnlichen Nachfrage wiederholt, damit die Pausen nicht zu lang wurden und womöglich in einer Sprechblockade endeten. Gerade bei persönlichen Auskünften war es eine große Herausforderung für Max, zu sprechen. Max antwortete in kurzen Sätzen, präzise, kein Wort zu viel. Alles klang wohl überlegt, jeder Satz war korrekt und vorher in Gedanken abgeschlossen worden. Max berichtete, dass es bei ihm schon immer so gewesen sei, dass er kommunikativ anders funktioniere als andere. Er glaubt nicht, dass es einen bestimmten Auslöser gab für sein Schweigen. Offensichtlicher und schwieriger wurde es für ihn mit dem Übergang vom Kindergarten in die Schule. Dort wurden mehr Erwartungen an ihn gestellt als zuvor. Aber dann sei die Situation von Seiten der Lehrer aus einfach ignoriert worden, was ihm den Besuch der Schule erleichtere. Konkret bedeutete dies für ihn, keine mündlichen Leistungen erbringen zu müssen. Er wurde mündlich nicht benotet. Max hatte zwar keine besonders engen Freunde, konnte aber mit den Mitschülern sprechen. Mit den Lehrkräften gelang ihm das nicht. Es gab außerhalb der engen Familie keine Orte und keine Situation, in denen es für Max schwieriger oder leichter war, zu sprechen. Zumindest konnte Max keine benennen. Auch in der näheren Verwandtschaft (Tanten, Onkel) sei es teilweise schwierig gewesen. An begleitende Schwierigkeiten wie Schlafstörungen, Ängste oder Schmerzen konnte sich Max nicht erinnern. Auf die Frage, was er selbst unternommen habe, um aus der Situation herauszukommen, benannte er die Vermeidung von sozialen Situationen sowie Sprechsituationen, da diese ihn belastet hatten. Bezüglich der professionellen Hilfen erinnert sich Max daran, dass in der fünften Klasse der schulpsychologische Dienst aktiv wurde. Wer diesen beauftragt hatte (Eltern, Lehrer), wusste Max nicht. Er glaubte sich an eine Diagnostik zu erinnern 49 und berichtete von „irgendwelchen Terminen mit einer Schulpsychologin“ (Interview Max, Zeilen 80, 81). Diese Termine empfand er nicht als hilfreich. Zu Beginn der sechsten Klasse wurde er in eine Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Der Aufenthalt dauerte fast ein Jahr. Auf die Frage, wie es ihm dort ergangen sei, antwortete Max: „Nicht so gut.“ (Interview Max, Zeile 92) Auf Nachfragen, inwiefern es ihm nicht gut ergangen sei, welche Art von Hilfen er dort erhielt und was dort so passierte antwortete er: „Man hat eigentlich alles Mögliche ausprobiert und auch keinen wirklichen Plan gehabt was helfen könnte.“ (ebd. Zeilen 96, 97) „In der Schule ging es danach so weiter wie vorher. (...)Therapeutisch ist dann erstmal 'ne Weile nichts passiert (...) außer regelmäßige Termine bei einem Heilpädagogen.“ (ebd. Zeilen 102-104) Zu diesem Heilpädagogen ist er etwa drei Jahre gegangen, er glaubt sogar bis zur zehnten Klasse. Während dieser Zeit gab es auch einen kurzen Aufenthalt in einer Klinik „wo man medikamentös einige Sachen probiert hat (...) aber auch ohne nennenswerte Erfolge (...) und nach der Zehnten sah ich mich dann gezwungen, meine Schullaufbahn zu beenden.“ (ebd. Zeilen 112-114) „Es sahen halt alle Beteiligten keine Möglichkeit die Abiturstufe ohne mündliche Leistungen zu absolvieren.“ (ebd. Zeilen 116, 117) Therapeutisch sei dann die nächsten Jahre nichts passiert. Dann hat Max eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk gemacht, die er mit ca. 22 Jahren beendete. Die Agentur für Arbeit hat anschließend versucht, ihn in einen Job zu vermitteln. Der Job habe aber nicht lange funktioniert. Auf Nachfrage berichtete Max, was er damit meinte: „...sie hatten einen Arbeitgeber gefunden bei dem ich dann auch ein halbes Jahr versucht habe mich ins, ins Arbeitsleben zu integrieren...“ (ebd. Zeilen 129, 130). Dies hat aus seiner Sicht nicht funktioniert und er habe es dann beendet. „...danach war dann erstmal gar nichts mehr (...) und irgendwann hat mein Vater dann Kontakt zu einer Logopädin aufgenommen die ein wenig Erfahrung mit dem Störungsbild hat.“ (ebd. Zeilen 142-144) Diese Logopädin begleitet Max heute noch. Aus seiner Sicht gab es erst in der Arbeit mit ihr erkennbare Fortschritte. Auch die Arbeit mit dem Heilpädagogen empfand er als angenehm, weil dieser sich weniger auf das Problem sondern auf die Allgemeinsituation bezogen habe. Auf die Frage, was wenig oder gar nicht hilfreich war, antwortete Max, dass die Zeit in der Tagesklinik größtenteils sinnlos gewesen sei. 50 Max wurde gefragt, was er sich wünscht für sich selbst und für andere Bertoffene. Diese Wünsche beziehen sich auf das allgemeine Umfeld wie auch auf professionelle Hilfskräfte: „Generell etwas mehr Verständnis vielleicht heraus bilden in diesem Bereich.“ (ebd. Zeilen 173, 174) „Es kommt häufig vor, dass man in Schubladen gesteckt wird wie: es ist alles nur Machtkampf oder Zeichen für familiäre Probleme und so weiter.“ (ebd. Zeilen 182-184) Das Interview dauerte 36 Minuten. Von ca. 1600 gesprochenen Wörtern hatte Max einen Sprechanteil von ca. 500 Wörtern, was für ihn eine bemerkenswerte Sprechleistung darstellt. Zusammenfassung Max erinnert sich, erst in der Schule wirkliche Schwierigkeiten gehabt zu haben mit seinem Störungsbild. Die erste professionelle Hilfe wurde seiner Erinnerung nach in der fünften Klasse installiert. Es folgten weitere Hilfen wie der Aufenthalt in einer Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie einer weiteren Klinik, in der medikamentös gearbeitet wurde. Diese Hilfen empfand er als nicht hilfreich, zum Teil sogar völlig sinnlos. Eine weitere Hilfe stellte eine mehrjährige Begleitung durch einen Heilpädagogen dar, was er als angenehm empfand. Erste Fortschritte sah er in der Zusammenarbeit mit der Logopädin, die sich speziell zum Thema „selektiver Mutismus“ weiter gebildet hatte und Erfahrungen auf diesem Gebiet aufwies. Er war bereits 23 Jahre alt, als diese Therapie begann. Die Logopädin begleitet ihn seit dieser Zeit. Max wünscht sich, dass gerade von professionellen Kräften mehr Verständnis aufgebaut wird für dieses Störungsbild und dass Betroffene nicht in Schubladen gesteckt werden, die ihnen Machtkämpfe oder familiäre Probleme unterstellen. 9.1.5 Ina - die Mutter von Max Die Mutter von Max lebt inzwischen nicht mehr in Mecklenburg-Vorpommern. Sie telefoniert jeden Sonntag mit ihren beiden Söhnen. Sie ist und war auch zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder Erzieherin. Sie lebt seit mehreren Jahren mit ihrem neuen Lebenspartner in einem anderen Bundesland. Während und nach dem Interview zeigte sie deutliche Emotionen. Im Nachgespräch äußerte sie, wie sehr es sie bewegt habe, über alles zu sprechen. 51 Sie müsste nun über viele Dinge noch einmal nachdenken und auch darüber, ob sie mit ihrem Sohn über einige Dinge noch einmal sprechen sollte. Das Interview – Erstkontakt Max stimmte nach seinem Interview zu, dass er einverstanden sei, dass auch seine Mutter interviewt wird. Er benötigte dafür Zeit, um sich dies gut zu überlegen. Die Telefonnummer der Mutter wurde nach seiner Zustimmung durch die Logopädin übermittelt. Die Mutter wurde zunächst telefonisch kontaktiert, um ihr die Thematik vorzustellen und, bei ihrem Einverständnis mit einem Interview, einen Termin abzusprechen. Max Mutter reagierte schon beim Telefonat sehr aufgeschlossen und brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass dies vielleicht ein Beitrag sein könne, um das Thema selektiver Mutismus endlich bekannter zu machen. Sie äußerte weiterhin ihre Hoffnung, dass für betroffene Menschen mehr getan werde. Es wurde ein Termin in ihrer Wohnung vereinbart. Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde wie geplant in der gemeinsamen Wohnung von Max Mutter und ihrem Lebenspartner durchgeführt. Der Lebenspartner war ebenfalls zu Hause und verließ nach einer Begrüßung und Bekanntmachung bald den Raum, in dem das Interview stattfand. Der kleine Hund des Paares blieb mit im Raum. Während des Interviews kam es zu kleinen „Zwischenfällen“, die zu kurzen Unterbrechungen führten, aber für das Interview selbst kein Problem darstellten (z.B. wurde der Hund herausgelassen). Max Mutter servierte Kaffee, die Technik wurde aufgebaut und vorgestellt, Datenschutzbedingungen wurden besprochen und unterschrieben. Es kam zu einem Vorgespräch, in dem die Mutter schon einiges über Max und ihre Erfahrungen mit dem Störungsbild sowie dem Umfeld erzählte. Kaum jemand wüsste ihrer Ansicht nach, was selektiver Mutismus sei und in Gesprächen zum Thema erlebe sie oft, dass ihre Gesprächspartner Mutismus mit Autismus gleich setzten. 52 Das Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Als Erzieherin und Mutter eines weiteren Kindes spürte Ina schon früh, dass mit Max, ihrem zweiten Sohn, etwas anders war. Ihr war klar, dass sie kein Kind unmittelbar mit einem anderen vergleichen konnte, aber bei Max gab es Auffälligkeiten, die ihr Grund zur Sorge gaben. Max sprach später und weniger, als sie es von anderen Kindern kannte. Sein nächtliches Weinen schien nicht nur der typische Hunger eines Säuglings zu sein, um seine Mutter zu rufen. Max weinte nachts häufig, auch als andere Babys gewöhnlich anfingen durchzuschlafen, nahm sein Weinen nicht ab. Die ersten zweieinhalb Jahre seines Lebens weinte Max seine Mutter jede Nacht drei bis viermal aus dem Schlaf. Ohne die beruhigenden Worte von ihr und ihrer Nähe konnte er nicht wieder einschlafen. Ina war besorgt und ratlos. Die Vermutung von Wachstumsschmerzen wurde von einem Kinderarzt geäußert, den sie aufsuchte. Aber auch Max konnte ihr nicht sagen, ob ihm etwas wehtat. Ina teilte die unterbrochenen Nächte mit ihrem Sohn und hatte kaum noch Kraft für den Alltag, in dem sie als Erzieherin für ihre Gruppe präsent sein musste. An viele Entwicklungsbesonderheiten, die sie beim ersten Sohn mitbekommen hatte, konnte sie sich gar nicht erinnern. Da war der Job gewesen und zwei Kinder und sie selbst sei eigentlich immer müde gewesen. Heute fragt sie sich, woher sie damals die Kraft dafür nahm. Sie glaubt, dass Max all die Eindrücke des Alltags aus der Kindertageseinrichtung, vor denen er sich lieber fern gehalten hätte, überfordert haben. Sicher habe er sie nachts verarbeitet und konnte dies nicht allein bewältigen. Max vermied von Anfang an jeglichen Kontakt zu den Nachbarn. Auch im eigenen Garten verhielt er sich immer vorsichtig, indem er genau schaute, ob Nachbarn ihn beobachten konnten. Im Kindergarten hörten die Erzieherinnen Max nie sprechen und fanden keinen Zugang zu ihm. Ina berichtete von nur einem Freund, mit dem Max sprach und sich gut verstand. Ina suchte weiter nach Erklärungen und nach Hilfe. Eine Logopädin kam in