Folgen, Reihen und Produkte: Der Unendlichkeit auf der Spur Andreas de Vries FH Südwestfalen University of Applied Sciences, Haldener Straße 182, D-58095 Hagen, Germany e-Mail: [email protected] Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Folgen und Konvergenz 2.1 Beschränkte monotone Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wichtige Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Exponentielles Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 5 6 10 3 Reihen 3.1 Die harmonische Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 12 4 Grenzwerte von Reihen 4.1 Die geometrische Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zwei verwandte Reihen: tanh und arctan . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Gauß’schen Summen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 17 18 19 5 Taylor-Reihen 20 6 Lambert-Reihen 24 7 Unendliche Produkte 7.1 Unendliche Produkte von Funktionen . . . . . 7.2 Das Euler’sche Sinusprodukt . . . . . . . . . . 7.3 Euler’sche Partitionsprodukte . . . . . . . . . . 7.4 Die Produktdarstellung der Jacobi-Reihe J(z, q) 24 26 29 33 37 8 2 Die Gammafunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 A Das quadratische Reziprozitätsgesetz 44 B Verwendete Symbole 44 C Lösungen der Aufgaben 45 1 1 Einleitung Viele meinen, elementar wäre dasselbe wie trivial. Das ist ein großer Irrtum. Folgen und Reihen gehören für die meisten Menschen, die sie von der Schule oder vom Studium her kennen, zu den großen Schrecken dieser Welt. Man hat sich zumeist durch dieses Thema gequält, musste nicht wirklich verstandene Regeln anwenden — und das, was man verstand, war intuitiv sowieso klar. Ein solches Urteil haben Folgen und Reihen nicht verdient! Sie präzisieren einen der wichtigen Grundbegriffe menschlichen Denkens, die Unendlichkeit. Auf diese Weise bilden sie eine Basis unter anderem für den Begriff der Funktion und damit der Analysis, aber auch für fast alle Bereiche der Mathematik und reichen darüber hinaus in die Algorithmik. In diesem Sinne sind Folgen und Reihen also elementar. Aber auf keinen Fall trivial. Im Gegenteil, allein die Tatsache, dass der uns heute geläufige Formalismus erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts existiert, zeigt, wie schwierig der Weg zu ihnen war. Und dem Anfänger bleibt meist verborgen, dass es gar nicht so furchtbar viel ist, was über sie bis heute tatsächlich bekannt ist. Man ist sogar ziemlich schnell am Stand der Forschung, z.B. bei einer der aktuellen Million-Dollar-Fragen (Millenium Problems) des Clay Mathematics Institute1 zur Riemannschen Vermutung. In diesem kleinen Beitrag möchte ich kurz die Grundlagen und wesentlichen Resultate über Reihen und ihre Grenzwerte darstellen. 2 Folgen und Konvergenz Um den Begriff der Reihe zu verstehen, muss man zunächst wissen, was eine Folge von Zahlen ist. Dafür müssen wir sagen, was eine Zahl genau ist. Normalerweise würde man dafür allgemein die Menge M = C der komplexen Zahlen annehmen, aber Sie können auch eine der Teilmengen R, Q oder N nehmen.2 Was im Folgenden außerdem notwendig sein wird, ist die Existenz einer Betragsfunktion | · |, die einer beliebigen Zahl z einen reellen positiven Wert zuordnet: | · | : M 7 → R+ , z 7→ |z| = 0. (1) Unter einer Folge (engl.: sequence) a von Zahlen versteht man dann eine Abbildung a: N → M, also n 7→ an (man schreibt bei Folgen üblicherweise das 1 http://www.claymath.org/millennium/Riemann_Hypothesis/ 2 Für eine Menge von Zahlen müssen im Allgemeinen zwei Verknüpfungen, die Multiplikation · und die Addition + definiert sein, die kommutativ, assoziativ und distributiv sind. Solche Mengen heißen „Körper“ (engl.: fields). Man kann streng beweisen, dass die allgemeinste Menge, die diesen Bedingungen genügt, die Menge C der komplexen Zahlen ist [1, S. 282]. Gibt man die Bedingungen der Kommutativität und der Assoziativität auf, so erhält man die „Quaternionen“ von Hamilton und die „Oktonionen“ oder „Cayley’schen Zahlen“. Neben diesen speziellen „Clifford-Algebren“ gibt es noch die „Graßmannzahlen“, manchmal auch „antikommutierende c-Zahlen“ [7, §A.2] oder „Superzahlen“[6, §4.1] genannt, die in der Physik fermionischer Teilchen Anwendung finden, und insbesondere der Beziehung θ 2 = 0 (statt i2 = −1) genügen. Da eine Graßmann-Algebra also Nullteiler besitzt, hat eine Graßmann-Zahl i.A. kein multiplikatives Inverses. 2 Argument n als Index, nicht als Parameter in Klammern, also a(n) — obwohl man das durchaus tun könnte!). Anders gesagt, wird bei einer Folge jeder natürlichen Zahl n ∈ N eine Zahl aus M zugeordnet. Man schreibt hierfür meist ( an )n∈N oder ( a0 , a1 , a2 , . . .). Manchmal verallgemeinert man diese Definition, indem man den Startindex verändert, also statt 0 irgendeine ganze Zahl n0 ∈ Z nimmt; dann bezeichnet man ( an )n=n0 = (an0 , an0 +1 , . . . ) ebenfalls als Folge. Einige wichtige Beispiele von Folgen sind: Beispiele 2.1. 1. (Konstante Folge) Sei an = 2 für alle n ∈ N0 . Man erhält (2, 2, 2, . . .). 2. (Harmonische Folge) Sei an = n1 für n = 1 (d.h. n0 = 1), also (1, 12 , 31 , 1 4 , . . . ). Für n = 2 ist das n-te Glied an das harmonische Mittel seiner Nachbarglieder an−1 und an+1 , wobei allgemein das harmonische Mittel 1 x̄h der Werte x1 , x2 , . . . , xn definiert ist als x̄1h = ∑1n x1k , denn für x1 = n− 1, 1 1 x2 = n+1 folgt x̄h = n . 3. (Alternierende Folge) an = (−1)n : (1, −1, 1, −1, 1, −1, . . . ), 4. an = n n +1 : (0, 21 , 23 , 43 , 45 , . . . ). 5. an = n/2n : (0, 21 , 12 , 83 , 41 , 5 32 , . . . ). 6. (Geometrische Folge) Sei q eine beliebige Zahl, an = qn . Dann ist ( an )n∈N = (1, q, q2 , q3 , . . .). 7. (Rekursion) Sei a0 = 1, a1 = 1 und an = an−1 + an−2 für n = 2. Dadurch ist rekursiv eine Folge definiert, ( an )n = (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, . . .), in der jedes Glied von der dritten Stelle an gleich der Summe der zwei vorangehenden Zahlen ist. Dies ist die Folge der Fibonacci-Zahlen. Die Beispiele zeigen, dass eine Folge im Allgemeinen unendlich viele Folgenglieder an hat. Bei manchen Folgen kann man sagen, wie deren Werte im Unendlichen in etwa aussehen, bei manchen nicht. Beispielsweise ist bei der konstanten Folge gewiss, dass der Wert „im Unendlichen“ genau 2 ist. Die Idee, einen eventuellen Wert der Folge „im Unendlichen“ zu haben, wird durch den wichtigen Begriff der Konvergenz präzisiert. Definition 2.2. Sei ( an )n∈N eine Zahlenfolge. Sie heißt konvergent gegen eine Zahl a, in Zeichen: lim an = a oder kurz an → a, wenn gilt: n→∞ ∀e > 0 ∃ N (e) ∈ N, so dass | an − a| < e ∀n = N (e). 3 Dabei deutet die Schreibweise „N (e)“ an, dass diese Zahl von e abhängt. In anderen Worten: Eine Folge ( an ) konvergiert gegen a, wenn alle an bis auf endlich viele in jeder e-Umgebung von a enthalten sind. Falls eine Zahlenfolge nicht gegen eine Zahl konvergiert, so heißt sie divergent. Diese formale Definition macht dem Anfänger in der Regel Schwierigkeiten. (Machen Sie sich erst mal nichts draus, es hat immerhin mehrere Jahrtausende gebraucht, bis der Begriff im 19. Jahrhundert vollständig entwickelt war — da können Sie sich ruhig ein paar Minuten Zeit geben, ihn zu verstehen.) Abbildung 1 und die nachfolgenden Beispiele sollten Ihnen beim Verständnis helfen. Eine Bemerkung zu dem e-Kriterium: Zwar heißt es in der Definition allgemein „zu jedem e > 0“ , aber es interessiert im Grunde gar nicht jedes e, sondern eigentlich nur ein beliebig kleines! Bei einer konvergenten Folge kann man nämlich das e tatsächlich beliebig winzig wählen (nur größer 0 muss es sein), und man findet immer noch ein N (e), ab dem alle an ’s näher als e bei dem Grenzwert liegen, auch wenn dieses N (e) in der Regel dann sehr groß ist. an an a+e a a−e a+e a a−e n N (e) n Abbildung 1: Links: Konvergente Folge an mit Grenzwert a. Für jeden beliebigen eUmgebung („Korridor“ ) um a existiert ein N (e), so dass für alle an mit n = N (e) in der Umgebung liegen. Rechts: Divergente Folgen. Hier kann keine e-Umgebung gefunden werden, so dass alle bis auf endlich viele an darin liegen. Beispiele 2.3. 1. (Leibniz-Folge) Die Folge ( an )n∈N mit an = (−1)n n (2) (Abb. 2) konvergiert gegen den Grenzwert 0, also lim an = 0. n→∞ an e 0 −e n N (e) Abbildung 2: Die Leibniz-Folge an = (−1)n /n. Sie konvergiert gegen 0. Beweis. Es gilt n1 → 0 für n → ∞. Denn sei e > 0 vorgegeben und N (e) eine natürliche Zahl mit N (e) > 1e . (Solch eine Zahl N (e) existiert stets, 4 denn e ist positiv, also insbesondere ungleich 0!) Dann ist n (−1)n (−1)n 1 = = |(−1) | = 1 < e − 0 ∀n> . n n n n e Q.E.D. 2. Die Folge an = n divergiert. Beweis. Zum Widerlegen der Konvergenz müssen wir nur ein einziges e > 0 finden, das die Bedingung der Definition 2.2 nicht erfüllt. Zunächst beobachten wir, dass für zwei aufeinander folgende Glieder an und an+1 einen Abstand von | an+1 − an | = 1 haben. Wenn es einen Grenzwert a gäbe, so müsste er auch für e < 1/2 das Kriterium aus Def. 2.2 erfüllen; das geht aber nicht, denn wenn | an − a| < e, so ist | an+1 − a| = |( an+1 − an ) + ( an − a)| = 1 − | an − a| > e. (Genau genommen muss man das streng mit der so genannten Dreiecksungleichung zeigen, aber dieser Hinweis soll hier, Asche auf mein Haupt, genügen). Q.E.D. 2.1 Beschränkte monotone Folgen Eine recht angenehme Klasse von Folgen (und recht häufig anzutreffen) sind beschränkte monotone Folgen reeller Zahlen. Solche Folgen konvergieren auf jeden Fall, auch wenn man ihren Grenzwert nicht kennt oder er schwer zu berechnen ist. Es ist zu beachten, dass die Monotonie nicht für komplexe Zahlenfolgen definiert ist. Definition 2.4. Eine Folge ( an ) heißt beschränkt, wenn es eine Konstante c ∈ R gibt, so dass | an | 5 c für alle n ∈ N. Definition 2.5. Eine Folge ( an )n∈N reeller Zahlen heißt monoton, falls für alle n ∈ N entweder an 5 an+1 oder an = an+1 gilt. Im ersten Fall ist sie monoton wachsend, im zweiten monoton fallend. Man überlegt sich schnell, dass eine konvergente Folge beschränkt sein muss. Die Umkehrung aber, dass eine beschränkte Folge konvergiert, gilt nicht, wie das Gegenbeispiel der alternierenden Folge an = (−1)n zeigt. Allerdings garantiert für reelle Folgen die Monotonie einer beschränkten Folge, dass sie konvergieren muss. Satz 2.6. Jede beschränkte monotone Folge ( an ) reeller Zahlen konvergiert. Beweis. [2, §5 Satz 5]. Der Beweis basiert auf dem nichttrivialen Satz von Bolzano-Weierstraß. Q.E.D. 5 2.2 2.2.1 Wichtige Folgen Heron-Verfahren Betrachten wir eine interessante Folge, die einen uralten Algorithmus zur Berechnung der Quadratwurzel beschreibt. Er ist durch den griechischen Mathematiker Heron von Alexandria (1. Jahrhundert n. Chr.) überliefert, war jedoch wohl bereits den Babyloniern vor über 3500 Jahren bekannt. Die Folge ist rekursiv definiert. Proposition 2.7. (Heron-Verfahren zur Wurzelberechnung) Seien a0 , x ∈ R, a0 , x > 0. Dann konvergiert die Folge a n +1 = gegen den Grenzwert a = √ 1 x an + , 2 an n = 0, (3) x. Beweis. Das e-Kriterium für diese Folge direkt zu finden ist schwer. Wir versuchen einen einfacheren Weg. Zunächst zeigen wir die folgende Eigenschaft der Heron-Folge: a1 = a2 = a3 = . . . > 0. (4) Dazu gehen wir in drei Schritten vor: 1. Behauptung: an > 0 ∀ n = 0. Beweis durch vollständige Induktion: a0 > 0 nach Voraussetzung; n → n + 1: Wenn an > 0, so ist mit Gleichung (3) auch an+1 > 0. 