faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 16./17. April 2016, Nr. 89 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n XYZ Zwei Parteien in einer. Lenin 1916 über Krieg und die Spaltung der sozialdemokratischen Parteien. Klassiker Volksparteiengemeinschaft. Zwei ZeitRedakteure und ein AfD-Mann finden die Bundesrepublik schön Wo die Gringos ins Meer geschmissen wurden: Playa Girón. Von André Scheer (Text) und Claudia Schröppel (Fotos) Ein Kakanier tschechischer Art: Der surrealistische Schriftsteller Bohumil Hrabal. Von Dirk Werner PICTURE ALLIANCE/AKG-IMAGES »Wir müssen die Gleichgültigkeit aktiv bekämpfen« S ie haben sehr jung begonnen, sich gegen den italienischen Faschismus zu engagieren. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Was waren die ausschlaggebenden Erlebnisse dafür? Ich wurde 1925 in eine Familie geboren, die sechs Söhne hatte. Ich wurde in einer Phase geboren, in der der Faschismus schon im Vollbesitz der Macht war. Die faschistische Diktatur war schon errichtet, ich hatte also noch nie nichtfaschistische Zeiten erlebt. Das hatten mir meine großen Brüder voraus, die waren in einer Periode mit größerer Freiheit aufgewachsen. Ich bin dann zur Schule gekommen in einer Zeit, in der dort schon Parolen galten ISTORECO REGGIO EMILIA Gespräch Mit Giacomina Castagnetti. Über ihr Leben im Widerstand gegen den Faschismus Giacomina Castagnetti … geboren 1925, begann mit 14 Jahren am Widerstand gegen den italienischen Faschismus mitzuwirken. Ab 1943 war sie als Partisanin in den Frauenverteidigungseinheiten der Resistenza tätig wie »Credere, obbedire, combattere«, also »Glauben, gehorchen, kämpfen«, und in der der Faschismus uns weismachen wollte, dass der Krieg eine gute und erstrebenswerte Sache sei. Man bereitete schon den Kolonialkrieg zur Eroberung Äthiopiens vor, das bekamen wir auch in den Schulen mit. Zu Hause hörte ich aber ganz andere Töne. Mein großer Bruder sagte immer: Der Krieg hat für die armen Leute nie irgendetwas gebracht. Dieser Kontrast prägte mich. In der Schule hörte ich die faschistische Propaganda. Mein Bruder aber gehörte zu einem Netzwerk von Antifaschisten, die andere Gedanken hatten. 1938 sind sie dann aufgeflogen. Es war eine Zeit, in der der Faschismus sehr vehement gegen seine Geg- ner vorging. Viele Bekannte und Freunde wurden verbannt, und auch die Gruppe von etwa 30 jungen Männern, zu der mein Bruder gehörte, konnte sich nicht dauerhaft verbergen. Mein Bruder kam lange ins Gefängnis nach Castelfranco Emilia. Er wurde dort brutal gefoltert. Die Verhaftung meines Bruders war ein sehr schwerer Schlag für mich, er war eine meiner wichtigsten Bezugspersonen. Er hatte viel mit mir diskutiert und mir Dinge erklärt, die ich selber noch nicht verstehen konnte. Wie zum Beispiel damals, als ich noch zur Grundschule ging: Zu Ostern bekommt man üblicherweise Schokoladeneier in der Schule. Alle Kinder Italienische Partisaninnen in Castelluccio (Umbrien), 2. 11. 1944 Im Widerstand Ein Gespräch mit Giacomina Castagnetti. Über ihre Zeit als Partisanin in den Frauenverteidigungseinheiten der Resistenza in Italien. Außerdem: Zwei Zeit-Redakteure sprechen mit AfD-Größe Gauland über die schönste aller deutschen Welten, die Bundesrepublik. Schwarzer Kanal n Fortsetzung auf Seite zwei ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 16./17. APRIL 2016 · NR. 89 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Sozialismus entwickeln Pfründe verteilen Kunden überwachen Massen mobilisieren 3 4 9 12 Sachsen-Anhalt: CDU blinkt rechts, Grüne und SPD wollen trotzdem mit der Union regieren Kontrolle per »Smart-Meter«: Bundes- Arbeiter, Kommunist, Staatsfeind: regierung will Stromverbrauchern Vor 130 Jahren wurde Ernst in die Wohnstube schauen Thälmann geboren Bündnisfall Böhmermann Merkel lässt Staatsanwalt von der Leine: Gegen