Form & Farbe Lebendiger Kalkputz Über 500 Jahre hat sein Fachwerk bereits durchlebt – jetzt wurde das Rathaus in Stuttgart-Bad Cannstatt umfassend saniert. Unter anderem mit Kalkputz. A uch unsere Altvorderen hatten Probleme beim Bauen, deren Folgen dann mitunter über Jahrhunderte hinweg Sanierungsteams beschäftigen können. So auch beim Rathaus Bad Cannstatt, das 1490 erbaut wurde – fatalerweise mit einer Ecke auf dem Rand einer Doline, auf einem ausgesprochen instabilen Untergrund also. Immer weiter setzte sich diese südöstliche Ecke, bis zuletzt satte 80 Zentimeter erreicht waren. Die Folge: Der dort angesiedelte Treppenhausbereich wurde immer schräger, die bauzeitliche Fachwerkkonstruktion verformte sich so, dass sie im Rahmen der jüngsten Generalsanierung durch eine neue Konstruktion mit aufwendiger Nachgründung ersetzt werden musste. Das Fenster in die Vergangenheit: Nach dem Abbruch eines jüngeren Anbaus kam ein Fassadenbereich mit historischem Putz, alter Bemalung und Fachwerk zum Vorschein. Er wurde bewusst so belassen und durch die Rahmung betont. Foto: Christian Kandzia 14 Die zum Marktplatz gerichtete Ostfassade des Rathauses mit dem Fenster, dem neuen Eingang und dem neu eingebauten Treppenhaus in der linken Gebäudeecke. Foto: Christian Kandzia www.malerblatt.de Malerblatt 6/2014 Form & Farbe Links die alte Fassade mit Überfassung aus Dämm- und Kalkputz, rechts zum Treppenhaus der Niveausprung durch das Dämmsystem zwischen Leichtbeton-Mauerwerk und Kalkputz. Foto: Christian Kandzia Vor der im vergangenen Jahr abgeschlossenen Sanierung präsentierte sich das Rathaus in einem fragwürdigen Zustand und brandschutztechnisch ganz und gar nicht auf der Höhe aktueller Anforderungen. Die Ertüchtigung war also dringend geboten, wollte man die Nutzung des öffentlichen Gebäudes erhalten. Bei dieser Gelegenheit soll endlich auch das Absinken gestoppt werden – und zwar dauerhaft. Also wird dieser Bereich komplett entfernt, das Gebäude provisorisch abgefangen und dann an der alten Stelle ein neues Treppenhaus als Leichtbetonkonstruktion eingebaut. All dies geschieht natürlich in direkter Abstimmung mit dem Denkmalschutz, Sympathische Materialität Christoph Manderscheid ist ein Fan von dickschichtigen Putzen und verwendet so oft wie möglich Kalkputze für die Fassaden – auch an Neubauten. Das Malerblatt fragte ihn nach seinen Gründen. Dickschichtige, mineralische Putze scheinen wieder an Land zu gewinnen. Bei uns war der nie wirklich weg, weil wir schon immer mineralische Systeme präferiert haben. Und das gilt auch für Fassaden mit WärmedämmVerbundsystemen. Die Verarbeitung verlangt aber spezielles Know-how. Das stimmt. Und das ist zugleich auch ein Problem, denn die Verarbeiter sind leider nicht einfach zu finden. Kalkputz härtet vergleichsweise langsam aus – ist das kein Handicap? Was ist so besonders am Kalkputz? Ich finde die Materialität sehr sympathisch, die Oberflächen ästhetisch. Und die Farbigkeit ist schlichtweg leuchtender. Aber nicht alle Farbtöne lassen sich realisieren? Das empfinde ich nicht als Einschränkung, im Gegenteil. Die erdigen Töne integrieren sich sehr gut, nicht nur in Stadträume. Sie sind zurückhaltend und harmonisch. Und selbst mit der verfügbaren Farbigkeit lassen sich recht intensive Erdtöne umsetzen. Malerblatt 6/2014 www.malerblatt.de Nein, sofern es in der Zeit nicht heftig hagelt. Aber da haben ja auch andere Dämmsysteme ihre Probleme. Wo würden Sie auf Kalkputz verzichten? Im Sockelbereich setzen wir eher auf einen Kalkzementputz, weil der an dieser Stelle besser den Anforderungen entspricht. Sockel? Ja, wir experimentieren auch bei Neubauten mit dem klassischen, abgesetzten Sockel, allerdings