2. Behauptung: a2n = a ∀ n = 1. Beweis: 1 a 2 a n −1 + −a= 4 a n −1 1 2 a2 = a − 2a + 2 = 4 n −1 a n −1 a2n − a = a2 1 2 an−1 + 2a + 2 −a 4 a n −1 1 a 2 a n −1 − = 0. 4 a n −1 3. Behauptung: an = an+1 für n = 1. Beweis: Es gilt a n − a n +1 = a n − 1 a 1 an + = ( a2 − a) = 0. 2 an 2an n Die letzte Ungleichung folgt aus Schritt 2. Damit ist die Ungleichungskette (4) gezeigt, und also die Heron-Folge ( an ) beschränkt und monoton fallend. Nach Satz 2.6 konvergiert sie also. Wie aber sieht der Grenzwert a aus? Da er existiert, kann man den Limes der Formel (3) bilden, 1 x an + n→∞ 2 an lim an+1 = lim n→∞ 6 ⇐⇒ a= 1 x a+ . 2 a √ √ Das ergibt 2a2 = a2 + x, d.h. a2 = x und somit a = x. (Der Fall a = − 2 ist durch Behauptung 1 ausgeschlossen, denn aus an > 0 folgt mindestens a = 0.) Q.E.D. Neben dem praktischen Nutzen, den das Heron-Verfahren hat, ist die Heron-Folge auch aus einem theoretischem Aspekt sehr interessant: Setzt man z.B. x = 2 und nimmt für den Startwert a0 eine positive rationale Zahl, also a0 ∈ Q, so ist jedes rationale Zahl, d.h. an ∈ Q ∀ n — aber der √ Folgenglied eine 3 Grenzwert a = 2 ist irrational ! 2.2.2 Kettenbrüche und Euklidischer Algorithmus Im Folgenden sei für x ∈ N die untere Gaußsche Klammer b·c definiert als die größte ganze Zahl, die nicht größer ist als x, b x c := sup{n ∈ Z : n 5 x }. (5) Beispielsweise ist bπ c = 3, und b−π c = −4. Es gilt stets 0 5 x − b x c < 1. Für x ∈ Q existieren ganze Zahlen a, b ∈ Z, so dass x = a/b; für sie gilt x = b x c + ( a mod b)/b. (6) Proposition 2.8. (Kettenbrüche) Sei x ∈ R, x > 0, und sei ( xn )n∈N0 die durch die iterativen Gleichungen 1 1 x0 = x − b x c, x n +1 = − (7) xn xn (n ∈ N0 ) definierte Folge. Hierbei bricht die Folge definitionsgemäß bei n0 ∈ N0 ab, wenn xn0 +1 = 0, aber xn0 6= 0. Die Folge ist genau dann endlich, wenn x rational ist. Für alle Folgeglieder gilt 0 5 xn < 1. Beweis. Sei x ∈ Q. Dann ist xn ∈ Q ∀n, d.h. es existieren insbesondere für n > 0 Zahlen bn , cn ∈ N0 , so dass xn = bn /cn < 1, denn xn = 1/xn−1 − b1/xn−1 c. Damit gilt aber für den Nenner cn+1 des nächsten Folgeglieds xn+1 , dass cn+1 = bn < cn , d.h. die Folge der Nenner (cn )n∈N ist ganzzahlig und streng monoton fallend. Daher ∃n0 , so dass cn0 = 1 > bn0 , und damit xn0 = 0. Ist umgekehrt x irrational, so ist xn ∈ / Q ∀n, und damit insbesondere xn 6= 0 ∀n. Q.E.D. Bemerkung 2.9. Die in Proposition 2.8 definierte Folge ( xn ) hängt mit den Koeffizienten an eines Kettenbruchs (engl.: continued fraction) [ a0 , a1 , . . .] durch die einfachen Beziehungen a0 = b x c, an+1 = b1/xn c zusammen. Hierbei ist definitionsgemäß [ a0 , a1 , a2 , a3 , . . . ] : = a0 + 3 Der Beweis der Irrationalität von √ 1 a1 + 1 a2 + . (8) 1 1 a3 + ... 2√ ist in vielen Schulbüchern aufgeführt. Er ist ein Widerspruchsbeweis und geht wie folgt: Wäre 2 ∈ Q, so gäbe es zwei teilerfremde ganze Zahlen m, √ n, so dass 2 = m/n; daraus folgte 2 = m2 /n2 oder m2 = 2n2 ; das ist jedoch ein Widerspruch, denn da m und n teilerfremd sind, so sind es auch m2 und n2 . 7 Für x ∈ Q ist dieser Kettenbruch endlich, für genau die irrationalen Zahlen jedoch ist er unendlich. Es gilt für alle n, für die das Folgeglied xn existiert, x = a0 + 1 a1 + . 1 a2 + (9) 1 1 ···+ a + n xn Benutzt man das Iterationsverfahren p n = a n p n −1 + p n −2 , (n ∈ N0 ) q n = a n q n −1 + q n −2 (10) mit den Anfangswerten p−2 = 0, p−1 = 1 und q−2 = 1, q−1 = 0, so gilt [ a0 , a1 , . . . , a n ] = pn qn (n ∈ N0 ), (11) Beispiel 2.10. Man berechnet direkt gibt demnach 2867 4096 = [0, 1, 2, 3, 204, 2]. Die Folge (10) er- n an pn qn 0 0 0 1 1 1 1 1 2 2 2 3 3 3 7 10 4 204 1430 2043 5 2 2867 4096 2867 = 4096 1+ 1 1 2+ 3+ . (12) 1 1 204+ 21 Proposition 2.11. Für x ∈ / Q und pn , qn definiert durch (10) konvergiert die unendliche Folge ( pn /qn )n gegen x, [ a0 , . . . , a n ] = pn →x qn für n → ∞. (13) Beweis. Zunächst gilt pn qn−1 − pn−1 qn = (−1)n−1 für n = 1. (14) Das kann man durch vollständige Induktion zeigen: n = 1 liefert mit den Werten p0 = a0 , q0 = 1, p1 = a1 a0 + 1, q1 = a1 sofort p1 q0 − p0 q1 = a1 a0 + 1 − a0 a1 = 1; der Induktionsschritt n → n + 1 folgt gemäß p n +1 q n − p n q n +1 = ( a n +1 p n + p n −1 ) q n − p n ( a n +1 q n + q n −1 ) = p n −1 q n − p n q n −1 = −(−1)n−1 = (−1)n . Dividieren wir (14) durch qn qn−1 , so erhalten wir pn p (−1)n−1 − n −1 = qn q n −1 q n q n −1 8 für n = 1. (15) Da die qn eine streng monoton steigende Folge positiver natürlicher Zahlen bilden, zeigt diese Gleichung, dass die Folge der Brüche pn /qn (in R) konvergiert. Ersetzung von an durch 1/xn liefert mit (9) stets genau den Wert x. Mit (10) folgt damit nach Austausch von n durch n + 1, x= pn /xn + pn−1 p n + x n p n −1 = . qn /xn + qn−1 q n + x n q n −1 Daher liegt x echt zwischen pn−1 /qn−1 und pn /qn . Um das zu sehen, betrachten wir die beiden Vektoren u = ( pn , qn ) und v = ( pn−1 , qn−1 ) in der Ebene, beide im selben Quadranten; die Steigung des Vektors u + xn v liegt wegen 0 < xn < 1 echt zwischen den Steigungen von u und v. Damit oszilliert die konvergente Folge pn /qn um x, d.h. sie konvergiert gegen x. Q.E.D. Man kann also durch den vorherigen Satz jede Zahl x ∈ R durch einen möglichwerweise unendlichen Kettenbruch darstellen. Für die Zahl π z.B. ergibt sich die Kettenbruchentwicklung π = [3, 7, 15, 1, 292, 1, 1, 1, 2, 1, 3, 1, 14, . . .], (16) die keinerlei Gesetzmäßigkeiten aufweist. Daraus kann man mit (11) die Näherungsbrüche für π ableiten: π ≈ 3, 22 , 7 333 , 106 355 , 113 103 993 , 33 102 ... (17) Den ersten Näherungsbruch findet man bereits im Alten Testament der Bibel (1. Buch der Könige 7, 23, im Zusammenhang mit dem Palastbau Salomos ca. 950 v. Chr.), der zweite wurde etwa 700 Jahre später von Archimedes,4 der vierte noch einmal 700 Jahre später von dem chinesischen Mathematiker Zu Chong-Zhi (430–501) gefunden. reelle √ Zahl x 1 ( 5 − 1) 2 (goldener √ Schnitt) √2 √3 √4 √5 √6 7 e π Kettenbruch [0, 1] = [0, 1, 1, 1, 1, . . .] [1, 2] [1, 1, 2] [2] [2, 4] [2, 2, 4] [2, 1, 1, 1, 4] [2; 1, 2n, 1]∞ n=1 = [2; 1, 2, 1; 1, 4, 1; 1, 6, 1; . . . ] [3, 7, 15, 1, 292, 1, 1, 1, 2, 1, 3, 1, 14, . . . ] (keine Gesetzmäßigkeit) Tabelle 1: Kettenbruchentwicklungen verschiedener Zahlen. Interessanterweise ist die einfachste Kettenbruchentwicklung diejenige des goldenen Schnittes. 4 Archimedes von Syracus (287–212 v. Chr.), griechischer Mathematiker und Begründer der mathematischen Physik. 9 Proposition 2.12. (Euklidischer Algorithmus) Seien a, b ∈ N. Die Folge ( xn ) aus Proposition 2.8 für den Wert x = a/b bestimmt den größten gemeinsamen Teiler von a und b: Bricht die Folge bei n0 ab, so gilt ggT ( a, b) = rn0 . (18) Hierbei ist die endliche Folge (rn ) für n = −1, . . . , n0 rekursiv definiert durch r−1 = b und rn = rn−1 /xn für n = 0, 1, . . . , n0 . Beweis. Definieren wir r−2 = a, so gilt für n = 0, 1, . . . , n0 die Beziehung rn = rn−2 mod rn−1 , (19) die wir durch vollständige Induktion beweisen können: für n = 0 gilt r0 = r−2 mod r−1 = (r−2 /r−1 − br−2 /r−1 c)r−1 = ( a/b − b a/bc)b = x0 r−1 ; der Induktionsschritt n → n + 1 ergibt sich durch rn+1 = rn−1 mod rn = (rn−1 /rn 1 − brn−1 /rn c)rn = (1/xn − b1/xn c)rn = xn+1 rn . Somit ist (rn ) eine Folge von Divisionsresten, wobei r0 der Rest der Division a/b ist. Wegen der fundamentalen Eigenschaft des ggT, ggT (k, l ) = ggT (l, k mod l ) ∀k, l ∈ N (20) gilt ggT ( a, b) = ggT (b, r0 ) = . . . = ggT (rn , rn−1 ) für alle n 5 n0 . Da ggT (0, k ) = k für k ∈ N0 , gilt ggT ( a, b) = ggT (rn0 +1 , rn0 ) = rn0 . Q.E.D. 2.3 Exponentielles Wachstum Die Virenpopulation in einem Körper, die Zinseszinsen auf einem Konto oder die Rechnerleistung nach dem (empirischen) Moore’schen Gesetz5 wachsen „exponentiell“ . Da eine Folge diskret ist, also nur zu bestimmten „Zeitpunkten“ t = n einen Wert annimmt, heißt sie geometrisch wachsend, wenn ( n ∈ N) a n = c n a0 (21) für reelle Konstanten a0 , c > 1. Es ist die eindeutige Lösung der Differenzengleichung ∆an = (c − 1) an , wo ∆an = an+1 − an [3, §2.11]. Da nun die gewöhnliche Differentialgleichung y0 ( x ) = αy( x ) mit hα = (c − 1) und an = y( x ) mit x = x0 + nh, h > 0, der Grenzfall der Differenzengleichung ∆ah n = αan für h → 0 ist, ist sie das kontinuierliche Analogon von ∆an = (c − 1) an , d.h., an+1 = can . Eine Lösung6 dieser Differentialgleichung für α > 0 heißt exponentiell wachsend [3, §2.12]. Daher kann man eine geometrisch wachsende Folge etwas salopp auch exponentiell wachsend nennen [11, S. 17]. 5 Das Moore’sche Gesetz besagt, dass die Komplexität der integrierten Schaltkreise sich alle 18 Monate verdoppelt. Gordon E. Moore: ‘Cramming more components onto integrated circuits’, Electronics, April 19, (1965); siehe http://www.intel.com/technology/mooreslaw/, oder http://en.wikipedia.org/wiki/Moore’s_Law 6 Eine Lösung der Differenzengleichung ∆a = αha lautet a = (1 + αh )n a = a (1 + n n n 0 0 αh)( x− x0 )/h = a0 [(1 + ε)1/ε ]α( x− x0 ) mit ε = αh. Im Grenzübergang ε → 0 ergibt sich daher an → a0 eα( x− x0 ) für n → ∞. 10 Proposition 2.13. Es sei an die Folge, die durch an = can−1 für n > 0 und einen reellen Startwert a0 > 0 definiert ist. Für c > 1 ist { an } dann eine geometrisch wachsende Folge. Das Folgeglied an für n > 0 ist dann und nur dann echt größer als die Summe aller vorherigen Folgeglieder, wenn c = 2. −1 Beweis. Sei zunächst c = 2. Dann ist zu zeigen an > ∑nk= 0 ak . Beweis durch vollständige Induktion: Zunächst a1 = ca0 > a0 . Mit dem Induktionsschritt n → n + 1 folgt n −1 n ∑ ak = an + k =0 ∑ ak < an + an 5 can = an+1 . k =0 Damit folgt die Behauptung an > ∑0n−1 ak . Ist nun andererseits c < 2, so gilt für jedes k = 1, dass ak = ck a0 , d.h. n −1 n −1 k =0 k =0 cn − 1 ∑ a k = a0 ∑ c k = a0 c − 1 . Da 1 − c−n 2 − c − c−n 1 cn − 1 = = +1 > 1 cn c − 1 c−1 c−1 für n > n0 : = gilt c n −1 c −1 ln(2 − c) , ln c > cn , und somit ∑0n−1 ak > an . (22) Q.E.D. In dem Beweis wird klar, dass für den Fall c < 2 alle Folgeglieder an mit n > n0 aus Gl. (22) echt kleiner sind als die Summe aller ihrer Vorgänger. Als Spezialfall der Proposition gilt die folgende Behauptung. Proposition 2.14. Es sei an aus Gl. (21) die geometrisch wachsende Folge reeller Zahlen mit c = 2. Dann gilt n −1 a n = a0 + ∑ ak (23) k =0 Beweis. Beweis durch vollständige Induktion: Zunächst a1 = 2a0 = a0 + a0 . Mit dem Induktionsschritt n → n + 1 folgt n n −1 k =0 k =0 ∑ ak = an + ∑ ak = an + an − a0 = 2an − a0 = an+1 − a0 . Damit folgt die Behauptung. Q.E.D. Die beiden letzten Resultate sind bemerkenswert. Einerseits ist für eine Folge an = can−1 ein Folgeglied dann und nur dann größer als die Gesamtsumme der vorherigen Glieder, wenn c = 2, andererseits ist für c = 2 jedes Folgeglied die Summe aus allen vorherigen Folgegliedern plus dem Startwert a0 . Es gibt also keinen „stetigen Übergang“ zwischen den Fällen c = 2 und 11 c < 2, in dem jedes an stets „so gerade noch über“ der Summe seiner Vorgänger läge, sondern entweder ist es immer größer gleich der Summe aller Vorgänger plus dem Startwert a0 , oder es gibt ein n0 , so dass alle an mit n > n0 kleiner sind als die Summe ihrer Vorgänger. Wir haben hier nur einen kleinen und unvollständigen Einblick in Zahlenfolgen bekommen. Es gäbe noch vieles Wichtiges zu sagen, z.B. Cauchy-Folgen oder Folgen von rationalen Zahlen. Aufgaben Übung 2.1. Welche der Folgen aus Beispiel 2.1 konvergieren, welche nicht? Geben Sie den Grenzwert der konvergenten Folgen an! Übung 2.2. Bestimmen Sie den Wert des unendlichen Kettenbruchs 1+ 1 1+ 1 1+ 1+1... , (24) d.h., den Limes der Folge ( an )n∈N mit a0 = 1 und an+1 = 1 + 3 3.1 1 an . Reihen Die harmonische Reihe Bereits der spätmittelalterliche französische Gelehrte Nikolaus von Oresme (um 1323 – 1382) untersuchte die harmonische Reihe n Hn := 1 1 1 1 1 = 1+ + + +...