ZDF-Komiker darf wegen Majestätsbeleidigung Erdogans ermittelt werden. Von Michael Merz E Istanbul. Türkische Grenzbeamte haben mit scharfer Munition auf syrische Flüchtlinge geschossen. Das erklärte die US-Organisation Human Rights Watch (HRW) unter Berufung auf Augenzeugen am Freitag. Zur Zeit versuchten mehr als 30.000 Menschen aus Flüchtlingscamps nördlich von Aleppo, den vorrückenden Milizen des »Islamischen Staates« zu entkommen und in das Nachbarland zu gelangen. Mehrere Lager seien mittlerweile verwaist. In einer HRW-Mitteilung heißt es, die Türkei habe die Schutzsuchenden gewaltsam nach Syrien zurückgeschickt. Dabei wurde auch mit scharfer Munition geschossen. Die Regierung in Ankara versuche damit, ihre Forderung nach »Schutzzonen« auf der syrischen Seite der Grenze durchzusetzen, vermutet HRW. (AFP/jW) JULIAN STRATENSCHULTE/OLE SPATA/DPA/MONTAGE jW Das Corpus delicti ist ein deftiges Gedicht, welches Jan Böhmermann in seiner Sendung »Neo Magazin Royale« vortrug und das nach Darstellung des Moderators die Grenze zwischen erlaubter Satire und Schmähkritik aufzeigen sollte. Es beginnt mit den Worten »Sackdoof, feige und verklemmt, das ist Erdogan, der Präsident« und steigert sich drastisch bis hin zu Sodomie- und Kinderpornographieandeutungen. In vorauseilendem Gehorsam hatte Merkel ihr Urteil über diese Posse bereits frühzeitig gebildet. Nicht allein, sondern gemeinsam mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Nach einem Telefonat vor knapp zwei Wochen ließ sie Regierungssprecher Steffen Seibert verkünden, die beiden seien sich einig gewesen, dass es sich um einen »bewusst verletzenden Text« handele. Noch bevor die Kanzlerin am Freitag ihre »Ermächtigung« aussprach, griffen die Polizei und das Verwaltungsgericht Berlin das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit an. Aktivisten wollten unter dem Motto »Ziegendemo gegen Beleidigung« am Vormittag vor der türkischen Botschaft Teile des Schmähgedichts rezitieren und Auszüge davon auf Plakaten zeigen. Mit Verweis auf den Persönlichkeitsschutz wurde die Kundgebung verboten. Merkels außenpolitische Rücksichtnahme sei ein absolut falsches Signal, erklärte der stellvertretende ver.diVorsitzende Frank Werneke, der auch im ZDF-Fernsehrat sitzt, am Freitag. Wernecke weiter: »Journalisten in der Türkei werden verhaftet, nach Schauprozessen ins Gefängnis geworfen oder regierungskritische Medien enteignet – diesen antidemokratischen Politikstil versucht die türkische Regierung auf Deutschland zu übertragen. Dagegen hätte die Bundesregierung ein Zeichen setzen müssen. Sie hat es nicht getan – das ist bitter.« Siehe Kommentar Seite 8 Stunden der Entscheidung Brasiliens Parlament stimmt über Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff ab D as Oberste Gericht Brasiliens hat den Weg zum politischen Putsch freigemacht. Mit acht zu zwei Stimmen lehnten die Richter einen Einspruch der Regierung gegen die für diesen Sonntag angesetzte Abstimmung im Unterhaus über eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) ab. Es forderte die Abgeordneten auf, ihre Entscheidung einzig von den von der Opposition als Begründung hierfür vorgeschobenen Vorwürfen zu Haushaltstricks abhängig zu machen. Das Ziel der politisch-medialen Treib- Linke: Keine U-Boote nach Ägypten Wirtschaftliche Verflechtungen und NATO-Partnerschaft wiegen für Angela Merkel schwerer als die Freiheit der Kunst jagd auf Rousseff wäre erreicht, wenn eine Zweidrittelmehrheit in der Kammer gegen sie stimmt und anschließend der Senat mit einfacher Mehrheit. Brasilien ist politisch scharf gespalten. Landesweit werden Demonstrationen in einer aufs höchste aufgeladenen Atmosphäre erwartet. Vor dem Parlament in Brasília sollen ein Metallzaun – bereits als »Mauer des Impeachments« bekannt – und eine Pufferzone die Lager trennen. Im Vorfeld des