interpretieren wir dieses sinnvolle Element modern. Was spricht noch für den Kalkputz? Wir beobachten, dass sich dort keine Putzspinnen ansiedeln, die Oberflächen weniger schnell verschmutzen und der Algenbefall auch ohne Einsatz biozider Wirkstoffe weitgehend ausbleibt. Christoph Manderscheid Form & Farbe Durch das Filzen des nur leicht getönten Kalkputzes erhält seine Oberfläche eine sehr sanfte Modulierung, die im Streiflicht sogar Foto: Christian Kandzia noch gewinnt. Während die alten Öffnungen mit traditionellen Fensterläden versehen sind, zieren die Fenster des neuen Treppenhauses Streckmetall-Elemente im gleichen Format. Sie verweisen auf die bauliche Foto: Christoph Manderscheid Ergänzung. ist das Rathaus doch seit 1966 in der Liste der Kulturdenkmäler verzeichnet. Erkennbar wird das Neue augenscheinlich durch die lotrechten Vorsprünge, die neuen Fenster und die per Streckmetall angedeuteten Fensterläden, die sonst die beiden oberen Etagen des Rathauses bestimmen. Und auch der Klopftest macht den Unterschied hörbar. Die alten Fassaden klingen massiv, das neu eingeschobene Treppenhaus hingegen deutlich dumpfer. Ganz klar, hier befindet sich eine Dämmschicht unter dem Putz. Aber kein konventionelles Wärmedämm-Verbundsystem, wie man zunächst annehmen könnte, sondern ein Aufbau mit einer MineralwollekernHolzwolleplatte auf der LeichtbetonKonstruktion. „Diese Lösung unterliegt keiner expliziten Systemzulassung, die die Verwendung ganz bestimmter Komponenten eines Herstellers vorschreibt“, so der für die Sanierung verantwort- liche Architekt Christoph Manderscheid. In Zusammenarbeit mit dem Anbieter Knauf entstand eine Lösung, die das eigentliche Ziel ermöglicht: Den kalkbasierten Deckputz gleichermaßen über die historischenwie die neuen Fassadenbereiche zu ziehen. Der Fassadenaufbau am neuen Treppenhaus beginnt mit der bis zu 20 Zentimeter starken Dämmung, auf die zunächst der mineralische Unterputz mit 1,5 Zentimetern Dicke appliziert wird. Danach folgt die Armierungsschicht mit Gewebeeinbettung sowie aufgerauter Oberfläche für die bessere Haftung des 0,5 Zentimeter starken Kalkputzes in gefilzter Ausführung. Der Putz selbst ist mit wenig französischem Ocker und schwarzem Marmorsplitt durchgefärbt, bleibt also unbeschichtet stehen. Die alten Außenflächen aus Bruchstein und Fachwerk tragen den gleichen Kalkputz, darunter jedoch einen fünf Zentimeter starken mineralischen Dämmputz Klimasan mit Perlitezuschlag und WLG 080. Ob das Rathaus tatsächlich einst in genau diesem sandfarbenen Ton den Marktplatz von Bad Cannstatt akzentuierte, ist nicht sicher. Denn die Befundlage war – wie so oft – diffus: „Es gab viele unterschiedliche Befunde, ein historisches eindeutiges Konzept ließ sich daraus aber nicht ableiten“, erläutert Manderscheid. Das von ihm vorgeschlagene Grau hätte den Fenstern in Veronesergrün zwar mehr Präsenz verliehen, doch die Denkmalbehörde entschied sich für die ockerige Färbung. PRAXISPLUS Objekt: Rathaus Stuttgart-Bad Cannstatt Sanierung bis Juni 2013 Architekt: Manderscheid Partnerschaft, Stuttgart Ausführung Fassade: Kraft GmbH Stuckateurmeister, Filderstadt kraft-stuckateurmeister.de manderscheid-architekten.de 16 Sechs Jahre dauerten Planung und Sanierung, dafür kann sich Bad Cannstatt nun eines Rathauses erfreuen, das auch energetisch in die Zeit passt. Die Energieeinsparverordnung ist berücksichtigt, der Energieverbrauch halbiert. Armin Scharf Offene Flanke: Nach dem Abriss des alten, abgesunkenen Treppenhauses begann die aufwendige Gründung für den Neubau aus Leichtbeton. So lange musste das historische Gebäude sicher abgefangen werden. Foto: Christoph Manderscheid www.malerblatt.de Malerblatt 6/2014