+ . k 2 3 4 n k =1 ∑ (25) Die Zahl Hn heißt die n-te harmonische Zahl, vgl. Beispiel 2.1.2. Der Name rührt her von den Betrachtungen der Obertöne, den „Harmonischen“, in der Musik: die Wellenlängen der Obertöne einer schwingenden Saite sind 12 , 31 , 14 , . . . der Wellenlänge ihres Grundtons (λ0 = 2L für eine Saite der Länge L). Die harmoλ = λ0 Grundton λ= λ0 2 Oktave λ= λ0 3 Quinte λ= λ0 4 Quarte Abbildung 3: Die Harmonischen einer eingespannten Saite der Länge L = λ0 /2. nischen Zahlen Hn wachsen mit n sehr langsam, so gilt beispielsweise H1 = 1, H2 = 1 12 , H100 = 5, 187 . . ., H1 000 000 = 14, 392 . . . . Wrench berechnete 1968 die 12 exakte minimale Zahl m, so dass Hm = 100 ist, es gilt m ≈ 1, 5 · 1043 [5, §2.3.1]. Zudem gilt für die Reihenglieder 1k → 0 für k → ∞, d.h. eine notwendige Bedingung für die Konvergenz der Reihe H∞ ist gegeben. Angesichts dieser Eigenschaften ist das Resultat von Oresme vollkommen unerwartet. Satz 3.1 (Oresme, um 1350). Die harmonische Reihe divergiert. Beweis. Oresmes berühmter Beweis lautet in moderner Notation: 2n 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ∑ k = 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + . . . + 2n −1 + 1 + . . . + 2n k =1 {z } | 2n−1 Summanden 1 2 1 4 >1+ + + 1 4 + 1 8 1 8 1 8 + + + 1 8 +...+2 n −1 · 1 2n n = 1 + 12 + 12 + 12 + . . . + 12 = 1 + → ∞ für n → ∞. 2 | {z } (26) n Summanden Q.E.D. Ein anderer, sehr eleganter Beweis dieses Satzes geht zurück auf Euler. Beweis. (Euler) Zunächst gilt für | x | 5 1 mit der geometrischen Reihe n −1 ∑ xk = k =0 1 − xn 1−x (| x | 5 1), (27) und somit Z 1 1 − xn 0 1−x dx = Z 1 n −1 ∑ 0 k =0 Für n → ∞ ist aber R1 x k dx = 1 0 1− x n −1 Z 1 ∑ k =0 0 x k dx = n −1 ∑ k =0 n 1 1 = ∑ = Hn . (28) k+1 k k =1 dx = − ln(1 − x )|10 → ∞, d.h. H∞ = ∞. Q.E.D. Die alternierende harmonische Reihe hingegen konvergiert, ∞ 1 1 1 (−1)k+1 ∑ k = 1 − 2 + 3 − 4 + . . . = ln 2, k =1 (29) man berechnet den Grenzwert mit Hilfe der Taylor-Entwicklung der Logarithmusfunktion, vgl. Gleichung (74). Die „alternierend harmonischen Zahlen“ Hn0 = − ∑1n (−1)k /k hängen mit den harmonischen Zahlen zusammen, (−1)n 0 = H −H . Hn0 = ln 2 + 2 ( H(n−1)/2 − Hn/2 ), bzw. für gerade Werte H2n n 2n Neben der Divergenz ist eine weitere unerwartete Eigenschaft der harmonischen Reihe, dass die harmonischen Zahlen Hn bis auf n = 1 niemals ganzzahlig sind, obwohl sie ja mit n bis ins Unendliche wachsen. Das gilt sogar für jede konsekutive („lückenlose“) Teilreihe der harmonischen Reihe. Um diese Eigenschaft zu beweisen, benötigen wir zunächst ein Lemma aus der Zahlentheorie. Sein Beweis verwendet den aus der Informatik bekannten Algorithmus der binären Suche. 13 Lemma 3.2. Für m, n ∈ N mit 1 5 m < n existiert genau eine gerade Zahl q ∈ {m, m + 1, . . . , n} mit der höchsten Zweierpotenz als Teiler, also 2ν | q mit ν = max{α ∈ N0 : 2α | k für ein k ∈ {m, . . . , n}} > 0. Beweis. [5, §2.3.2] Existieren Zweierpotenzen in {m, . . . , n}, so ist die höchste davon das eindeutige q. Existiert dagegen keine Zweierpotenz in {m, . . . , n}, so existiert ein α ∈ N mit 2α < m < n < 2α+1 , also 2 · 2α−1 < m < n < 4 · 2α−1 . Dann ist entweder die größte Zweierpotenz q = 3 · 2α−1 , oder [m, n] ist Teilmenge einer der beiden Hälften [2 · 2α−1 , 3 · 2α−1 ] = [4 · 2α−2 , 6 · 2α−2 ] oder [3 · 2α−1 , 4 · 2α−1 ] = [6 · 2α−2 , 8 · 2α−2 ]; nehmen wir ohne Einschränkung der Allgemeinheit an, in der ersten Hälfte. Dann ist entweder q = 5 · 2α−2 , oder [m, n] ist Teilmenge von [4 · 2α−2 , 5 · 2α−2 ] oder [5 · 2α−2 , 6 · 2α−2 ] . . . . Dieser Prozess wird solange fortgesetzt, bis entweder q gefunden ist oder α = 1 gilt; im letzteren Fall ist m + 1 = n und die Menge besteht aus nur zwei aufeinander folgenden Zahlen, q ist die gerade davon. Q.E.D. Satz 3.3. Für m, n ∈ N mit 1 5 m < n ist die Summe n Smn = 1 1 1 1 = + +···+ k m m + 1 n k=m ∑ (30) nie eine ganze Zahl, d.h. es ist stets Smn ∈ / N. Beweis. [5, §2.3.2] Der Beweis besteht darin, Smn gleichnamig zu machen und zu zeigen, dass nach dem Kürzen der Zähler stets ungerade und der Nenner gerade ist, der Bruch also nicht ganzzahlig sein kann. In der Menge {m, . . . , n} der Nenner von Smn existiert nach Lemma 3.2 eine eindeutige Zahl q mit der höchsten Zweierpotenz. Beim Erweitern der einzelnen Brüche muss also jeder Zähler bis auf 1/q mindestens mit 2 oder gar einer noch höheren Zweierpotenz multipliziert werden, während nur 1/q auf einen ungeraden Zähler erweitert wird. Der Zähler von Smn ist also eine Summe aus mehreren geraden Zahlen und einer einzigen ungeraden Zahl, d.h. er ist ungerade. Der Nenner von Smn hingegen muss q als Faktor enthalten, ist also gerade. Q.E.D. Korollar 3.4. Bis auf H1 = 1 ist keine harmonische Zahl Hn ganzzahlig. Beweis. Da Hn = S1,n ist, kann Satz 3.3 angewendet werden. Q.E.D. Zusammengefasst sind einige weitere Eigenschaften der harmonischen Zahlen wie folgt. Es gilt mit (28) Hn = Z 1 1 − xn 1−x 0 dx. (31) Ferner gilt die Näherungsformel Hn = γ + ln n + 12 n−1 − 1 −2 12 n + 14 1 −4 120 n − 1 −6 252 n + O ( n −8 ), (32) wobei γ = 0, 5772156649 . . . die Euler-Mascheroni-Konstante ist, vgl. Gleichung (144) auf S. 42, und der Koeffizient des 2n-ten Summengliedes dem Wert Kehrwert von ζ (1 − 2n) entspricht, also −12, 120, −252, 240, . . . für n = 1, 2, 3, 4, . . . . Es gibt weitere Verbindungen zur Zeta-Funktion, beispielsweise ∞ ∑ n =1 m −2 Hn m+2 = ζ ( m + 1 ) − ∑ ζ ( m − n ) ζ ( n + 1) nm 2 n =1 (33) für m, n ∈ N, m = 2, insbesondere ∞ ∑ n =1 ∞ Hn = 2 ζ (3), n2 ∑ n =1 Hn = n3 5 4 ∞ ζ (4), ∑ n =1 Hn = 3 ζ (5) − ζ (2) ζ (3). (34) n4 Proposition 3.5. Stapelt man quaderförmige Klötzchen, Steine oder Spielkarten [4, §6.3] der Länge l zu einem schiefen Turm wie in Abbildung 4 so übereinander, dass Sn s l x1 x2 . . . xn - Abbildung 4: Turm aus n Klötzchen, gemäß der harmonischen Reihe gestapelt („harmonischen Brücke“), mit dem gerade noch über der Fußfläche liegenden Schwerpunkt Sn . er nicht zusammenbricht, so ist seine maximal mögliche Auslegung nach links genau dann erreicht, wenn für die x-Koordinaten xn der Schwerpunkte der einzelnen Klötzchen l xn+1 = ( Hn + 1) ( n = 0) (35) 2 gilt, wobei H0 = 0 und Hn die n-te harmonische Zahl bezeichnet. Der maximal mögliche Überhang eines freitragenden Stapels aus n Klötzen beträgt also Ln = 2l Hn−1 . Beweis. Ein Stapel aus n Klötzchen bricht solange nicht zusammen, wie die xKoordinate Sn seines Schwerpunktes sich über seiner Fußfläche befindet. Da der Schwerpunkt xn des n-ten Klötzchens sich in dessen Mitte befindet und damit die Enden der Fußfläche bei xn ± l/2 sind, folgt xn − 2l 5 Sn 5 xn + 2l . Mit anderen Worten ist |Sn − xn | 5 l/2 (36) eine notwendige Bedingung für die Stabilität des Stapels. Die maximal mögliche Auslegung nach links unter Einhaltung dieser Bedingung ist also gegeben, wenn xn = Sn−1 − l/2. (37) Wir zeigen mit vollständiger Induktion zunächst Sn = 2l Hn . Für n = 1, d.h. beim ersten Klötzchen, liegt der Schwerpunkt bei S1 = 2l . Für einen Stapel mit n Klötzchen ist die Linksauslegung maximal, wenn sein Schwerpunkt Sn über 15 der linken Kante des untersten Klötzchen liegt, also xn = Sn−1 + l/2. Dann gilt für den Schwerpunkt des Stapels mit n Klötzchen Sn = 1 l [ x n + ( n − 1 ) S n −1 ] = S n −1 + , n 2n also unter der Induktionsvoraussetzung Sn = damit Gleichung (35). l 2 Hn . Mit Gleichung (37) folgt Q.E.D. Nach Proposition 3.5 gilt Ln → ∞ für n → ∞. Der Überhang eines freitragenden Stapels aus Steinen ist damit prinzipiell unbegrenzt, man braucht nur 25 l 25 l genügend Steine. Da H3 = 11 6 < 2 und H4 = 12 > 2, d.h. Ln = 2 Hn−1 = 24 > l, ist bei einer harmonischen Brücke der Höhe n = 4 der Überhang größer als l. Für einen Überhang von 2,5 l benötigt man allerdings schon etwa n = 100 Steine. Bei einem realen Aufbau würde das bereits hohe Anforderungen an die Maßhaltigkeit der Steine stellen. In vielen Bereichen der Zahlentheorie spielt die harmonische Reihe eine Rolle. Nach dem Satz von Wolstenholme beispielsweise ist für eine Primzahl p = 5 die harmonische Zahl H p−1 durch p2 teilbar. Nach Jeffrey Lagarias ist die Riemann’sche Vermutung äquivalent zu der Aussage σ (n) = Hn + e Hn ln Hn (38) für jedes n ∈ N, wobei die Teilsummenfunktion σ(n) die Summe aller positiven Teiler von n bezeichnet. 4 Grenzwerte von Reihen Grenzwerte von Reihen zu bestimmen ist Kunst. Es gibt auf den ersten Blick zwar eine Menge Reihen, deren Grenzwerte bekannt sind, jedoch beschränken sich die Methoden zur Berechnung oder Herleitung von Grenzwerten auf nur einige wenige. Die wichtigste und mächtigste Methode ist die TaylorEntwicklung, die einer gegebenen, unendlich oft differenzierbaren Funktion eine Potenzreihe, gewissermaßen ein „Polynom beliebig großen Grades“, zuordnet. Deren Funktionswerte für bestimmte Argumentwerte sind dann genau die Grenzwerte der entsprechenden Reihen. Insbesondere mit den trigonometrischen Funktionen gewinnt man so unzählige und oft faszinierende Identitäten. Was aber tun, wenn man eine Reihe hat, die nicht die Taylor-Reihe einer bekannten Funktion ist? Da werden die Möglichkeiten plötzlich weniger, es gibt noch hie und da eine Wunderwaffe wie die geometrische Reihe, eine durch eine Varable q mit |q| < 1 parametrisierte Reihe ∑1∞ qn , deren Grenzwert sehr einfach berechnet werden kann (nämlich als ∑1∞ qn = 1−1 q ). Meistens bleibt nur, eine gegebene Reihe individuell zu untersuchen und durch geschickte und glückliche Modifikationen zu einem Wert kommen — Kunst eben, nicht Technik. Ein einfaches Beispiel sei die Reihe ∑1∞ (n+n1)! , deren Grenzwert man durch bloßes Umformen bestimmen kann, an deren Entwicklung 21 + 13 + 18 + 1 1 1 1 30 + 144 + 840 + 5760 + . . . man ihn jedoch kaum direkt erkennt. 16 Beispiel 4.1. Es gilt ∞ n 1 1 1 1 1 1 1 = + + + + + + + . . . = 1, (39) ( n + 1) ! 2 3 8 30 144 840 5760 n =1 ∞ 1 n 1 da ∑∞ = − ∑1 n! (n+1)! = ∑1∞ n!1 − ∑1∞ (n+1 1)! = ∑1∞ n!1 − ∑2∞ n!1 = 1. n ( n +1) ! ∑ Manchmal gelingt es auch, die Partialsummen einer Reihe zu berechnen und so durch Grenzübergang auf ihren Grenzwert zu schließen, wie im folgenden Fall oder wie für die geometrische Reihe weiter unten. Proposition 4.2. Für n ∈ N gilt n n 1 ∑ k ( k + 1) = n + 1 , (40) k =1 und daher ∞ 1 1 1 1 1 1 1 1 ∑ k(k + 1) = 2 + 6 + 12 + 20 + 30 + 42 + 56 + . . . = 1. (41) k =1 Beweis. Mit vollständiger Induktion folgt (40), d.h. mit dem Induktionsanfang 1 n = 1 und dem Induktionsschritt n − 1 → n, also ∑1n k(k1+1) = n(n1+1) + n− n = n n Q.E.D. n+1 . Durch Grenzübergang n+1 → 1 für n → ∞ folgt (41). 4.1 Die geometrische Reihe Die in der Analysis wohl wichtigste Reihe ist die geometrische Reihe ∞ ∑ q k = 1 + q + q2 + q3 + . . . (|q| < 1) (42) k =0 Proposition 4.3 (Summenformel für die geometrische Reihe). Für n ∈ N0 und q ∈ C mit q 6= 1 gilt n 1 − q n +1 k q = (43) ∑ 1−q k =0 Beweis. Mit vollständiger Induktion folgt die Behauptung, d.h. mit dem Induktionsanfang n = 0 und dem Induktionsschritt n − 1 → n, also ∑0n qk = 1− q n 1 − q n +1 q n + 1− q = 1− q . Q.E.D. Proposition 4.4 (Unendliche geometrische Reihe). Für q ∈ C mit |q| < 1 gilt ∞ 1 ∑ qk = 1 − q . (44) k =0 Beweis. Mit (43) gilt sn = ∑0n qk → 1 1− q , da qn+1 → 0 für n → ∞. Q.E.D. Mit q = 12 folgt daher für die unendliche Reihe der Kehrwerte der Zweierpotenzen 1 + 12 + 14 + 81 + . . . = 2, und entsprechend mit q = − 12 für die alternierende Reihe der Kehrwerte der Zweierpotenzen 1 − 21 + 14 − 18 ± . . . = 23 . 