Verfahrens tobt ein psychologischer Krieg um die öffentliche Meinung und zur Beeinflussung von Wackelkandidaten im Parlament. Beide Seiten geben sich siegesgewiss. Am Donnerstag wurde eine von Expräsident Lula da Silva initiierte Erklärung einer Parlamentarischen Front zur Verteidigung der Demokratie gegen die Absetzung der Staatschefin präsentiert, hinter der 186 Abgeordnete stehen sollen. Für Rousseffs Verbleib im Amt wären 172 Stimmen oder Stimmenthaltungen ausreichend. Eine Rechnung mit deutlich anderem Ausgang machen die GloboMedien auf: 18 der im Parlament vertretenen Parteien haben sich demnach gegen Rousseff positioniert, nur fünf unterstützen die Staatschefin, und zwei bleiben neutral. Bei etlichen Abgeordneten der kleinen Parteien ist unsicher, wie sie sich entscheiden werden. Was das Wahlverfahren bei der namentlichen und landesweit übertragenen Abstimmung angeht, konnte sich Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der maßgeblich auf Rousseffs Sturz hinarbeitet, durchsetzen: Den Anfang machen Abgeordnete aus dem regierungsfeindlichen Lager. Cunha spekuliert darauf, dass dies eine Sogwirkung auf die nachfolgenden entwickelt. Peter Steiniger CHRISTIAN CHARISIUS/DPA rmächtigung erteilt – Kanzlerin Angela Merkel benutzte am Freitag mittag tatsächlich diese Formulierung, um den Schwarzen Peter, den Fall Böhmermann, der Staatsanwaltschaft in Mainz zuzuschieben. Diese hat nun zu entscheiden, ob sie den ZDF-Komiker nach dem »Majestätsbeleidigungsparagraphen« 103 des Strafgesetzbuches aus der Zeit des Kaiserreichs anklagt oder nicht. Bei einer Verurteilung hätte Jan Böhmermann mit bis zu drei Jahren Haft oder einer Geldstrafe zu rechnen. Sollte Verleumdung hinzukommen, drohen sogar bis zu fünf Jahre Gefängnis. Des erhobenen Daumens aus Berlin hätte es nicht einmal bedurft, denn der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat auch nach Paragraph 185 des StGB Klage wegen Beleidigung eingereicht. Dem muss die Staatsanwaltschaft Mainz sowieso nachgehen. Diese Zivilklage wäre auch weitergelaufen, wenn Merkel sich nicht zur Erfüllungsgehilfin des türkischen Despoten gemacht hätte. Es steht zu hoffen, dass die Mainzer Juristen die Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit ernster nehmen als die Regierungschefin. Die Schlüsselrolle Erdogans in Merkels Strategie der Abschottung der EU vor Flüchtlingen ist nicht neu. Ein Zusammenhang mit ihrer gestrigen Entscheidung liegt auf der Hand: Während ihrer Erklärung in Berlin wies Merkel ausdrücklich auf wirtschaftliche Verflechtungen mit der Türkei und die Zusammenarbeit in der NATO hin. Es ist allerdings erst wenig mehr als ein Jahr her, dass die Kanzlerin nach dem Terrorangriff auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo in Paris der Satire einen Freibrief ausstellte. Das Heft war mit Mohammed-Karikaturen zum Hassobjekt von Islamisten geworden. Ankara lässt scharf auf Flüchtlinge schießen OSMAN ORSAL / REUTERS Abgesandte der KP Kubas treten zum VII. Parteitag zusammen. Von Volker Hermsdorf Berlin. Vor dem Besuch von Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) in Ägypten fordert die Linkspartei den Stopp deutscher Rüstungslieferungen an die Regierung in Kairo. »Weitere Rüstungsgeschäfte mit Ägypten verbieten sich allein angesichts der verheerenden Menschenrechtsbilanz«, sagte Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, am Freitag der dpa. Ägypten erhält vier U-Boote von ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS). Zwei davon sollen noch in diesem Jahr ausgeliefert werden. SPD-Chef Gabriel, der behauptet hatte, generell weniger Rüstungsexporte erlauben zu wollen, hatte als zuständiger Wirtschaftsminister keine Einwände gegen das U-BootGeschäft. (dpa/jW) Siehe Seite 2 wird herausgegeben von 1.828 Genossinnen und Genossen (Stand 15.4.2016) n www.jungewelt.de/lpg