Medizin & Wissen Von der Polizei zum Diplomaten Der Darm spielt für unser Immunsystem eine wichtige Rolle. Forscher entschlüsseln immer mehr, welche wichtige Bedeutung dabei den dort lebenden Bakterien zukommt – und, welche Rolle sie möglicherweise für rheumatische Erkrankungen spielen. richtet sich gegen den eigenen Organismus anstatt gegen Eindringlinge – das Immunsystem hat sich getäuscht. E ine Vielzahl unterschiedlicher Zellen soll uns vor Infektionskrankheiten schützen. Meistens funktioniert unser Immunsystem sehr gut und ohne dass wir etwas davon bemerken. Muss die körpereigene Abwehr härter arbeiten, etwa weil viele Keime in den Körper eingedrungen sind, dann spüren wir Fieber, Müdigkeit, 24 Appetitlosigkeit. All dies sind körperliche Reaktionen, die das Immunsystem hervorruft. Zu den örtlich begrenzten Zeichen einer aktiven Abwehrreaktion, also einer Entzündung, gehören Rötung, Schwellung und Schmerz. Rheumatische Entzündungen entstehen durch fehlgeleitete Aktionen unseres Immunsystems. Die Entzündungsreaktion Angesichts der komplexen Aufgabe unseres Immunsystems ist es gar nicht so verwunderlich, dass gelegentlich Fehlreaktionen auftreten. Vielmehr ist erstaunlich, dass dies nicht viel häufiger passiert. Die Abwehr muss nämlich einige delikate Balance-Akte bewältigen: Sie soll jeden Krankheitserreger bekämpfen, darf dabei aber nicht den eigenen Körper schädigen. Bedenkt man das höchst wirksame Arsenal des Immunsystems (Killerzellen, Botenstoffe, Antikörper ...) so erkennt man, dass an dieser Stelle Präzision und Sorgfalt gefragt sind. Darüber hinaus darf es auch die nützlichen Mikroorganismen nicht angreifen. Nützliche Mikroorganismen, gibt es das? Wir alle sind mit einer Vielzahl unterschiedlicher Keime besiedelt, auf der Haut, den Schleimhäuten und insbesondere im Darm. Dort finden sich mehr Mikroorganismen, als unser eigener Körper Zellen besitzt. Normalerweise bleiben die Bakterien dort unbehelligt – und dies aus gutem Grund: Die Mehrzahl davon ist für uns nützlich. Ohne sie könnten wir bestimmte Nahrungsmittel gar nicht verwerten. Wir leben mit ihnen in Symbiose, also einer Gemeinschaft, in der jeder Partner vom anderen profitiert. Dazu kommen Mikroorganismen, die keine Bedeutung für die Nahrungsaufnahme haben. MOBIL 5/2014 Illustration: Fotolia/ag visuell Wirksames Waffenarsenal 3 Sie verhindern, dass sich krankmachende Keime im Darm breitmachen. Gefährliche Darmkeime Wie wichtig diese Mikroorganismen sind, die wir normalerweise beherbergen, sieht man am Beispiel einer seltenen Entzündung des Darmes, der sogenannten pseudomembranösen Colitis. Dabei handelt es sich um eine hartnäckige Entzündung, die in sehr seltenen Fällen nach der Gabe von Antibiotika auftreten kann. Sie kommt dadurch zustande, dass diese Medikamente nicht nur die krankmachenden Bakterien töten, derentwegen man die Antibiotika verabreicht. Im geringeren Maße zerstören sie auch einige der harmlosen Bakterien. Dadurch können sich krankmachende Bakterien im Darm ansiedeln, welche die pseudomembranöse Colitis verursachen. Diese Erkrankung kann manchmal sehr schwer zu behandeln sein. Welche Bedeutung die Bakterienwelt des Darms hat, zeigt sich an einer neuen und äußerst effektiven Behandlung für Patienten mit pseudomembranöser Colitis. Dazu überträgt man Stuhlproben gesunder Personen in den Darm der Erkrankten. Mit dieser sogenannten Fäkal-Transplantation lässt sich die Darmentzündung deutlich schneller und effektiver regulieren als mit der bisher üblichen antibiotischen Therapie: Nützliche Bakterien aus der Stuhlprobe verdrängen dabei die krankmachenden Bakterien. Diesen spektakulären Erfolg darf man jedoch nicht verallgemeinern. Die Wirksamkeit ist einzig und allein für diese eine, bakteriell bedingte Erkrankung bewiesen. Verschiedene Untersuchungen wollen nun die Frage klären, ob sich andere chronische (Darm)-Entzündungen