die Einrichtung, um Max zum Sprechen zu bringen. Diese wurde, nachdem sie zu keinen Erfolg kam, immer fordernder und Max verweigerte sich dann völlig gegenüber ihrer zu hohen Erwartungshaltung. Die Behandlung wurde nach knapp sechs Monaten abgebrochen. Ina bemühte sich sehr, ihren Sohn zu fordern, aber auch zu beschützen, wenn zu viel Druck auf ihn ausgeübt wurde. Dass er sich unter Druck noch mehr verschloss, wusste sie. Sie reflektierte viel 53 und nutzte ihr Wissen als Erzieherin, um Vergleich mit anderen Kindern herzustellen. Ina suchte weiter nach Hilfe, fand aber niemanden, der sich mit dieser Symptomatik auskannte. Sie suchte eine Psychologin auf. Diese erklärte Ina, dass ihr Sohn schüchtern sei, er brauche einfach mehr Zeit als andere Kinder. Diese Zeit wollte Ina ihrem Sohn lassen, fühlte sich aber trotzdem ratlos. In der Familie übernahm Ina die Rolle der Vermittlerin. Auch hier hatte sie das Gefühl, ihren Sohn schützen zu müssen. Max hatte ein gutes Verhältnis zu seinem älteren Bruder und zu seinem Vater. In der Herkunftsfamilie gab es keine Probleme und Max wurde so akzeptiert, wie er war. Hier konnte er ganz normal sprechen, wenn keine andere Person hinzukam. Aber Inas Mutter und ihre Schwester konnten kein Verständnis für das Verhalten von Max aufbringen. Ihrer Mutter gegenüber gelang es Ina nach einigen Jahren, eine Veränderung in ihrer Erwartung und im Umgang mit Max zu bewirken. Die Mutter stellte sich einer Auseinandersetzung mit Ina. Inas Mutter erkannte, dass sie, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern würde, die Beziehung zu ihrer Tochter ernsthaft gefährdete. Sie forderte ihre Erwartungen nicht mehr ein und nutzte Gelegenheiten, mit ihrem Enkel anders in Kontakt zu kommen. Das gelang über Rätsel. Max war ein wissbegieriger Junge, dem es leichter fiel, sich über interessante sachliche Themen zu unterhalten, als über sich und seine Mitmenschen. Die Mutter väterlicherseits erkannte Gemeinsamkeiten in der Entwicklung von Max und seinem Vater. Im Gegensatz zu Max hatte sein Vater es irgendwie geschafft, sprachlichen Kontakt aufzunehmen, wenn auch aus dritter oder vierter Reihe. Ihrer Schwester gab Ina, nachdem sie viele Jahre später wusste um welches Störungsbild es sich handelte, Informationsquellen aus dem Internet. Die Schwester war überrascht und betroffen von der Intensität der Störung, konnte aber ihre Erwartungen nie wirklich zurückstellen. Noch heute sei es schwierig für Max, in der Anwesenheit der Schwester zu sprechen, sagt Ina. Mit dem Übergang in die Schule erhöhten sich für Max und seine Familie die Erwartungen aus dem Umfeld. Sein Vater brachte ihn jeden Tag zur Schule, in die er eigentlich nicht gehen wollte. Max hatte großes Glück mit seiner ersten Lehrerin. Sie konnte einen engen Kontakt zu ihm aufbauen und sah sein Potential. Zu ihr hatte er so viel Vertrauen, dass er – ganz leise an ihrem Tisch– 54 sogar manchmal ein Gedicht oder ein Lied aufsagte. Sie sollte die einzige Lehrerin bleiben, die seine Stimme je gehört hat. Nach dreieinhalb Jahren wurde die Lehrerin an eine andere Schule versetzt und Max musste sich für das letzte halbe Jahr in der Grundschule bemühen, sich an eine neue Lehrerin zu gewöhnen. Diese wollte zwar die Vorgehensweise der ersten Lehrerin übernehmen, hatte aber eine andere Grundhaltung und konnte keinen Zugang zu Max finden. Trotz seiner guten Leistungen erklärte die Lehrerin den Eltern, dass sie für ihn nur eine Förderschule als richtige Lösung sehen könne, da er nicht spreche. Ina wusste durch ihren Beruf, welche Kinder Förderschulen besuchen und warum. Sie kannte das Potential ihres Sohnes und sein Interesse für viele Dinge. Um richtig entscheiden zu können, besuchte sie trotzdem mit Max die Förderschule, um sie sich mit ihm anzusehen. Nach diesem Besuch war für sie klar, dass das kein Platz war für Max. Hier wäre er in seiner Problematik nicht gefördert worden, gleichzeitig aber inhaltlich unterfordert. Die Eltern entschieden sich gegen den Willen des Schulamtes dafür, Max auf das Gymnasium zu geben. Das Schulamt hingegen wollte, dass Max mit seiner „Sprachverzögerung“ in der Förderschule lerne, sich am Unterricht zu beteiligen. Anfangs wurde Max von seinem Bruder in das Gymnasium begleitet, der dieses selbst auch besuchte. Dann traf ein Glücksfall ein: In derselben Klasse, die Max besuchte, war auch sein einziger Freund aus der Kindergartenzeit. Der Kontakt bahnte sich schnell wieder an und Max ging von nun an mit seinem Freund in die Klasse. Zuvor hatte sein Bruder ihn immer bis in die Klasse begleitet, aber nun reichte es, wenn Max vor der Schule seinen Freund erblickte. Gemeinsam gingen sie in den Klassenraum. Ina glaubt heute, dass das entscheidend dazu beitrug, dass Max in dieser Schule Fuß gefasst hatte. Die Jungen besuchten sich auch in ihrer Freizeit regelmäßig, um miteinander zu spielen. Aber auch im Gymnasium sprach Max im Beisein von Lehrern kein Wort. Wieder wurde nach Hilfe gesucht. Eine Psychologin diagnostizierte nun selektiven Mutismus und erklärte Ina, dass sie großes Glück habe, bei ihr gelandet zu sein. Außer ihr würde niemand in Mecklenburg-Vorpommern etwas mit diesem Störungsbild anfangen können. Die Psychologin begleitete Max einige Zeit, hatte aber auch keinen Erfolg bei Max mit ihrer Herangehensweise. Weder Max noch seine Mutter empfanden die Begleitung als hilfreich. Sie erhielten von ihr die Empfehlung, Max in einer Tagesklinik für Kinder-und Jungendpsychiatrie 55 behandeln zu lassen, um sein verfestigtes Verhalten mit verschiedenen Therapien wie Ergotherapie, Musik- und Bewegungstherapie, etwas aufzusprengen. Da es keine anderen Hilfen zu geben schien, entschied sich die Familie für die Tagesklinik. Max wurde aus seiner Schulklasse genommen und in einer Klinikschule täglich vier Stunden unterrichtet. Er wurde jeden Tag mit einem Fahrdienst von zu Hause abgeholt. Der Unterricht beinhaltete nicht den Umfang eines Schuljahres, da die Kinder auch an Therapien teilnehmen sollten. Eine Versetzung in die nächste Klasse war nach einem Jahr also nicht möglich. Max schien sich in der Tagesklinik überhaupt nicht wohl zu fühlen. Ina spürte immer stärker eine Veränderung bei Max, welche ihr zusätzliche Sorgen bereitete. Immer wieder fragte sie ihn, was los sei. Nach einem halben Jahr konnte Max ihr sagen: „Mama, hier gehöre ich nicht hin.“ (Interview Ina, Zeile 305) Damit meine er sowohl die Klinikschule als auch die Tagesklinik. Ina fand heraus, dass dort vor allem hyperaktive Kinder beschult und behandelt sowie medikamentös eingestellt wurden. Konkrete Sorgen konnte Max nicht einmal seiner Mutter mitteilen und sie musste mit der spärlichen, aber klaren Botschaft leben. „Den bewegt irgendetwas, was er aber nicht mal im Detail mir als Mama benennen kann, sagt, er geht quasi ein“ (ebd. Zeilen 340, 341) Als ihr Sohn, der schon immer wenig wog, dann immer mehr an Gewicht verlor, hielt sie es nicht mehr aus: „Er geht mir jetzt quasi ein wie so´ne Primel“ (ebd. Zeile 334) sagte sie und berichtet, den Aufenthalt kurz vor Ende des Schuljahres abgebrochen zu haben. Für Max hieß das, dass er sich ein weiteres Mal umstellen musste. Er konnte nicht in seine alte Klasse zurück, in der er seinen Freund an seiner Seite wusste. Aber die neue Lehrerin hatte sich mit der vorherigen Lehrerin kurzgeschlossen und die Klasse auf Max vorbereitet. Die Schüler nahmen Max in ihre Reihen auf und akzeptierten ihn so, wie er war. Bald lernten sie sein Wissen schätzen. Wenn die Klasse Gruppen bilden sollte, um bestimmte Aufgaben zu lösen, wurde Max immer als einer der Ersten gewählt. Ina findet es heute noch erstaunlich, dass ihr Sohn nur mit den anderen Schülern sprach, wenn keine Lehrkraft anwesend war. Max musste permanent seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, wer sich in sichtbarer Nähe aufhielt. Trotzdem konnte er bei den Themen verweilen und zeigte gute Leistungen. 56 Im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren wurde bei Max ein IQ-Test durchgeführt, der eine besondere Begabung im Bereich Sprache aufwies. Ina konnte es zunächst nicht glauben, aber bei einer zweiten Durchführung bestätigte sich das Ergebnis. Als der fünf Jahre ältere Bruder von Max sein Abitur absolvierte, interessierte sich Max schon für die Themen in der Abiturklasse. Er hatte sich in kurzer Zeit mit dem Computer vertraut gemacht, den seine Familie inzwischen besaß und sich den Umgang mit Programmen selbst angeeignet. Während sein Bruder z.B. sozialen Kontakten nachging, recherchierte Max für ihn häufig Themen für das Abitur. Dabei setzte er sich mit dem Stoff so auseinander, dass er diesen auch nach seinen Vorstellungen gewichtete und zusätzliche Informationen einholte, wenn er diese für das Thema relevant hielt. Als Max die zehnte Klasse besuchte, wurde offensichtlich, dass er keinen höheren Abschluss erreichen könnte. Das Schulamt ließ ihn nicht zum Abitur zu, da er keine mündlichen Leistungen erbrachte. Die Lehrerschaft sah hier kein Problem und wusste um das Potential von Max, konnte die Entscheidung des Schulamtes aber nicht ignorieren. Max hat seine Leistungen den Lehrkräften gegenüber immer schriftlich darlegen dürfen. Es gab sogar hier Ausnahmen: Wenn Aufsätze geschrieben wurden über persönliche Themen (z.B. „Mein schönstes Ferienerlebnis“) wurde der Aufsatz von Max nicht benotet. Über solche Dinge konnte er sich nicht einmal schriftlich äußern. Keiner der Lehrer an dieser Schule hatte jemals die Stimme von Max gehört. Während der Zeit auf dem Gymnasium wurde Max von einem Heilpädagogen begleitet, nachdem er aus der Tagesklinik zurückgekehrt war. In dieser Zeit trennten sich seine Eltern. Ina hatte den Eindruck, dass Max die Begleitung durch den Heilpädagogen gut tat, auch wenn dieser kaum sprachliche Erfolge bei Max erzielte. Sie selbst wurde von einer Frau, sie vermutet es war eine Psychologin, begleitet. Es war zwar bezüglich des Störungsbildes nicht hilfreich, aber in dieser Situation durchaus entlastend. Da Max die Trennung der Eltern zu verkraften hatte, wurde bewusst eine männliche Bezugsperson gewählt für ihn. Ina konnte über den Umgang mit der Trennung und über ihren eigenen, behütenden Umgang mit Max reden und alles mit Hilfe reflektieren. Als Ina einen neuen Partner fand und diesen mit nach Hause brachte, gelang eine Kontaktaufnahme erstaunlich gut. Es gab zwar auch später Probleme zwischen den beiden, da Inas Partner an seine Grenzen kam und mehr von Max 57 erwartete, als dieser aufbringen konnte, aber heute würden sich die Männer gegenseitig achten. Im heilpädagogischen Zentrum erhielt die Familie die Empfehlung, Max