Wenn es im Schulzimmer krabbelt und schleicht

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Samstag, 10. Oktober 2015
Die a uf dieser Publireporta ge publizierten Texte
stehen a usserha lb der reda ktionellen Vera ntwortung.
Schule, Lernen, Bildung
Wenn es in der Schule krabbelt und schleicht
Tiere im Unterricht motivieren zum Lernen und fördern Verantwortungsbewusstsein
Irène Dietschi
Angst vor Schlangen? Nicht die fünfte
Klasse von Pascal Bussmann im solothurnischen Kriegstetten: Ihr Schulzimmer beherbergt ein grosses Terrarium,
in welchem drei wunderschöne Kornnattern leben – eine Natternart, die bis
150 Zentimeter lang wird. Dass die Tiere ungiftig sind, sieht man ihnen nicht
unbedingt an, aber die Kinder hier wissen längst Bescheid. Ohne Scheu und
mit grosser Ruhe lassen sie die Schlangen in T-Shirt-Ärmel schlüpfen und um
Handgelenke und Hälse schlingen. Eine
der drei Schlangen hält sich im Terrarium versteckt, weil sie sich gerade häutet,
wie Lehrer Pascal Bussmann erklärt.
Grosses didaktisches Potenzial
Tiere im Schulzimmer haben grosses didaktisches Potenzial, denn die meisten
Kinder sind neugierig auf alles Lebendige und haben somit einen natürlichen
Zugang zu ihnen (vgl. Fachbeitrag).
«Diese Voraussetzung lässt sich für den
Unterricht hervorragend nutzen», sagt
Pascal Favre, Professor an der Pädagogischen Hochschule FHNW. «Die Kinder
können mit Tieren unmittelbare Naturerfahrungen sammeln, und diese Erfahrungen fördern auch ihre Bereitschaft,
sich auf andere Bildungsinhalte einzulassen.» Pascal Favre bietet an der Pädagogischen Hochschule Weiterbildungen
Die Bildungsseite
Die Seite «Schule, Lernen, Bildung»
will mit Beispielen aus der Schulpraxis in der Nordwestschweiz, mit
Wissen und Erfahrungen von Bildungsfachleuten, aber auch mit Erkenntnissen aus der Bildungsforschung eine fundierte und breite
Diskussion über Bildungsthemen
fördern. Sie erscheint monatlich als
Kooperation der AZ Medien Gruppe, der «Basler Zeitung» und der
Pädagogischen Hochschule FHNW.
Nächste Bildungsseite:
14. November 2015
Weitere Informationen
und bisherige Ausgaben:
www.fhnw.ch/ph/bildungsseite
an, in denen sich Lehrpersonen mit
Ideen und Informationen rund ums
Thema eindecken können.
Für Pascal Bussmann sind die Schlangen
in seinem Schulzimmer erst mal ein
Hobby, das er auch grösstenteils aus der
eigenen Tasche berappt. Für seine Schülerinnen und Schüler sind sie ein «Gratisthema»: «Wir nehmen Schlangen im
«Kinder können mit Tieren unmittelbare Naturerfahrungen sammeln,
und diese fördern auch
ihre Bereitschaft, sich auf
andere Bildungsinhalte
einzulassen.»
Pascal Favre
Unterricht nicht speziell durch, die Kinder bekommen sehr vieles einfach so
mit», sagt der Lehrer. Zum Beispiel haben die Fünftklässler gelernt, dass «ihre» Schlangen gerne klettern und somit
zur Gattung der Kletternattern gehören:
Eines Morgens sei eine von ihnen versehentlich aus dem Terrarium ausgebüchst
und habe sich in die Giesskanne verkrochen, ein anderes Mal hätten sie das
Männchen zuoberst auf dem Schrank
gefunden, erzählen sie begeistert. Ein
grosser Moment ist die Fütterung: Alle
paar Wochen bekommen die Schlangen
tote Mäuse aus dem Tiefkühlfach, 14
Stück hätten sie beim letzten Mal verschlungen. Und wenn im nächsten
Frühsommer die Weibchen ihre Eier legen, beginnt für die Klasse das grosse
Hoffen auf den Schlangennachwuchs.
Zusatzaufwand, der sich lohnt
Neben der Biologie lernen die Schüler
noch andere wichtige Dinge: «Sie erkennen, dass es mit der Anschaffung
noch lange nicht getan ist; dass Tiere zu
halten aufwendig ist und einem Verantwortung abverlangt», sagt Pascal Bussmann. Konkret: Das Terrarium muss regelmässig geputzt, die Wasserschale täglich frisch gefüllt werden, Futtermäuse
kosten Geld, und während der Ferien
darf man die Schlangen nicht wochenlang sich selbst überlassen. «Tiere im
Schulzimmer bedeuten für die Lehrperson einiges an Zusatzaufwand», so Pascal Bussmann.