17 4.2 Zwei verwandte Reihen: tanh und arctan Betrachten wir die Funktionen arctan und tanh. Ihre Graphen der beiden Funktion sind in Abbildung 5 aufgetragen. Als Reihen dargestellt lauten sie 1 0.5 -6 -4 -2 2 4 6 -0.5 -1 Abbildung 5: Graph von tanh x (dunkle Kurve) und 2 2 arctan x = π π ∞ (−1)k ∑ 2k + 1 x2k+1 2 π arctan x (helle Kurve). für | x | 5 1 (45) k =0 ∞ tanh x = 4k−1 (4k−1 − 1) B2k+2 2k+1 x , (2k + 2)! k =0 ∑ π 2 für | x | < (46) wo die Bk die Bernoulli-Zahlen bezeichnen, die rekursiv definiert sind durch [4, §6.5] k k+1 B0 = 1, (47) ∑ j Bj = 0 für k > 0, j =0 vgl. Tabelle 2. Insbesondere folgt aus dieser Definition, dass die Bernoullin Bn n Bn n Bn n Bn n Bn n Bn 0 1 4 1 − 30 10 16 − 3617 510 22 − 23749461029 870 − 12 6 18 30 8 43 867 798 − 174330611 24 2 1 42 1 − 30 12 1 6 854513 138 − 236364091 2730 8553103 6 28 1 5 66 691 − 2730 7 6 8615841276005 14322 − 7709321041217 510 14 20 26 32 Tabelle 2: Die ersten nichtverschwindenden Bernoulli-Zahlen. Zahlen mit ungeraden Indizes größer 1 verschwinden, B2k+1 = 0 für k > 1. Ferner ist die Folge der Bernoulli-Zahlen mit geraden Indizes, ( B2k )k>1 alternierend. Interessanterweise lauten die Reihenentwicklungen der Umkehrfunktionen von π2 arctan x und tanh x folgendermaßen, ∞ artanh x = 1 ∑ 2k + 1 x2k+1 , (48) k =0 tan ∞ πx 4k−1 (4k−1 − 1)| B2k+2 | πx 2k+1 =∑ 2 (2k + 2)! 2 k =0 18 (| x | < 1) (49) 4.3 Die Gauß’schen Summen Für n ∈ N gelten die Summenformeln der n-ten Einheitswurzeln √ n 1 + (−i)n−1 n 2πik2 /n Gn := ∑ e = , 1−i k =0 (50) die Gauß’schen Summen. Gauß notierte sie Mitte Mai 1801 in seinem Tagebuch und verwendete sie zum Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes in seinen Disquisitiones Arithmeticae, ohne allerdings das genaue Vorzeichen der Wurzel zu kennen. Das gelang ihm erst nach mehrjährigem Bemühen am 30. 8. 1805 „durĚ die Gnade GotteŊ mŽĚte iĚ sagen. Wie der BliŃ einsĚlŁgt, hat siĚ daŊ RŁthsel gelŽĆ“, wie er in einem Brief vom 3. 9. 1805 an Olbers schreibt [9, S. 368]. 2 Da i die Ordnung 4 besitzt und die elementaren Identitäten 1− i = 1 + i und 1+i 1−i = i gelten, folgt √ G4n = (1 + i) 4n, G4n+1 = √ 4n + 1, G4n+2 = 0, √ G4n+3 = i 4n + 3 (51) für n ∈ N0 . Für ungerade Zahlen lässt sich auch 2n G2n+1 = ∑ e 2n+1 k = 2πi 2 q (−1)n (2n + 1) (52) k =0 schreiben. Für die ersten Werte von n gilt G1 = 1, G2 = 0, G3 = 1 + e 2π 3 √ 8π +e 3 = i 3 (53) Ein recht kurzer Beweis (von Mordell 1918) wendet den Residuenkalkül auf Gn (z) die meromorphen Funktionen Mn (z) = e2πiz an, wobei n ∈ N und Gn (z) die −1 ganzen Funktionen n −1 Gn (z) = ∑ e2πi (z+k) /n 2 (54) k =0 sind, also Gn = Gn (0). Da Mn einen Pol erster Ordnung bei z = 0 haben, folgt nach einer kurzen Rechnung [9, §14.3.2] r Z ∞ 2 n 1+i n e− x dx. (55) Gn (0) = (1 + (−i) ) · √ 2π −∞ 2 R∞ √ 2 Da nun G1 (0) = G1 = 1, folgt daraus sofort der Wert −∞ e− x dx = π für das Fehlerintegral, und somit (50). Die Gauß’sche Summenformel lässt sich verallgemeinern. So gilt für alle natürlichen Zahlen m, n die „Reziprozitätsformel“ n −1 ∑ e mπik2 /n =e πi 4 r k =0 n m m −1 ∑ e−nπik /m , 2 k =0 die für m = 2 mit der Gauß’schen Formel (50) übereinstimmt. 19 (56) 5 Taylor-Reihen Erste Grundregel der Ingenieursmathematik: Alle Reihen konvergieren, und zwar gegen den ersten Term. Kaum ein mathematischer Sachverhalt findet eine solch grundlegende Rolle in Anwendungen der Physik und den Ingenieurswissenschaften wie die TaylorFormel. Mit ihr ist es möglich, differenzierbare Funktionen durch Polynome zu approximieren. Satz 5.1. (Taylor-Formel) Sei I ⊆ R ein Intervall und f : I → R eine (n + 1)-mal stetig differenzierbare Funktion. Für zwei Punkte x0 , x ∈ I gilt dann f ( x ) = f ( x0 ) + f 0 ( x0 )( x − x0 ) + . . . + f ( n ) ( x0 ) ( x − x 0 ) n + R n +1 ( x ) n! (57) mit dem Restglied R n +1 ( x ) = 1 n! Z x x0 ( x − t)n f (n+1) (t) dt. (58) Beweis. Beweis durch Induktion [2, §22]. Q.E.D. Korollar 5.2. Ist f : I → R für ein offenes Intervall I ⊆ R eine (n + 1)-mal stetig differenzierbare Funktion mit f (n+1) ( x ) = 0 für alle x ∈ I, so ist f ein Polynom vom Grade 5 n. Satz 5.3. (Lagrangesche Form des Restglieds) Sei I ⊆ R ein offenes Intervall, f : I → R eine (n + 1)-mal stetig differenzierbare Funktion und x0 , x ∈ I. Dann existiert ein ξ ∈ [ x, x0 ] ∪ [ x0 , x ], so dass n f (x) = ∑ k =0 f ( k ) ( x0 ) f ( n +1) ( ξ ) ( x − x0 ) k + ( x − x 0 ) n +1 k! ( n + 1) ! (59) Beispiel√5.4. (i) Betrachten wir für ein a ∈ (0, 1) die Funktion f : (−1, a) → R, f ( x ) = 1 + x und den Entwicklungspunkt x0 = 0. Dann ist f 0 ( x ) = 2√11+ x , f 00 ( x ) = − 1 3 15 1 000 ( x ) = (4) ( x ) = 0 √ √ √ 3, f 5, f 7 , d.h. f (0) = 1, f (0) = 2 , 4 1+ x 8 1+ x 16 1+ x f 00 (0) = − 41 , f 000 (0) = 38 . Da f 0 ( x ) > 0 für alle x ∈ (− a, 1), ist f ( x ) streng monoton wachsend, und damit auch f (4) ; somit gilt 0 5 f (4) ( x ) 5 f (4) ( a) für alle x ∈ (−1, a), also f (x) = 1 + x x2 3x3 − + + R4 ( x ) 2 8 48 mit dem Näherungsfehler 0 5 R4 ( x ) = 20 f (4) ( ξ ) 4 4! x 5 15x4 √ 7 384 1+ a (60) 5 15x4 384 . Beispiel 5.5. Sei a > 0 und f : (− 2a , 2a ) → R, f ( x ) = f 0 (x) = ± √ x , a2 ± x 2 f 00 ( x ) = ± √ a2 a2 ± x 2 3 , f 000 ( x ) = − √ 3a2 x a2 ± x 2 5 √ a2 ± x2 . Dann ist , f (4) ( x ) = − 3a2 ( a2 ∓4x2 ) √ 7 . a2 ± x 2 Um den Entwicklungspunkt x0 = 0 gilt dann f (0) = f 000 (0) = 0, f 00 (0) = ± a, f (4) (0) = −3a−3 , also p a2 ± x 2 = a ± 3x4 ax2 − + O ( x 5 ). 2 24a3 (61) 2 Da f (4) ( x ) = 0 genau dann, wenn x2 = ± a4 , ist f 000 auf dem ganzen Intervall √ (− a, a) monoton fallend für f ( x ) = a2 − x2 , bzw. erreicht sein Maximum bei x = − 2a und sein Minimum bei x = 2a , d.h. es gilt stets | f 000 ( x )| < √3a für 4±1 a a x ∈ (− 2 , 2 ). Somit folgt p a2 ± x 2 = a ± ax2 + R3 ( x ) 2 mit | R3 ( x )| < 4 √a . 2 4±1 (62) Beispiel 5.6. Sei f : R → (0, ∞] die Exponentialfunktion7 f ( x ) = ex . Ihre k-te Ableitung lautet f (k) ( x ) = ex , um den Entwicklungspunkt x0 = 0 gilt damit f (k) (0) = 1, also n xk ex = ∑ + R n +1 ( x ) (63) k! k =0 mit Rn+1 ( x ) = | Rn+1 ( x )| 5 x n +1 eξ ( n +1) ! 2x n+1 ( n +1) ! für ein ξ ∈ [− x, x ]. Tatsächlich kann man abschätzen für | x | 5 1 + n 2 [2, §8 Satz 2]. Beispiel 5.7. Sei f : R → [−1, 1], f ( x ) = sin x. Dann ist f (2k) ( x ) = (−1)k sin x und f (2k+1) ( x ) = (−1)k cos x. Um den Entwicklungspunkt x0 = 0 gilt dann f (2k) (0) = 0 und f (2k+1) (0) = (−1)k , also n sin x = (−1)k x2k+1 ∑ (2k + 1)! + R2n+3 (x) k =0 (64) (−1)n+1 x2n+3 sin ξ mit R2n+3 ( x ) = für ein ξ ∈ [ x, 0] ∪ [0, x ]. Insbesondere gilt für (2n+2)! das Restglied die Abschätzung | R2n+2 ( x )| 5 x2n+3 . (2n + 3)! (65) Solange also | x | < 1, ist die Summe (64) schon für relativ kleine n eine gute Näherung. In dem Programm k_sin.c der C-Bibliothek FdLibM [L6], die in den üblichen Betriebssystemen und auch Java implementiert ist, wird sin x für 0 5 x 5 π4 < 1 lediglich bis auf n = 6 berechnet, hat also maximal einen Fehler von ( π4 )15 /15! ≈ 2 · 10−14 ≈ 2−45.47 . 7 Auf einem Tanzball im Raum der differenzierbaren Funktionen steht die Exponentialfunktion den ganzen Abend alleine herum. Aus Mitleid geht irgendwann der Logarithmus zu ihr hin und sagt: „Nun integrier dich doch mal!“ „Schon versucht“ , antwortet sie resigniert, „das ändert doch nichts!“ 21 Beispiel 5.8. Sei f : R → [−1, 1], f ( x ) = cos x. Dann gilt f (2k) ( x ) = (−1)k cos x und f (2k+1) ( x ) = (−1)k+1 sin x, also f 0 ( x ) = − sin x, f 00 ( x ) = − cos x, f 000 ( x ) = sin x, und f (4) ( x ) = cos x. Um den Entwicklungspunkt x0 = 0 gilt dann f (2k+1) (0) = 0 und f (2k) (0) = (−1)k , also n cos x = (−1)k x2k ∑ (2k)! + R2n+2 (x) k =0 (66) (−1)n+1 x2n+2 cos ξ mit R2n+2 ( x ) = für ein ξ ∈ [ x, 0] ∪ [0, x ]. Insbesondere gilt für (2n+1)! das Restglied die Abschätzung | R2n+2 ( x )| 5 x2n+2 . (2n + 2)! (67) Solange also | x | < 1, ist die Summe (66) schon für relativ kleine n eine gute Näherung. In dem Programm k_cos.c der C-Bibliothek FdLibM [L6], die in den üblichen Betriebssystemen und auch Java implementiert ist, wird cos x für 0 5 x 5 π4 < 1 lediglich bis auf n = 7 berechnet, hat also maximal einen Fehler von ( π4 )16 /16! ≈ 10−15 ≈ 2−49.82 . Beispiel 5.9. Für f : R → [−1, 1], f ( x ) = arctan x ist f 0 ( x ) = 1+1x2 . Da nun ∞ ∞ 1 1 k k 1− x = ∑k =0 x für | x | < 1, also insbesondere 1+ x = ∑k =0 (− x ) und damit ∞ d 1 = arctan x = ∑ (−1)k x2k . dx 1 + x2 k =0 (68) Integration der linken und rechten Seite und Berücksichtigung der Eigenschaft arctan 0 = 0 liefert dann ∞ arctan x = (−1)k x2k+1 ∑ 2k + 1 k =1 für | x | 5 1. (69) Das ist die Taylor-Reihe um den Entwicklungspunkt x0 = 0. Sie konvergiert allerdings nur für | x | 5 1 gegen arctan x, für | x | > 1 konvergiert sie überhaupt nicht. Um den Entwicklungspunkt x0 = 1 gilt 0 wenn 4 | k, ∞ π k +1+b k c arctan x = + ∑ ak ( x − 1)k mit ak = (70) 4 (−1) b k+1 c 4 k =1 sonst. k ·2 oder ∞ arctan x = k π − 4 k∑ =1 (−1)k+b 4 c l k · 2b k 4 − b 4k c k +1 2 c 2 m ( x − 1) k (71) also arctan x = π 4 + x −1 2 − ( x −1)2 4 + ( x −1)3 12 − ( x −1)5 40 + ( x −1)6 48 − ( x −1)7 112 ±··· . Das ist die Maclaurin-Reihe von arctan(1 + x ).8 8 E. W. Weisstein: “Inverse Tangent.” From MathWorld – A Wolfram Web Resource, mathworld.wolfram.com/InverseTangent.html, www.research.att.com/˜njas/sequences/A075554 22 (72) Beispiel 5.10. Zur Berechnung des Logarithmus wird zweckmäßigerweise als Entwicklungspunkt x0 = 1 verwendet, allerdings mit einem kleinen Trick. Zunächst betrachten wir f : (−1, 1] → R, f ( x ) = ln(1 + x ). Dann gilt f (k) ( x ) = (−1)k+1 (k−1)! für k > 0, also (1+ x ) k f (4) ( x ) = − (1+6x)4 . Für x0 = f 0 (x) = 0 gilt 1 1 2 00 000 1+ x , f ( x ) = − (1+ x )2 , f ( x ) = (1+ x )3 , damit f (k) (0) = (−1)k+1 (k − 1)!, d.h. n ln(1 + x ) = (−1)k+1 x k + R n +1 ( x ) k k =1 ∑ (73) n +1 (−1)n für ein ξ ∈ [ x, 0] ∪ [0, x ]. Um nun beispielsweise mit Rn+1 ( x ) = (n+1) 1+x ξ ln 2 zu berechnen, würde man also x = 1 setzen und so die Summe ln 2 = 1 − 12 + 13 − 14 ± . . . (74) 1 mit einem Fehler | Rn+1 ( x )| = n+ 1 (für ξ = 1) erhalten. Durch dieses schlechte Konvergenzverhalten ist die Formel freilich für praktische Berechnungen ungeeignet. Will man hiermit ln 2 auf m Dezimalstellen genau berechnen, so muss man n = 10m Glieder berücksichtigen! Zu einer besser konvergierenden Reihe gelangt man durch die Beobachtung ln ba = ln a − ln b, also ln n 1+x x2k+1 =2∑ + R2n+3 ( x ) 1−x 2k + 1 k =1 für | x | < 1, mit (75) ∞ R2n+3 ( x ) = 2 (−1)k+1 x2k+1 . 2k + 1 k = n +1 ∑ (76) y −1 k +x denn ln(1 − x ) = − ∑ xk . Dabei ist 11− x = y genau dann, wenn x = y+1 . Der Fehler lässt sich hierbei abschätzen zu ∞ x2k+1 2| x |2n+3 ∞ 2n + 3 2(k−n)−2 x | R2n+3 ( x )| = ∑ = k=n+1 2k + 1 2n + 3 k=∑ 2k + 1 n +1 2| x |2n+3 ∞ 2k 2| x |2n+3 ∞ 2(k −n)−2 x x 5 = 2n + 3 k=∑ 2n + 3 k∑ n +1 =0 5 Für x = 1 3 2| x |2n+3 (2n + 3)(1 − x2 ) (77) erhält man deshalb ∞ 1 =2 ( 2k + 1 ) · 32k+1 k =0 ln 2 = 2 ∑ 1 1 1 1 + + + +... 3 3 · 33 5 · 35 7 · 37 (78) −1 mit einem Fehler | R2n+3 ( 31 )| 5 4 (2n + 3) 32n+1 bei Abbruch nach dem nten Glied. 