in eine betreute Wohnform zu geben. Max konnte sich dazu nicht wirklich äußern, wehrte sich aber auch nicht. Ina hatte gelernt, für Max Entscheidungen zu treffen, da er dazu oft nicht in der Lage war. Als sie mit Max und seinem Bruder vor Ort war, fand sie die Bedingungen so unpassend, dass sie Max wieder mit nach Hause nahm. Auch sein Bruder wollte Max auf gar keinen Fall dort lassen. Wieder zu Hause angekommen schien eine Last von Max abzufallen, er sei „in sein Zimmer gegangen und ich hatte den Eindruck er guckt sein Zimmer an als wär das ´n Palast“ (ebd. Zeilen 970, 971). Heute ist Ina sich sicher, ihren Sohn vor einer weiteren schlimmen Negativerfahrung bewahrt zu haben. Nach der Schule machte Max eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk. Im ersten Anlauf konnte er die Prüfungsleistungen nicht erbringen, weil auch persönliche Themen aufgearbeitet wurden und Max darüber nichts berichten konnte. In Zusammenarbeit mit Ina, die als sein Sprachrohr fungierte, erzielte Max dann einen guten Abschluss. Rückblickend empfindet Ina es heute so, dass eigentlich – ausgenommen des „Stolpersteines Tagesklinik“ - alles Max irgendwie voran gebracht hat (vgl. ebd. Zeilen 1080-1082). Ina konnte ihre Wünsche für sich selbst, andere Betroffene und ihre Angehörigen klar benennen: Sie wünscht sich, dass Erzieher, Pädagogen, Ärzte, Therapeuten und alle, die etwas mit Kinder- und Jugendarbeit zu tun haben, Kenntnisse von dem Störungsbild haben, um auch den Eltern diese dann so schnell wie möglich mitzuteilen und sie für die Thematik zu sensibilisieren. Sie wünscht sich, dass es ein Netzwerk gibt für betroffene Kinder und Jugendliche und dass diese dort adäquat betreut und gezielt gefördert werden können. Diese Förderung sollte so ausgerichtet sein, dass die Betroffenen auch in ihren Besonderheiten erkennt und aufgreift. Z.B. war Max trotz seiner Diagnose besonders begabt im sprachlichen Bereich. Ina wünscht betroffenen Familien Hilfen und therapeutische Möglichkeiten in zumutbarer Nähe, so dass diese auch alltagsrelevant genutzt werden können. Auch sollte es Anlaufpunkte für Eltern geben, die nicht weiter wissen und eine Austauschmöglichkeit der Eltern untereinander. „...Betroffene, die stehen ganz, ganz lange allein im Regen ehe sie erstmal wissen, was ist es überhaupt...“ (ebd. Zeilen 1156, 1157). 58 Zusammenfassung Ina selbst war schon früh aufgefallen, dass Max anders war als andere Kinder. Im Vorschulalter wurde Max logopädisch begleitet, wo er sich aber zunehmend verweigerte. Eine Psychologin bescheinigte ihrem Sohn große Schüchternheit und riet Ina, ihm einfach mehr Zeit zu lassen. Max musste täglich von seinem Vater in die Schule begleitet werden. Zum Ende der Grundschulzeit wollten das Schulamt und die Klassenlehrerin, dass Max trotz guter Leistungen eine Förderschule besucht. Die Eltern entschieden sich für ein Gymnasium. Im Gymnasium wurde er mündlich nicht benotet. Max konnte kein Abitur machen, da er keine mündlichen Leistungen erbrachte. In der fünften Klasse wurde bei Max selektiver Mutismus diagnostiziert. Eine psychologische Begleitung war nicht hilfreich. Es folgte ein knappes Jahr in einer Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Zeit haben Max und seine Mutter negativ in ihrer Erinnerung. Er musste eine Klasse wiederholen, wurde aber gut in die neue Klasse aufgenommen. Ein weiter Klinikaufenthalt mit dem Versuch, medikamentös etwas zu bewirken, blieb ohne Erfolg. Eine darauf folgende heilpädagogische Begleitung war zwar sprachlich nicht erfolgreich, aber angenehm und entlastend. Im Alter von 23 Jahren fand Max mit der Hilfe seines Vaters eine Logopädin, die sich mit dem Störungsbild etwas auskannte und speziell dafür weitergebildet ist. Erst jetzt wurden Erfolge in Bezug auf das Kommunikationsverhalten von Max ersichtlich. 9.1.6 Emi Emi, heute 25 Jahre alt, durchlebte eine schwere Zeit bis sie aus eigener Kraft den selektiven Mutismus überwinden konnte. Völlig selbständig und nicht in der Lage, sich Hilfe zu organisieren oder sich mitzuteilen, entwickelte sie einen bemerkenswerten Ehrgeiz, um an den wichtigsten, alltäglichen Geschehnissen der Welt um sie herum teilnehmen zu können. Inzwischen hat sie ein BA- Studium abgeschlossen und eine Arbeitsstelle, an der sie sich wohl fühlt. 59 Das Interview – Erstkontakt Der Kontakt zu Emi wurde durch eine dritte Person vermittelt, die um Emis Geschichte weiß. Diese Person informierte und befragte Emi zu der Thematik und erhielt von ihr die Zusage, ihre Telefonnummer weiterzugeben. Nach einem ersten Telefonat gab es ein kurzes Kennenlernen, Details zum Interview und aller dazu notwendigen Informationen wurden per email ausgetauscht. Es war eine Herausforderung für Emi, über ihre Geschichte zu sprechen. In ihrer Studiengruppe wusste niemand darum, nur ihre Familie und enge Freunde kannten ihre Geschichte. Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde im Sudentenwohnheim, im Zimmer von Emi durchgeführt. Emi wartete vor dem Heim, um den Weg zu zeigen. In ihrem Zimmer hatte sie liebevoll ein Tablett mit Tee und einigen Kleinigkeiten angerichtet. Ihr Zimmer bot den Anblick einer kleinen Ausstellung: an den Wänden hingen überall gezeichnete und gemalte Bilder, die unter anderem Tiere lebensecht darstellten. Auf Nachfrage berichtete Emi, diese Bilder selbst gemalt zu haben. Sie zeichnete und malte aus ihrem Gedächtnis heraus. Was sie sich einmal genau angeschaut und eingeprägt hatte, konnte sie ohne weiteres detailgetreu auf Papier bringen. Nachdem die Technik vorgestellt und aufgebaut war und die Datenschutzbedingungen besprochen und unterschrieben waren, war Emi recht schnell für das Interview bereit. Sie wollte es gern hinter sich bringen, denn sie war aufgeregt. Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Als Emi noch in den Kindergarten ging, fiel niemandem auf, dass sie nur mit ihrem Bruder und ihrer Freundin sprach. Auch Emi stellte nichts infrage, denn sie kannte es nicht anders und fand es normal, dass ihr Bruder oder die Freundin für sie das Sprechen übernahmen. Mit dem Übergang in die Grundschule änderte sich dies schlagartig. Sie konnte nur noch auf dem Schulhof mit ihrem Bruder sprechen, die Freundin war in eine andere Schule gekommen. In der Klasse fand Emi wieder eine Freundin. Neben dieser saß sie im Unterricht und die Freundin wurde ihr Sprachrohr. Manchmal gelang es ihr, auch selbst etwas zu sagen. 60 Mit dem Wechsel zum Gymnasium verlor Emi diese Stütze und fand in der neuen Klasse keinen Anschluss. Sie konnte mit niemandem sprechen. Erst jetzt war das Problem so groß, dass die Eltern informiert wurden. Zuvor glaubten sie, einfach eine sehr schüchterne Tochter zu haben, die wenig sprach. Zu Hause kannten sie ihre Tochter aufgeweckt und mitteilungsbedürftig. Sie konnte sich durchaus lautstark etwas einfordern, vor allem, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war. Emi erzählte zu Hause eher viel, so dass ihre Eltern sie für ein ganz normales und aufgewecktes, außerhalb der Familie schüchternes Kind hielten. Dass sie in der Grundschule wenig sprach schien kein Anlass zur Sorge zu sein. Für Emi war es in der Grundschule zwar schon schwer, mit den neuen Herausforderungen umzugehen, aber es war „noch gut aushaltbar“ (Interview Emi, Zeile 34). Sie fiel nicht sehr auf, da eher die lauten, teilweise aggressiven Kinder ein Problem darstellten. Im Gymnasium begann für Emi nun die schwerste Zeit ihres Lebens. Nicht in der Lage, in sprachlichen Kontakt zu gehen, gingen einige Lehrer zunächst auf sie ein. Sie erwarteten von Emi, dass sie ihnen ihr Problem schilderte, was Emi jedoch unmöglich war. Manche Lehrer wurden dann wütend, sie unterstellten Emi Trotzverhalten und stellten sie so manches Mal vor der Klasse bloß. Für nicht erbrachte mündliche Leistungen bekam Emi Sechsen. Trotzdem hatte sie einen guten Durchschnitt. Mit der Zeit gaben auch die Mitschüler auf, zu Emi Kontakt zu suchen. Nach anfänglichen Lästereien wurde aus dem Verhalten der Mitschüler Emi gegenüber mehr und mehr Mobbing in verschiedenen Formen. Für Emi war die Zeit in der Schule immer schwerer auszuhalten. Mit jedem Schritt, der sie morgens der Schule näher brachte, stieg in ihr die Anspannung und bemächtigte sich ihrer völlig. Sie fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden sie nicht in der Hand hatte. Am schlimmsten war es für Emi, wenn Lehrkräfte sie ansprachen und von ihr eine Antwort erwarteten. Emi konnte kein Wort herausbringen. Wenn es hoch kam, konnte sie einen Blickkontakt für begrenzte Zeit aushalten. Manchmal redeten die Lehrer dann hilflos und wütend auf Emi ein: „...ja und du denkst du kannst dich vor allem drücken und kuck mich nicht mit deinen großen Augen an und wenn du willst dass ich dir helfe dann musst du mit mir reden!“ (ebd. Zeilen147-149). Aber Emi konnte nicht reden. Sie konnte auch niemanden mehr anschauen. Sie konnte sich gar nicht bewegen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über sich selbst. 61 Ihr Blick heftete sich wie automatisch an die Tischplatte und sie erstarrte am ganzen Körper. Dann spürte sie oft gar nichts mehr. Oder ihr ganzer Körper verkrampfte, der Hals war wie zugeschnürt und Emi hatte das panische Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie hatte panische Angst und jeder Versuch, ihre Lippen zu öffnen um zu atmen, schien aussichtslos. Dann hörte Emi ihre Umgebung nicht mehr, alles schien sich um sie herum zu drehen. Die Sätze der Lehrer spulten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab. Sie wusste nicht, ob sie diese nur in ihrer Wahrnehmung hörte oder ob die Lehrer immer noch auf sie einredeten. Sie fühlte sich wie in einem Tunnel, einem großem schwarzen Loch. Emi hatte auch kein Gefühl mehr für die Zeit. Gefühlt waren es Stunden, die sie jedes Mal schmerzlich durchlebte. „Und es brach dann irgendwann alles zusammen wenn das wieder weg war, der ganze Körper brach in sich zusammen und denn hab ich meistens erst gemerkt dass meine Hände wieder blutig waren“ (ebd. Zeilen 178-180). Unter dieser großen, nicht auszuhaltenden Anspannung bemerkte Emi nicht, dass sich ihre Fingernägel so stark in die Handflächen gebohrt hatten, dass sie bluteten. Emi war beschämt über die Wunden an ihren Händen. Von nun an beschnitt sie ihre Fingernägel radikal und trug auch im Sommer nur Oberteile mit sehr langen Ärmeln. Diese sollten als Schutz vor den Nägeln dienen, was aber nicht immer gelang. Manchmal verrutschten die Ärmel und trotz ihrer Kürze bohrten sich die Fingernägel wieder in die Handflächen. Emi wollte lieber wegen langer Pullover im Sommer gehänselt werden, als für die sich selbst zugefügten Verletzungen. Mit der Zeit wuchsen Emis Selbstzweifel immer mehr und sie glaubte nicht mehr daran, ein ganz normales Kind zu sein. Sie vertraute sich nicht mehr selbst und verstand nicht, warum sie nicht konnte, was alle können: ganz normal reden! Ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen nahmen immer weiter ab. Sie war immer mehr der Überzeugung, mit ihr stimme etwas nicht und die anderen hätten recht mit ihren Hänseleien und Beschimpfungen. Manchmal war sie voller Wut auf sich selbst. Oft konnte Emi nachts nicht schlafen. Dann joggte sie durch den nahe gelegenen Park. Manchmal konnte sie durch die hohe Anspannung Tage lang nichts essen. Ihr Bruder, der für sie immer eine wichtige Stütze war und der sie so akzeptierte wie sie war, traf mit ihr eine Abmachung: Solange sie nicht unter 50 kg wog, sei alles in Ordnung. Sollte sie weniger wiegen, würde er Alarm schlagen. Wenn das Gewicht sich kurz vor der abgemachten Grenze bewegte, ließ er sich immer 62 etwas einfallen. Oft kochte er dann für sie oder mit ihr und so gelang es Emi, die 50 kg nicht zu unterschreiten. „Wie die Abmachung mit dem Essen beispielsweise oder ich bin auch oft nachts laufen gegangen wenn ich nicht schlafen konnte und der Druck wieder zu groß war und die Angst vor dem, was dann am nächsten Tag kommt.“ (ebd. Zeilen 415-418) Irgendwann war die Not so groß, dass sie wusste, diesen Weg nicht mehr weiter gehen zu können. Am Ende ihrer Kräfte bat sie ihre Eltern darum, einen Schulwechsel zu organisieren. Ihre Eltern waren nicht weniger verzweifelt und hilflos. Sie fühlten sich durch die Schule ebenfalls stark unter Druck gesetzt. Manchmal riefen Lehrer zu Hause an und verlangten von den Eltern, endlich mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Sie waren der Meinung, dann würde Emi funktionieren. Aber wenn sie sich über Emi beschwerten, stellten sich Emis Eltern schützend vor ihr Kind. Sie wussten, dass Druck Emi nicht half, zu sprechen. Am schlimmsten war für sie, dass sie überhaupt nicht wussten, wie sie ihrer Tochter helfen konnten. Diese Verzweiflung auf Seiten ihrer Eltern spürte auch Emi sehr deutlich und es belastete sie zusätzlich. Sie wollte nicht Grund der Verzweiflung ihrer Eltern sein. Um Fragen bezüglich der Umschulung aus dem Weg zu gehen, entschied Emi sich für eine Realschule. Dann würde man vermuten, dass die Anforderungen im Gymnasium einfach zu hoch wären und das als Grund für den Wechsel annehmen. Das einzig Hilfreiche, was Emi von Seiten der Lehrkräfte benennen konnte war, dass ihre damalige Lehrerin ihr dabei half, den Schulwechsel zu vollziehen. Emis Lehrerin sprach mit der Direktorin und gab ihr einige schlechte Noten, damit der Wechsel nach außen hin gerechtfertigt war. Emi wollte nur noch weg, und zwar möglichst weit. Emi hatte bereits an sich selbst beobachtet, dass es ihr manchmal gelang, in völlig fremder Umgebung zu sprechen. Wenn sie mit Menschen noch keine negative Kommunikationserfahrung gemacht hatte, schien es leichter zu gehen. In der neuen Klasse wurde sie von der Klassenlehrerin am ersten Tag nach vorn gebeten, um sich vorzustellen. Wieder wollte sich eine Starre ihres Körpers bemächtigen, doch sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Eine neue Chance! Nicht versagen! Bis jetzt hatten weder Emi noch ihre neuen Mitschüler und Lehrer eine gemeinsame negative Erfahrung bezüglich Emis Kommunikationsfähigkeiten. Niemand hier kannte die schweigende Emi. Dies 63 half ihr, nicht in völlige Panik zu geraten. Niemand würde sie jetzt hänseln oder tadeln, weil er eine feste, vorgefasste Meinung von ihr hatte. Nach vorn gehen konnte Emi nicht. Diese Anforderung war zu hoch. Aber es gelang ihr, von ihrem Platz aus ein wenig zu sagen: „Das war unheimlich gruselig, ich, ich konnt nich aufstehen, ich konnt nich vorgehen. Ich hab dann aber gedacht okay, denn gehst du jetzt nich vor, egal was die denken. Soll die Lehrerin da vorne stehen, das hat se mir bis heute noch übel genommen, dass ich da nich vorgekommen bin und die hat‘s auch nie verstanden. Aber ich habs hingekriegt denn zu sagen, ich hab mein Hasen gesehen, und denn hat man angefangen zu reden. Hab so, ich weiß gar nicht höchstens drei Sätze gesagt und damit wars dann gut.“ (ebd. Zeilen 217-225) Emi hatte es geschafft, für sich einen Anfang zu machen. Es war der Anfang ihres Sprechens vor der Klasse und einer Lehrerin. In relativ kurzer Zeit entwickelte sie zu drei Mitschülern eine Freundschaft. Im Englischunterricht hatte sie eine Lehrerin, die sensibel mit ihr umging und Mittel und Wege fand, um Emi hin und wieder den Mut zum Sprechen zu geben. Emi wollte mehr sprechen. Sie wollte sich und ihrer Umwelt beweisen, dass sie es schaffen kann. Sie begann, ehrgeizig an ihrer Wahrnehmung zu arbeiten. Sie hatte gelernt, sich selbst ebenso gut zu beobachten wie ihre Umgebung und kannte ihre Stärken und das, was ihr half. Sie wusste, dass ihr vertraute Gerüche und Geräusche Sicherheit gaben. Ihr Haustier, ein Zwergkaninchen, hatte für sie eine besondere Bedeutung. Sie nannte es meistens ihren „Hasen“. Es fragte nichts, es war da und schien zu spüren, wie es Emi ging. Manchmal brachte das Kaninchen Emi etwas von ihren Sportsachen und dann joggten sie wieder gemeinsam durch den Park. Joggen und Handball halfen Emi, ihre Leiden zu kompensieren. In der Handballgruppe wurde sie akzeptiert, wie sie war. In der Schule stellte sich Emi vor, ihr Hase würde vor ihr sitzen. Da ging schon alles etwas leichter. Dadurch, dass sie ihn ihrer Vorstellung visuell fixierte, hatte sie zum ersten Mal Kontrolle über ihre Augen, welche sich nicht mehr auf den Tisch richteten um den Blick dort zu fixieren. Dann begann sie sich vorzustellen, sie wäre auf ihrer Lieblingslichtung. Sie verwandelte nach und nach in ihrer Vorstellung ihre komplette Umgebung. Nur ihre eng befreundete Banknachbarin blieb darin, wie sie war. Alle anderen Schüler und auch Lehrer wurden zu Büschen oder Bäumen auf der Lichtung. Ihr Hase war nach langer Übung nicht mehr nur ein starres Bild, sondern hoppelte auf der Lichtung herum oder saß auf 64 ihrem Arm. Und mit dieser selbst gewählten, veränderten Wahrnehmung hatte sie die Kraft, vor der Klasse Vorträge zu halten. Sie schaute auf ihre Lichtung und nicht auf Menschen. Meldete sich jemand, nahm sie es so wahr, dass sich ein Zweig eines Busches oder Baumes bewegte. Sie hatte auch gelernt, Geräusche auszublenden und sich andere, Sicherheit gebende Geräusche „zu holen“. Dabei musste sie flexibel sein und auch lernen, ihre selbst erzeugten Bilder, Gerüche und Geräusche von den sie real umgebenden zu unterscheiden. Sie wusste genau, welcher Schüler wo saß und in welcher Tonlage dieser sprach. Es gelang ihr, nur diese Frequenz in ihrer Wahrnehmung zu zulassen und sie konnte zuhören und antworten. Sie konnte alle Frequenzen an- und abschalten. „...wenn sich jemand gemeldet hat dann hat der Ast vom Baum sich bewegt. Dann war mir klar, ah, da will irgendjemand was sagen, ich schalt mal den einzelnen Kreis hinzu und das ist dann so, ich kann das so ausschalten, Hintergrundgeräusche hinzuschalten, was wegschalten, ganz einzig, einzelne Sachen. (...) Also ich wusste ganz genau wer wo sitzt und wusste welche Tonlage spricht er, welche Töne schalte ich jetzt zu.“ (ebd. Zeilen 314-319) Niemand um sie herum ahnte, was in Emi vor sich ging. Sie wollte ganz normal sein und tat alles, um nicht aufzufallen. Niemand wusste um ihre Probleme. Ihr großes Ziel war es, zu reden. Eine typische Teanager-Zeit hatte Emi nicht. Sie hatte andere Themen zu bewältigen: „Nicht das was andere Teanager machen die sich dann, aussehen, ausgehen, Jungs, irgendwas, das waren Themen, die gabs bei mir nicht. Das ist so`n Jugendbereich der eigentlich komplett ausgelöscht ist.“ (...) „Man konnte halt nicht ausgehen, man konnte, hatte halt keinen Freundeskreis und der hat einen auch nicht mit rausgenommen halt, wie auch, wenn man nicht redet.“ (ebd. Zeilen 110-117) Zusätzlich zu ihrem Umgang mit ihrer Wahrnehmung hatte Emi inzwischen noch eine weitere Stütze gefunden: den christlichen Glauben. Als Einzelkämpferin ging ihr im Gymnasium auch die letzte Kraft aus, um den Schulalltag auszuhalten. Wenn sie Jesus ihre Probleme erzählte, konnte sie sich entlasten und sie fühlte sich mit ihrer Last nicht mehr allein. Der Glaube gab ihr Mut und Kraft, nach vorn zu blicken und auch wieder mehr an sich selbst zu glauben. Ihre mündliche Prüfung für den Realschulabschluss bestand sie zitternd und kreidebleich. Ihr war schrecklich übel und sie glaubt heute noch, dass die Lehrer sie nichts mehr fragen mochten aus Angst, sie könnte zusammenbrechen. Aber sie hatte es geschafft! 65 Im Anschluss machte sie ein Fachabitur, dann ein BA-Studium. Ihre Arbeitsstelle suchte sie mit Bedacht. Sie weiß, dass sie nicht ein gutes Gehalt oder ähnliche Gründe als Entscheidungsgrundlage nutzen kann. Für sie war es wichtig, sich in der Umgebung und im Team sicher und gut aufgehoben zu fühlen. Sie weiß, dass sie immer auf sich achten muss. Emi möchte ihre Erfahrungen nicht missen, sie haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Aber sie wünscht sich, dass mehr Menschen, vor allem professionelle Kräfte wie Erzieher, Lehrer und Ärzte über dieses Störungsbild Bescheid wissen und betroffenen Kindern gegenüber nicht mehr feindselig auftreten. Aus Emis Sicht sollten den Eltern früh mögliche Symptome mitgeteilt werden, anhand derer das Störungsbild erkannt und dann behandelt werden kann. Auch die Klasse sollte aufgeklärt werden, damit die Mitschüler Verständnis aufbauen können. Sie hofft, dass man dann weiß und akzeptiert, dass diese Kinder nicht aus Trotz schweigen, sondern wirklich reden möchten und dabei professionelle Hilfe brauchen. Betroffene Kinder sollten früh Hilfen erhalten, damit für sie nicht so ein schwieriger Lebensweg entsteht, wie Emi ihn gegangen ist. Emi hofft, dass, durch mehr Wissen und eine größere Bekanntheit der Thematik, anderen Kindern vieles erspart bleibt. „Aber ich wünsch mir halt, dass es für andere einfacher gemacht wird. Dass nicht jeder erst diesen schweren Felsbrocken auf sich drauf kriegt und den selber tragen muss.