Ein Zusatzaufwand, der sich lohnt: Davon überzeugt ist auch Karin Bauer, Biologielehrerin an der Sekundarschule
Die Klasse von Pascal Bussmann hält Kletternattern im Schulzimmer.
Waldenburgertal (BL). «Ich finde es
wichtig, dass Biologie nicht nur theoretisch, sondern als buchstäblich lebendiges Fach vermittelt wird», sagt sie. Karin Bauer hat sich mit der übrigen Fach-
«Ich finde es wichtig,
dass Biologie nicht nur
theoretisch, sondern als
buchstäblich lebendiges
Fach vermittelt wird.»
Karin Bauer
schaft Naturwissenschaften der Schule
für mongolische Springmäuse starkgemacht. Jetzt bauen ihre Schüler im
Werkunterricht drei geräumige Terrarien, in die nach den Herbstferien je fünf
bis sechs Exemplare der pflegeleichten
Springmäuse einziehen werden.
Da die Terrarien zwar räumlich miteinander verbunden, aber punkto Futterangebot und Wohnen unterschiedlich ausgestattet sind, dürfte es spannend werden, die Nager zu beobachten. «An ihnen lassen sich diverse Wissensfragen
studieren, wie etwa der Zusammenhang
von Raum und Population», erklärt Karin Bauer. Springmäuse seien in der freien Wildbahn ziemlich fortpflanzungsfreudig, ist das Platzangebot aber begrenzt, würde sich ihre Reproduktion
den Umständen anpassen. Auf das Verstehen solcher Zusammenhänge legt die
Biologielehrerin grossen Wert. «Diese
führen im Unterricht oft zu spannenden,
aber auch herausfordernden Diskussionen.»
Tierschutz gilt es zu beachten
Ein wichtiges Thema ist der Tierschutz.
Auch in den Weiterbildungen von Pascal
Favre kommt er zur Sprache, verbunden
vor allem mit der seit 2008 geltenden
neuen Tierschutzgesetzgebung. «Ein
Labyrinth-Versuch mit Ratten zum Beispiel gilt laut Gesetz als Experiment, das
amtlich bewilligt werden muss», erklärt
Pascal Favre. Die Haltung von Wirbeltieren sei teilweise mit Vorschriften verbunden – etwa in Bezug auf die Grösse
der Gehege – deshalb sei es oft einfacher, im Schulzimmer mit wirbellosen
Tieren wie Schmetterlingsraupen oder
Schnecken zu arbeiten.
FOTO ANDRÉ ALBRECHT
Diese Erfahrung machen zurzeit die
Erstklässler von Rahel Haenle in Langenbruck (BL): Die Lehrerin behandelt
mit ihnen das Thema Schnecken. «Für
mich war es wichtig, ein Tier zu wählen, das im Alltag vorkommt», erklärt
sie.
Da lag es nahe, auf die weit verbreitete
Bänderschnecke
(«Häuschenschnecke») mit ihren vielen unterschiedlichen Streifenmustern zu setzen. Die
Kinder brachten Gläser mit Schnecken
in die Schule, die sie auf dem Schulweg, im Wald oder zuhause im eigenen
Garten gefunden hatten, und gemeinsam mit ihrer Klasse hat Rahel Haenle
ein Terrarium eingerichtet.
Nun wird im Schulzimmer ausgiebig
beobachtet und ausprobiert. Als Erlebnis der besonderen Art beschreibt Rahel Haenle etwa das Füttern: «Wir
setzten die Schnecken auf eine Glasplatte und haben von unten beobachtet,
wie sie die Nahrung aufnehmen», erzählt die Lehrerin. Die Kinder seien so
fasziniert gewesen, dass sie den halben
Vormittag mit Beobachten verbracht
hätten. Es braucht nicht immer Exoten,
um die Natur hautnah zu erleben.
FACHBEITRAG Irene Künzle, Dozentin Beratungsstelle Umweltbildung an der Pädagogischen Hochschule FHNW
«Diese Schnecke hat ja Haare!» – Umweltbildung fördert naturwissenschaftliches Denken
Irene Künzle
Die Frage, wozu eine Schnecke Haare
hat, kann nach einer entsprechenden
Beobachtung angeregte Diskussionen
auslösen. Während die einen vermuten,
dass Schnecken frieren, argumentieren
andere, dass die Haare als Verdunstungsschutz dienen. Dieses Erlebnis mit
einer Haarschnecke ist mit Emotionen
verbunden, die das Interesse der Kinder
wecken, mehr über die Lebensweise der
Tiere zu erfahren. Solche Primärerfahrungen verlieren in der Schule zunehmend an Bedeutung. Dabei gibt es viele
gute Gründe, im Unterricht mit Tieren
zu arbeiten.
