Universität Zürich Geographisches Institut und Institut für Politikwissenschaft „Geographie des Politischen“ Michael Hermann/Heiri Leuthold Fahrettin Calislar [email protected] 92-706-852 WS 2005/2006 Kolloquiumsbeitrag 10. 2. 2006 Friedrich Pukelsheim und Christian Schuhmacher (2004): Das „Neue Zürcher Zuteilungsverfahren“ für Parlamentswahlen Aktuelle juristische Praxis AJP 5/2004, S. 505-522. 1. Zu den Autoren Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim1 (geboren 1948) ist Mathematiker aus Stadtbergen bei Augsburg. Er hat dort an der Universität den Lehrstuhl für Stochastik inne und amtet als Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Zurzeit erarbeitet er unter anderem im Auftrag des Deutschen Bundestages eine Neuverteilung der Sitze. Christian Schuhmacher, heute Leiter Gesetzgebungsdienst bei der kantonalen Direktion für Justiz und des Inneren, bearbeitete das Problem der Erneuerung des Zürcher Wahlsystems. 2. Problemaufriss Es fragt sich, wie man die Demokratie, ihre Prozesse und ihre Institutionen perfektionieren kann. Das neue Zuteilungsverfahren bei Parlamentswahlen von Friedrich Pukelsheim widmet sich diesem Problem der „Konkretisierung der politischen Gleichheit.“ Der grüne Lokalpolitiker und Jurist Mathis Kläntschi hatte nach den Zürcher Gemeinderatswahlen im Jahr 2002 mit einer Stimmrechtsbeschwerde ans Bundesgericht das politische Zürich erschüttert. Das Bundesgericht entschied am 18. Dezember 2002, dass die Erneuerungswahl verfassungswidrig durchgeführt worden sei. Die bestehenden Wahlkreise sind wegen der Bevölkerungsmobilität unterschiedlich gross geworden, so dass zur Erringung eines Sitzes unterschiedlich viele Stimmen benötigt werden. Also dass im Fall des beanstandeten Stadtkreises 1 mit 2 (von insgesamt 125) Sitzen eine Partei ein natürliches Quorum2 von mindestens 33% der Stimmen haben muss. Nicht einmal der 16%-Anteil der Grünen reichten 1 Online im Internet: http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/pukelsheim/curriculum-vitae.html [Stand: 21.1.2006]. 2 Dieses unterscheidet sich vom direkten Quorum, das eine gesetzlich vorgeschriebene Wahlhürde vorsieht. damals für einen Sitz aus. Dafür erhielt die SVP wegen der verschieden grossen Wahlkreise mit 18.5% Wähleranteil, 24.8% der Gemeinderatssitze.3 Das Bundesgericht erwog wegen der Verzerrungen, die Wahlen zu annullieren. Darauf arbeiteten Stadt und Kanton eine neue Regelung aus. Statt der zuerst angestrebten Zusammenlegung bestehender Mathematikprofessors Friedrich Wahlkreise Pukelsheim nahm auf, man dessen die Vorschläge des „doppelt-proportionale Divisormethode mit Standardrundung“4 im Jahr 2003 ins Gesetz über die politischen Rechte aufgenommen wurde.5 Nach dem neuen Schlüssel hätte die SVP im obigen Beispiel zugunsten kleinerer Parteien 8 Sitze abgeben müssen, die SP deren 5. Am 12. Februar soll das neue Verfahren das erste Mal an den Zürcher Gemeinderatswahlen eingesetzt werden.6 3. Ein neuer Wahlmodus für den Kantonsrat Der Zürcher Kantonsrat hat 180 Sitze, die in 18 Wahlkreisen bestimmt werden. Dabei bilden in der Regel die klassischen Bezirke je einen regionalen Wahlkreis, dazu kommen Unterteilungen in Winterthur (2 Wahlkreise) und Zürich (6 Wahlkreise). Die Sitzeinteilung entspricht der Bevölkerungszahl. Der kleinste Kreis ist Andelfingen mit 4 Sitzen, die grössten (Uster, Horgen, Bülach) weisen 16 Sitze auf. Je kleiner ein Kreis also ist, desto mehr Stimmen muss eine Liste auf sich vereinigen, um einen Sitz erhalten zu können. Das bis heute verwendete Verfahren nach dem Schweizer Hagenbuch-Bischoff (ähnlich „d’Hondt“7) führte beispielsweise in Andelfingen zu einem natürlichen Quorum von 1/(m-1), also mindestens 20 Prozent, um einen Sitz auf sicher zu haben. In zwei Stadtzürcher Kreisen brauchte man noch 