“ (ebd. Zeilen 624626) Das Interview dauerte 34 Minuten. Es wurden über 6.400 Wörter gesprochen, von denen Emi den Hauptsprechanteil hatte. Zusammenfassung Emis Schweigen fiel erst im Gymnasium so auf, dass ihre Eltern zu Rate gezogen wurden. Sie fand in der Klasse keinen Anschluss und niemand ergriff für sie, wie vorher ihr Bruder oder eine Freundin, das Wort. Lehrer unterstellten ihr Trotzverhalten und für nicht erbrachte mündliche Leistungen erhielt sie Sechsen. Von den Mitschülern wurde sie inzwischen auf unterschiedlichste Art gemobbt. Nach einigen Jahren hatte Emi Symptome einer Essstörung und litt unter langen Wachphasen, wenn sie nachts voller Angst an den nächsten Tag dachte. Wenn sie Sprechblockaden, begleitet von Panik und Kontrollverlust hatte, verkrampfte sich ihr Körper so sehr, dass ihre Fingernägel in den Handinnenflächen blutende Wunden hinterließen. Ihr Selbstwertgefühl war ihr verloren gegangen und sie 66 war manchmal wütend auf sich selbst und darauf, dass sie nicht so war wie andere. Am Ende ihrer Kräfte bat Emi ihre Eltern um einen Schulwechsel. Sie wollte weit weg ganz neu beginnen. Um Nachfragen zu entgehen, entschied sie sich für eine Realschule und verzichtete auf die Möglichkeit, ihr Abitur innerhalb der geregelten Schulzeit zu machen. Emis Eltern – selbst hilflos und verzweifelt – unterstützten sie in ihrem Vorhaben. In der neuen Klasse gelang es Emi, am ersten Tag einige Sätze vor der Klasse zu sagen. Sie fand Freunde. Und um ihrem größten Ziel, dem Ziel zu reden, näher zu kommen, trainierte sie ehrgeizig und kontinuierlich ihre Wahrnehmung. Sie baute eine Welt um sich herum auf, die alles, was bedrohlich auf sie wirkte, ausblendete. Statt Schüler, Lehrer und das Klassenzimmer sah, hörte und roch sie die Dinge, die ihr Sicherheit vermittelten. Das waren ihre Lieblingslichtung, ihr Zwergkaninchen und eine Freundin. Emi lernte sogar, einzelne Frequenzen für sich akustisch „freizuschalten“ und wieder „wegzuschalten“. Dafür hatte sie keine Pubertät wie andere Jugendliche. Sie ging nie aus, die typischen Themen dieses Alters gab es für sie nicht. Ihre größten Stützen neben ihrer Fähigkeit der Wahrnehmungsveränderung waren ihr Bruder, ihr Kaninchen und ihr christlicher Glaube, zu dem sie fand. Emi wünscht sich, dass das Störungsbild bekannter wird, dass betroffenen Kindern nicht mehr feindselig begegnet wird und mehr Wissen verbreitet wird über das Thema. Kinder sollten möglichst früh Hilfen bekommen um nicht das durchzumachen, was sie erlebte. 9.1.7 Emis Familie Mit Emis Familie konnte telefonisch Kontakt hergestellt werden. Ein kurzes Interview wurde mit allen Beteiligten am Telefon durchgeführt. Emis Mutter Emis Mutter erkannte sich selbst im Verhalten ihrer Tochter wieder. Aber sie hielt Emis Schweigen in der Öffentlichkeit nicht für ein Problem. Sie hatte zwar bemerkt, dass ihre Tochter in der Öffentlichkeit kaum sprach, sah es aber erst in der Schulzeit als Problem. Als es in der Schule zu immer größeren Problemen kam, wurde sie kontaktiert und zu Elterngesprächen eingeladen. Die Lehrer 67 erwarteten von ihr in der Regel eine Lösung für das Problem, aber sie hatte keine. Sie kannte selbst sehr gut das Gefühl, nichts sagen zu können. Leider fasste die Schule Emis Schweigsamkeit als Trotzreaktion auf. Das Schweigen ihrer Tochter machte die Mutter hilflos. Sie konnte ihre Tochter gut verstehen, auch wenn das Problem bei ihr selbst weniger extrem aufgetreten war. Trotz ihrer eigenen Erfahrungen wusste sie nicht, wie sie ihrer Tochter helfen konnte. Vieles drehte sich um Emis Schweigen in der Familie und Emis Mutter zweifelte oft an ihrer Erziehung. Emis Vater Wirklich bewusst wurde ihm das Problem erst in der Schulzeit, als sich die Lehrer hilfesuchend an ihn wandten. Er hörte erst vor einigen Jahren durch seine Tochter von selektivem Mutismus. Bis dahin wusste er nicht, dass seine Tochter kein Einzelfall ist und dass das Problem einen Namen hat. Die Schule wurde durch Emis Schweigen vor ein Problem gestellt. Von ihm wurde eine Lösung dafür verlangt. Die Schule rief immer wieder an und verlangte, dass er zu Hause mal hart durchgreifen soll. Sie waren davon überzeugt, dass sich so Emis Trotzverhalten legen würde. Bei solchen Angriffen von Seiten der Lehrer stellte er sich schützend vor seine Tochter. Er wusste, dass Druck nicht half, aber Zweifel blieben zurück. Emis Vater fühlte sich hilflos. Er wollte seiner Tochter gern helfen, wusste aber nicht wie. In seiner Ratlosigkeit wünschte er sich Hinweise von seiner Tochter, was er tun könnte um ihr zu helfen. Er hätte alles für sie getan, um sie zu schützen, wenn er nur gewusst hätte, was. Er stand vor einem unlösbaren Rätsel und zweifelte oft an seiner Erziehung und seinem Verhalten ihr gegenüber. Er verstand nicht, was er falsch machte und warum sie ihm nicht vertraute und ihm einfach erzählte was los war. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass man, auch, wenn man es will, nichts sagen kann. Seine Frau versuchte ihm oft zu erklären, wie es sich für sie früher angefühlt hat, aber er fühlte sich einfach hilflos. Emis Bruder Emis Bruder hatte und hat eine enge Beziehung zu seiner Schwester. Wann ihm ihr Schweigen bewusst aufgefallen war, weiß er heute nicht mehr. Er erinnert sich 68 daran, schon im Kindergarten das Sprechen für Emi übernommen zu haben. Meist genügte ein Blick, um sich zu verständigen. Er kannte seine Schwester in der Öffentlichkeit nur schweigend, für ihn war es normal. Auch, dass er sie beschützte als großer Bruder, darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht. Sorgen machten ihm allerdings die körperlichen Nebenerscheinungen. Sie aß immer weniger und machte immer mehr Sport. So kam es zu einer Abmachung zwischen den Geschwistern. Solange eine fünf als erste Zahl auf der Waage stand, war alles in Ordnung. Sie hatten nie darüber gesprochen, was sonst passieren würde, es war nicht nötig. Er kontrollierte auch nie ihr Gewicht, sondern vertraute ihr voll. 9.1.8 Sarah Sarah ist heute 12 Jahre alt und wurde von der gleichen Logopädin begleitet wie Max. Im Frühjahr 2014 konnte Sarah die Therapie mit der Option beenden, bei Bedarf wieder zu kommen. Sie wurde ca. drei Jahre logopädisch begleitet, innerhalb dieser drei Jahre wurden einige Pausen eingelegt. Sarah nahm auch häufig an den Angehörigentreffen teil. Zu ihren Therapiestunden bemühte sich die Logopädin ebenfalls, zusätzliche Kontakte zu organisieren. Zudem arbeitete die Logopädin mit Sarahs Lehrerin zusammen. Die Therapiestunden von Sarah wurden ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit begleitet. Therapie und Angehörigentreffen Sarah wurde von ihrer Mutter zu den Therapien und Angehörigentreffen begleitet. Zu den Angehörigentreffen begleitete sie zusätzlich auch oft ihre Tante (die Schwester der Mutter), welche zwar nicht diagnostiziert war, aber ebenfalls die Symptome für selektiven Mutismus aufwies. Sarah war die Jüngste von allen. Sie hielt sich selbst immer sehr zurück, war dabei immer freundlich und in ihrem Verhalten angepasst. Aufgegebene Hausaufgaben erledigte sie in der Regel vorbildlich. Sie erhielt zum Beispiel die Aufgabe, sich häufiger zu melden in der Schule oder auch, etwas vor der Klasse vorzutragen und das vorher mit der Lehrerin zu besprechen. Manchmal brauchte sie länger als eine Woche, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Der Mut, den sie aufbringen musste, war nicht immer gleich zur Stelle. 69 Einmal las sie bei einem Angehörigentreffen, ermutigt durch ihre Mutter, ein selbst geschriebenes Gedicht vor. Sie erntete Beifall und Anerkennung. Auch wenn sie nicht gern im Mittelpunkt stand, schien sie sich über diese Zuwendung zu freuen. Hinter einem verhaltenen Lächeln strahlten ihre Augen kurz auf. Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde bei Sarah zu Hause durchgeführt. Die Mutter berichtete, dass Sarah vorher schlechte Laune zeigte und eine Abwehr bezüglich des herannahenden Termins. Zur Begrüßung und Kontaktaufnahme reagierte Sarah jedoch freundlich und konnte Blickkontakt aufnehmen und halten. Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Nachdem mit Sarahs Mutter die Datenschutzbestimmungen besprochen und unterschrieben wurden, wurde die Technik auf dem Wohnstubentisch aufgebaut. Es wurde ein kleines, aber qualitativ hochwertiges Aufnahmegerät benutzt. Sarah setzte sich mit an den Tisch und ihre Mutter verließ den Raum. Die Technik und das Interview wurden noch einmal kurz erklärt. Sarah wurde mitgeteilt, dass es sehr mutig von ihr war, ein Interview zu geben, und ihr Wurden Dank und Anerkennung dafür ausgesprochen. Sarah war sehr freundlich und ging während des Gespräches immer wieder in Blickkontakt. Trotzdem wirkte sie sehr angespannt und erweckte den Eindruck, das Ende des Interviews herbeizusehnen. Sie sprach sehr leise. Das Aufnahmegerät wurde ganz nah zu ihr gestellt, damit ihre Stimme zu hören war. Sarah selbst berichtete aus ihrer Kindergartenzeit: „Manche hatten zu mir gesagt dass (...) ich manchmal so leise spreche und dann dacht ich das halt auch und denn blieb das immer so (...) ja“ (Interview Sarah, Zeilen 9,10). Sarah sagte, dass sie nur mit Jungs nicht sprechen konnte. Auf Nachfrage, ob sie denn mit Erwachsenen sprechen konnte, antwortete Sarah: „(...) mit denen hab ich nur (....) guten Morgen und tschüss gesagt“ (ebd. Zeile 23). Zu Hause konnte sie ganz normal sprechen. Kamen Verwandte dazu, war es nicht immer einfach, weiter zu sprechen. Manche kannte Sarah nicht so direkt, berichtete sie. Dann konnte Sarah nur auf Fragen antworten. Sarah wurde gefragt, ob das belastend für sie gewesen war. „(...) Manchmal so´n bisschen. (..)“ (ebd. Zeile 33) antwortete sie. Sarahs Blick senkte sich immer wieder abwartend, dabei saß sie 70 kerzengerade auf ihrem Sessel, die Hände im Schoß haltend. Bei jeder Frage ging sie wieder in Blickkontakt und lächelte immer freundlich, wenn sie antwortete. Sarah berichtete von ihren Freundinnen, die für sie die Sprache übernommen hatten wenn Jungs sie etwas gefragt hatten: „(...) Wenn mich zum Beispiel Jungs irgendwas gefragt haben, und dann hab´n meine Freundinnen immer für mich geantwortet, weil die irgendwie schneller waren und dann (...) dachten die alle ich könnte nicht sprechen, so.“ (ebd. Zeilen 35-37) Als sie nach weiteren Problemen befragt wird wie Bauchweh, Kopfschmerzen, Ängsten, nicht schlafen können usw. kann sie sich an derartige Dinge nicht erinnern. Den Übergang in die Schule empfand Sarah in den ersten Wochen noch ganz normal. Da hatte sie sich normal verhalten, aber dann sei sie irgendwie immer leiser geworden. Lehrer und Schüler habe vorsichtig reagiert und z.B. für sie geantwortet. Die Lehrer haben immer aufgepasst, dass sie sich verbessert. Sarah fühlte sich von ihnen unterstützt. Auf Nachfrage, ob das bei allen Lehrern so sei, sagte Sarah „(.) Nicht so richtig. (...)