Von der Begegnung zum Verstehen
Jede Begegnung mit einem Tier hat das
Potenzial, die Denk- und Selbsttätigkeit
der Kinder anzuregen und an komplexe
naturwissenschaftliche, aber auch gesellschaftliche oder wirtschaftliche Zusammenhänge anzuknüpfen. Allerdings
müssen das genaue Beobachten und Beschreiben, zwei grundlegende Fähigkeiten für naturwissenschaftliches und systemisches Denken, angeleitet und eingeübt werden. So werden Lernprozesse
ausgelöst, die vom Staunen über das
Fragen bis hin zum Verstehen führen.
Kinder entwickeln dabei auch ein Bewusstsein für den respektvollen Umgang
mit Lebewesen und ihren Lebensräumen, aber auch für die Vielfalt der Natur und ihre Bedeutung als Lebensgrundlage. Und genau hier setzt die
Umweltbildung an: Ihr Anliegen ist es,
Kompetenzen zu fördern, um ökologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge in der Umwelt zu
verstehen. Sie will dazu anregen, dass
Kinder ihren Lebensraum aktiv und verantwortungsvoll mitgestalten und als
Teil der Gesellschaft für ihre natürliche,
soziale und kulturelle Umgebung Mitverantwortung tragen. Die Erforschung
und Gestaltung des Schulareals bietet
dazu viele Möglichkeiten.
Die Schulumgebung einbeziehen
In naturnah gestalteten Schulumgebungen können Wildtiere gut beobachtet
werden. Wirbellose wie Schmetterlingsraupen, Schnecken oder Regenwürmer
lassen sich zudem für die Beobachtung
von Entwicklungsprozessen (z.B. Metamorphose) oder der ökologischen Bedeutung von Tieren (z.B. Bodenfruchtbarkeit) problemlos einfangen und über
eine gewisse Zeit im Schulzimmer halten. Die Kinder setzen sich so nicht nur
mit den Tieren auseinander, sondern
auch mit Fragen zu ihrem eigenen Lebensraum. Vielfältige und naturnah gestaltete Schulareale verbessern die Lernqualität, da im Unterricht an die Erfahrung und den Alltag der Kinder angeknüpft werden kann.
Verantwortung tragen
Tiere benötigen Terrarien, die bezüglich
Licht, Feuchtigkeit, Rückzugsmöglichkeiten und Futterpflanzen ihrem natürlichen Lebensraum entsprechen. Der Bau
und das Einrichten eines Terrariums
bieten nicht nur eine gute Gelegenheit
für fächerübergreifenden Unterricht,
sondern auch die Möglichkeit, sich vertieft mit den Bedürfnissen der Tiere und
ihren Lebensräumen auseinanderzusetzen. Beim Füttern und Pflegen übernehmen die Kinder zudem Verantwortung
für ihr Wohlergehen. Dabei hat die
Lehrperson eine wichtige Vorbildfunktion und die Aufgabe, grundlegende Tier-
schutzaspekte mit den Kindern zu thematisieren: Was heisst artgerechte Tierhaltung? Welche Tiere darf ich überhaupt aus einem natürlichen Lebensraum entnehmen? Wie mache ich das,
ohne dass sie Stress oder Verletzungen
erleiden?
«Jede Begegnung mit
einem Tier hat das
Potenzial, die Denk- und
Selbsttätigkeit der Kinder
anzuregen und an komplexe naturwissenschaftliche und gesellschaftliche
Zusammenhänge anzuknüpfen.»
Für die Haltung von Wirbeltieren sind
Vorabklärungen mit entsprechenden
Fachstellen notwendig. Viele kantonale
Naturschutzämter erteilen speziell für
Bildungszwecke eine Bewilligung für die
Entnahme von Amphibienlaich und über
die Auflagen zur Haltung von Heimtieren gibt das Bundesamt für Lebensmittelkontrolle und Veterinärwesen Auskunft.
Hätten Sie
gewusst?
?
… dass eine
Weinbergschnecke über 30 Jahre alt werden
kann.
… dass es in
der Schweiz
mehrere Schneckenarten mit Haaren gibt. Dabei handelt es sich um
Fortsätze des Häuschens, die zur
besseren Fortbewegung oder zum
Schutz vor dem Austrocknen dienen
können.
… dass es in der Schweiz eine giftige Schneckenart gibt, die Mortillets
Landschnecke, die andere Schnecken lähmt und frisst.
… dass gemäss der Roter Liste
zwei Schneckenarten in der
Schweiz bereits ausgestorben und
über 50 Arten vom Aussterben bedroht sind.
… dass Schnecken den Winter im
Boden in einer Kältestarre verbringen. Dank Frostschutzmitteln im
Blut überleben sie auch Minus-Temperaturen.
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