16%, in den grössten Bezirken „genügten“ 6% der Stimmen. Aus demokratischer Sicht, so argumentiert der Kantonsrat, müsse man vermeiden, dass Stimmberechtigte in den „kleinen“ Wahlkreisen weniger Stimmgewicht haben als diejenigen in den „grossen“. In der Kantonsverfassung Art. 32 wird das Proporzwahlrecht vorgeschrieben. Neben dem Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ – also gleiches Verhältnis zwischen Stimmen und Sitzzahl - soll auch die Erfolgswertgleichheit gelten, also „dass alle Stimmen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen, wobei möglichst alle Stimmen bei die Mandatsverteilung 3 „Gerechtere Wahlkreise für Zürich“, Tages-Anzeiger, 9.9.2004: S. 22. Der gängigere Spitzname „doppelter Pukelsheim“ wird dem Regierungsrat Markus Notter zugeschrieben. 5 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, Sitzung vom 4. Juni 2003, Beschluss 766. 6 Aktuelle Beiträge zur Debatte sind „Methode Pukelsheim funktioniert“, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 288, 9.12.2005: 55, und „Jedem Wähler der gleiche Erfolgswert - das neue Zürcher Wahlsystem aus Sicht seines Erfinders“, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 282, 2.12.2005: 55. Neu wird Pukelsheims Zuteilungsverfahren auch im Kanton Aargau erwogen: „Neues Wahlmodell im Aargau“, Tages-Anzeiger online, 9.1.2006. Online im Internet: http://www.tages-anzeiger.ch [Stand: 9.1.2006]. 7 Eine kurze Zusammenfassung der beiden ähnlichen Systeme: Im ersten Schritt werden jeder Partei Sitze entsprechend ihrer abgerundeten Quote zugeteilt und danach in einer Art Versteigerung die verbleibenden Restsitze verteilt. 4 zu berücksichtigen seien.“8 Damit aber möglichst viele Wähler mit ihren Stimmen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben können, setzt dies (bei gleich bleibender Zahl von Wahllisten) eine Mindestmenge von zu vergebenden Sitzen im Wahlkreis voraus. Im Fall des Stadtkreises 1 wurden bis zu einem Drittel der Wählerstimmen bisher nicht berücksichtigt, waren also „gewichtslos“, was die Wahlrechtsfreiheit verletzte. Aufgrund früherer Rechtsprechung müsse man davon ausgehen, dass ein natürliches Quorum von 10% (also mindestens 9 Sitze) „als mit dem Proportionalitätsgedanken noch vereinbar“ sei. Dies schliesse ausdrücklich auch direkte Quoren ein, um Splittergruppen in Parlamenten zu verhindern, die den Betrieb belasten könnten. Pukelsheim erhielt die Vorgabe, ein System zu entwickeln, das eine Stimme weder unter-, noch übergewichtet, und dabei die traditionellen regionalen Grenzen der Wahlkreise belässt. 4. Der „doppelte Pukelsheim“ Pukelsheim geht von der Differenz zwischen dem idealen (Anzahl Sitze durch Anzahl Stimmen pro Wahlkreis) und dem realen Erfolgsanteil (Sitzzahl einer Partei durch Anzahl Stimmen) aus. Die Differenz nennt man den Erfolgswertfehler. Dieser Wert muss für alle Wähler möglichst klein – oder besser optimal - sein. Zu diesem Zweck geht Pukelsheim von einer zweiphasigen Verteilung aus, einer Ober- und einer Unterzuteilung. Zuerst werden die 180 Kantonsratssitze auf die Listen verteilt. Diese der Partei zugewiesenen Sitze werden in einem zweiten Schritt an ihre regionalen Wahlkreislisten weitergegeben, solange die Sitzzahl der Oberzuteilung stimmt. Wie beim alten Verfahren kommt eine Divisormethode (Stimmenzahl durch Sitzanteil) zum Zuge. Dabei wird im Gegensatz zum alten Verfahren die erreichte Sitzzahl nicht automatisch abgerundet, sondern „standardmässig“ – nach Webster/Sainte-Laguë - ab x.5 aufgerundet. Dies führt zu einer besonders harmonischen Übereinstimmung mit der Erfolgswertgleichheit der Wähler. Doch erst die Doppelproportionalität löst das eigentliche Hauptproblem der zu kleinen Wahlkreise. Die Parteienlisten in den Bezirken werden für die Berechnung zu kantonalen Listengruppen zusammengefasst. Das ganze Verfahren wird für die Unterzuteilung zwei Mal durchexerziert. Dabei muss berücksichtigt werden, dass ein Divisor nach der Aufteilung auf die Parteien auch die Stimmgewichte pro Wahlkreis so weit ausgleicht, dass niemand überund niemand untergewichtet ist, deshalb die Begriff „doppelt-proportional.