23 6 Lambert-Reihen ∞ Definition 6.1. Eine Reihe des Typs qn ∑ an 1 − qn heißt Lambert-Reihe. n =1 qn Proposition 6.2. Ist die Lambert-Reihe ∑1∞ an 1−qn normal konvergent für q ∈ C, |q| < 1, so gilt ∞ ∑ n =1 an ∞ qn = ∑ An qn 1 − qn n =1 mit An := ∑ ad . (79) d|n jn Beweis. Es gilt qn /(1 − qn ) = ∑∞ j =1 q . Q.E.D. Die Zahl An hängt zusammen mit der Dirichlet-Faltung f ∗ g zweier arithmetischer Funktionen f , g, d.h. zweier Funktionen f , g : N → C, die definiert ist durch ( f ∗ g)(n) := ∑d|n f (d) g(n/d). An ist daher die Dirichlet-Faltung An = ( a ∗ 1)(n) mit a(n) := an . 7 Unendliche Produkte Unendliche Produkte werden in Vorlesungen und Lehrbüchern zur Infinitesimalrechnung nur selten behandelt [10]. Historisch traten unendliche Produkte erstmals 1579 bei Vieta auf, er gab für die Kreiszahl π die Formel v s s u r r r u 2 1 1 1 t1 1 1 = · + · + + · ... (80) π 2 2 2 2 2 2 an. Wallis fand 1655 das berühmte Produkt 2·2 4·4 6·6 2n · 2n π = · · · ... · · ... 2 1·3 3·5 5·7 (2n − 1) · (2n + 1) (81) Aber erst Euler hat systematisch mit unendlichen Produkten gearbeitet und wichtige Produktentwicklungen aufgestellt. Die ersten Konvergenzkriterien stammen von Cauchy, Eisenstein betrachtete 1847 bedingt konvergente Produkte (und Reihen), spätestens 1854 fanden unendliche Produkte bei Weierstraß ihren festen Platz in der Analysis. Die erste umfassende Darstellung der Konvergenztheorie unendlicher Produkte gab 1889 A. Pringsheim. Definition 7.1. Ist ( an )n≥m eine Folge komplexer Zahlen, so heißt die Folge ( pm,N ) N ≥m der Partialprodukte N pm,N := ∏ a n = a m a m +1 · . . . · a N (82) n=m N ein (unendliches) Produkt der Faktoren an . Oft schreiben wir kurz ∏m ak , wenn der Laufindex (hier n) eindeutig erkennbar ist. Im Allgemeinen ist m = 0, 24 m = 1 oder m = 2. Das Produkt ∏ an heißt konvergent, wenn es einen Index n0 gibt, so dass die Folge ( pn0 ,N ) N ≥n0 einen Limes ân0 6= 0 hat. Man nennt dann a := am am+1 · . . . · an0 −1 ân0 den Wert des Produktes und schreibt ∞ ∏ an = a. (83) n=m Nicht konvergente Produkte heißen divergent. Die Zahl a in Gleichung (83) ist unabhängig von n0 oder ân0 , denn wegen ân0 6= 0 gilt an 6= 0 für alle n = n0 , daher hat auch für jedes feste l > n0 die Folge ( pl,n )n=l einen Limes âl 6= 0, und es gilt a = am am+1 · · · al −1 âl . Proposition 7.2. Ein Produkt ∏ an ist genau dann konvergent, wenn nur endlich viele Faktoren an Null sind und wenn die mit allen von Null verschiedenen Gliedern an 6= 0 gebildete Partialproduktfolge einen nichtverschwindenden Limes hat. Der Konvergenzbegriff für Produkte unterscheidet sich also von demjenigen für Reihen. Würde man nämlich ein Produkt ∏ an analog wie bei den Reihen konvergent nennen, wenn die Folge der Partialprodukte ( pn0 ,N ) N =n0 einen Limes hat, dann ergäben sich unerwünschte Pathologien: so wäre ein Produkt bereits konvergent mit dem Wert 0, wenn nur ein einziges Folgenglied ak Null wäre; ferner könnte ∏ an auch dann Null werden, wenn kein einziger Faktor an Null ist, z.B. wenn stets | an | 5 q < 1. Durch die in Definition 7.1 getroffenen Einschränkungen wird die offensichtliche Sonderrolle der Null optimal berücksichtigt. So gilt per definitionem wie für endliche Produkte: Proposition 7.3. Ein konvergentes Produkt ∏ an ist genau dann Null, wenn wenigstens ein Faktor an Null ist. Wir notieren die folgenden notwendigen Bedingungen für die Konvergenz eines Produkts. Proposition 7.4. Falls ∏0∞ an konvergiert, so gilt lim an = 1. Ferner existiert ân := ∏∞ n an für alle n ∈ N, und es gilt lim âm = 1. Beweis. Wir dürfen a := ∏0∞ an 6= 0 annehmen. Dann gilt âm = a/p0,m−1 , und wegen lim p0,m−1 = a folgt lim âm = 1. Die Gleichung lim an = 1 gilt, da stets ân 6= 0 und an = ân / ân+1 . Q.E.D. Beispiele 7.5. (a) Sei a0 = 0, an = 1 für n = 1. Dann gilt ∏0∞ an = 0. (b) Sei an = 1 − 1/n2 für n = 2. Es gilt p2,N = 21 (1 + 1/N ) (z.B. mit vollständiger Induktion), also ∞ 1 1 1 − = . (84) ∏ 2 n 2 n =2 (c) Sei an = 1 − 1/n für k = 2. Es gilt p2,N = 1/N, also lim p2,N = 0. Da jedoch kein Faktor an verschwindet, ist das Produkt ∏2∞ an divergent, wenngleich lim an = 1. 25 (d) Sei a0 , a1 , a2 , . . . eine Folge reeller Zahlen mit an = 0 und ∑0∞ (1 − an ) = ∞. Dann gilt N lim N →∞ ∏ an = 0. (85) n =0 für N ∈ N, da t 5 et−1 für alle t ∈ R. Wegen ∑(1 − an ) = ∞ folgt lim p0,N = 0. Beweis. Es gilt 0 5 p0,N = ∏0N an 5 exp − ∑0N (1 − an ) Es ist nicht sinnvoll, in Analogie zu Reihen den Begriff der absoluten Konvergenz einzuführen. Würde man ein Produkt ∏ an absolut konvergent nennen, wenn ∏ | an | konvergiert, so würde Konvergenz stets absolute Konvergenz implizieren, hingegen wäre ∏(−1)n absolut konvergent, aber nicht konvergent! 7.1 Unendliche Produkte von Funktionen In diesem Abschnitt betrachten wir Konvergenzbegriffe für unendliche Produkte von Funktionen. Ähnlich wie für Funktionenreihen führen wir zwei Konvergenzbegriffe ein, die „kompakte Konvergenz“ und die „normale Konvergenz“ . Hierbei erweist sich die normale Konvergenz der kompakten als überlegen, da sie die Konvergenz aller Teilprodukte und aller umgeordneten Produkte garantiert, Die normale Konvergenz entspricht damit ungefähr der absoluten Konvergenz von Zahlenreihen. Es bezeichne X im Folgenden stets einen lokal-kompakten metrischen Raum. Definition 7.6. Für eine Folge ( f n ) von in X stetigen komplexwertigen Funktionen f n ∈ C0 ( X, C) heißt das unendliche Produkt ∏ f n kompakt konvergent in X, wenn es zu jeder kompakten Teilmenge K ⊂ X von X einen Index m = m(K ) gibt, so dass die Folge pm,n = f m f m+1 · · · f n für n = m in K gleichmäßig gegen eine in K nullstellenfreie Funktion fˆm konvergiert. Für jeden Punkt x ∈ X existiert dann ∞ f ( x ) := ∏ f n (x) ∈ C (86) n=m im Sinne der Konvergenz unendlicher Produkte von Zahlen gemäß Definition 7.1. Die so definierte Funktion f : X → C heißt Limes des Produktes, und wir schreiben f = ∏ f n . Auf K gilt dann f |K = f 0 |K · . . . · f m−1 |K · fˆm . Unmittelbar aus dem Stetigkeitssatz [9, §I.3.1.2] folgt: Proposition 7.7. Konvergiert ∏ f n in X kompakt gegen f , so ist f stetig in X und die Folge f n konvergiert in X kompakt gegen 1. Mit ∏ f n und ∏ gn konvergiert auch (87) ∏ f n gn = ∏ f n ∏ gn kompakt in X. Beweis. [10, §1.1.2]. Q.E.D. Aus dem Weierstraß’schen Konvergenzsatz [9, §I.8.4.1] folgt ferner: 26 Proposition 7.8. Jedes in einem Gebiet G ⊆ C kompakt konvergente Produkt ∏ f n von in G holomorphen Funktionen f n hat einen in G holomorphen Limes f . Beweis. [10, §1.1.2]. Q.E.D. Beispiel 7.9. Die Funktionen f n (z) = 1 + 2n2z−1 1 + 2n2z+1 , n = 1, sind ho lomorph im Einheitskreis D = {|z| < 1}. Es gilt p2,N = 1 + 23 z 1 + 2N2z+1 , d.h. p2,N ist holomorph in D für jedes N = 2, und p2,N → 1 + 32 z . Mit f 1 (z) = (1 + 2z)/(1 + 23 z) konvergiert daher das Produkt ∏1∞ f n in D kompakt gegen f (z) = 1 + 2z. Beispiel 7.10. Gegeben seien die Funktionen f n (z) = z für n = 0. Im Einheitskreis D = {|z| < 1} konvergiert das Produkt ∏ f n nicht, noch nicht einmal punktweise, denn pm,N = z N −m+1 ist für jedes m eine Nullfolge. Definition 7.11. Ein Produkt ∏ f n mit f n = 1 + gn ∈ C0 ( X, C) heißt normal konvergent in X, wenn die Reihe ∑ gn in X normal konvergiert, d.h., wenn ∑ | gn |K < ∞ für jedes Kompaktum K ⊆ X. Ist ∏ f n normal konvergent in X, so konvergiert • es kompakt in X, • für jede Bijektion τ : N → N das Produkt ∏0∞ f τ (n) normal in X, • jedes Teilprodukt ∏ j f n j normal in X. Beispiel 7.12. Produkte können kompakt konvergieren, ohne normal konvergent zu sein. Beispielsweise gilt für ∏1∞ (1 + gn ) mit gn = (−1)n−1 /n stets (1 + g2n−1 )(1 + g2n ) = 1, also p1,n = 1 für gerades n und p1,n = 1 + 1/n für ungerades n, d.h. das Produkt ∏1∞ (1 + gn ) konvergiert kompakt in C gegen 1. Allerdings ist schon das Teilprodukt ∏1∞ (1 + gn ) nicht mehr konvergent. Wir werden sehen, dass der Begriff der normalen Konvergenz ein guter Konvergenzbegriff ist. Zunächst einmal ist jedoch nicht einmal klar, ob normal konvergente Produkte überhaupt einen Limes haben. Glücklicherweise gilt viel weitreichender: Satz 7.13 (Umordnungssatz). Es sei ∏0∞ f n normal konvergent in X. Dann gibt es eine Funktion f : X → C, so dass für jede Bijektion τ : N → N das umgeordnete Produkt ∏ f τ (n) in X kompakt gegen f konvergiert. Beweis. [10, §1.2] Q.E.D. Korollar 7.14. Sei f = ∏0∞ f n normal konvergent. Dann folgt: (i) Jedes Produkt fˆm := ∏∞ m f n konvergiert normal in X, es gilt f = f 0 f 1 · · · f m−1 fˆm . 27 (ii) Ist N = 1∞ Nk eine (endliche oder unendliche) Zerlegung von N in paarweise disjunkte Teilmengen N1 , . . . , Nκ , . . . , so konvergiert jedes Produkt ∏n∈ Nk f n normal in X, es gilt ! S ∞ f = ∏ ∏ fn . (88) n∈ Nκ κ =1 Die Nullstellenmenge N ( f ) jeder in G holomorphen Funktion f 6= 0 ist diskret und abgeschlossen in G und somit eine höchstens abzählbare unendliche Menge [9, §I.8.1.3]. Für endlich viele in G holomorphe Funktionen f 0 , f 1 , . . . , f N , mit f n 6= 0, gilt N ( f0 f1 · · · f N ) = N [ N N( fn ) und oc ( f 0 f 1 · · · f N ) = ∑ o c ( f n ), (89) 0 0 wobei oc ( f ) die Nullstellenordnung von f in c ∈ G bezeichnet. Für unendliche Produkte folgt Satz 7.15. Es sei f = ∏ f n , mit f n 6= 0, ein in G normal (oder auch nur kompakt) konvergentes Produkt von in G holomorphen Funktionen. Dann gilt f 6= 0, N( f ) = [ N ( f n ), oc ( f ) = ∑ oc ( f n ) (90) für alle c ∈ G. Beweis. [10, §1.2] Q.E.D. Proposition 7.16. Ist f = ∏ f n , mit in G holomorphen Funktionen f n , ein in G normal konvergentes Produkt, so konvergiert die Folge fˆm = ∏∞ m f n kompakt in G gegen 1 und ist holomorph in G. Beweis. [10, §1.2] Q.E.D. Die logarithmische Ableitung einer in G meromorphen Funktion h ist per definitionem die in G meromorphe Funktion h0 /h. Für endliche Produkte h = h1 h2 · · · h N gilt die Summenformel h0 /h = h10 /h1 + . . . + h0N /h N . Diese Formel überträgt sich auf unendliche Produkte holomorpher Funktionen. Satz 7.17 (Differentiationssatz). Es sei f = ∏ f n ein in G normal (oder auch nur kompakt) konvergentes Produkt holomorpher Funktionen. Dann ist ∑ f n0 / f n eine in G normal (kompakt) konvergente Reihe meromorpher Funktionen, und es gilt f 0/ f = ∑ f n0 / f n , (91) wobei f 0 / f meromorph in G ist. Beweis. [10, §1.2.3] Q.E.D. Unter Benutzung des Differentiationssatzes kann man zeigen: 28 Satz 7.18 (Satz von Ritt). Ist f holomorph im Nullpunkt, so lässt sich f in einer Kreisscheibe B um 0 in eindeutiger Weise als ein Produkt f (z) = bzk ∞ ∏ ( 1 + bn z n ) , b, bn ∈ C, k ∈ N, (92) n =1 darstellen, das in B normal gegen f konvergiert. Dieser Satz wurde 1929 von dem US-amerikanischen Mathematiker Joseph F. Ritt9 bewiesen. Es wird nicht behauptet, dass das Produkt in der größten Kreisscheibe um 0, wo f holomorph ist, konvergiert. Dieser Satz über die eindeutige Produktentwicklung einer holomorphen Funktion ist ein multiplikatives Analogon zur Taylor-Entwicklung. Nach Remmert [10, p. 12] sind überzeugende Anwendungen des Ritt’schen Satzes bislang nicht bekannt. 