“ (ebd. Zeile 55). Ein Junge in der Klasse reagierte immer anders als die anderen Kinder. Er wurde aggressiv, wenn sie ihm nicht antwortete. Sarahs Stimme zitterte, als sie das Thema ansprach. Ihre Freundinnen versuchten sie zu beschützen. Wenn die Lehrer es bemerkten, griffen auch diese ein. Mündliche Leistungen wurden im Wesentlichen nicht abverlangt. Ob sie darüber froh war, konnte Sarah nicht sagen, denn darüber habe sie nicht nachgedacht. Manchmal hat Sarah versucht, in der Schule lauter zu sprechen. Sie meldete sich und sprach etwas lauter. Das war ihr Versuch, etwas zu ändern an der Situation. Auf die Frage, ob das schwer gewesen sei sagte Sarah: „(...) Es ging einigermaßen.“ (ebd. Zeile 80) Als die Logopädie begann, strengte Sarah sich in der Schule an und sprach auch mehr mit anderen. Wer die Logopädie in die Wege geleitet hatte, wusste Sarah nicht. Aber Freunde und die meisten Lehrer halfen ihr zusätzlich. Auf die Frage, ob jemand aus der Familie die Logopädin oder auch erstmal einen Arzt aufgesucht hätte, antwortete Sarah: „So´n bisschen.“ (ebd. Zeile 90) Ob es hilfreich war gab sie mit „(...) Eigentlich schon. (...)“ an (ebd. Zeile 104). Sarah war neun Jahre alt, als sie mit der Logopädie begann. Sie wurde innerhalb der Therapien manchmal einkaufen geschickt und es wurde geübt, lauter zu sprechen. Sarah konnte nichts benennen, was wenig oder gar nicht hilfreich war. Sie fühlte sich so angenommen, wie sie war. Auf die Frage, was sie sich für 71 andere betroffene Kinder wünscht, antwortet sie schnell und flüssig: „Dass die zu einer Therapie gehen können und denen geholfen wird.“ (ebd. Zeile 123) Zusammenfassung Sarah bemerkte durch andere in der Kindergartenzeit, dass sie sehr leise sprach. Erwachsene wurden nur begrüßt und verabschiedet, mit Jungen konnte sie gar nicht sprechen. In der Schule übernahmen Freundinnen für sie in der Regel die Sprache. Sie fühlte sich von den meisten Lehrkräften unterstützt. Mit neun Jahren nahm sie eine logopädische Begleitung in Anspruch. Das motivierte sie, sich in der Schule mehr anzustrengen und sich sprachlich mehr zuzutrauen. Inzwischen meldet sie sich häufiger und spricht lauter und auch mit mehreren anderen Menschen. Sarah wünscht sich für andere betroffene Kinder, dass diese eine Therapie in Anspruch nehmen können. Über weitere Belastungen oder darüber, wie es ihr mit verschiedenen Dingen ging, konnte sie keine klaren Aussagen machen. Das Interview dauerte 11 Minuten. Es schien auf beiden Seiten der Wunsch zu bestehen, die angespannte, wenn auch freundlich gestaltete Situation beenden zu wollen, um Sarah nicht zu viel zuzumuten. Sarahs Stimme war so leise, dass das Interview in einem Tonstudio nachbearbeitet werden musste, um es verstehen zu können. 9.1.9 Sarahs Mutter Durch die Therapien und Angehörigentreffen konnte der Kontakt aufgebaut werden. Sahras Mutter stimmte ebenso wie Sarah dem Interview zu. Vorgespräch Die Mutter berichtete Im Vorgespräch, dass es schon im Kindergarten Auffälligkeiten gegeben habe. Der Umgang der KiTa mit dieser Problematik habe sie sehr gekränkt und sie habe das Vertrauen in die Erzieherin verloren. Aus einem Entwicklungsbericht, zu dessen Zeitpunkt Sarah sechs Jahre und drei Monate alt war, geht hervor, dass das Mädchen aufgrund andauernder psychosozialer und sprachlicher Auffälligkeiten nach zwei Jahren die Gruppe wechseln musste und ab dem Alter von fünf Jahren in einer integrativen Gruppe 72 betreut wurde. Sie wurde beschrieben als weiter unumgänglich und sich anderen Gruppenmitgliedern und Erziehrinnen gegenüber fast nur auf Aufforderung hin äußernd. Dies geschehe sehr leise und meistens in Ein- bis Zweiwortsätzen. Vor allem bei körperlicher Nähe scheine sie sich unwohl zu fühlen lehne dies daher ab. Komme ein weiteres Kind zu dem in der Regel fest gewählten Spielpartner hinzu, ziehe sich Sarah zurück. Wünsche und Bedürfnisse äußere sie auch nicht. Sie zeige Unsicherheiten in der Planungs-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit und könne so ihre Fähigkeiten in der Regel nicht anwenden. Auf ihre Mitmenschen wirke Sarah wie ein nicht sprechendes Kind. Zu Hause würde sie nach Aussage der Mutter normal sprechen, wenn niemand anderes dazu käme, denn dann verfiele sie wieder ins „Schweigen“ und wirke angespannt. Blickkontakt werde ebenfalls vermieden. Die Gefühlsäußerungen von Sarah seien sehr minimal, Blickkontakt und Gestik würden zum Teil sehr monoton und ausdruckslos wirken und mimische Bewegungen seien kaum vorhanden. Die KiTa erkannte, dass Sarah Aufgaben verstand und gut umsetzte und vermutete so keine kognitiven Defizite. Sie empfahl eine Diagnostik und Einschätzung durch Fachärzte. Die Art des Umgangs mit der Problematik konnte die Mutter schwer annehmen. Wohl aber wollte sie für ihre Tochter adäquate Unterstützung. Sie kannte solche Verhaltensweisen aus der Familie, ihre Schwester sei ihrer Meinung nach ebenso betroffen. Das Interview Zunächst wollte die Mutter ebenfalls ein Interview geben. Als sie erfuhr, dass das Gesagte dann wörtlich niedergeschrieben wird, lehnte sie dies auch bei der Zusicherung einer Nichtveröffentlichung ab. Ihr war der Gedanke einfach unangenehm. Sie fragte, ob sie das Interview nicht schriftlich geben könne. Dies wurde ihr zugesichert. Ein Fragebogen wurde, angelehnt an den Interviewbogen, ausgearbeitet und ihr zugesendet. Sarahs Mutter hatte schon im Vorgespräch und einem danach folgenden Gespräch wahrgenommen, dass diese Erinnerungen sie emotional stark aufwühlten. Aufgrund ihrer seit kurzer Zeit bestehenden Schwangerschaft sorgte sie sich um das Wohlergehen des ungeborenen Kindes, da sie wusste, dass die Auseinandersetzung mit der Thematik bei ihr alte negative, sehr belastende Gefühle auslösten. Sie entschied sich aus diesem Grund, sich zu diesem 73 Zeitpunkt dieser Thematik nicht zu stellen um ihre Schwangerschaft nicht mit zusätzlichen Stresshormonen zu belasten. 9.2 Vergleiche zwischen den Betroffenen Die Betroffenen sollen im Folgenden vor allem zu den drei Forschungsfragen untereinander verglichen werden. Dabei werden auch die Informationen aus den Interviews mit den Angehörigen genutzt. Wann fiel es den Betroffenen selbst auf, dass sie Schwierigkeiten in der Kommunikation hatten? Während Sarah und ihre Mutter schon im Kindergarten von anderen die Rückmeldung bekam, dass Sarah zu leise und zu wenig sprechen würde, begannen die selbst empfundenen Schwierigkeiten für Emi und Max mit dem Übergang in die Schule. Emi konnte gut erläutern, dass zwar schon im Kindergarten ihr Bruder und ihre Freundin für sie das Sprechen übernahmen, dass sie das aber nicht anders kannte und es somit ganz normal fand. Erst in der Schule mit den neuen Anforderungen wurde es schwieriger. Max benennt ebenfalls eindeutig den Übergang in die Schule und die damit verbundenen höheren Anforderungen. Gab es professionelle Hilfen? Wenn ja, wann gab es diese und wie wirkten sie sich auf die Entwicklung der Betroffenen aus? Sarah und Max erhielten schon im Kindergarten Hilfe. Da zunächst niemand das Störungsbild kannte und so auch nicht adäquat einordnete, wurde mit den betroffenen Kindern und ihren Familien nach dem vorhandenen Wissensstand gearbeitet. Sarah erhielt erst einige Jahre später, im Alter von neun Jahren, adäquate Hilfe. Die logopädische, speziell auf selektiven Mutismus abgezielte Therapie erwies sich als erfolgreich und Sarah konnte sie zunächst nach drei Jahren beenden. Für Max wurden verschiedene Hilfen initiiert. Die erste adäquate Hilfe, die seinem Störungsbild gerecht wurde, erhielt er mit 23 Jahren. Zuvor erhaltene Therapien und Beratungen waren offensichtlich wenig bis gar nicht hilfreich und wurden von Max zum Teil sogar als sehr negativ empfunden. Möglicher Weise trugen sie zur Manifestation des Störungsbildes bei. 74 Das Verhalten der pädagogischen Seite (Erzieher, Lehrer) kann sehr unterschiedlich bewertet werden. Sarahs Schweigen fiel im Kindergarten auf. Die Betreuungseinrichtung bat die Mutter, eine Diagnostik durchführen zu lassen. Emi fiel im Kindergarten gar nicht auf. Max erhielt Hilfen durch seine Mutter, die ihre Umgebung sensibilisierte. In der Grundschule hatte Max die ersten großen Probleme nach einem Lehrerwechsel. Die Empfehlung zur Förderschule entsprach weder seinem Leistungsvermögen noch seinem Störungsbild. Während Emi auf dem Gymnasium von Lehrkräften zurück gewiesen wurde und Mobbing durch ihre Mitschüler erlebte, fühlten sich Sarah und Max durch ihre Lehrkräfte weitestgehend unterstützt. Max blieb durch die Vorgaben des Schulamtes ein Abitur verwehrt. Emi verließ das Gymnasium, da sie dem emotionalen Druck nicht mehr gewachsen war. Die Einweisung in eine Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie half Max nicht, sein Schweigen zu überwinden. Vielmehr ging es ihm zunehmend schlechter, so dass seine Mutter die Behandlung einige Wochen früher abbrach. Trotz seiner zuvor guten Leistungen musste er durch diesen Aufenthalt eine Klasse wiederholen und konnte nicht in seine alte Klasse zurück. Emi erhielt überhaupt keine professionellen Hilfen und wurde in ihrem Störungsbild von niemandem erkannt. Sie überwand ihr Schweigen aus eigener Kraft. Eine kurze Übersicht der installierten Hilfen zeigt die folgende Tabelle. Dabei sind die Hilfen grün und fett gedruckt, die gezielt und erfolgreich den selektiven Mutismus behandelten. 75 Tabelle 4: Übersicht über installierte Hilfen der Betroffenen Max Sarah Emi Logopädie Integrativgruppe Keine Hilfen, (Vorschulalter) (Vorschulalter) Psychologische Empfehlung einer Beratung der Mutter Diagnostik (Vorschulalter) (Vorschulalter) Diagnostik: Logopädie mit „selektiver Mutismus“ (5.Klasse) Ausrichtung auf selektiven Mutismus (mit 9 Jahren) Psychologische Begleitung (5.Klasse) IQ-Test (zwischen dem 10.u.12. Lebensjahr) Ergebnis: besonders sprachlich begabt Tagesklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie (6. Klasse) Heilpädagogische Begleitung (ab 7. Klasse) Logopädie mit Ausrichtung auf selektiven Mutismus (mit 23 Jahren) 76 keine Diagnostik Tabelle 5: Was die Betroffenen selbst als hilfreich bezüglich der Überwindung des selektiven Mutismus benennen konnten Max Sarah Emi Logopädie mit Logopädie mit Zwergkaninchen Ausrichtung auf Ausrichtung auf selektiven Mutismus selektiven Mutismus (mit 23 Jahren) (mit 9 Jahren) (keine Altersangabe) Finden zum christlichen Glauben (keine Altersangabe, aber vor dem Schulwechsel) Emis Bruder Emis Eltern Emis Kraft und Fähigkeit, ihre Wahrnehmung zu verändern Handball und joggen Was ist aus Sicht der Betroffenen wichtig im Bezug auf das Störungsbild? Max wünscht sich, dass vor allem auch auf professioneller Seite mehr Verständnis für dieses Störungsbild herausgebildet wird. Die Vorurteile, dass es sich hier um Machtkampf handeln würde oder alles ein Zeichen familiärer Probleme sei, sollten endlich abgebaut werden. Emi betrachtet vor allem feindseliges, zurückweisendes Auftreten selektiv mutistischen Kindern gegenüber als kritisch. Ihnen Trotzverhalten zu unterstellen und dieses zu ahnden, sieht sie als besonders problematisch. Sie glaubt, dass die betroffenen Kinder – genau wie sie eins war – sprechen wollen und selbst unter ihrem Schweigen am meisten leiden. Sie hofft, dass das Störungsbild bekannter wird und dass Pädagogen sowie medizinische Fachkräfte es dadurch erkennen und diagnostizieren können. So können sie Eltern informieren und den Kindern zu adäquaten Therapien verhelfen. Sarah wünscht, dass betroffene Kinder eine Therapie machen können. 