“ Falls eine Partei am Schluss zu viel oder zu wenige Sitze gegenüber der Oberzuteilung hat, werden die 8 PUKELSHEIM, Friedrich und SCHUHMACHER, Christian (2004): “Das ‘neue Zürcher Zuteilungsverfahren’ für Parlamentswahlen”, Aktuelle juristische Praxis 5(2004): 506-507. Divisoren verändert, bis es „stimmt“. Pukelsheim bedient sich folgender Graphik (Pukelsheim/Schuhmacher, 2004, S. 516), um diese Verteilung zu erklären: Partei A (6 Sitze) 14400-3 Sitze 10100-2 Sitze 6400-2 Sitze WK I (6 Sitze) WK II (5 Sitze) WK III (4 Sitze) Partei B (5 Sitze) 12000-2 Sitze 10000-2 Sitze 6000-1 Sitze Partei C(4 Sitze) 4500-1 Sitze 9900-1 Sitze 5000-1 Sitze Wahlkreisdivisor 5150 6660 4200 Man sieht, dass die Zahl der Sitze in den Wahlkreisen nicht mit dem gesamten Sitzanspruch zusammenhängt und dass im Wahlkreis II zwischen Partei A und Partei C ein Ungleichgewicht besteht. Also wird neu berechnet und zugeteilt. WK I (6) WK II (5) WK III (4) ListengruppenDivisor Partei A (6 Sitze) 14400-3 10100-2-1 6400-2 1.013 Partei B (5 Sitze) 12000-2 10000-2 6000-1 1 Partei C(4 Sitze) 4500-1 9900-1-2 5000-1 0.97 Wahlkreisdivisor 5150 6660 4200 5. Stärken und Schwächen des Systems Zu den Stärken: Die zwei Ebenen der Aufteilung ermöglichen den Wählern, dass ihre Stimmen genauer in die Aufteilung einfliessen, denn die Erfolgswertgleichheit ist auf Kantonsebene – und somit wahlkreisübergreifend – gewährleistet, als ob der ganze Kanton EIN Wahlkreis wäre. Neben der „Konkretisierung der politischen Rechte“ werden auch die geographischen Eigenschaften der Regionen durch die hohe Gewichtung der Bezirke oder Stadtkreise9 im Vergleich zu den Parteien berücksichtigt. Die neue Ordnung ist also auch ein Zugeständnis an die historisch stark verankerte regionale Wahlkreisaufteilung. So können zudem heikle Situationen verhindert werden, die durch Verzerrungen wegen der verschieden grossen Wahlkreise entstehen. Ein weiterer wichtiger Vorteil ist der durch das neue Zuteilungsverfahren ermöglichte Verzicht auf die Eigenheit der Listenverbindungen. „Aus Sicht der Wahlfreiheit ist das zu begrüssen“, schreiben die Autoren (Pukelsheim/Schuhmacher, 2004, S. 518). Es sei zweifelhaft, ob alle Wähler die Auswirkungen von Listenverbindungen voraussehen können, dass sie ihre Stimme also vielleicht einer ihrer Einstellung überhaupt nicht entsprechenden, also „falschen“ Partei geben. Das Instrument der Listenverbindung bezeichnet selbst der Regierungsrat als problematisch. Erwünschte Nebeneffekte der neuen Zürcher Zuteilung sind eine Stärkung von kleineren regional stark verankerten Gruppierungen und die Beseitigung der systematischen Bevorzugung der grossen Parteien. Das neue Verfahren ermuntert kleine Parteien, ihre Wählerbasis auf den ganzen Kanton zu verbreitern. Auf kommunaler Ebene ermöglicht sie 9 Wobei die Stadt Zürich trotzdem einzelne Wahlkreise zusammenlegt, sie aber eben nicht aufhebt. beispielsweise den Winterthurer Kleinparteien EDU, SD und AL reelle Chancen auf einen Einzug ins Stadtparlament.10 Zu den Schwächen: Ein Problem ist die Umstellung auf das neue System, zumal man das Wahlergebnis nicht mehr einfach per Kopf und Taschenrechner ausrechnen kann, sondern ein eigens dafür geschriebenes Computerprogramm braucht. Die verschiedene Gewichtung der Parteien auf Wahlkreisebene über den unterschiedlichen Parteiendivisor sei ebenfalls „gewöhnungsbedürftig“ (Pukelsheim/Schuhmacher, 2004, S. 519), zumal die Gefahr bestehe, das eine Partei in einem