7.2 Das Euler’sche Sinusprodukt Das Produkt ∏1∞ (1 − z2 /n2 ) ist in C normal konvergent, da ∑1∞ z2 /n2 in C normal konvergiert. Euler erkannte 1734 die Formel ∞ z2 sin πz = πz ∏ 1 − 2 , n n =1 z ∈ C, (93) das Sinusprodukt. Beweis. (Logarithmische Differentiation und Partialbruchreihe des Kotangens) Mit f n (z) = 1 − z2 /n2 und f (z) = πz ∏1∞ f n gilt 2z f n0 (z) = 2 , f n (z) z − n2 ∞ f 0 (z) 1 2z = +∑ 2 f (z) z n =1 z − n 2 also Hier steht rechts die Funktion π cot πz, die die logarithmische Ableitung von sin πz ist. Daher gilt f (z) = c sin πz für ein c ∈ C mit c 6= 0, denn allgemein folgt für zwei in einem Gebiet meromorphe Funktionen f und g mit gleicher logarithmischer Ableitung wegen ( f /g)0 = ( f 0 g − f g0 )/g2 = 0 die Beziehung f (z) z f = cg für ein c ∈ C. Wegen lim πz = 1 = lim sin Q.E.D. πz folgt c = 1. z →0 z →0 Durch Einsetzen spezieller Werte für z in Gleichung (93) entstehen interessante Formeln. Beispielsweise folgt für z = 21 die Produktformel (81) von Wallis, fürR z = 1 die Formel √ (84), mit der sich der Wert des Gauß’schen Fehler2 ∞ integrals 0 e− x dx = 12 π elementar berechnen lässt [10, §1.3.1]. Für z = i hingegen entsteht wegen sin πi = 2i (eπ − e−π ) die bizarre [10, S. 13] Formel ∞ ∏ n =1 1 1+ 2 n = eπ − e− π . 2π 9 http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/history/Biographies/Ritt.html 29 (94) Mit Hilfe von sin z cos z = 12 sin 2z und Korollar 7.14 erhält man h h 2 i i ∞h ∞ 2z 2 cos πz sin πz = πz ∏1∞ 1 − 2z = πz 1 − ∏ ∏1 1 − 1 n 2n 2 2z 2n−1 i , also die Euler’sche Produktdarstellung des Cosinus ∞ cos πz = ∏ n =1 4z2 1− (2n − 1)2 , z ∈ C. (95) Mit seinem Sinusprodukt (93) konnte Euler grundsätzlich alle Werte ζ (2k ) = −2k der Zeta-Funktion für k = 1, 2, . . . , berechnen. So folgt beipielswei∑∞ n =1 n 2 se sofort ζ (2) = 61 π 2 , denn da f N (z) := ∏1N (1 − nz 2 ) = 1 − (∑1N n−2 )z2 ± . . . kompakt gegen f (z) = sinπzπz = 1 − 16 π 2 z2 ± . . . strebt, so liefert ein Koeffizientenvergleich sofort ∑1N n−2 → 61 π 2 für N → ∞. Damit hatte der 28-jährige Euler 1735 das „Baseler Problem“ von 1650 gelöst, welches nach dem Wert ζ (2) fragte und an dem sich die größten Mathematiker der Zeit über 8 Jahrzehnte erfolglos versucht hatten. „Euler’s original proof is magical . . . and the result has appeared as if from nowhere“ [5, p. 39]. Im Folgenden kennzeichnen wir die Sinusfunktion durch Eigenschaften, 2 die für das Produkt z ∏(1 − nz 2 ) einfach zu verifizieren sind. Die Gleichung sin 2z = 2 sin z cos z ist ein Beispiel for eine Verdopplungsformel: (96) sin 2πz = 2 sin πz sin π z + 12 für alle z ∈ C. Um mit ihrer Hilfe den Sinus zu charakterisieren, zeigen wir zunächst das weiter unten stehende Lemma von Herglotz in der multiplikativen Form. Lemma 7.19 (Herglotz, additive Form). Es sei G ⊂ C ein Gebiet, das ein Intervall [0, r ), mit r > 1, umfasst. Ferner sei h eine in G holomorphe Funktion und es gelte die additive Verdopplungsformel 2h(2z) = h(z) + h(z + 21 ), falls z, z + 12 , 2z ∈ [0, r ). (97) Dann ist h konstant. Beweis. Sei t ∈ (1, r ) und M := max{|h0 (z)| : z ∈ [0, t]}. Da 4h0 (z) = h0 (z) + h(z + 21 ) und da mit z auch immer 12 z und 12 (z + 1) in [0, t] liegen, so folgt 4M 5 2M, also M = 0. Der Identitätssatz [9, §8.1.3] ergibt nun h0 = 0, also h = const. Q.E.D. Lemma 7.20 (Herglotz, multiplikative Form). Es sei G ⊂ C ein Gebiet, das ein Intervall [0, r ), mit r > 1, umfasst. Ferner sei g eine in G holomorphe und auf [0, r ) nullstellenfreie Funktion und es gelte für ein c ∈ C, c 6= 0, eine multiplikative Verdopplungsformel g(2z) = cg(z) g(z + 21 ), falls z, z + 12 , 2z ∈ [0, r ). Dann folgt g(z) = aebz mit aceb/2 = 1. 30 (98) Beweis. Die in G meromorphe Funktion h = g0 /g ist holomorph auf [0, r ), es gilt 2h(2z) = 2g0 (2z)/g(2z) + h(z) + h(z + 12 ), falls z, z + 21 , 2z ∈ [0, r ). Nach dem Lemma von Herglotz (additive Form, Lemma 7.19) ist h konstant. Es folgt g0 = bg mit b ∈ C. Mit (98) folgt aceb/2 = 1. Q.E.D. Mit dem Lemma von Herglotz in der multiplikativen Form lässt sich leicht der folgende Satz herleiten, nach dem eine ungerade Funktion, für die eine Verdopplungsformel gilt, im Wesentlichen die Sinusfunktion ist. Satz 7.21. Es sei f eine ungerade ganze Funktion, die in [0, 1] nur in 0 und 1 verschwindet, und zwar von erster Ordnung. Weiter gelte für ein gegebenes c ∈ C mit c 6= 0 eine Verdopplungsformel f (2z) = c f (z) f (z + 12 ) für alle z ∈ Z. Dann folgt f (z) = 2c−1 sin πz. Beweis. Die Funktion g(z) = f (z)/ sin πz ist holomorph und nullstellenfrei in einem Gebiet g ⊃ [0, r ) für ein r > 1. Es gilt g(2z) = 21 cg(z) g(z + 21 ). Nach dem Lemma 7.20 von Herglotz folgt f (z) = aebz sin πz mit aceb/2 = 2. Da f (−z) = f (z), folgt weiter b = 0. Q.E.D. Mit der Verdopplungsformel des Sinus können wir das Integral Z 1 0 ln sin πt dt = − ln 2 (99) herleiten: Unterstellt man zunächst die Existenz des Integrals, so haben wir mit der Verdopplungsformel (96) die Identität Z 1/2 0 ln sin 2πt dt = 1 2 ln 2 + Z 1/2 0 ln sin πt dt + Z 1/2 0 ln sin π (t + 21 ) dt (100) Mit der Substitution τ = 2t links und der Substitution τ = t + 21 ganz rechts folgt (99) dann direkt. Um noch die Existenz des Integrals zu zeigen, bemerken wir, dass das zweite Integral in (100) existiert, wenn das erste existiert (setze t + 21 = 1 − τ). Das erste Integral jedoch existiert, da g(t) = sintπt stetig und nullstellenfrei in [0, 12 ] ist, denn es gilt: Ist f (t) = t−Rn g(t) für n ∈ N, wobei g stetig R rund nullstellenfrei in [0, r ] mit r > r 0 ist, so existiert 0 ln f (t) dt. Das ist klar, da 0 ln t dt existiert, denn x log x − x ist Stammfunktion und es gilt lim x ln x = 0. x →0 Eisenstein bewies 1847 en passant die Verdopplungsformel des unendlichen 2 Produkts z ∏(1 − nz 2 ), lange bevor Moore sie 1894 wieder entdeckte. Er betrachtete die Funktion E : (C \ Z) × C → C, ∞ N z z e E(w, z) = ∏ 1 + := lim ∏ 1 + , (101) N →∞ n+w n+w n=−∞ n=− N das Eisenstein’sche Produkt. Hierbei bezeichnet ∏e die Eisenstein-Multiplikation (in Analogie zur bekannteren „Eisenstein-Summation“ ), d.h. Faktorpaare mit 31 bis auf das Vorzeichen gleichen Indizes werden zusammengruppiert, so dass die Konvergenz gesichert ist. Das Eisenstein’sche Produkt E(w, z) ist im Raum (C \ Z) × C normal konvergent, da N ∏ 06=n=− N z 1+ n+w N = ∏ n =1 z2 + 2wz 1+ 2 n − w2 1 gilt und ∑∞ n=1 w2 −n2 in C \ Z normal konvergiert. Die Funktion E ( w, z ) ist also stetig in (C \ Z) × C und für festes w jeweils holomorph in z ∈ C. Satz 7.22 (Eisenstein 1847). Für das Eisenstein’sche Produkt (101) gilt die Verdopplungsformel E(2w, 2z) = E(w, z) E(w + 21 , z). (102) Ferner ist E periodisch in w, denn E(w + 1, z) = E(w, z). Beweis. Es gilt E(w, z) E(w + 12 , z) = ∞ ∏ e n=−∞ ∞ e z 1+ n+w ∞ ∏ e n=−∞ ∞ 2z 1+ 2n + 2w 1+ z ! n + 12 + w 2z = ∏ ∏ 1 + (2n + 1) + 2w n=−∞ n=−∞ ∞ 2z 2z e = ∏ 1+ 1+ 2n + 2w (2n + 1) + 2w n=−∞ ∞ 2z e = ∏ 1+ = E(2w, 2z). n + 2w n=−∞ e Die Periodizität E(w + 1, z) = E(w, z) ergibt sich durch Substitution von n durch n + 1 in (101). Q.E.D. Mit Hilfe des „Eisenstein’schen Kunstgriffs“ [8, S. 14] w+z . w z = 1+ 1+ ( n 6 = 0) 1+ n+w n n (103) bringen wir nun das Eisenstein’sche Produkt mit dem Euler-Produkt s(z) = 2 z ∏1∞ (1 − nz 2 ) in Beziehung, N N w+z w+z . w+z E(w, z) = lim 1+ lim ∏ 1+ N →∞ w N →∞ 06=n∏ n n =− N 06=n=− N ! ∞ ∞ ( w + z )2 . w2 s(w + z) = (w + z) ∏ 1 − w 1 − = ∏ 2 2 n n s(w) n =1 n =1 Mit der Eisenstein’schen Verdopplungsformel (102) ist dann s(2w + 2z) s(w + z) s(w + 21 + z) 1 = E(2w, 2z) = E(w, z) E(w + 2 , z) = · . s(2w) s(w) s(w + 12 ) 32 s(2w) w →0 s ( w ) Da s stetig ist und lim = 2 wegen (84), so folgt daraus mit s(2z) = lim w →0 s(2w) s(2w + 2z) die Verdopplungsformel für das Euler-Produkt, s(w + 21 + z) s(2w) = 2s( 12 )−1 s(z) s(z + 12 ). s(w + z) w →0 s ( w ) s(w + 12 ) s(2z) = lim (104) Da s(z) damit den Voraussetzungen des Satzes 7.21 genügt, folgt mit s0 (0) = s(z) lim z = 1 also sin πz = πs(z), d.h. die Euler’sche Produktformel (93). z →0 „Die Eleganz in diesen Eisenstein’schen Schlüssen wird durch die zweite Variable w möglich. Eisenstein . . . verwendet E und s zu einem Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes . . . . Die Identität E(w, z) = s(w + z)/s(w) heißt bei Eisenstein Fundamentalformel, er schreibt sie wie folgt (. . . der Leser interpretiere): z sin π ( β − z)/α 1 − = , α, β ∈ C, β/α ∈ / Z.“ ∏ αm + β sin πβ/α m ∈Z [10, S. 17f] 7.3 Euler’sche Partitionsprodukte Neben dem Sinusprodukt hat Euler das unendliche Produkt Q : C × D → C, ∞ Q(z, q) = ∏ (1 + q n z ) (105) n =1 intensiv studiert. (Hier ist D = {|z| < 1} die Einheitkreisscheibe in C.) Es ist für jedes q ∈ D wegen ∑ |q|n < ∞ normal konvergent in C und also eine ganze Funktion in z, die im Fall q 6= 0 genau in den Punkten −q−1 , −q−2 , . . . Nullstellen hat, und zwar von erster Ordnung. Speziell für z = 1 und z = −1 entstehen die im Einheitskreis holomorphen Produkte ∞ Q(1, q) = ∏ (1 + q n ) ∞ und Q(−1, q) = n =1 ∏ (1 − q n ). ( q ∈ D) n =1 Ihre Potenzreihen um 0 spielen in der Theorie der Partitionen natürlicher Zahlen eine wichtige Rolle. Jede Darstellung einer natürlichen Zahl n ∈ N als Summe natürlicher Zahlen heißt eine Partition von n. Mit p(n) wird die Anzahl der verschiedenen Partitionen von n bezeichnet (dabei gelten zwei Partitionen als gleich, wenn sie sich höchstens in der Reihenfolge der Summanden unterscheiden). Beispielsweise ist p(4) = 5, denn 4 hat die Partitionen 4 = 4, 4 = 3 + 1, 4 = 2 + 2, 4 = 2 + 1 + 1, 4 = 1 + 1 + 1 + 1. Per definitionem ist p(0) = 0. Die Werte von p(n) wachsen mit n extrem schnell an: n 2 3 4 5 6 7 10 30 50 100 200 p(n) 2 3 5 7 11 15 42 5604 204 226 190 569 292 3 972 999 029 388 [4, §7.1], [10, §1.4.1]. Um die Partitionsfunktion p zu untersuchen, bildet Euler die Potenzreihe ∑ p(n)qn und findet die folgende überraschende Beziehung. 33 Satz 7.23. Für alle q ∈ D gilt ∞ ∞ 1 = ∏ 1 − qn ∑ p(n) qn . n =0 n =1 (106) nk mit q ∈ D und = ∑∞ k =0 q k verifiziere ∏1N 1−1qn = ∑∞ k =0 p N ( k ) q , q ∈ D, N = 1, wobei p N ( k ) für k = 1 die Anzahl der Partitionen von k bezeichnet, deren Summanden alle 5 N sind, und p N (0) := 1. Da p N (k ) = p(k ) für N = k, so folgt die Behauptung durch Grenzübergang. Q.E.D. Beweis. Betrachte die geometrischen Reihen 1 1− q n Es gibt viele zu (106) analoge Formeln. Sei u(n) bzw. v(n) die Anzahl der Partitionen von n = 1 in ungerade bzw. in verschiedene Summanden, und sei u(0) = v(0) = 1. Euler konnte zeigen, dass ∞ 1 ∏ 1 − q2n−1 n =1 ∞ = ∑ u(n) qn , ∞ ∞ n =1 n =1 ∏ (1 + q n ) = ∑ v ( n ) q n . n =1 (107) Da nun 1 − q2 1 − q4 1 − q6 · · ··· 1 − q 1 − q2 1 − q3 1 1 1 = · · ··· , 3 1 − q 1 − q 1 − q5 (1 + q)(1 + q2 )(1 + q3 ) · · · = so folgt mit Koeffizientenvergleich in (107) die überraschende Beziehung u ( n ) = v ( n ). (108) Beispielsweise ist tatsächlich u(4) = v(4) = 2. Seit Euler ordnet man jeder Funktion f : N → C die formale Potenzreihe F (z) = ∑ f (n)zn zu. Diese Reihe konvergiert, wenn f (n) nicht zu stark wächst. Man nennt F die erzeugende Funktion von f . Die Produkte ∏(1 − qn )−1 , ∏(1 − q2n−1 )−1 , ∏(1 + qn ) sind also die erzeugenden Funktionen der Partitionsfunktionen p(n), u(n), v(n). Die Suche nach der Taylor-Reihe von ∏(1 − qn ) um 0 hat Euler jahrelang beschäftigt. Am Ende konnte er das Problem mit dem folgenden berühmten Satz lösen. Satz 7.24 (Pentagonalzahlen-Satz). Für alle q ∈ C, |q| < 1, gilt ∞ ∏ (1 − q n ) = n =1 ∞ ∑ (−1)n q(3n−1)n/2 = 1 + n=−∞ ∞ ∑ (−1)n q (3n−1)n 2 +q (3n+1)n 2 . (109) n =1 (3n−1)n Die Folge ω (n) = , die mit 1, 5, 12, 22, 35, 51 beginnt, war bereits 2 den Griechen bekannt. Ihre Konstruktion geht angeblich auf Pythagoras zurück und geschieht, indem regelmäßige Fünfecke, deren Kantenlänge jeweils um 1 zunimmt, gemäß Abb. 6 ineinander gelegt und die Verbindungspunkte aller Strecken der Länge 1 auf den Fünfeckkanten gezählt werden. Wegen (3n−1)n dieses Konstruktionsprinzips nennt man die Zahlen für n ∈ Z Penta2 gonalzahlen. 