77 Zusammenfassend besteht der Wunsch nach Aufklärung, Verständnis und therapeutischen Möglichkeiten. Zusammenfassung Deutlich wird hier wieder die Bedeutung von Übergängen. Der Eintritt in die Schule war für Emi und für Max der Beginn einer für sie besonders schwierigen Zeit. Dies zeigt auf, wie wichtig eine Früherkennung dieses Störungsbildes ist. Die Voraussetzung dafür ist, dass pädagogische Fachkräfte über das hierfür notwendige Wissen verfügen. Symptome, wie unter Punkt 4 beschrieben, lassen sich teilweise in Kinderbetreuungseinrichtungen, teilweise in der Häuslichkeit beobachten. Die richtige Zuordnung der pädagogischen Fachkraft kann eine differenzierte Diagnostik unterstützen und dazu beitragen, dass frühzeitig adäquate Hilfen installiert werden. In Zusammenarbeit mit diesen können betroffene Kinder und ihre Familien professionell und effektiv unterstützt werden. Sarah wartete ca. fünf Jahre, bis sie in ihrem Störungsbild erkannt und gezielt darauf therapiert werden konnte. Max, dessen Mutter schon ab dem Kleinkindalter Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Therapeuten aufsuchte, konnte erst mit ca. 12 Jahren auf „selektiven Mutismus“ diagnostiziert werden. Auf eine adäquate, darauf ausgerichtete Therapie musste er weitere 11 Jahre warten. Emi und ihre Familie fanden gar keine Hilfe. Durch Zufall stieß Emi selbst im Internet auf die Thematik und setzte sich mit ihr auseinander. Emi hatte die Kraft, sich selbst aus ihrem Gefängnis des Schweigens zu befreien. Hilfreich waren bei allen Betroffenen ihre Herkunftsfamilie und Freunde. Dies unterstreicht die Aussagen von Bauer, der soziale Beziehungen als Schutzfaktor gegenüber der Aktivierung von Stressgenen angibt (Bauer 2011). In zwei von drei Fällen wurden die Lehrkräfte als hilfreich empfunden, in einem Fall eher Druck ausübend und ablehnend dem Kind und seiner Familie gegenüber. Emis größte Hilfe war ihr Hase, was einen interessanten Aspekt bezüglich tiergestützter Therapie bietet. Ihr christlicher Glaube, die Kontrolle über sich selbst durch ihr Training an ihrer Wahrnehmung sowie der Sport halfen neben der wichtigen Säule Familie. Damit ist sie vielleicht eine Ausnahme, denn die Literatur und auch die Beobachtungen im Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass selektiv mutistsiche Menschen eher einen geringeren Bewegungsdrang verspüren. Wie aus Tabelle 5 (s.o.) ersichtlich wird, erlebte sie im Vergleich zu Sarah und Max auch die höchste Selbstwirksamkeit. 78 9.3 Vergleich der Angehörigen untereinander Wann und wie ist eine Betroffenheit aufgefallen? Sarahs Mutter wurde von der zuständigen Erzieherin im Kindergarten sensibilisiert. Die Symptome konnten jedoch keinem Störungsbild zugeordnet werden. Ina, die Mutter von Max, bemerkte schon im Kleinkindalter, dass Max Verhaltensauffälligkeiten zeigte. Es konnte ihr aber niemand sagen, wie diese einzuordnen waren. Emis Eltern wurden erst im Gymnasium von den Lehrkräften auf Verhaltensauffälligkeiten ihrer Tochter aufmerksam gemacht. Emis Bruder stellte das Schweigen seiner Schwester nicht infrage, da er sie nicht anders kannte. Er sorgte sich später um Begleiterscheinungen, z.B. dass Emi kaum aß und immer mehr Sport trieb, um den erlebten Stress zu kompensieren. Gab es professionelle Hilfen? Wenn ja, wann gab es diese und wie wirkten sie sich auf die Entwicklung der Betroffenen aus? Die Hilfen wurden bereits unter 9.3 aufgeführt. Die betroffenen Eltern fühlten sich in ihrer Suche nach Hilfe oft ratlos und hilflos. Auch verschiedene Fachkräfte konnten über Jahre die Symptome der Kinder nicht zuordnen. Besonders Ina litt mit ihrem Sohn mit, als dieser in der Tagesklinik offenbar ungute Erfahrungen machte. Emis Eltern fanden gar keine Hilfe. Vor allem Emis Eltern und Ina fühlten sich oft hilflos und zweifelten an ihren Fähigkeiten im Umgang mit ihren Kindern. Was ist aus Sicht der Angehörigen im Bezug auf das Störungsbild wichtig? Ina hält Aufklärung und Weiterbildung der Fachkräfte für notwendig. Sie hofft, dass diese den betroffenen Kindern dann fachlich kompetenter begegnen und auch die Eltern für die Thematik sensibilisieren können. Eine individuelle, den Besonderheiten des jeweiligen Kindes gerecht werdende Förderung hält sie ebenfalls für wichtig. Auch für Angehörige wünscht sie sich Hilfe in Form von Austauschmöglichkeiten. Ein Netzwerk und Therapiemöglichkeiten vor Ort wären aus ihrer Sicht eine gute Idee. Emis Eltern bemängelten, dass niemand wusste, was mit Emi los war und dass ihnen niemand raten konnte, wie Emi zu helfen sei. 79 Sarahs Mutter erfuhr erst in einem Entwicklungsbericht, wie problematisch Sarahs Verhalten einzuordnen war und konnte die Form der Information nicht annehmen. Gespräche und Rückmeldungen vor einer Verschriftung hätten ihr eher das Gefühl gegeben, dass gemeinsam nach einer Lösung würde. 9.4 Vergleich zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen Deutlich wird hier, wie wenig ein selektiv mutistischer Mensch über sich selbst und seine Gefühle mitteilen kann. Möglich ist auch, dass bestimmte Erinnerungen nicht mehr vorhanden sind. Dass dauerhaft erlebter Stress sich auf die Konzentration und das Erinnerungsvermögen auswirken kann, wird unter 7.3.3 beschrieben. Ebenfalls kann vermutet werden, dass die Fragen im Interview bestimmte Erinnerungen und Gefühle auslösten, die ein sich weiter Erinnern blockierten. Was neben der Schwierigkeit, zu sprechen, genau der Grund für die so unterschiedlich umfangreichen und detaillierten Schilderungen sein kann, kann nur vermutet werden. Es ist für dieses Störungsbild typisch und auch eine der Herausforderungen im therapeutischen Kontext. Max und seine Mutter Durch Inas Interview wird sehr deutlich, wie wenig Max aus seiner Biografie erzählte. Für Max war es sehr viel, was er gegenüber einer wenig vertrauten Person äußerte. Ob er sich an bestimmte Informationen, die Ina für wichtig hielt, nicht erinnern oder sie nicht preisgeben konnte, oder ob er sie für nicht relevant hielt, wurde nicht erfragt. Emotionale Belastungen, die zum Teil mit einem hohen Verlust an Körpergewicht einhergingen, wurden nur von Ina benannt. Max spricht die Zeit in der Tagesklinik auf Nachfrage auch an. Die Auskunft, dass es ist ihm dort nicht gut ergangen sei, war seine Form der Darstellung, die ihm offensichtlich genügte. Dass Max eine Klasse wiederholen musste, kam ebenfalls nur durch seine Mutter zur Sprache. Aus seiner Sicht ging alles weiter wie vorher. Sarah und ihre Mutter Sarah konnte angeben, wann ihr Verhalten auffiel. Emotionale Belastungen oder Schwierigkeiten konnte sie nicht benennen, sondern auf Nachfrage nur vage andeuten. Sachlich konnte sie verschiedene Fragen beantworten. Dass sie mit 80 Erwachsenen auch kaum sprach, berichtete Sarah erst auf eine konkrete Nachfrage hin. Da sie den Erzieherinnen „guten Tag“ und „tschüss“ sagen konnte, empfand sie dies möglicherweise weniger als Problem. Für sie schien das Problem eher in der Kommunikation mit Jungen zu liegen. Sarahs Mutter konnte einiges zu Sarahs Entwicklung erzählen, aber aus bereits genannten Gründen nicht mehr interviewt werden. Dies schränkt einen Vergleich bezüglich der Forschungsfragen deutlich ein. Emi und ihre Familie Emi konnte dadurch, dass sie das Schweigen überwand, selbst ausführlich Auskunft geben über ihre Biografie. Sie konnte ihre Emotionen mit all ihren erlebten Nöten schildern. Emi wies deutlich darauf hin, dass sie das während ihrer Betroffenheit niemals gekonnt hätte. Emis Eltern konnten nur in verkürzter Form telefonisch befragt werden. Sie konnten ihre eigene Rolle, ihre Nöte und Bedürfnisse äußern, was das familiäre Bild in seiner Betroffenheit vervollständigte. Zusammenfassung Außer Emi, die ihr Schweigen vor mehreren Jahren überwunden hat, konnte niemand der Betroffenen eine konkrete Belastung, Not, Schwierigkeiten oder erlebte Ängste verbalisieren. Auch auf konkrete Nachfragen konnten keine Gefühlsäußerungen oder Hilfegesuche verbalisiert werden. Hier scheinen die Angehörigen eine wichtige Mittler- und Schutzfunktion für die Betroffenen auszufüllen. Durch ihre Empathie, ihre Beobachtung und die Übernahme von Kommunikation können sie einen Teil der Not erkennen und intervenieren. Aber auch ihnen bleibt ein großer Teil der Gefühls- und Gedankenwelt der Betroffenen versperrt. Dies spiegelt Emis Bericht besonders deutlich wider. Nicht einmal ihrem Bruder, der ihr am nächsten stand und am meisten von ihr wusste, konnte sie ihre Probleme in der Zeit ihrer Betroffenheit anvertrauen. Ihr wichtigster Bezug diesbezüglich war ihr Zwergkaninchen, welches sie auch oft „Hase“ nannte. Emis Vater beschreibt seine Betroffenheit, indem er anspricht, nicht zu verstehen, dass seine Tochter ihm nicht vertraute und einfach sagen konnte, was mit ihr los war. Dies macht auch deutlich, wie wichtig eine professionelle Hilfe von außen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr Umfeld ist. 81 Auch wird eine familiäre Vorbelastung in allen Fällen deutlich: Emis Mutter, Sarahs Tante und bei Max war es sein Vater, der von dessen Mutter in dem Verhalten von Max wieder erkannt wurde. 