ähnlich behandeln lassen. Schützende Keime Die enorme Bedeutung der Besiedelung des Darms mit nützlichen Bakterien zeigt sich auch an anderen Befunden. So wurde unlängst festgestellt, dass Antibiotika das 5/2014 MOBIL Risiko, eine chronisch entzündliche Darmerkrankung zu entwickeln, erhöhen: Wer im Kleinkindalter mehr als sieben Mal Antibiotika erhielt, erkrankte später häufiger an chronischen Darmleiden. Diese Befunde sprechen für die schützende Bedeutung der normalerweise den Darm besiedelnden Bakterien. Sie bedeuten jedoch nicht, dass man Kleinkindern mit schweren bakteriellen Infektionen Antibiotika vorenthalten sollte. Allerdings erscheint die massenhafte Gabe von Antibiotika im Tierfutter mit Hinblick auf diese Befunde erst recht zweifelhaft. Unser Immunsystem entwickelt sich in der ständigen Interaktion mit nützlichen, harmlosen und krankmachenden Mikroorganismen. Versuchstiere, die komplett keimfrei aufgezogen werden, entwickeln kein normales Immunsystem. Offenbar brauchen wir diese mikroskopisch kleinen Gäste für unsere Gesundheit. Fehlgeleitete Abwehr? Die Vermutung, dass Mikroorganismen oder eine fehlgeleitete Antwort darauf für die Entstehung rheumatischer Erkrankungen (mit)verantwortlich sein können, ist alt. Schon in den 1940er-Jahren entwickelte die schwedische Rheumatologin Nanna Svartz das Medikament Sulfasalazin: Es besteht aus einem Antibiotikum (Sulfonamid) und einem entzündungshemmenden Medikament. Sie ging davon aus, dass bakterielle Infektionen für Rheuma (mit)verantwortlich sind. Tatsächlich folgen die sogenannte reaktive Arthritis und die Lyme-Arthritis auf bakterielle Infektionen. Sie können noch hartnäckig weiter bestehen, selbst wenn die auslösenden Mikroben nicht mehr nachweisbar sind. In den vergangenen Jahren ist das Wissen über die Summe der uns besiedelnden Bakterien (das sogenannte Mikrobiom) geradezu explodiert. Zu den faszinierenden Erkenntnissen, die dabei gewonnen wurden, zählt, dass die normale Darmflora Einfluss auf Entzündungsreaktionen nehmen kann. So gibt es Mikroorganismen, die dafür sorgen, dass der Wirtsorganismus be- stimmte Abwehrzellen (sogenannte Th17Zellen) entwickeln kann. Diese sind notwendig, um bestimmte Infektionen abzuwehren, zum Beispiel Pilze. Andererseits ist gerade ein Überschuss dieser Th17-Zellen vermutlich mitverantwortlich für chronisch entzündliche Erkrankungen wie Rheuma. Andere Bakterien fördern die Entwicklung anti-entzündlicher Zellen, regulatorische T-Zellen (kurz „Treg-Zellen“) genannt. Diese dämpfen Entzündungen und andere Immunantworten. Sie sind also erwünscht, um rheumatische Entzündungen zu hemmen. Andererseits versucht man, sie bei der immunologischen Behandlung von Tumorzellen auszuschalten, da sie auch die Immunabwehr gegen Tumoren beeinträchtigen. Das diplomatische Immunsystem Zusammenfassend kann man sagen, dass wir von einer Vielzahl von Mikroorganismen besiedelt sind. Die meisten davon sind uns nützlich, viele sind harmlos und einige sind krankmachend. Das Immunsystem muss die krankmachenden bekämpfen, ohne dabei den eigenen Organismus oder die nützlichen Mikroorganismen zu schädigen. Unser Immunsystem benötigt diesen ständigen Kontakt, um in Balance zu bleiben. Manche Mikroorganismen können die Bereitschaft des Körpers zu Entzündungsreaktionen fördern, anderen dämpfen diese Bereitschaft. Die Aufgabe des Immunsystems ist es, für ein gesundes Gleichgewicht zu sorgen. Sie sehen: Die altmodischen Metaphern über das Immunsystem „Polizei“ und „Soldaten“ stammen aus den schlechten alten Zeiten, in denen bei jeder Gelegenheit mit Hurra zum Gewehr gegriffen wurde. Heute sollte man längst erkannt haben, dass die Aufgabe des Immunsystems viel mehr der von Diplomaten gleicht: Interessenausgleich und ❚ Balance. Der Internist und Immunologe Prof. Thomas Kamradt leitet das Institut für Immunologie am Universitätsklinikum Jena. 25