34 1+4 = 5 1 1 + 4 + 7 = 12 1 + 4 + 7 + 10 = 22 Abbildung 6: Konstruktion der Pentagonalzahlen. Satz 7.25 (Rekursionsformel für p(n)). Setzt man p(n) = 0 für n < 0, so gilt für die Partitionsfunktion ∞ ∑ p(n) = (−1)k−1 p(n − ω (k)) (110) 06=k=−∞ oder äquivalent ∞ ∑ (−1)k p(n − ω (k)) = 0 (111) k =−∞ mit den Pentagonalzahlen ω (n) = (3n − 1)n/2. Beweis. Mit (106) und (109) gilt ∞ 1= ∑ p(n) qn ∞ ! ∑ ! (−1)n qω (n) . n=−∞ n =1 Durch Koeffizientenvergleich folgt die Behauptung. Q.E.D. Um die Rekursion (110) praktisch auszuführen, schreibt man sie um zu ∞ p(n) = ∑ (−1)k−1 p n− k =1 (3k−1)k )+ 2 p n− (3k+1)k 2 = p ( n − 1) + p ( n − 2) − p ( n − 5) − p ( n − 7) + p(n − 12) + p(n − 15) − p(n − 22) − p(n − 26) ± . . . (112) Überraschenderweise gilt fast dieselbe Rekursionsformel für die Funktion σ : Z → N der Teilersummen σ(n) = ∑d|n d für n = 1 und σ(n) = 0 für n 5 0. Satz 7.26 (Rekursionsformel für σ(n)). Die Teilersummenfunktion σ genügt für jede natürliche Zahl n = 1, die keine Pentagonalzahl ist, der Beziehung ∞ σ(n) = ∑ (−1)k−1 σ(n − ω (k)), (113) 06=k =−∞ für jede Pentagonalzahl n = ω (m) = (3m − 1)m/2 für ein m = 1 hingegen gilt σ(n) = (−1)m−1 n + ∞ ∑ 06=k=−∞ 35 (−1)k−1 σ(n − ω (k)). (114) Mit anderen Worten, ∞ ∑ (−1)m n, wenn n = ω (m) für ein m ∈ N, 0 sonst. (115) k (−1) σ(n − ω (k)) = k =−∞ Beweis. Bildet man die logarithmische Ableitung von (106), so ergibt sich nach einfacher Umformung ∞ ∞ ∞ nqn n ω (n) · (− 1 ) q = (−1)m−1 ω (m) qω (m) . ∑ ∑ n 1 − q n=−∞ m=−∞ n =1 ∑ (116) Die Potenzreihe der ersten Reihe links ist eine Lambert-Reihe um 0 und ist mit (79) gleich ∑1∞ σ(k )qk . Multipliziert man die Reihen aus, so entsteht eine Doppelsumme mit dem allgemeinen Glied (−1)n σ(k )qk+σ(n) . Fasst man alle Terme mit gleichen Komponenten zusammen, so entsteht " # ∞ ∑ m =1 ∞ ∑ (−1)k σ(n − ω (k)) qm . k =−∞ Koeffizientenvergleich in (116) liefert die Behauptungen. Q.E.D. Die Partitionsfunktion p(n) und die Teilersummenfunktion genügen den Beziehungen [10, §1.4.2] ∞ σ(n) = ∑ (−1)k−1 ω (k) p(n − ω (k)), p(n) = 06=k=−∞ 1 n σ ( k ) p ( n − k ), n k∑ =1 (117) die sich aus dem Pentagonalzahl-Satz herleiten lassen. 7.3.1 Potenzreihenentwicklung von Q(z, q) nach z Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Potenzreihenentwicklung der Funktion Q(z, q) in (105) nach q nur für spezielle Werte von z bekannt ist, beispielsweise (107) für z = 1 oder (109) für z = −1. Ihre Entwicklung nach z hingegen lässt sich leicht finden: Proposition 7.27. Die Funktion Q : D × C → C aus Gleichung (105) genügt der Funktionalgleichung (1 + qz) Q(qz, q) = Q(z, q). (118) Ferner lautet die Potenzreihenentwicklung von Q(z, q) nach z um 0 ∞ ∞ q(n+1)n/2 zn 2 ) · · · (1 − q n ) ( 1 − q ) ( 1 − q n =1 ∏ (1 + q n z ) = 1 + ∑ n =1 für (q, z) ∈ D × C. 36 (119) Beweis. Aus (105) folgt direkt (118). Für festes q ∈ D sei ∑ an zn die TaylorReihe von Q(z, q) um z = 0. Dann gilt a0 = 1, und die Funktionalgleichung qn (118) liefert die Rekursionsformel an qn + an−1 qn = an , d.h. an = 1−qn an−1 für 1 n = 1. Hieraus folgt durch vollständige Induktion, dass an = q 2 n(n+1) /[(1 − q) · · · (1 − qn )]. Q.E.D. Für z = 1 sehen wir damit (1 + q)(1 + q2 )(1 + q3 ) · · · q q3 q6 = 1+ + + ··· . 1 − q (1 − q)(1 − q2 ) (1 − q)(1 − q2 )(1 − q3 ) (120) Schreibt man q2 statt q in (119) und setzt z = 1/q, so folgt ∞ ∏ (1 + q 2n−1 n =1 ∞ 2 qn ) = 1+ ∑ , (1 − q2 )(1 − q4 ) · · · (1 − q2n ) n =1 (121) oder ausgeschrieben (1 + q)(1 + q3 )(1 + q3 ) · · · q4 q9 q + + ··· . = 1+ 1 − q2 (1 − q2 )(1 − q4 ) (1 − q2 )(1 − q4 )(1 − q6 ) (122) Das Produkt Q(z, q) ist einfacher als das Sinusprodukt. Nicht nur, dass sich die normale Konvergenz bereits durch die geometrische Reihe ergibt, auch die Funktionalgleichung (118), die an die Stelle für das Verdopplungsprodukt (104) von s(z) tritt, folgt mühelos und ist überdies ergiebiger. 7.4 Die Produktdarstellung der Jacobi-Reihe J(z, q) Die Jacobi-Reihe J : C × D → C, ∞ J (z, q) = ∑ 2 qn zn = 1 + n=−∞ ∞ ∑ qn ( z + z−n ) 2 (123) n =1 ist eine Laurent-Reihe und für jedes fixe q ∈ D in C∗ = C \ {0} konvergent, d.h. J (z, q) ist holomorph in C∗ für alle q ∈ D. Ihre Beziehungen zur Jacobi’schen Theta-Funktion [9, §12.4] und damit zur Riemann’schen Psi-Funktion lauten ϑ (z, τ ) = J (e2πiz , e−πτ ), ψ( x ) = 21 [ J (1, e−πx ) − 1]. (124) Man zeigt direkt J (i, q) = J (−1, q4 ) (125) für q ∈ D. Jacobi sah 1829, dass J (z, q) mit dem von Abel studierten Produkt ∞ A(z, q) := ∏ (1 − q2n ) (1 + q2n−1 z) (1 + q2n−1 z−1 ) n =1 37 (126) übereinstimmt, vgl. Satz 7.28. A(z, q) ist holomorph in C∗ für jedes q ∈ D, da das Produkt jeweils in C∗ normal konvergiert. Zwischen dem Euler-Produkt Q(z, q) aus Gleichung (105) und dem Abel-Produkt besteht folgender Zusammenhang, ∞ A(z, q) = ∏ (1 − q2n ) · Q(q−1 z, q2 ) · Q(q−1 z−1 , q2 ). (127) n =1 Im Folgenden benötigen wir die Funktionalgleichungen für das Abel-Produkt, 1 1 A(q2 z, q) = A(z, q), A , q = A(z, q), (128) qz z für q ∈ D \ {0}, z ∈ C \ {0}, und die Beziehung A(i, q) = A(−1, q4 ), (129) für q ∈ D, die man alle leicht der Definition von A entnimmt, wobei man beim von (129) beachte, dass ∞ ∞ n =1 n =1 ∏ (1 − q2n ) = ∏ (1 − q4n )(1 − q4n−2 ), (1 + q2n−1 i)(1 − q2n−1 i) = 1 + q4n−2 . Satz 7.28 (Jacobi 1829). Für alle (z, q) ∈ C∗ × D gilt die „Jacobi’sche Tripel-Produkt-Identität“ ∞ J (z, q) = ∏ (1 − q2n ) (1 + q2n−1 z) (1 + q2n−1 z−1 ) (130) n =1 Beweis. Das Abel-Produkt A(z, q) hat für jedes q ∈ D eine Laurent-Entwicklung ∑ an zn in C∗ um 0 mit Koeffizienten an = an (q). Die Gleichungen (128) implizieren a−n = an und an = q2n−1 an−1 für alle n ∈ Z. Hieraus folgt (zu2 nächst induktiv für n > 0 und dann allgemein) an = qn a0 für alle n ∈ Z. Damit folgt bereits A(z, q) = a0 (q) J (z, q) und a0 (0) = 1. Da A(1, q) und J (1, q) als Funktionen in q holomorph in D sind und da J (1, 0) = 1, so ist a0 (q) holomorph in einer Umgebung des Nullpunktes. Da J (i, q) nicht identisch auf D verschwindet, folgt aus den Gleichungen (125) und (129) also a0 (q) = a0 (q4 ) n und mithin a0 (q) = a0 (q4 ) für alle n ∈ N, q ∈ D. Die Stetigkeit von a0 (q) in n q = 0 erzwingt a0 (q) = lim a0 (q4 ) = a0 (0) = 1 für alle q ∈ D. Q.E.D. n→∞ Mit z = e2iw schreibt sich die Identität (130) in der Form ∞ ∑ n=−∞ 2 qn e2inw = ∞ ∏ (1 − q2n ) (1 + 2q2n−1 cos 2w + q4n−2 ) (131) n =1 Gelegentlich wird sie auch wie folgt geschrieben: ∞ 1 ∞ n 21 n(n+1) n z = 1− ∏ (1 − qn ) (1 − qn z)(1 − qn z−1 ). ∑ (−1) q z n=−∞ n =1 38 (132) Dabei entsteht (132) aus (130), indem wir dort −qz für z eintragen, das resultierende Produkt umordnen und schließlich q statt q2 schreiben. Die Identität J (z, q) = A(z, q) ist eine der vielen tiefen Resultate, die sich in Jacobis berühmter Abhandlung Fundamenta nova theoriae functionum ellipticarum aus dem Jahre 1829 finden. Jacobi schreibt dort [10, S. 28]: „Aequationem identicam, quam antecedentibus comprobatum ivimus: (1 − 2q cos 2x + q2 ) (1 − 2q3 cos 2x + q6 ) (1 − 2q5 cos 2xq10 ) . . . = 1 − 2q cos 2x + 2q4 cos 4x − 2q9 cos 6x + 2q16 cos 8x − . . . .“ (1 − q2 ) (1 − q4 ) (1 − q6 ) (1 − q8 ) . . . In einer 1848 veröffentlichten Arbeit hat Jacobi seine Identität systematisch ausgewertet, er sagt dort [10, S. 28]: „Die sŁmmtliĚen diesen UntersuĚungen zum Grunde gelegten EntwiĘlungen sind particulŁre FŁlle einer Fundamentalformel der Theorie der elliptisĚen Functionen, welĚe in der GleiĚung (1 − q2 ) (1 − q4 ) (1 − q6 ) (1 − q8 ) . . . ×(1 − qz) (1 − q3 z) (1 − q5 z) (1 − q7 z) . . . ×(1 − qz−1 ) (1 − q3 z−1 ) (1 − q5 z−1 ) (1 − q7 z−1 ) . . . = 1 − q ( z + z −1 ) + q 4 ( z 2 + z −2 ) − q 9 ( z 3 + z −3 ) + . . . enthalten iĆ.“ Des Weiteren [10, S. 29]: „Diese Euler’sĚe EntdeĘung . . . iĆ nŁmliĚ der erĆe Fall gewesen, in welĚem Reihen aufgetreten sind, deren Exponenten eine arithmetisĚe Reihe zweiter Ordnung bilden, und auf diese Reihen iĆ durĚ miĚ die Theorie der elliptisĚen TranŊcendenten gegr§ndet worden. Die Euler’sĚe Formel iĆ ein specieller Fall einer Formel, welĚe wohl daŊ WiĚtigĆe und FruĚtbarĆe iĆ, waŊ iĚ in reiner Mathematik erfunden habe.“ Aus der Identität (130) ergeben sich viele faszinierende Gleichungen, die teilweise auf Euler zurück gehen. Für z = 1 beispielsweise entsteht aus (130) die Produktdarstellung der klassischen, in D konvergenten Theta-Reihe ∞ ∑ n=−∞ 2 qn = ∞ ∏ 1 + q2n−1 2 1 − q2n . (133) n =1 Proposition 7.29. Seien k, l ∈ N beide gerade oder ungerade. Dann gilt für alle (z, q) ∈ C∗ × D, ∞ ∑ n=−∞ 1 q 2 n ( n +1) = ∞ ∏ (1 − qkn ) (1 + qkn− n =1 39 1 2 (k−l ) 1 z) (1 + qkn− 2 (k+l ) z−1 ) (134) 1 1 Beweis. Sei zunächst 0 < q < 1. Dann sind q 2 k , q 2 l ∈ (0, 1) eindeutig bestimmt, 1 1 und (130) geht über in (134), indem wir q 2 k statt q und q 2 l z statt z schreiben. Diese Gleichung gilt also gewiss für alle (z, q) ∈ C∗ × (0, 1). Da nach Voraussetzung über k, l alle Exponenten in (134) ganzzahlig sind (!), stehen in (134) bei festem z links und rechts holomorphe Funktionen in q ∈ D. Nach dem Identitätssatz [9, §8.1.3] folgt die Behauptung. Q.E.D. Für k = l = 1 und z = 1 geht (134) über in ∞ ∑ 1 q 2 n ( n +1) = 2 + 2 n=−∞ ∞ ∑ 1 q 2 n ( n +1) = n =1 ∞ ∏ (1 − q2n ) (1 + qn−1 ), (135) n =1 eine von Euler stammende Identität, die Gauß 1808 so schreibt: 1 + q + q3 + q6 + q10 + etc. = 1 − qq 1 − q4 1 − q6 1 − q8 · · · etc. 1 − q 1 − q3 1 − q5 1 − q7 Für k = 3, l = 1 und z = −1 besagt (134) ∞ ∞ n =1 n=−∞ ∏ (1 − q3n ) (1 − q3n−1 ) (1 − q3n−2 ) = ∑ (−1)n q(3n+1)n/2 . (136) Da hier links jeder Faktor (1 − qn ) für n = 1 genau einmal vorkommt, folgt der Pentagonalzahlen-Satz (109)! Prinzipell lässt sich auch die Potenzreihe ∏(1 + qn ) um 0 berechnen. Wegen ∏(1 − qn ) · ∏(1 + qn ) = ∏(1 − q2n ) erhält man mit (109) ∞ ∏ (1 + q n ) = n =1 1 − q2 − q4 + q10 + q14 − . . . 1 − q − q2 + q5 + q7 − . . . = 1 + q + q2 + 2q3 + 2q4 + 3q5 + 4q6 + 5q7 + . . . Die ersten Koeffizienten rechts hat bereits Euler angegeben, eine einfache explizite Darstellung aller Koeffizienten ist nicht bekannt. Proposition 7.30. ∞ ∏ n =1 1 − qn 3 ∞ = ∑ (−1)n (2n + 1) qn(n+1)/2 . (137) n =0 Beweis. Nach Jacobi differenzieren wir die Identität (132) nach z, setzen z = 1 und fassen in der Reihe die Summanden mit den Indizes n und −n − 1 zusammen. Q.E.D. Zur Identität (137) bemerkt Jacobi 1848: „DieŊ mag wohl in der AnalysiŊ daŊ einzige Beispiel sein, da eine Potenz einer Reihe, deren Exponenten eine arithmetisĚe Reihe zweiter Ordnung [= quadratische Form an2 + bn + c] bilden, wieder eine solĚe Reihe giebt.“ Mit Gleichung (124) gilt für die Theta-Funktion ∞ ϑ (z, τ ) = ∏ (1 − e−2nπτ ) (1 + 2e−(2n−1)πτ cos 2πz + e(4n−2)πτ ), n =1 40 (138) vgl. (131). Für die Riemann’sche Psi-Funktion ψ( x ) = 12 (ϑ (0, x ) − 1) folgt damit 2 1 ∞ (139) ψ( x ) + 1 = ∏ 1 − e−2nπx 1 + e−(2n−1)πx . 2 n =1 Aufgaben Übung 7.1. Man zeige: ∞ n3 − 1 2 ∏ n3 + 1 = 3 , n =2 ∞ n + (−1)n+1 = 1, n n =1 ∏ ∞ π ∏ cos 2n = n =2 2 . π (140) Die letzte Gleichung ist das Vieta-Produkt. Übung 7.2. Man zeige die normale Konvergenz der folgenden Produkte im Einheitskreis D und beweise die Grenzwerte: ∞ ∞ 1 n 2n−1 2n , ( 1 + z )( 1 − z ) = 1. (141) ( 1 + z ) = ∏ ∏ 1−z n =0 n =1 Übung 7.3. Man zeige, dass für alle (q, z) ∈ D × C gilt: ∞ 1 ∞ qn zn . 2 ) · · · (1 − q n ) ( 1 − q )( 1 − q n =1 ∏ 1 − qn z = 1 + ∑ n =1 (142) Hinweis. Man betrachte zunächst ∏1N 1−1qn z mit 1 5 N < ∞, verschaffe sich jeweils Funktionalgleichungen und simuliere den Beweis von (118). 