Wahlkreis mehr Sitze mit weniger Stimmen hat, als eine andere – solange die Oberzuteilung stimmt. Der eigentliche Vorteil der Zweistufigkeit ist also zugleich auch ein Nachteil. Zudem sei es reich rechnerisch denkbar, dass eine Partei zwar die absolute Mehrheit der Stimmen, nicht aber die Mehrheit der Sitze im Kantonsrat haben könnte. Es fehlt also die zwingende „Mehrheitsbedingung“(Pukelsheim/Schuhmacher, 2004, S. 520). Da dieser Fall in der Schweiz jedoch unwahrscheinlich ist, sehen die Autoren keinen Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung. Keine eigentliche Schwäche, aber ein politisches Problem am „doppelten Pukelsheim“ ist das tiefe Quorum für den Einzug ins Parlament. Wie Pukelsheim selber schreibt, reichen faktisch 0.55% (1/181) der Stimmen für einen Sitz. Das wären 847 Wähler kantonsweit. Das ist eine sehr geringe Zahl und wäre von vielen Gruppierungen erreichbar. Dies würde zu einer Zersplitterung führen.11 Deshalb hat der Kantonsrat nachträglich ein „wahlkreisbezogenes Quorum“ von 5% eingeführt, das allerdings nur für den Kanton und die Stadt Zürich gilt. Eine Liste muss also in mindestens einem Wahlkreis so stark sein, dass sie 5% der Stimmen auf sich vereinigen kann, sonst kommt sie nicht in die Erstverteilung. Von dieser Hürde distanzieren sich Pukelsheim und Schumacher explizit: „Wir möchten das nicht als Element des neuen Zürcher Zuteilungsverfahrens betrachten, sondern als eine unter politischen Gesichtspunkten erfolgte Ergänzung.“ (Pukelsheim/Schuhmacher, 2004, S. 518). 6. Schlusswort Ein Blick in die Medienberichterstattung zeigt, dass die zusätzlich eingeführte Sperrklausel politisch umstrittener ist, als der „doppelte Pukelsheim“ an sich. Die Kommissionsmehrheit unterstützte im Kantonsrat den Regierungsratsvorschlag von 5%, während eine Minderheit 3% in mindestens einem Wahlkreis wollte – die Hürde war an sich also weitgehend unbestritten. Eine andere Minderheit wollte sogar eine kantonsweite Hürde von 3%, was der 10 „Grössere Chancen für Kleinparteien“, Tages-Anzeiger, 5.8.2005: S. 13. Ohne Hürde wären 2002 zusätzlich die SD mit 3, die FraP, die CSP und die KMU-Liste mit je 1 Sitz in den Rat eingezogen. 11 Kantonsrat aber als zu hoch ablehnte. Selbst der Grüne Mathis Kläntschi, der die ganze Debatte angestossen hatte, bedauerte, dass unter diesen Umständen die städtische EVP wegen dieser Hürde nicht mehr im Zürcher Gemeinderat vertreten wäre. Dies, weil sie in keinem Wahlkreis wirklich stark ist, aber ein gutes Durchschnittsergebnis über die ganze Stadt erzielt. Klar, dass die EVP, ihre Fraktionspartnerin CVP und die Grünen das neue Wahlverfahren im Parlament bekämpften. Der Fall EVP hat in den vergangenen Wochen hohe Wellen geworfen und wurde immer wieder auch in den Medien thematisiert. Das drohende Verschwinden einer Traditionspartei wie der EVP würde ein schiefes Licht auf die Befürworter der höheren Hürde von 5% werfen, die vor allem bei den grossen Parteien zu suchen sind. Im Falle einer 3%Hürde sähe die Sache für die EVP besser aus. Die Grünen drohten bereits wieder mit einer Stimmrechtsbeschwerde, sollte die EVP aus dem Rat ausscheiden.12 Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren ist eine deutliche Veränderung der demokratischen Prozesse in Zürich, aber auch ein deutliches Signal an andere öffentliche Organe in der Schweiz. Entsprechend sind die Anstrengungen des Kantons Zürich, das System in der Bevölkerung bekannt zu machen. Bezeichnenderweise wurden die Medienredaktionen auf den 26. Januar, etwa zwei Wochen vor den Zürcher Gemeinderatswahlen, zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Dabei wurde ihnen der „doppelte Pukelsheim“ in allen Einzelheiten vorgestellt. 12 So angekündigt auf Radio 24 durch den grünen Fraktionschef im Gemeinderat, Christoph Hug.