9.5 Selbstreflektion Während meines BA-Studiums lernte ich das Störungsbild „selektiver Mutismus“ kennen. Mir fielen sofort mehrere Kinder ein, die ich in meiner dreijährigen Tätigkeit in einer Frühförderstelle begleitete. Sie wurden nicht erkannt in ihrem Störungsbild. Niemand von uns – weder Pädagogen, noch Mediziner - schienen selektiven Mutismus zu kennen. Für meine ehemaligen Kollegen war es neu, als ich ihnen davon berichtete. Intuitiv denke ich vieles im Umgang mit diesen Kindern richtig gemacht zu haben. Einigen konnte geholfen werden. Sie brauchten nach ca. einem Jahr keine Förderung mehr. Andere hatten es schwerer, vor allem, wenn die jeweiligen Betreuungseinrichtungen sich gegen eine „fremde Frühförderstelle“ verwehrten und ich keinen Zutritt in das Haus erhielt. Dann war es nicht möglich, das Sprechen auszudehnen in die Alltagsbereiche. Mit dem Eintritt in die Schule lief die Förderung aus und ich konnte sie nicht weiter begleiten. Diese Kinder hatten Potentiale, die ich erst nach und nach entdecken konnte. Sie lebten ihr Potential in der Regel nicht aus und schienen in der Gruppe völlig unter Stress zu stehen. Konnten sie diese Anspannung ablegen, erlebte ich aufgeweckte, neugierige und kreative Mädchen und Jungen, die mich mit ihren tatkräftigen Aktionen oft überraschten. Als ich mich für das Thema der Arbeit entschied, suchte ich Kontakt zu Betroffenen. Die Manifestation des Störungsbildes machte mich selbst zunächst fast sprachlos. Ich hoffe, dass sich bei keinem der von mir begleiteten Kinder (bei einigen wurde wegen der Einschulung Integrativgruppe die Förderung ausprägt. Trotz meiner oder dem Wechsel in eine abgebrochen) eine solche Manifestation fast zehnjährigen Erfahrung in der Erwachsenenpsychiatrie machte mich die Betroffenheit der begleiteten selektiven Mutisten selbst sehr betroffen. Jeder Kontakt außerhalb der Herkunftsfamilie war eine Riesenherausforderung. Die dauerhafte Anspannung muss für diese Menschen wahnsinnig anstrengend sein. Noch nie habe ich Menschen so sehr um Wörter, das Herstellen eines Blickkontaktes kämpfen sehen. Und da 82 Kommunikation eine wichtige Voraussetzung für Beziehungen ist, kann jeder Kontakt Anstrengung, Bedrohung und Kampf bedeuten. Wie einsam kann das machen? Was geht ihnen und uns verloren?! Durch die vorliegende Arbeit habe ich mich viel umgehört zu dem Thema. Immer häufiger erhielt ich Informationen über Menschen, die sich mutistisch verhalten. Gerade wurde ich von einer vierzigjährigen Frau kontaktiert, die erst vor wenigen Monaten zum ersten Mal von selektivem Mutismus hörte und sich nun nach Therapien erkundigt. Leider bietet Mecklenburg-Vorpommern da wenig an. Emis Geschichte hat mir zusätzlich verdeutlicht, wie es in betroffenen Menschen aussehen kann, wenn sie schweigen. Und Sarah gegenüber zu sitzen gab mir das Gefühl, ich müsste schnell aufhören und das Mädchen in Ruhe lassen. Sie tat alles, was von ihr erwartet wurde, aber sie schien zu leiden unter dieser Situation. Ich nahm wahr, wie ich selbst langsam unsicher wurde und auch nicht mehr wusste, was und wie ich sie befragen könnte, ohne sie zu belasten. Und belasten wollte ich sie nicht. Eine interessante Erfahrung, denn so geht es sicher vielen im Umfeld selektiv mutistischer Menschen. Auf die Antworten von Max zu warten, fiel mir wiederum nicht schwer. Ich freute mich über jedes gesprochene Wort, nicht nur für das Interview, auch für ihn. Max konnte gut nein sagen, wenn er etwas nicht wollte, das gab mir die Sicherheit, ihn nicht zu überfordern oder in eine Ecke zu drängen. Rückwirkend bin ich allen Beteiligten sehr dankbar für das Vertrauen, welches sie mir entgegen brachten und die Erfahrungen, die ich mit ihnen sammeln durfte. Ich hoffe, mit meiner Arbeit etwas beitragen und auf den Weg bringen zu können, damit der selektive Mutismus in Mecklenburg-Vorpommern bekannter wird und für die Betroffenen und ihre Angehörigen Anlaufstellen entstehen, in denen sie Informationen und Hilfe finden. 10 Zusammenfassung Zusammenfassend wird festgestellt, dass das Störungsbild selektiver Mutismus in Mecklenburg-Vorpommern kaum bekannt ist. Aktuelle Fachliteratur sowie die aufgeführten Praxisbeispiele zeigen eindeutig auf, dass Fachkräfte aus pädagogischen sowie medizinischen Berufen kein oder nur wenig Wissen über dieses Störungsbild besitzen. Dies hat zur Folge, dass Betroffene und ihr Umfeld mit ihren Problemen weitestgehend alleingelassen sind. Ohne Informationen, 83 einer gezielten Diagnostik und einem fachlich adäquatem Umgang mit selektivem Mutismus wird eine Manifestation des Störungsbildes begünstigt. Betroffene selbst können sich auch in größter Not nicht selbst mitteilen. Nicht einmal ihren engsten Angehörigen gegenüber können sie erklären, was mit ihnen geschieht. Ihr Schweigen und Vermeiden von Kommunikation wird in der Regel fehlgedeutet. In Mecklenburg-Vorpommern existieren so gut wie keine installierten adäquaten Therapiemöglichkeiten für Menschen mit selektivem Mutismus. Weder Krankenkassen, noch die Kassenärztlichen Vereinigungen können derzeit betroffenen Patienten und Angehörigen relevante Therapieplätze vermitteln oder empfehlen. Eine häufige Folge von manifestiertem selektivem Mutismus sind Isolation und eine Abhängigkeit vom Sozialsystem in Form von Hartz IV. Falsch, spät oder unbehandelt begünstigt er die Herausbildung von zusätzlichen psychiatrischen Störungsbildern, was nicht nur für die Betroffenen ein Problem darstellt. Gesellschaftlich gehen uns wertvolle Potentiale unserer Mitmenschen verloren. Auch die Kosten für die Behandlung und/oder den sich entwickelnden Folgen steigen, je länger auf eine adäquate Hilfe gewartet wird. Deutlich wurde die Bedeutung von Transition, wie der Übergang in die Schule, mit dem die Schwierigkeiten sich deutlicher zeigten oder verfestigten. Nach Dobslaff (2005) konnten Fachkräfte, nachdem sie aufgeklärt, beraten und in ihren eigenen Kompetenzen gestärkt wurden, ihr Unverständnis und Fehlverhalten gegenüber selektiv mutistischen Kindern abbauen. Um Menschen mit selektivem Mutismus in Mecklenburg-Vorpommern rechtzeitig helfen zu können, werden folgende Voraussetzungen benötigt und Vorschläge unterbreitet: 1. Aufklärung und Weiterbildung Die Thematik sollte Inhalt der Ausbildung pädagogischer Berufe sein, vor allem in der frühkindlichen Bildung. Dies ermöglicht eine Früherkennung, einhergehend mit einem angemessenen Umgang mit dem Störungsbild (inkl. Sensibilisierung des Umfeldes und einer Vermittlung zu Diagnostik und Therapie). Das gleiche gilt für das Lehramtsstudium. Gezielte 84 Weiterbildungen sollten ebenfalls für erziehende und lehrende Berufe fest verankert sein. In medizinischen Berufen, die mit diesem Störungsbild in Berührung kommen und die für die Diagnostik und Therapie relevant sind, sollte die Thematik ebenfalls als Ausbildungsinhalt integriert werden. Weiterbildungen in einem interdisziplinären Rahmen können die Praxis bereichern. Mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Bezugspunkten können verschiedene Berufsgruppen voneinander profitieren. Dies könnte eine Voraussetzung für eine spätere interdisziplinäre Arbeit werden. Denkbar wären auch Schulungen in Beratungsstellen und Organisationen wie der Telefonseelsorge. Die Ergebnisse des sich derzeit in der Evaluierungsphase befindenden Screenings zur Früherkennung von der Universität Dortmund (Starke, Subollek, Käppler siehe URL 13) bleibt abzuwarten. Auch sie könnten einen Beitrag zur Früherkennung leisten. 2. Überarbeitung der diagnostischen Leitlinien (ICD-10) Die diagnostischen Leitlinien für selektiven Mutismus entsprechen nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Stand und erschweren eine Diagnostik teilweise. Eine Anpassung an die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse würde Betroffenen und professionellen Fachkräften Türen öffnen, adäquate Therapien verordnen bzw. nutzen zu können. Auch tragen die Leitlinien dazu bei, veraltete Ansichten bezüglich des Störungsbildes zu verfestigen. Allein die Begriffswahl „elektiv“ im ICD-10 suggeriert, dass Betroffene frei wählen könnten, wo und mit wem sie kommunizieren. 3. Überarbeitung des Heilmittelkatalogs für Logopädie Der Heilmittelkatalog berücksichtigt selektiven Mutismus nicht. Er wird derzeit unter „Redeflussstörung“ verordnet (siehe URL 36). Dies zeigt ebenfalls, wie wenig Raum der selektive Mutismus in Fachkreisen einnimmt. 4. Therapiemöglichkeiten vor Ort Eine Therapie, die auf selektiven Mutismus ausgerichtet ist, basiert auf Beziehung einhergehend mit qualitativ 85 und quantitativ optimalen Kontaktmöglichkeiten. Telefonisch mag Angehörigen zum Teil geholfen sein, Betroffene benötigen ausnahmslos Ansprechpartner vor Ort. Diese müssen so gut erreichbar sein, dass mindestens wöchentliche Treffen von der Entfernung her gut zu meistern sind. 5. Herausbildung eines Netzwerkes Netzwerke haben den Vorteil, dass sie sich sehr kreativ, offen und vielfältig gestalten lassen. In sie sind häufig verschiedene Professionen, Institutionen, Betroffene sowie Angehörige involviert. Das ermöglicht nicht nur einen interdisziplinären Austausch und Kooperation, sondern auch Informations- und Austauschmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige. Ein Netzwerk vor Ort kann auch regionale Unterstützung bieten in Form von Informationen über Erfahrungen im Umkreis und sich zur Aufgabe machen, Hilfen zu installieren. 6. Aufnahme der Thematik in das Informationsblatt Psychotherapie Eine Aufnahme des Störungsbildes in das Informationsblatt Psychotherapie kann ebenfalls zur Installation und Information von Hilfen beitragen. Allein der Fall, dass das Störungsbild aufgeführt ist, fordert auf, sich damit auseinanderzusetzen und zeigt einen Bedarf auf. Der Wunsch nach einer Weiterbildung diesbezüglich kann z.B. eine Folge sein. Mecklenburg-Vorpommern zeigt einen hohen Bedarf, was die Information über selektiven Mutismus und die Installation von Hilfen betrifft. „...Betroffene, die stehen ganz, ganz lange allein im Regen ehe sie erstmal wissen, was ist es überhaupt...“ (Interview Ina, Zeilen 1156, 1157). 86 (LGHVVWDWWOLFKH(UNOäUXQJ Ich versichere hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt habe. Außer der angegebenen Quellen wurden keine weiteren Hilfsmittel verwendet. Die aus den Quellen direkt und indirekt übernommenen Gedanken sind als solche gekennzeichnet. Diese Arbeit hat bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen. …………………………………………. Neubrandenburg, den 18.09.2014 87 Literatur und Quellen Ahnert, L. (2011). Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung-Bildung-Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Bahr, R. (1998). Schweigende Kinder verstehen. Kommunikation und Bewältigung beim elektiven Mutismus. 2. Aufl. Heidelberg: Ed. Schindele. Bahr, R. (2004). Wenn Kinder schweigen. Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein Praxisbuch. 2. Aufl. Düsseldorf/Zürich: Walter Verlag. Bauer, J. (2011). Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München: Piper Verlag GmbH. Beigel, D. (2003). Flügel und Wurzeln. Persistierende restreaktionen frühkindlicher Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten. Dortmund: verlag modernes lernen. Bohnsack, R. M. (2011). Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Regensburg: Verlag Barbara Budrich. 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