8 Die Gammafunktion Zur Definition der Gammafunktion verwenden wir die folgende Hilfsfunktion H ( z ). Proposition 8.1. Die Funktion H : C → C definiert durch ∞ z −z/n H (z) = z ∏ 1 + e n n =1 (143) ist ganz, d.h. holomorph in ganz C, und hat die Nullstellen z = −n für n ∈ N, jeweils von erster Ordnung. Beweis. [10, §2.1.1] Zu zeigen ist, dass das unendliche Produkt ∏1∞ 1 + nz in C normal konvergiert, d.h. dass ∞ ∑ 1 − n =1 1+ z −z/n e <∞ n für alle |z| < N und alle N = 1. Sei w ∈ C. Mit der Reihenentwicklung von ew erhält man aus der Identität ! ∞ ∞ ∞ 1 1 1 1 w 2 2 1 − (1 − w )e = w ∑ − =w ∑ n! − ∑ n! = w2 n! ( n + 1 ) ! n =2 n =1 n =1 41 dann, da rechts alle Klammeraudrücke (. . .) positiv sind, ∞ 1 1 − (1 − w )ew 5 | w | 2 ∑ 1 − = | w |2 n! ( n + 1 ) ! n =1 für |w| 5 1. Für w = z/n folgt |1 − (1 − z/n)e−z/n | 5 |z|2 /n2 im Falle |z| 5 n, also 1 −z/n 1 − 1 + z/n e ( ) 5 | z |2 ∑ 2 < ∞ ∑ n n= N n= N falls |z| 5 N. Die Nullstellen ergeben sich nach Satz 7.15. Q.E.D. Der Trick in der Definition von H (z) besteht darin, durch Anfügen der Exponentialfaktoren e−z/n beim divergenten Produkt ∏(1 + nz ) Konvergenz zu erzeugen. Die eigentlich weitreichende Bedeutung dieses Tricks hat zuerst Weierstraß erkannt und daraus seine allgemeine Theorie der Konvergenz erzwingenden „Weierstraß-Faktoren“ gebildet [10, §3.1]. Die Funktion H (z) hat einige interessante Eigenschaften. Proposition 8.2. Für z = 1 gilt H (1) = e −γ n mit γ := lim n→∞ 1 ∑ k − ln n k =1 ! ∈ R. (144) Die reelle Zahl γ heißt Euler-Masceroni-Konstante und beträgt γ = 0, 5772156649 . . ., vgl. (32). Beweis. Wegen ∏1n (1 + 1k ) = n + 1 gilt n H (1) = lim n→∞ ∏ k =1 1 1+ k e −1/k n 1 = lim exp ln(n + 1) − ∑ n→∞ k k =1 Da nun H (1) > 0, so folgt γ = − ln H (1) = lim n→∞ ∑1n 1 k ! − ln(n + 1) ∈ R. Mit ln(n + 1) − ln n = ln(1 + n1 ) → 0 für n → ∞ folgt die Behauptung. Q.E.D. Euler hat seine Konstante mit der Bezeichnung C in seiner Veröffentlichung De Progressionibus harmonicus observationes 1735 eingeführt und zunächst bis auf 6 Dezimalstellen berechnet [5, S. 51], im Jahr 1781 gibt er 16 Dezimalstellen an, von denen die ersten 15 richtig sind. Es ist nicht bekannt, ob γ rational oder irrational ist. Auch existieren bislang keine einfachen arithmetischen Bildungsgesetze, wie man sie für e und π kennt. Proposition 8.3. Mit nz := ez ln n gilt z ( z + 1) · · · ( z + n ) , n→∞ n! nz H (z) = e−γz lim (145) ferner gelten die Funktionalgleichung H (z) = zeγ H (z + 1), 42 (146) die Identitäten πeγ H (z) H (1 − z) = − π H (−z) H (z) = sin πz z (147) und die Multiplikationsformel √ 2π n −1 n −1 ∏ ek/n H (k/n) = √ n (148) k =1 für n = 2, 3, 4, . . . Beweis. Mit n z∏ k =1 n 1 z −z/k z ( z + 1) · · · ( z + n ) 1+ e = exp z ln n − ∑ z k n! n k k =1 z + n +1 n folgt (145). Hieraus erhält man wegen !! → 1 folgt sofort (146). Mit eγ H (z) H (1 − z) = −z−1 H (z) H (−z), wegen (145) und 1−nz+n → 1 für n → ∞, und mit dem Sinusprodukt (93) folgt (147). Zum Beweis der Multiplikationsformel (148) zeigen wir zunächst die Gleichung n −1 k 2n−1 ∏ sin π = n. (149) n k =1 Sie folgt, wenn mit sin z = (2i)−1 eiz (1 − e−2iz ) und ∏1n−1 eiπk/n = eiπ (n−1)/2 = in−1 das Sinusprodukt in (149) in der Form n −1 ∏ sin k =1 n −1 k π = (2i)1−n in−1 ∏ (1 − e−2πin/k n k =1 n geschrieben wird und für ∑0n−1 wk = ww−−11 = ∏1n−1 (w − e−2πik/n der Limes w → 1 angewandt wird. Da nun ∏1n−1 eγk/n H ( nk ) = ∏1n−1 eγ(1−k/n) H (1 − nk ) durch Umbennenung der Indizes gilt, ergibt sich mit (147) und (149) die Gleichung 2 n−1 n −1 k k k γk/n γk/n γ(1−k/n) H 1− ∏ e H n = ∏e H n ·e n k =1 k =1 n −1 k k = ∏ eγ H ·H 1− n n k =1 n −1 =∏ k =1 1 k n sin π = . π n (2π )n−1 Da H ( x ) > 0 für x > 0, folgt (148) durch Wurzelziehen. Q.E.D. Die Gamma-Funktion Γ : C \ {0, −1, −2, . . .} → C ist definiert durch Γ(z) = 1 eγz H (z) 43 . (150) Anhang A Das quadratische Reziprozitätsgesetz Das quadratische Reziprozitätsgesetz besagt, dass für zwei verschiedene ungerade Primzahlen p, q gilt: p −1 q −1 p q −1 wenn p ≡ q ≡ 3 (mod 4), (151) = (−1) 2 2 = 1 sonst, q p wobei p q das Legendre-Symbol 1 wenn a quadratischer Rest modulo p ist, a −1 wenn a quadratischer Nichtrest modulo p ist, = p 0 wenn a ein Vielfaches von p ist (152) bezeichnet. Eine Zahl a ist quadratischer Rest modulo einer teilerfremden Zahl m, wenn es eine Zahl x gibt mit x2 ≡ a mod m. Existiert für zwei teilerfremde Zahlen a und m keine Lösung zu dieser Kongruenz, so heißt a quadratischer Nichtrest modulo m. Für eine ungerade Primzahl p gilt das Euler-Kriterium p −1 a ≡ a 2 mod p. (153) p Beispielsweise ist 4 quadratischer Rest modulo 7, Nichtrest 5 ist quadratischer 4 5 modulo 7, d.h. die Legendre-Symbole lauten 7 = 1 und 7 = −1, dagegen ist 14 7 = 0. B Verwendete Symbole ∀ „für alle“ ∃ „(es) existiert“ C Menge der komplexen Zahlen {z = x + iy| x, y ∈ R} N Menge der natürlichen Zahlen {1, 2, 3, . . . } N0 Menge der natürlichen Zahlen einschließlich der 0, {0, 1, 2, . . . } = {0} ∪ N. Q Menge der rationalen Zahlen { mn : m ∈ N0 , n ∈ N} R Menge der reellen Zahlen Z Menge der ganzen Zahlen { . . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . . } ( a, b) Intervall {x ∈ R| a < x < b} [ a, b] Intervall {x ∈ R| a 5 x 5 b} 44 ( a, b] bzw. [ a, b) Intervall {x ∈ R| a < x 5 b} bzw. {x ∈ R| a 5 x < b} Q.E.D. lat. quod erat demonstrandum – „was zu beweisen war“ , auf Euklid (325 v.Chr. - um 265 v.Chr.) zurückgehender Schlusssatz bei Beweisen. In seinem Buch Die Elemente [L3, L4] (Στoιχει̂α – stoicheia), das als das einflussreichste wissenschaftliche Buch aller Zeiten gilt, schloss er alle Beweise mit dem griechischen Satz oπερ eδει δει̃ξαι – oper edei deixai (in der Kopie [L3] gut lesbar direkt unter der Zeichnung), also eigentlich O.E.∆. oder o.e.δ.. Tatsächlich ist jedoch sehr wenig über Euklid [L1] und die Originalversion der Elemente bekannt. Es ist kein Originalexemplar überliefert [L2], die älteste bekannte Kopie befindet sich heute in der Bodleian Library in Oxford und ist ein Pergamentskript von 888, entstanden also erst etwa 1150 Jahre nach Euklids Tod. Übrigens lautet der Schlusssatz für gelöste Probleme oπερ eδει πoιη̃σαι – oper edei poihsai, „was zu tun war“ , oder quod erat faciendum. C Lösungen der Aufgaben 2.1. Die alternierende Folge und die Fibonnacci-Folge konvergieren nicht, die geometrische Folge konvergiert nicht für |q| > 1. Alle anderen Folgen konvergieren. Die konstante Folge konvergiert gegen 2, die geometrische Folge für q = 1 gegen 1, und alle anderen Folgen gegen 0. Die Beweise der einzelnen Aussagen sind in [2, §4] angegeben. Exemplarisch seien hier folgende Beweise aufgeführt. 2. Es gilt n1 → 0 für n → ∞. Denn sei e > 0 vorgegeben und N (e) eine natürliche Zahl mit N (e) > 1e . (Solch eine Zahl N (e) existiert stets, denn e ist positiv und ungleich 0!) Dann ist 1 1 − 0 = 1 < e ∀n= . n n e 3. Die Folge an = (−1)n divergiert. Beweis. Zum Widerlegen der Konvergenz müssen wir nur ein e > 0 finden, das die Bedingung der Definition 2.2 nicht erfüllt. Zunächst beobachten wir, dass zwei aufeinander folgende Glieder an und an+1 einen Abstand von | an+1 − an | = 2 haben. Wenn es einen Grenzwert a gäbe, so müsste er von mindestens einem der beiden Folgeglieder an oder an+1 einen Mindestabstand von 1 haben: Damit kann für ein e < 1, also z.B. e = 12 , gar kein N (e) existieren, das die Bedingung in Def. 2.2 erfüllt. Q.E.D. 2.2. Es gilt 2 = a1 > a2 > a3 > . . . > 1. Das kann man in den folgenden zwei Schritten beweisen. 1. Es gilt an > 1 ∀ n = 1, denn mit vollständiger Induktion folgt (a) a1 = 2, und (b) aus an > 1 folgt sofort an+1 > 1. 45 2. Es gilt an > an+1 , denn an − an+1 = an − 1 − a n −1 an = ( a n −1)2 an + a n −1 an 1 an = a2n − an −1 an = a2n −2an +1 an + > 0. Die Folge ist also beschränkt und monoton fallend, d.h., sie konvergiert. Der Limes lim an existiert also, und es gilt lim an = lim an+1 . Damit lässt sich die Folge im Limes ausdrücken √ als a = 1 + 1/a, d.h. nach Umformung a2 − a − 1+ 5 1 = 0 mit der Lösung a = 2 . 7.1. Die Behauptung der ersten Gleichung folgt mit p2,N = lim 23 , die wiederum per Induktion gezeigt werden kann: p2,2 = N → N + 1 folgt mit 1 2 3 (1 + N ( N +1) ) 7 2 1 9 = 3 · (1 + 6 ); ( N 2 + N + 1)( N + 2) = N 3 + 1 und ( N + 1)( N + 2) + 1 = N 2 + 3N + 3 gemäß ( N + 1)3 − 1 N 3 + 3N + 3N 2 N2 + N + 1 · p2,N = · · 3 2 ( N + 1) + 1 ( N + N + 1)( N + 2) 3 N ( N + 1) 2 2 N + 3N + 3 2 1 = · = · 1+ . 3 ( N + 2)( N + 1) 3 ( N + 1)( N + 2) p2,N +1 = Die zweite Gleichung folgt aus den Beziehungen p1,N = NN+1 für N ungerade und p1,N = 1 für N gerade, was ebenfalls mit vollständiger Induktion gezeigt werden kann: p1,1 = 2 und p1,2 = 21 , für ungerades N folgt damit p1,N +1 = N N N +1 N +2 N +1 p1,N = N +1 N = 1 und für gerades N entsprechend p1,N +1 = N +1 p1,N = N +2 N +1 . Um schließlich Vietas Produkt zu zeigen, beweisen wir zunächst für ein beliebiges x ∈ R die Identität sin x = 2 N sin N x x · cos n ∏ N 2 2 n =1 für alle N ∈ N0 (154) durch vollständige Induktion: Für N = 0 ist sin x = sin x; von N auf N + 1 schließen wir sofort 2 N +1 sin x 2 N +1 N +1 · x ∏ cos 2n n =1 N x x x = 2 N · 2 sin N +1 cos N +1 · ∏ cos n = sin x 2 2 2 | {z } n =1 sin x/2 N mit der elementaren trigonometrischen Beziehung sin x = 2 sin 2x cos 2x angewandt auf den Ausdruck über den geschweiften Klammern. Mit lim sinα α = 1 α →0 folgt lim 2 N sin 2xN = x für α = x/2 N , also gilt N →∞ ∞ x ∏ cos 2n n =1 mit Gleichung (154). Für x = π 2 = sin x x folgt somit ∏2∞ cos 2xn = 46 (155) 2 π. Literatur [1] E BBINGHAUS, H. D. ; H ERMES, H. ; H IRZEBRUCH, F. ; K OECHER, M. ; M AINZER, K. ; N EUKIRCH, J. ; P RESTEL, A. ; R EMMERT, R. : Numbers. New York : Springer-Verlag, 1991 [2] F ORSTER, O. : Analysis 1. 6. Aufl. 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[L6] http://www.netlib.org/fdlibm/ – Quelltexte der FdLibM-Bibliothek, eine CBibliothek mathematischer Funktionen, auch zu finden im Quelltext zu Java [L7] im Paket java.lang [L7] http://java.sun.com/javase/downloads/ – Download-Seite von SUN zur JavaTechnologie 48 Index antikommutiernede c-Zahl, 2 Archimedes, 9 Pentagonalzahl, 34 Produkt, unendliches -, 24 Bibel, 9 binäre Suche, 13 quadratisches Reziprozitätsgesetz, 44 Dirichlet-Faltung, 24 divergent, 4 divergentes Produkt, 25 Eisenstein’scher Kunstgriff, 32 Eisenstein’sches Produkt, 31 Eisenstein-Multiplikation, 31 erzeugende Funktion, 34 Euklidischer Algorithmus, 10 Euler-Kriterium, 44 Euler-Masceroni-Konstante, 15, 42 Euler-Produkt, 32 Exponentialfunktion, 21 exponentielles Wachstum, 10 geometrisch wachsend, 10 geometrische Folge, 3 geometrische Reihe, 17 goldener Schnitt, 9 Grassmann-Zahl, 2 Restglied, 20 Riemann’sche Vermutung, 16 Summenformel, 28 Superzahl, 2 Teilersumme, 35 Teilsummenfunktion, 16 Theta-Funktion, 37 Tripel-Produkt-Identität von Jacobi, 38 unendliches Produkt, 24 Verdopplungsformel, 30 Vieta-Produkt, 41 Wachstum exponentielles -, 10 Zeta-Funktion, 15, 30 harmonische Folge, 3 harmonische Reihe, 12 harmonisches Mittel, 3 Heron, 6 Jacobi’sche Theta-Funktion, 37 Jacobi’sche Tripel-Produkt-Identität, 38 Jacobi-Reihe, 37 Kettenbruch, 7 kompakt konvergent (Produkte), 26 konvergent, 3 kompakt - (Produkte), 26 normal - (Produkte), 27 konvergentes Produkt, 25 Lambert-Reihe, 24, 36 Laurent-Reihe, 37 Legendre-Symbol, 44 Limes von Funktionenprodukten, 26 logarithmische Ableitung, 28 monotone Folge, 5 normal konvergent (Produkte), 27 Oresme, 12 Partition, 33 49